DIE UNTERSEITEN DER FLÜGEL

DUNFANAGHY

Die Bar im Hotel Arnolds war zwar neu, aber trotzdem gemütlich; das Feuer, das im Kamin brannte, verbreitete leichten Torfgeruch und warf einen flackernden Schimmer an die Decke. Cloe schnappte sich die Getränkekarte, noch bevor sie sich an das Tischchen in der Nähe des Tresens gesetzt hatten. Charlotte legte Gregor die Hand auf den Unterarm, sah ihn aber nicht an.

Sie hatten im Hotel auf der anderen Straßenseite gegessen, weil Charlotte der Küche im Arnolds nicht traute. Das war, wie sie bei der Vorspeise zugab, ein Fehler gewesen. Während des Essens im Speisesaal, dessen Fensterfront nicht etwa aufs Meer hinausging, sondern auf die Straße, hatte Charlotte ihre Tochter nach den Amerikanern und Colm ausgefragt. Cloe war ausgewichen, wie gewöhnlich, wenn sie ihr persönliche Fragen stellte. Die beiden lebten in Santa Barbara und studierten irgendwas mit Marketing. Der eine hieß Chad und war »ein loser«, der andere Joshua und war »süß, megasüß«. Mehr erfuhren sie nicht. Zu Colm hatte Cloe einen Satz zu sagen: »Er ist ein alter Mann, wie du, Gregor.«

»Wenn ich noch einmal eine Kartoffel essen muss, krieg ich einen Anfall«, sagte Charlotte und nahm Cloe die Getränkekarte aus der Hand.

»Ich liebe Chips«, sagte Cloe, »die sind doch aus Kartoffeln?«

»Crisps, in Irland heißen sie Crisps«, sagte Gregor, »Chips sind Pommes.«

»Hier in Irland heißen Pommes also Chips«, machte Cloe.

»In England auch«, sagte Gregor.

»In Schottland und in Wales nicht?«

»Lass es, Cloe«, sagte Charlotte wütend.

Gregor hatte einen metallischen Geschmack im Mund, den er zu gern mit einem Bier weggespült hätte. Seine Lust auf Alkohol war so bedrängend, dass er es nicht fertigbrachte, in die Getränkekarte zu schauen.

»Ich nehm eine Cola«, sagte er zu Cloe, »und du?«

»Ohne Whiskey?«

»Nicht, Cloe!«, sagte Charlotte und drückte seinen Unterarm. »Sie nimmt auch eine Cola. Also einen Espresso trink ich hier drin ganz bestimmt nicht, aber einen Irish Coffee werden sie ja vielleicht hinkriegen, oui?«

Gregor nickte. 394 Tage trocken. Die Vorstellung, bald den Geruch des Alkohols in Charlottes Irish Coffee in der Nase zu haben, trieb ihm Schweiß auf die Stirn. Das Kribbeln in seinen Fingern war so stark, dass er die Hände in den Schoß legte und sie ineinander verkrampfte. Die ersten zwei Wochen, nachdem er aufgehört hatte, hatte Charlotte ebenfalls auf Alkohol verzichtet. Seither war sie der Meinung, falls er es wirklich schaffen wolle, schaffe er es auch, wenn sie in seiner Gesellschaft eine Flasche Wein trinke. Gregor stand auf und versuchte die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erwecken, der am Spülbecken hinter dem Tresen stand, seinen Blick erwiderte und nickte, sich aber nicht von der Stelle rührte.

»Für alles sind sie zu faul«, zischte Charlotte, »diese Scheißiren!«

»Wir sind hier in einer Bar«, sagte Gregor so ruhig er konnte.

»Selbstbedienung, maman!«

»Das ist in Frankreich doch ganz genauso«, sagte Gregor und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken.

»Pas de tout!«, sagte Charlotte und tat, als wolle sie aufstehen.

Gregor und Cloe warfen sich einen verschwörerischen Blick zu, und er ging rasch zum Tresen hinüber. Der Barkeeper legte sich das Geschirrtuch über die Schulter und fing an, die Gläser in ein Regal zu räumen, ohne sich um ihn zu kümmern. Die zwei alten Männer, die am Tresen saßen, trugen speckig glänzende, dunkle Anzüge und weiße Hemden; der eine hatte eine Krawatte umgebunden, breit wie ein Geschirrtuch, viel zu kurz, der zweite trug eine Hornbrille, wie sie wieder in Mode waren. Sie sahen Gregor an und lächelten.

»Your first time here?«, fragte der mit der Brille.

»In this Hotel?«, antwortete Gregor.

»In this country«, sagte der mit der Krawatte.

»Germany?«, wollte der mit Brille wissen.

»Switzerland.«

»Was wollen sie?«, fragte Charlotte.

»Wissen, ob wir das erste Mal hier sind«, sagte Cloe schnippisch.

Charlotte hob die Hand und winkte den Alten zu. Ihre goldenen Armreifen klimperten.

»Oui, oui«, sagte sie betont freundlich, »first time. Das erste und das letzte Mal, so viel steht fest.«

»There are three things a woman should never admit she knows how to do«, sagte der mit der Brille.

»Was?«

Charlottes Stimme hatte jetzt einen hysterischen Ton, und Gregor wäre am liebsten weggegangen.

»Er sagt, es gibt drei Dinge, von der eine Frau nie behaupten soll, sie könne sie«, übersetzte er.

»Sagt er«, sagte Charlotte, »und was sind das für drei Dinge?«

»Das hat er nicht verraten«, sagte Cloe.

Die beiden Alten lächelten geheimnisvoll, hoben gleichzeitig ihre Biergläser an die Lippen, drückten die Augen zu, tranken, atmeten genussvoll aus und setzten gleichzeitig die Gläser auf den Tresen.

»Make coffee, clean fish, and start a lawnmower«, sagte der mit der Krawatte.

»Was heißt lawnmower?«, fragte Charlotte verkrampft lächelnd.

»Rasenmäher«, sagte Cloe.

»Oui, oui«, sagte Charlotte und winkte den Alten noch einmal zu.

»Wir haben gar keinen Rasen«, sagte Cloe.

»Genau! Sag ihnen das, Gregor, los! Übersetz das!«

»We don’t have a meadow«, sagte Gregor.

»Lawn«, sagte Cloe, »Rasen heißt lawn. Darum lawnmower. Und nicht meadowmower.«

»Kein Rasen, kein Rasenmäher«, sagte Charlotte, »und Fisch kann ich besser ausnehmen als jeder Mann.«

Der alte Mann nahm seine Hornbrille ab, legte sie vor sich auf den Tresen und ließ sich vom Barhocker gleiten.

»Remember«, sagte er ernst, »it’s not what happens, it’s what you do with what happens.«

»Was sagt er?«, fragte Charlotte schrill.

»Es ist nicht wichtig, was passiert«, übersetzte Cloe, »sondern was du damit anfängst.«

»Bestellst du jetzt oder was«, sagte Charlotte.

In der Reception lag ein Hund vor der Tür zum Flur, der zu den Zimmern führte; er bewegte die Pfoten im Schlaf, als trete er Wasser. Als sie über ihn wegstiegen, schmatzte er, hob den Schädel, blickte sie einen Moment vorwurfsvoll an und legte sich wieder hin. Auf dem Flur roch es nach Desinfektionsmittel, feuchtem Teppich und Erbrochenem.

»Ich hab doch gesagt«, sagte Charlotte, »dass es in deinem blöden Irland immer kalt ist.«

»Kalt«, sagte Gregor, »ist doch gar nicht kalt hier.«

»Und nach Kotze stinkt es auch nicht!«

Cloe, die einen halben Schritt vor ihnen her ging, blieb plötzlich stehen und beugte sich den Bauch haltend vornüber.

»Cloe?«, fragte Charlotte.

»Mir ist schlecht.«

»Na, bei dem tollen Essen«, sagte Charlotte und streichelte ihr den Rücken.

»Ich bin schwanger, maman«, sagte Cloe leise.

»Schwanger!«

Charlotte wedelte mit den Händen durch die Luft, als wolle sie einen lästigen Geruch vertreiben, und sah Gregor erschrocken an. Dann tätschelte sie ihrer Tochter die Schulter. Dein Kind ist doch kein Haustier, dachte Gregor und sah den Hund in der Reception vor sich, seine großen sanften Augen, die schwarzen Flecken auf den rosafarbenen Lefzen.

»Schwanger! Hast du denn überhaupt schon mal …«

»Ob ich schon mal gefickt hab? Lass mich nachdenken, maman! Doch! Hab ich!«

Charlotte nahm die Hand von der Schulter ihrer Tochter und sah sie entsetzt an.

»Willst du wissen mit wem?«, sagte Cloe.

»Sie ist schwanger?«

Charlottes Stimme kippte. Sie hielt sich an Gregor fest, und er nahm sie in den Arm; hinter einer der Zimmertüren lachte ein Mann.

»Das war ein Witz«, sagte Cloe und ging weiter.

»Was war ein Witz?«, sagte Charlotte leise und machte sich von Gregor los.

»Das mit dem Ficken nicht, falls es dich beruhigt.«

»Haha«, sagte Gregor, »ich lach mich tot.«

»Und dass ich bei Sharkattack zwei Tops von Abercrombie & Finch geklaut hab, ist auch nicht wahr«, erklärte Cloe schnippisch. »Gibst du mir bitte den Schlüssel, Gregor?«

Er machte ihr nicht die Freude, auf ihre Provokation einzugehen, und reichte ihr den Schlüssel mit dem schweren, birnenförmigen Metallanhänger.

»Du hast was?«, fragte Charlotte.

»Geklaut, maman, ja, ich hab geklaut. Auch nicht zum ersten Mal.«

»Das glaub ich dir nicht«, sagte Charlotte.

»Das ist natürlich auch eine Lösung!«

»Es reicht! Vielleicht ist es besser, du ziehst eine Weile zu deinem Vater!«

»Soll ich zu Joshua ins B&B, damit ihr eure Ruhe habt und, na ja, ihr wisst schon, Liebe machen könnt?«

»Halt einfach den Mund, ja?«, sagte Gregor.

Cloe sah ihn grinsend an, öffnete die Zimmertür und warf sich im Dunkeln auf ihr Bett in der Ecke. Charlotte verschwand im Bad, drückte wortlos die Tür hinter sich zu. Wasser rauschte, etwas fiel klirrend ins Waschbecken.

»Schon ist Madame wieder beleidigt«, sagte Cloe, nahm ihren iPod vom Nachttischchen und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren.

»Blöde Zicke«, sagte Gregor, weil er wusste, sie hörte ihn nicht.

Er trat ans Fenster. Über dem Meer war der Himmel heller als im Landesinnern. Scheinwerfer vorbeifahrender Autos strichen über die Steinmauer, die den Parkplatz vom Hafenbecken abgrenzte; er hörte den Wind in der Regenrinne über dem Fenster. Die Musik aus Cloes iPod, ein rhythmisches Schleifen, passte zu den Möwen, die über den Hausdächern kreisten und die helleren Unterseiten ihrer Flügel zeigten.

Gregor stützte sich mit beiden Händen auf dem Fenstersims ab; er spürte, wie er sich entspannte und damit endlich zuließ, an seine Zwillingsschwester zu denken. Wo bist du?

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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