Willisau, 17. Juli 1992

Die meisten Menschen sind einfach zu finden, das hat der Junge geahnt, trotzdem ist er erstaunt, als er dreihundertsechzig Tage nach dem Verschwinden seiner Zwillingsschwester einen Briefumschlag in seiner Schultasche entdeckt. Er weigert sich, darüber nachzudenken, wie der Umschlag in seine Tasche gelangt ist, dennoch kann er an nichts anderes denken. Von wem er ist, weiß er im selben Augenblick, in dem er ihn zwischen den Heften und Büchern sieht. Sie sind in seiner Schule gewesen, in einem der Zimmer, in denen er an diesem Tag Unterricht gehabt hat. Die Vorstellung, dass sie ihn beobachteten, ohne dass er sie gesehen hat, erfüllt ihn erst mit Angst, dann mit Wut. Sind sie unsichtbar, fragt er sich, Geister? Wie sonst schafft man es, unbemerkt ins Schulgebäude zu kommen, vorbei an all den Schülern, die durch die Korridore und über die Steintreppen ins Freie auf den Pausenhof drängen? Der Umschlag ist sandgelb, er knistert, als er ihn in die Hand nimmt und auf seinen Schreibtisch fallen lässt, als sei er vergiftet oder schwer wie ein Stein. Dabei ist er leicht wie eine Feder. Ist er leer? Auf dem Umschlag steht nur sein Name, die Schrift, in roter Tinte, altmodisch verschnörkelt, wirkt gekünstelt. Gregörchen. Er bringt es nicht fertig, den Briefumschlag aufzureißen, noch nicht. Er schiebt ihn auf dem Tisch hin und her, er wischt ihn sogar in den Abfallkorb, schafft es aber nicht, ihn dort liegen zu lassen, und nimmt ihn wieder heraus. Fast alle Menschen sind einfach zu finden, andere dagegen findet man nie mehr wieder, sie bleiben verschwunden. Er schließt die Tür des Zimmers, in dem er sich unwohl fühlt ohne seine Schwester, überflüssig. Wie hat er das Jahr überstanden, wie hat er das Jahr überlebt? Die Zeit hat sich aufgelöst, Uhren und Kalender haben sich als falsch erwiesen. Entweder stand die Zeit still, wurde jede Minute zur Ewigkeit, oder sie flog dahin, und die Tage vergingen im Nu. An den August hat er zum Beispiel nicht die geringste Erinnerung, der Oktober dagegen hat sich ihm bis ins letzte Detail eingeprägt, er könnte ihn Minute für Minute beschreiben, ohne dass er weiß, warum das so ist, denn er war genauso belanglos wie der August. Die Tage ziehen an ihm vorbei, er ist Gast in seinem Leben, Besucher. Er hat nichts verändert in ihrem Zimmer, das ist er Kathrin schuldig, auch wenn es ihr wohl nichts hilft, wie er befürchtet. Aber vielleicht hilft es ihr eben doch, vielleicht spürt sie, dass sie nur die Zimmertür öffnen müsste, um in ihr altes Leben zurückzukehren, vielleicht spürt sie, dass er Tag und Nacht an sie denkt, dass er nur noch für sie lebt, nur noch lebt durch die Gedanken und Erinnerungen an sie! Er schläft in ihrem Bett, nicht in seinem, er hat drei Tage nichts gegessen, um durchzusetzen, dass die Mutter Kathrins Bettwäsche nicht wechselte, seit sie verschwunden ist. Er will riechen wie sie. Aber wie riecht sie überhaupt? Ihr Geruch hat sich längst verflüchtigt, aufgelöst.

Seit einem Jahr schmeckt das Essen nach nichts.

Der Junge denkt daran, den Brief gar nicht zu öffnen.

Seit einem Jahr ist er müde.

Der Junge weiß, er wird den Brief öffnen.

Seit einem Jahr hat er Angst vor seinen Träumen.

Der Junge nimmt den Brief und verlässt das Zimmer.

Seit einem Jahr hat er nachts Angst davor, die Augen zuzumachen.

Die Tür des Elternschlafzimmers ist geschlossen, seine Mutter wird bei zugezogenen Vorhängen im Bett liegen und dämmern. Er ist froh, bleibt ihm ihr Anblick erspart. Ihre Apathie macht ihn schon lange nicht mehr traurig, sondern wütend. Er wünscht sich starke Eltern, verachtet die Mutter, weil sie sich aufgegeben hat, verachtet den Vater, weil er verstummt ist und immer wieder mit Tränen in den Augen aus der Wohnung flieht. Seit seine Schwester verschwunden ist, hält sich der Junge verschiedene Fluchtwege offen. Es ist lebensnotwendig, überall und jederzeit fliehen zu können. Er entscheidet sich für Fluchtweg Vier: Rotseestrasse, Lerchenstrasse, Schubertstrasse, Pelikanstrasse. Im Vorgarten von Nummer 11 sind zwei Zaunlatten lose, eine Lücke, die für Erwachsene zu klein ist, er aber schlüpft hindurch, den Umschlag zwischen den Zähnen, und kriecht im Schutz der Holundersträucher zwischen die beiden Bretterschuppen. Hier sitzt er oft. Hier fühlt er sich in Sicherheit. Die Menschen, die in dem Haus wohnen, hat er noch nie gesehen, aber er kennt ihre Katze. Sie legt sich manchmal zu ihm und lässt sich streicheln. Er liebt es, an ihrem Pelz zu riechen. Manchmal zieht er sie am Schwanz, dann sieht sie ihn an und faucht. Natürlich erinnert ihn sein Versteck an den Schuppen im Wald, in dem ihr Leben aufgehört hat, aber es ist nicht der Schuppen. Er lehnt sich an die Bretter, die im Lauf der Jahre von der Sonne silbern verbrannt worden sind, und reißt den Umschlag auf. Damit ist eine Grenze überschritten, das ist ihm bewusst, er hat sich auf den Weg gemacht. Seinen Eltern wird er nicht von dem Brief erzählen, geht ihm durch den Kopf. Das Briefpapier, sandfarben und dünn wie der Umschlag, ist zweimal gefaltet. Die fünf Zeilen stehen gerade und wie mit dem Lineal ausgerichtet auf dem Blatt, obwohl es nicht liniert ist. Er erschrickt darüber, dass ihm die Schrift gefällt. Jeder Buchstabe ist ein Kunstwerk, das Rot der Tinte ist blasser als auf dem Umschlag. Er liest die Zeilen nicht bewusst, er überfliegt sie, trotzdem weiß er, was sie sagen, er wird es niemals vergessen, es ist, als habe er den kurzen Text selbst geschrieben:

Ein Jährchen erst ist es her,

schon langweilt sie uns, Deine Schwester.

Dünn ist sie geworden, blass.

Sie wartet am 17. Juli in der Heiligblut-Kapelle in Willisau.

Holst Du sie um 15 Uhr ab?

Er fährt mit dem Zug nach Willisau. Seine Eltern glauben, er sei im Schwimmclub, um für die Meisterschaft zu trainieren, für die er sich aber, was sie nicht wissen, gar nicht angemeldet hat. Er war noch nie in Willisau und muss nach dem Weg zur Heiligblut-Kapelle fragen. Er ist so aufgeregt, dass er grinst wie ein Idiot, als ihm eine alte Frau erklärt, er müsse die Altstadt durch das Obertor verlassen, dann laufe er direkt auf die Kapelle zu. Die Frau sieht ihn besorgt an, aber er kämpft die Tränen nieder und lässt sie stehen. Er will sich weder bemuttern noch trösten lassen.

Er ist zu früh, das darf er nicht, darum geht er die Hauptgasse der Altstadt auf und ab. Und trotzdem ist es noch nicht 15 Uhr, als er vor der Kapelle steht. Er versucht, nicht an seine Zwillingsschwester zu denken, ertappt sich aber dabei, ihren Namen auszusprechen, wieder und immer wieder, Kathrin, Kathrin, Kathrin, während er die rot bemalte, lange Zunge des Männerkopfes betrachtet, der ins Türholz geschnitzt ist. Haben sie ihn darum hierher gelockt? Wollen sie, dass er den bösen Blick des bärtigen Dämonen sieht? Geben sie ihm ein Zeichen, einen Hinweis? Er wartet ungeduldig, aber gehorsam, bis die Stadtkirche drei Mal geschlagen hat, vorher traut er sich nicht, die Klinke nach unten zu drücken und die Heiligblut-Kapelle zu betreten. Wie still es ist! Wie kühl! Für einen Herzschlag lang glaubt er, allein in der Kapelle zu sein, da sieht er seine Schwester. Wie blond sie ist! Sie sitzt in der vordersten Reihe der Einzelbänke, die an der rechten Wand angebracht sind. Er kann sich im letzten Augenblick beherrschen, ihren Namen zu rufen und auf sie zuzulaufen. Haben sie ihn in eine Falle gelockt? Die Decke der Kapelle ist mit Szenen bemalt, wie er aus den Augenwinkeln sieht, aber er darf sich nicht ablenken lassen. Ist es wirklich Kathrin? Sind ihre Haare nicht länger? Warum sitzt sie zusammengesunken in der Bank? Warum dreht sie sich nicht nach ihm um, sie hat doch bestimmt gehört, wie die schwere Tür ins Schloss gefallen ist? Wie heißt der Heilige, dessen Figur auf dem Seitenaltar vor ihr steht? In seinem nackten Oberkörper stecken Pfeile, sein Gesicht ist entrückt. Und wen stellt die kleinere Figur dar? Der bärtige, langhaarige Mann hält einen Stab auf dem linken Stiefel aufgestützt und zieht das Gewand in die Höhe, um eine blutrote Wunde auf seinem Oberschenkel zu zeigen. Der Engel mit den goldenen Flügeln, der sich an ihn schmiegt, reicht ihm bis zu den Hüften. Die Figur erfüllt den Jungen mit Wehmut, die ihn unerklärlicherweise gleichzeitig mit Zuversicht erfüllt. Er hat so lange auf diesen Moment gewartet, und jetzt rührt er sich nicht von der Stelle, weil er sich nicht von der Figur lösen kann. Als er sich endlich in Bewegung setzt, weiß er nach dem ersten Schritt, sie ist es nicht. Das Mädchen, das den Kopf ein kleines Stück in seine Richtung wendet, ist nicht Kathrin, das Mädchen ist jünger, seine Nase ist zu klein, seine Haare sind zu kurz. Die Enttäuschung nimmt auch eine Last von ihm, wie er erschreckt feststellt. Will er, für diesen Gedanken wird er sich für immer hassen, seine Schwester etwa gar nicht finden? Hat er sich mit ihrem Schicksal abgefunden?

Er tritt nicht zu nahe an das fremde Mädchen heran, er vermutet, dass es wichtig ist, einen gewissen Abstand zu ihr zu halten. Den richtigen Abstand. Sie sieht unsicher lächelnd zu ihm auf.

»Bist du Gregor?«

Er nickt. Er will seine Stimme nicht hören, nicht in dieser Kapelle, er wartet ab, was geschieht. Auf der Straße wird gehupt. Das Licht, das durch das linke der beiden ovalen Fenster über dem Hauptaltar fällt, ist schneeweiß. Es flirrt. Das Mädchen zieht einen Umschlag aus der Tasche ihrer Jeansjacke und streckt ihn ihm entgegen. Der Umschlag ist sandgelb, wie der andere auch, aber kleiner. Er will ihn nicht, nein, er nimmt ihn nicht entgegen.

»Du musst ihn nehmen«, sagt das Mädchen und steht auf, »und du darfst mich nichts fragen.«

Er weiß, warum er nichts fragen darf, und nimmt dem Mädchen den Umschlag ab, es kann ihm nicht helfen, es trägt keine Schuld. Das Mädchen hat Schweißtröpfchen auf der Oberlippe, er friert. Das Mädchen schwitzt, und ihm ist so kalt, dass er zittert. Er dreht sich wortlos um und setzt sich vor den Nebenaltar auf der anderen Seite der Kapelle. Der Platz, auf dem das Mädchen gesessen und sich als seine Schwester ausgegeben hat, ist tabu. Er hört die schnellen Schritte des Mädchens, hört, wie die Tür geöffnet wird, wie sie ins Schloss fällt, und reißt den Umschlag auf. Diesmal ist das Papier nur einmal gefaltet. Er kennt die kunstvolle Schrift, die verzierten, geschwungenen Buchstaben. Gefällt sie ihm immer noch?

Wir sind die schlechten Früchte, die

die ganze Obstkiste verderben.

PS: Dein Schwesterchen ist ein Wildfang.

Das blonde Haar, das offensichtlich in dem gefalteten Blatt gelegen hat, bemerkt er nur, weil eine Frau, ein altes, gebeugtes Hutzelweib mit Kopftuch, die Kapelle betritt. Der Luftzug der offenen Tür trägt das Haar in die Höhe, es schwebt in die Sonnensäule, die durch das ovale Fenster fällt, blitzt auf wie ein Goldfaden, verschwindet.

Der Junge denkt nicht an seine Schwester.

Er denkt an den Biber und die Frau mit Feuer im Gesicht. Er fühlt Hass, glühenden Hass, der ihn wie ein Feuer verzehren wird, das weiß er. Es sei denn, er findet die zwei. Und damit seine Schwester. Er steckt den Brief in den Umschlag, atmet tief durch und tritt in die Hitze des Sommertages hinaus.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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