24. KAPITEL
Da war jemand an der Tür. Schon wieder. Im Halbschlaf hörte Emma ein leises Klopfen, aber das Geräusch vermischte sich mit ihren Träumen, bis es immer lauter und drängender wurde. Poch, poch, poch.
Sie schlug die Augen auf und blinzelte in die Dunkelheit. War Preston zurückgekommen? Die Bettdecke roch noch nach ihm, sie konnte sogar noch seine kräftigen Arme spüren, die sie vor Kurzem so fest und leidenschaftlich umschlungen hatten.
Noch leicht benommen drehte sie sich zur Seite und schaute auf den Wecker. Halb vier Uhr morgens.
Sie schob die Bettdecke beiseite, stand auf und tappte durchs Wohnzimmer. Wahrscheinlich hatte er etwas vergessen.
“Ich komme ja schon”, murmelte sie halblaut, weil sie Max nicht wecken wollte. Bevor er gegangen war, hatte Preston noch einmal den Blutzuckergehalt des Jungen getestet. Das Ergebnis war gut gewesen, und Emma hätte unbesorgt bis zum Morgen schlafen können.
“Preston?”
Keine Antwort. Instinktiv warf sie einen Blick durch das Guckloch, aber das nützte nichts, sie hatte vergessen, das Klebeband abzuziehen. Sie griff nach dem Baseballschläger und zog vorsichtig die mit einer Kette gesicherte Tür auf. “Preston? Hast du etwas …”
Eine Faust krachte so heftig gegen die Tür, dass diese gegen ihren Kopf knallte und ihn nach hinten schleuderte. Emma prallte zurück und fiel zu Boden. Eine Männerhand griff durch den offenen Türspalt und versuchte, die Sicherheitskette zu lösen. An einem der Finger blitzte im schwachen Licht der Schwimmbadbeleuchtung ein Diamantring auf, und daher wusste sie noch bevor sie Manuels Stimme hörte, wer es war.
“Mach die Tür auf Vanessa. Es ist vorbei. Du kommst jetzt mit mir nach Hause.”
Emmas Gedanken jagten in tausend verschiedene Richtungen, als sie sich halb betäubt wieder aufrichtete. Wie hatte Manuel sie finden können? Und wie konnte sie Max vor dem bewahren, was jetzt passieren würde? Glücklicherweise schlief er tief und fest. Noch forderten die anstrengende Reise und die ständigen Bluttests ihren Tribut, aber wenn dieser Lärm weiter so tobte, würde er bestimmt aufwachen.
“Vanessa?” Manuel versuchte jetzt ruhig und freundlich zu klingen.
Sie wurde von einer Welle des Schreckens und der Verzweiflung erfasst. Ihr Herz schlug bis zum Hals, ihre Hand umklammerte krampfhaft den Baseballschläger, den sie auch im Fallen nicht losgelassen hatte.
“Was ist?”, fragte sie benommen und mit schwacher Stimme.
“Lass mich rein!”, rief er halblaut, aber in seiner Stimme lag ein drohender Unterton, der ihr signalisieren sollte, dass ihr Schlimmes bevorstand, wenn sie nicht gehorchte. Und Emma war tatsächlich so verängstigt, so daran gewöhnt, diesem Mann hörig zu sein und alles zu tun, was er verlangte, dass sie beinahe gehorcht hätte.
Beinahe. Dann aber packte sie den Baseballschläger noch fester und richtete sich auf. “Nein. Geh weg! Ich hab einen Baseballschläger. Und wenn du mich nicht in Ruhe lässt, werde ich mich damit verteidigen.”
“Ein Baseballschläger? Du drohst mir mit einem Baseballschläger?” Manuel rüttelte heftig an der Tür und die Kette rasselte hin und her. Dann griff er wieder durch den Spalt und versuchte die Sicherung zu lösen.
Mühsam rappelte Emma sich auf und starrte auf seine Hand. Sie wagte es nicht, näher zur Tür zu gehen und stand einfach da. Wie gelähmt sah sie zu, wie diese Hand, die sich so oft auf widerliche Art an ihrem Körper vergangen hatte, sich dort abmühte. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn, sie zitterte.
Als Manuel wieder auf sie einredete, bemühte er sich freundlicher zu klingen. “Ich will nur mit dir reden, querida. Das ist doch total verrückt. Was du da tust, macht überhaupt keinen Sinn. Warum willst du denn vor mir davonlaufen? Ich liebe dich.”
Welch eine Lüge! Er hatte sie missbraucht und ihr jede Lebensfreude genommen.
“Lass mich … lass mich in Ruhe! Bitte Manuel, ich möchte dich nicht verletzen. Geh weg. Geh zurück in deine Welt, und lass mich mein eigenes Leben führen.”
“Du willst mich also sitzen lassen, weil du einen anderen gefunden hast, der es dir besorgt. Diesen lächerlichen Mistkerl, der gerade hier rausgekommen ist?”, schrie er.
Emma schnappte nach Luft und schlug die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Preston! Wenn Manuel ihn beobachtet hatte …
“Wo ist er?”, fragte sie in Panik. “Was hast du mit ihm gemacht?”
“Noch nichts, mi amor. Ich werde deinem Lover auch nichts tun, wenn du jetzt endlich die Tür aufmachst. Wenn du zu mir zurückkommst, ist alles okay, und es wird wieder so wie früher.”
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, sie bekam fast schon keine Luft mehr. Juanita ist tot. Die Polizei hat ihre Leiche gefunden.
War Preston auch tot? Lag er dort draußen verletzt auf dem Boden?
Dieser Gedanke hätte sie beinahe dazu gebracht, die Kette zu lösen und nach draußen zu stürzen, mit erhobenem Baseballschläger. Die Angst um Preston ließ sie für einen kurzen Moment alles andere vergessen. Aber dann fiel ihr Max ein. Wenn sie die Tür aufmachte, würde Manuel hereinstürzen und ihr den Schläger wegnehmen. Und dann wäre sie ihm wieder hilflos ausgeliefert.
“Komm schon, querida. Wenn du nicht mit mir zusammenleben willst, können wir uns ja etwas überlegen”, sagte er, während er immer noch an der Kette herumfummelte. “Du kannst doch in San Diego leben. Und ich kann ab und zu meinen Sohn besuchen. Das Recht dazu habe ich schließlich.”
Normalerweise ja. Und Manuel wusste natürlich, wie sehr sie ihren Sohn liebte, und dass sie es nicht übers Herz bringen würde, ihm irgendetwas abzuschlagen. Aber sie durfte Max nicht erlauben, mit Manuel zusammen zu sein. Manuel hatte Juanita getötet. Er war gefährlich. Er war ein Verbrecher.
“Jetzt hast du das Recht nicht mehr”, sagte sie.
“Was?”
“Du hast es verwirkt, als du Juanita umgebracht hast.”
“Mach jetzt endlich die verdammte Tür auf!”
Wieder packte Emma die Angst. Aber dann erkannte sie im Bruchteil einer Sekunde, was sie tun musste. Sie hatte nur eine Wahl. Wenn sie Manuel hereinließ, nützte das Preston auch nichts. Sollte Manuel sie in seine Gewalt bekommen, wäre alles vorbei, ob sie nun versuchte, sich mit dem Baseballschläger zu wehren oder nicht. Sie hatte die Beweise bereits an die Polizei geschickt. Seine Familie würde niemals zulassen, dass sie am Leben blieb, selbst wenn Manuel sie verschonen wollte. Er würde sie töten, das stand fest. Und Preston würde er auch umbringen.
Es gab nur eine Möglichkeit.
Fast war es Manuel gelungen, die Kette zu lösen. Er hatte sie bereits ein Stück aus dem Schloss gezogen. Noch ein paar Sekunden, dann …
Ein heftiger Adrenalinstoß peitschte durch Emmas Körper, aber es gelang ihr, die Panik zu bezwingen. Sie nahm alle Kraft zusammen und drückte die Tür zu.
Manuel schrie laut auf, als die Kante der Tür seine Hand gegen den Türrahmen quetschte. Aber es war ihr egal. Sie würde ihn auf keinen Fall hereinlassen. Es kümmerte sie nicht mehr, dass er einen solchen Lärm machte oder dass Max jeden Moment aufwachen konnte. Sie hoffte nur noch, irgendjemand in der Nachbarschaft würde den Krach hören und ihr helfen.
Aber das sah eher unwahrscheinlich aus. Falls Preston sich noch in der Nähe des Motels aufhielt, wäre er doch längst hier. Und andere Menschen gab es im gesamten Neubaukomplex nicht.
Manuel brüllte wie am Spieß, und Emma hätte dieses grässliche Geschrei gern aus ihrem Bewusstsein verbannt, genau wie seine ekelhafte Hand, die noch immer zwischen Tür und Rahmen eingequetscht war und dort herumzappelte. Bei dem Anblick rebellierte ihr Magen.
Denk nicht darüber nach. Bleib stark … Lass ihn nicht rein … lass ihn nicht rein … bitte nicht …
Schließlich warf Manuel sich so heftig gegen die Tür, dass sie einen Spaltbreit aufging und er seine Hand herausziehen konnte. Dann knallte sie zu und Emma blockierte die Kette. Im gleichen Moment erkannte sie, dass Manuel dort draußen nicht einfach verschwinden würde. Er fluchte und brüllte die übelsten Beschimpfungen, die sie je gehört hatte.
“Du dreckige Nutte, du hast mir die Hand gebrochen! Das wirst du mir büßen. Ich bringe dich um! Du bist tot! Du bist schon so gut wie tot! Aber ich werde dich langsam sterben lassen. Und es wird mir richtig Spaß machen.”
Emma hastete zum Telefon. Das Motel sollte eigentlich erst am Tag der offiziellen Eröffnung einen Anschluss bekommen, aber vielleicht funktionierte es ja schon …
Kein Freizeichen. Und Manuel stand nicht mehr vor der Tür. Er ging zum Fenster. Sie sah seinen Schatten durch die Gardinen. Einen Moment fummelte er am Schloss herum. Zuerst dachte sie, er wolle es aufstemmen, aber dann hörte sie, wie Glas splitterte. Und jetzt stieg er tatsächlich ein.
Emma hob den Baseballschläger und rannte in Max’ Zimmer. Sie würde ihn verteidigen, koste es, was es wolle. Aber der Junge war inzwischen von dem Lärm aufgewacht. Beinahe wäre sie über ihn gefallen, als er ihr im Flur in den Weg trat.
“Mommy?”, fragte er verunsichert.
Schon wollte sie Max hochheben und mit ihm zur Tür rennen, nach draußen und dann zum Auto. Aber Max war zu schwer, so weit könnte sie ihn gar nicht tragen, und Manuel war zu nahe, um das Risiko einzugehen. Er würde ihr den Weg abschneiden, noch bevor sie den Parkplatz erreicht hatte.
Das Badezimmer! Im Badezimmer gab es keine Fenster. Dort konnten sie sich verbarrikadieren und darauf hoffen, dass die Handwerker bald zur Arbeit kämen. Und wenn Manuel es schaffte, die Tür aufzubrechen, würde sie den Baseball-Schläger benutzen. Ihr blieb keine andere Wahl.
“Komm schnell, Max!”, rief sie und versuchte ihn ins Schlafzimmer zu schieben. Aber Manuel war schon durchs Fenster gestiegen.
“Beeil dich!” Das Badezimmer schien meilenweit entfernt. Emma konnte kaum noch atmen. Sie kam nur langsam voran und hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken …
“Ist das ein Räuber?”, fragte Max völlig verwirrt und verängstigt.
Aber sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihn in Richtung Badezimmer zu drängen, um zu antworten.
Nur noch drei Schritte vom Badezimmer entfernt, hörte sie seine Schritte direkt hinter sich. Laut fluchend kam Manuel näher. Offenbar hatte er sich beim Zerschlagen der Fensterscheibe geschnitten. Aber die Verletzung konnte ihn nicht bremsen, so wütend war er. Jetzt spürte Emma seinen heißen Atem im Nacken. Und dann packte er sie an den Haaren und zerrte sie mit brutaler Gewalt zurück. Ein grauenhafter Schmerz durchzuckte sie, und sie stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.
Vincents Haus war zwei Stockwerke hoch und aus Holz und Stein erbaut. Das weitläufige Gebäude lag am Ufer eines kleinen Flusses, mit einer großen Glasfront zum Wasser. Ein kleines Wäldchen am Rand des Grundstücks bot das ideale Versteck, um zu beobachten, was sich im Garten und hinter der großen Scheibe im Inneren des Hauses tat. Doch leider war es noch dunkel und dementsprechend wenig gab es zu sehen.
Im Schutz der Bäume schaltete Preston die Taschenlampe aus, die er auf dem Weg durch das Wäldchen benutzt hatte. Nun stand er am Zaun, der den Garten umfasste und klopfte vorsichtig gegen die hölzernen Bretter. Er hörte nichts. Trotzdem warf er einen Hamburger über den Zaun – für den Fall, dass Vincent sich einen Wachhund angeschafft hatte. Mit einem Zähne fletschenden Ungetüm wollte er es jetzt nicht zu tun bekommen. Aber tatsächlich rechnete er nicht damit, denn Vincent war nicht der Typ, der sich Haustiere anschaffte. Er wollte sich nicht mit etwas belasten, um das er sich kümmern musste. Es überraschte Preston also nicht weiter, als er keinen Hund sah und kein Bellen hörte.
Er kletterte über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite lautlos hinabgleiten. Eine Rasenfläche erstreckte sich von hier aus bis zum Fluss. Da die hohen Bäume hinter ihm das Mondlicht dämpften, fiel es Preston schwer, überhaupt etwas auszumachen, aber er glaubte zu erkennen, dass am Ufer ein kleines Boot oder Kanu festgemacht war. Wenn das Flüsschen breit genug gewesen wäre, hätte Vincent es sich bestimmt nicht nehmen lassen, eine echte Yacht anzuschaffen.
Preston schlich an einem steinernen Grill und einigen Gartenstühlen vorbei zur Veranda, die sich jenseits eines kleinen Swimmingpools erstreckte. Über sich hörte er ein Windspiel läuten und etwas weiter entfernt das Gurgeln des Baches. Von drinnen drangen die leisen Klänge klassischer Musik in den Garten. War Vincent etwa nicht allein?
Der Kontrast zwischen Joanies jämmerlicher Wohnung und diesem großen Haus stimmte Preston traurig. Irgendwie hatte Vincent es immer wieder geschafft, sich aus schwierigen Situationen herauszulavieren.
Aber heute Nacht wäre damit Schluss. Entweder Vincent gestand alles, oder er würde seine Geheimnisse mit ins Grab nehmen.
Die Verandatür war abgeschlossen. Kurz überlegte Preston, ob Vincent nach Joanies Auszug eine Alarmanlage installiert hatte, hielt das aber eher für unwahrscheinlich. Mit dem Pistolengriff schlug er eine kleine Ecke der Scheibe in der Verandatür aus, um den Türgriff zu betätigen. Nachdem das Glas mit einem leisen Klirren zu Boden gefallen war, horchte er, ob sich drinnen etwas bewegte.
Als er nichts hörte, griff er hinein und öffnete die Tür.
Im Inneren des Hauses war es sehr weitläufig, sehr sauber, und es herrschte eine penible Ordnung. Es roch wie in einem italienischen Restaurant. Die Musik kam von einer Stereoanlage, die über dem TV-Bildschirm in einem Schrank eingebaut war. Offenbar ging es Vincent trotz aller Widrigkeiten in der Vergangenheit ziemlich gut.
Aber wo steckte er?
Preston bewegte sich leise durch das Haus und entdeckte die Tür zur Garage. Joanie hatte doch behauptet, Vincent würde hier einige alte Aufzeichnungen aufbewahren. Die wollte er lieber vorher in Augenschein nehmen, um sicherzugehen, dass er keine möglichen Beweismittel übersah.
Auf einem Metallregal an der Kopfseite der Garage standen jede Menge Ordner, aber die meisten davon waren leer. Preston fand keine Informationen, die in irgendeiner Weise mit Melanie, Billy oder Dallas zusammenhingen.
Noch eine Sackgasse also. Preston lehnte sich nach vorn und legte die Stirn gegen das kalte Metall des Regals. Er spürte die Pistole in seinem Gürtel, die jetzt gegen seinen Bauch drückte. Nun war es an Vincent, die Wahrheit zu erzählen. Auf die eine oder andere Art würde die schreckliche Zeit der letzten zwei Jahre jetzt vorübergehen. Zumindest das würde eine Erleichterung sein.
Entschlossen kehrte er ins Haus zurück und stieg die Treppen in der Eingangshalle zum ersten Stock hinauf. Dank der Musik, die aus dem Erdgeschoss nach oben drang, musste er sich keine Gedanken darüber machen, ob Vincent ihn zu früh bemerkte.
Auf der linken Seite der Galerie gingen mehrere Türen ab, rechts war das Geländer, über das hinweg man hinunter ins Wohnzimmer schauen konnte. Die ersten drei Zimmer waren Gästezimmer, alle leer. Dann kam ein Arbeitszimmer, und am Ende des Gangs gelangte Preston zu einer Flügeltür, deren eine Tür leicht offen stand. Offensichtlich das große Schlafzimmer.
Preston knipste die Taschenlampe aus und schob die Tür ein Stückchen weiter auf. Er wollte warten, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber im Inneren des Schlafzimmers entdeckte er ein großes beleuchtetes Aquarium, in dem zahlreiche Tropenfische schwammen. Preston fragte sich zerstreut, wer wohl die Fische fütterte und das Becken sauber hielt. Wahrscheinlich beschäftigte Vincent eine Haushälterin, die sich auch darum kümmerte.
In dem Bett lag jemand, und Preston zog die Pistole aus dem Gürtel. Zu seiner großen Überraschung war Vincent tatsächlich allein. Aber vermutlich noch nicht sehr lange, denn in der Luft hing noch das Parfüm einer Frau.
Er trat zum Bett und stieß den Mann darin mit dem Pistolenlauf in die Seite. “Was ist denn los mit dir Vincent, ist dir das Viagra ausgegangen?”, fragte er.
Vincent schnaubte, drehte sich um, hob den Kopf und sah ihn verschlafen an. “Was ist denn los?”
“Ich bin’s. Erkennst du mich nicht mehr, alter Freund?”
“P-Preston?” Vincent wurde schlagartig wach und setzte sich auf. Die letzten Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, stellte Preston fest. Als die Decke zur Seite fiel, entblößte sie einen weißen dicklichen Oberkörper, dessen Brust wenige dunkle Haare bedeckten. Nicht gerade ein Anblick, dem eine hübsche junge Sprechstundenhilfe verfallen würde, oder?
“W-was tust d-du denn hier?”, rief Vincent gleichermaßen verwundert und erschrocken.
Preston zuckte mit den Schultern. “Ich dachte mir, ich schaue mal vorbei und sage hallo. Freust du dich nicht, mich zu sehen?”
Jetzt bemerkte Vincent die Pistole. Er kniff die Augen zusammen, als könne er nicht glauben, was er da sah. Dann schreckte er zurück und lehnte sich ängstlich gegen die Kopfseite des Bettes. “D-du bist doch nicht der T-Typ für so was, P-Preston,” sagte er. “Du w-würdest doch niemals jemanden er-erschießen.”
Preston strich sich die Haare aus dem Gesicht. “Das trifft vielleicht auf den Preston zu, den du vor zwei Jahren gekannt hast. Aber es ist schon eigenartig, Vincent, man muss einem Menschen nur etwas wirklich Schlimmes antun und dann kann man sich nicht mehr sicher sein, wozu er alles fähig ist.”
“A-aber, du willst dir doch nicht dein Leben ruinieren.”
“Es ist schon längst ruiniert. Du hast alles zerstört, was ich je hatte, als du meinen Sohn umgebracht hast. Ich habe keinen Job mehr, keine Frau, keine Familie.”
Ganz kurz musste Preston an Emma und Max denken. Das waren sehr wohl zwei Menschen, die irgendwie zu ihm gehörten, zwei Menschen, um die er sich sorgte. Aber er wollte nicht, dass dieser Gedanke ihn von dem abhielt, was er sich vorgenommen hatte. Er musste es jetzt endlich zu Ende bringen.
Vincent wurde leichenblass. “W-wo ist Diane?”
“Anscheinend ist sie nach Hause gegangen.”
“H-hast du sie fortgeschickt?”
“Ich hätte sie sehr freundlich darum gebeten zu gehen, wenn ich sie getroffen hätte. Aber es war nicht nötig. Sie war nicht mehr da, als ich kam. Steh auf. Ich möchte mich gern ein bisschen mit dir unterhalten.”
“Kannst du mich kurz allein lassen, damit ich mich anziehen kann?”, fragte Vincent, dem es jetzt endlich gelang, sein Stottern zu überwinden.
“Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass es in meinem Interesse liegt, dich allein zu lassen, Vincent.” Preston bemerkte eine Hose, die auf dem Boden lag und er schob sie mit dem Fuß zu ihm hin. “Hier nimm die. Viel mehr brauchst du sowieso nicht.”
“Was hast du denn vor?”, fragte Vincent, nachdem er aus dem Bett gestiegen war, um sich die Hose anzuziehen.
“Wir gehen nach unten.”
Vincents Haare standen an den Seiten ab, und er versuchte vergeblich sie glatt zu streichen, als er nervös den Flur entlangging.
“Du musst dich nicht extra schick für mich machen”, sagte Preston sarkastisch.
“Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, Preston”, sagte Vincent. “Aber ich habe Dallas nichts angetan. Jedes Kind kann eine Hirnhautentzündung bekommen. Ich habe versucht, ihn zu retten. Gott weiß, dass ich nicht wollte, dass er stirbt.”
“Und was war mit Melanie Deets, Vincent?”
“Sie ist doch gar nicht gestorben. Ich habe sie gerettet. Sie – sie haben sogar einen Park nach mir benannt. Du kannst nachfragen, wie es war.”
“Sie war eine richtig gute Schülerin. Und jetzt ist sie kaum noch in der Lage zu lernen.”
“Es gibt manchmal eben bleibende Schäden, das lässt sich nicht ausschließen. Wofür willst du mich denn noch verantwortlich machen.”
“Zum Beispiel für den Fall Billy Duran.”
“Ich wollte sein Leben retten. Ich bin – ich bin doch Arzt, aber ich kann nichts Übermenschliches leisten.”
“Das verlange ich auch nicht von dir. Es hätte schon ausgereicht, wenn du menschlich gehandelt hättest. Aber stattdessen hast du sie alle auf dem Gewissen.”
Im Wohnzimmer angelangt, sagte Preston: “Mach das Licht an.”
Zusammen mit dem Licht sprang auch ein Ventilator an. “Wenn du mir sowieso nicht glauben willst, warum bist du dann gekommen?”, fragte Vincent.
“Hol dir ein Stück Papier. Für ein schriftliches Geständnis.”
“Preston, ich bitte dich …”
“Du sollst einen Zettel holen.”
Vincent ging zum Schreibtisch und holte einen Zettel und einen Stift. “I-ich will aber nicht ins G-Gefängnis, Preston. D-das würde mich umbringen. G-ganz bestimmt.”
Preston verzog das Gesicht. Er hasste diesen weinerlichen Ton in Vincents Stimme. “Darüber hättest du dir früher Gedanken machen müssen, bevor du meinen Sohn krank gemacht hast.”
“Okay, Preston. D-du hast recht. Vielleicht habe ich … Dallas noch etwas kranker gemacht, als er schon war, aber d-das liegt nur daran, dass mit mir etwas nicht stimmt, weißt du.” Tränen liefen über seine Wangen, aber Preston empfand nicht das geringste Mitleid mit ihm. Vincent weinte nur um sich selbst, nicht wegen des schlimmen Unrechts, das er anderen angetan hatte. “Nach Billys Tod habe ich mir geschworen, niemals mehr so ein Risiko einzugehen”, fuhr er schluchzend fort. “Es lief ja alles sehr gut. W-wir waren glücklich, weiß du noch? Wir hatten doch viel Spaß zusammen. A-aber dann hat Dallas diese Grippe bekommen, und d-du hast mich geholt und …” Er hob eine Hand, sie zitterte. “E-es war diese Versuchung, d-diese schreckliche Versuchung. A-aber ich konnte nicht anders, i-ich m-malte mir einfach aus, wie toll es wäre, etwas w-wirklich Wichtiges für dich zu tun. Ich wollte doch nur das Beste. Ich wollte ihm nichts antun …”
Preston schlug mit dem Pistolengriff energisch auf die Tischplatte. “Du wolltest ihm nichts antun? Du hast ihn umgebracht, du Schweinehund!” Mit einem Mal wusste er, dass es ihm überhaupt nicht schwerfallen würde, auf den Abzug zu drücken. Es war schon beinahe erschreckend, wie gering er diesen Menschen schätzte, der da vor ihm saß und wie ein Schlosshund heulte. Er musste einfach nur an Dallas denken. Wie konnte dieser Kerl nur Nachsicht von ihm erwarten?
Vincent fiel vor ihm auf die Knie. “Bitte, Preston. Wir sind doch mal Freunde gewesen. Du – du weißt ja gar nicht, was du für mich bedeutet hast. Ich – ich wollte doch nur – dass du mich bewunderst, nur halb so viel, wie ich dich bewundert habe. Ich – ich wollte dir …”
Preston zielte mit der Pistole direkt auf Vincents Herz. “Du sollst jetzt dein Geständnis schreiben.”
Tränenüberströmt schaute Vincent ihn an. Er riss die Augen auf und rang verzweifelt die Hände. “E-es würde dir doch g-gar nichts nützen. V-verstehst du denn nicht? Es wäre doch unter Druck verfasst worden.”
“Es wird sehr wohl etwas nützen, wenn ich genug Indizien liefern kann. Ich will genau die Informationen, die nur du mir liefern kannst. Wie hast du es gemacht? Warum? Und ich will, dass du es alles ganz genau beschreibst. Wahrscheinlich dauert es ein paar Stunden, na gut, dann setze ich mich eben so lange hin. Aber du wirst das jetzt alles aufschreiben. Du sollst erklären, was du Melanie Deets, Billy Duran und …” Preston konnte kaum noch weitersprechen. “Und was du mit dem Jungen gemacht hast, den ich mehr als alles in der Welt geliebt habe und den du mir weggenommen hast.”
Vincent setzte sich an den Schreibtisch und fing an zu schreiben, aber als er den ersten Abschnitt fertig hatte, hielt er inne. “Ich bitte dich, Preston, ich kann doch nicht …” Er stand vom Stuhl auf und kniete vor Preston nieder. “Ich bin ein kranker Mann … es ist in meinem Kopf. D-das ist leider so. Es ist mein Problem. Ich brauche Hilfe. Aber i-ich kann nicht ins Gefängnis gehen. D-das ist unmöglich. Die bringen mich doch um da drinnen.”
Aber Preston spürte nichts als Ekel vor diesem weinerlichen Kerl. “Steh auf und übernimm die Verantwortung für die Verbrechen, die du begangen hast!”
Statt zu tun, was er verlangte, vergrub Vincent das Gesicht in den Händen und schluchzte erneut los. “Hilf mir, bitte, Preston. Du bist doch mein Freund.”
Preston merkte wie die Hand, in der er die Waffe hielt, zu zittern begann. Er wollte endlich schießen. Das Bedürfnis danach war so stark, dass er schon den Rückstoß im Arm spürte, obwohl er noch gar nicht abgedrückt hatte.
Aber noch bevor er zu einem Entschluss kam, hörte er ein Geräusch, das tatsächlich wie ein Schuss klang. Das Fenster hinter ihm zersprang mit einem lauten Knall, und irgendetwas stürzte von hinten auf ihn zu und warf ihn nach vorn, mit dem Gesicht auf den Boden.