20. KAPITEL

Preston zögerte, als er das Handy in Empfang nahm. Nach allem, was Max gerade ausgeplaudert hatte, war klar, dass seine Mutter ihm eine Menge Fragen stellen würde – viel mehr als ihm lieb waren.

“Willst du denn nicht mit ihr sprechen?”, fragte Emma erstaunt.

Widerstrebend ließ Preston sich wieder auf das Bett fallen. “Hallo?”

Als sie seine Stimme hörte, sagte seine Mutter: “Du bist es wirklich. Gerade dachte ich noch, ich könnte vielleicht doch die falsche Nummer gewählt haben.

Vielleicht, überlegte er, sollte ich jetzt auflegen und sie in diesem Glauben lassen.

“Was ist denn bei dir los?”, fragte sie.

“Gar nichts.”

“Und wer war der kleine Junge, der sich gemeldet hat?”

“Niemand.”

“Er sagte, du hättest ihm Unterwäsche gekauft.”

Preston antwortete nicht.

“Er hat auch gesagt, seine Mutter sei dort.”

“Mom …”

“Hast du jemanden kennengelernt? Habe ich vielleicht sogar einen Grund, mich zu freuen?”

“Nein, bestimmt nicht.”

Emma stand auf und zog Max aus dem Zimmer, ganz offensichtlich, um ihm mehr Privatsphäre zu schaffen.

“Mit wem bist du denn zusammen?”

“Nur mit jemandem, den ich unterwegs ein Stück mitgenommen habe. Das hat nichts zu bedeuten.” Aus dem Augenwinkel sah er, wie Emma an der Verbindungstür innehielt, und er wusste, dass sie mitgehört hatte. Da erst bemerkte er, wie herzlos seine Antwort geklungen hatte. Aber er konnte nichts hinzufügen, um seine Aussage abzuschwächen, da seine Mutter sonst auf völlig falsche Gedanken gekommen wäre. Und dann hätte sie gesagt, wie dankbar sie doch sei, dass er endlich jemanden gefunden hatte und dass sie einen neuen Enkelsohn bekommen hätte, und wie sehr sie doch gebetet hatte, es möge eines Tages ein solches Wunder geschehen. Tatsächlich war die ganze Angelegenheit auch so schon kompliziert genug.

“Du hast jemanden mitgenommen?”, rief sie. “Eine Tramperin? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist?”

Und dabei hatte er Manuel noch nicht einmal erwähnt …

“Nur eine Frau mit einem Kind, Mom, kein Grund sich aufzuregen.”

Emma war jetzt im Wohnzimmer verschwunden, aber seine Antwort kam ihm dennoch ziemlich abwegig vor, nicht nur wegen Manuel. Kein Grund sich aufzuregen? Es war unglaublich aufregend gewesen, eben gerade noch, als Max ihn umarmt hatte. Und viel aufregender noch, als er und Emma sich geliebt hatten und er später mit ihr zusammen im Bett gelegen hatte.

“Sie könnte dich ausrauben und weglaufen, während du schläfst”, sagte seine Mutter.

Tatsächlich war Preston schon fast wieder so weit zu glauben, dass es das Beste für ihn wäre, wenn Emma und Max einfach fortliefen, während er schlief. Sie irgendwo abzusetzen und dann einfach wegzufahren, würde ihm nicht leichtfallen. Und gern könnte sie auch noch ein bisschen Geld mitgehen lassen, wenn sie sich heimlich davonmachten, umso besser. Dann müsste er sich nämlich keine Sorgen darum machen, woher sie etwas zu essen bekamen.

“Darüber würde ich mich direkt freuen”, murmelte er.

“Was?”

“Vergiss es. Das verstehst du nicht.” Wie sollte sie auch? Nicht einmal er verstand die Situation, in die er hineingeraten war. Die Hälfte seiner Zeit dachte er über Emma nach, die andere über Vincent. Wenn er weiterhin plante, Vincent zur Verantwortung zu ziehen, musste er allein bleiben, denn es war nicht auszuschließen, dass er danach ins Gefängnis musste und Emma nie wiedersehen würde.

Es gab eine längere Pause, dann sagte seine Mutter: “Christy hat mich gestern Abend angerufen.”

“Warum das denn?”

“Sie macht sich große Sorgen um dich.”

“Warum denn?”

“Weil du immer noch in der Vergangenheit lebst.”

Preston hatte keine Lust, sich zu verteidigen. “Hat sie dir auch gesagt, dass ich den Mistkerl gefunden habe?”

“Das hat sie. Aber was soll das denn bringen? Du hast doch immer wieder versucht, die Polizei dazu zu bewegen, die Machenschaften dieses Arztes zu untersuchen, und sie haben es abgelehnt.”

“Weil sie glauben, dass ich nur ein verzweifelter Vater bin, der nicht über den Tod seines Sohnes hinwegkommt.” Preston hörte, wie Max im Nebenzimmer mit jemandem vom Zimmerservice sprach. Das Frühstück war gekommen.

“Du bist ja auch ein verzweifelter Vater, der nicht über den Tod seines Sohnss hinwegkommt. Wann wirst du Dallas endlich loslassen, Preston? Ich habe ihn auch sehr geliebt. Bis Michelle ein Kind bekam, war er mein einziger Enkel. Aber wie sehr du ihn auch liebst, du kannst nicht so weitermachen. Du machst dir dein ganzes Leben kaputt.”

“Mom …”

“Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht länger zurückhalten. Ich kann einfach nicht mehr ertragen, was du dir antust.”

Preston seufzte laut. “Aber ich muss es einfach tun.”

“Nein, du musst nicht. Ich habe versucht, dich in deinem Kummer nicht zu stören, ich wollte dich nicht bevormunden, dir Zeit lassen, über diese schreckliche Sache hinwegzukommen, weil ich dachte, dass du es eines Tages schon irgendwie schaffst. Aber du schaffst es nicht. Es muss aber einmal Schluss damit sein.”

“Es ist Schluss damit, wenn Vincent dafür bezahlt hat.”

“Hör zu, Preston! Du brauchst Hilfe, professionelle Hilfe!”

“Soll das heißen, du hältst mich für verrückt?”

“Christy war doch auch dabei, als das alles passiert ist, und sie ist fest davon überzeugt, dass Vincent nicht für Dallas’ Tod verantwortlich ist.”

Christy wollte einfach nicht wahrhaben, wie sehr sie selbst für alles verantwortlich waren – sie hatten Vincent schließlich gerufen. “Christy hat unrecht.”

“Ich kann das wirklich nicht glauben. Sie hat ihr Leben neu geordnet, während du im ganzen Land herumfährst und deine Zeit in Motels verbringst. Meistens kann ich dich überhaupt nicht erreichen. Und wenn wir mal miteinander sprechen, machst du mir nur Angst mit deinem ganzen Gerede von Rache und Vergeltung.”

“Irgendjemand muss ihm doch das Handwerk legen”, stieß er aufgebracht hervor.

“Und was willst du tun, wenn du ihm irgendwann einmal gegenüberstehen solltest?”

Diese Frage hatte Preston sich selbst schon tausendmal gestellt, aber noch immer keine Antwort darauf gefunden. Er schuldete es Dallas, die Angelegenheit ins Reine zu bringen. Er musste Vincent das Handwerk legen, damit er nicht noch mehr Kinder ins Unglück oder gar in den Tod stürzte. Aber wie weit würde er dafür gehen?

Er dachte an die Pistole, die er seit über einem Jahr bei sich trug. Würde er sie benutzen?

“Darüber denke ich nach, wenn es so weit ist”, sagte er. “Ich finde jeden Tag neue Hinweise. Vielleicht wird sich eines Tages ja sogar das FBI dafür interessieren.”

“Du weißt, dass das so gut wie unmöglich ist.”

Preston wusste ganz genau, was passiert war, aber ihm fehlten die nötigen Beweise. Und weil er in dieser Angelegenheit so verbissen war, glaubte ihm niemand. Sein Beharren darauf, dass Vincent den Tod seines Sohnes unmittelbar verschuldet hatte, rief im Allgemeinen nur mitleidiges Kopfschütteln hervor. Er hasste diese Reaktion. Nicht einmal Christy hatte sich auf seine Seite gestellt. Ihre Weigerung, ihn dabei zu unterstützen, Vincent zur Verantwortung zu ziehen, war die größte Enttäuschung von allen.

“Es ist jetzt zwei Jahre her”, fuhr seine Mutter fort. “Wie lange willst du noch so weitermachen?”

“Ich bringe die Sache zu Ende, egal wie lang es dauert.”

“Preston, bitte! Dallas ist tot, aber du lebst doch noch!”

Zwei Jahre hatte Preston sich leer und leblos gefühlt, aber seit Emma und Max in sein Leben getreten waren, änderte sich einiges. Mit einem Mal empfand er wieder Gefühle wie Sehnsucht, Zärtlichkeit, Geborgenheit und sogar Hoffnung. Aber diese Gefühle brachten auch ihren eigenen Schmerz mit sich, und das führte ihn zu der Frage, ob er allein und nur auf sich gestellt nicht besser dran wäre. Vor allem, weil seine Aufgabe noch nicht beendet war.

“Ich möchte nicht mehr darüber reden”, sagte er. “Es macht keinen Sinn. Wir werden nie einer Meinung sein.”

Er hörte, wie Emma im Nebenzimmer mit Max schimpfte, er solle still sitzen und aufpassen, dass er die Milch nicht verschüttete. Preston wollte zu ihnen gehen und mit ihnen frühstücken. Warum er sein Leben so viel angenehmer fand, wenn er mit ihnen zusammen war, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Es war einfach gut, endlich mal wieder für jemanden da sein zu können. Wenn er sich um sie kümmerte, hatte sein Leben noch einen anderen Sinn als nur den, hinter Vincent herzujagen. “Ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe dich an, wenn ich in Iowa bin, okay?”

“Preston?”

“Was?”

“Tu bitte nichts Unüberlegtes. Es mag dir ja egal sein, was mit dir geschieht, aber ich bin immer noch deine Mutter. Wenn dir irgendetwas zustößt –” sie konnte nur noch mit Mühe sprechen “– dann bricht mir das Herz. Es war auch so schon alles furchtbar schwer.”

Preston fühlte sich schuldig, weil er so ungeduldig reagiert hatte. Er legte einen Arm über die Augen. Seine Mutter verstand zwar nicht, was ihn antrieb, aber sie liebte ihn. Sie war immer sehr fürsorglich gewesen, und er und seine Stiefschwester waren alles, was ihr nach dem Tod seines Vaters noch geblieben war.

“Ich passe schon auf mich auf”, versprach er.

Nebraska war tatsächlich genauso flach, wie man immer hörte, dachte Emma, nachdem sie die Grenze überschritten hatten. Auf beiden Seiten der Straße dehnten sich endlose Getreidefelder aus, immer noch grün, obwohl es schon Ende August war. Gelegentlich durchschnitten Feldwege die Äcker, und in der Ferne sah man einsam gelegene Bauernhöfe oder Scheunen.

Sie hörte Max zu, der mit seinem Lerncomputer spielte und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, in so einer Gegend zu wohnen, mitten auf dem Land, umgeben von summenden Bienen und Blumenwiesen und dem entfernten Geräusch eines Traktors, der über ein Feld rumpelte, während der Sommerwind über die Ähren strich.

Es würde ihr bestimmt gefallen, dachte sie. Sie würde gern ein einfaches schlichtes Leben führen, draußen auf der Veranda eines kleinen Häuschens sitzen und Max dabei zusehen, wie er im Hof mit einem großen Hund spielte.

“Müde?”, fragte Preston.

Sie warf ihm einen Blick zu. Zur Abwechslung hielt er das Steuer einmal mit beiden Händen umfasst und steuerte den Wagen die endlos lange gerade Straße entlang. Sie versuchte nicht an das zu denken, was er am Telefon zu seiner Mutter gesagt hatte. Den ganzen Morgen schon bemühte sie sich, es zu vermeiden, aber immer wieder kam ihr dieser Satz in den Sinn: Nur jemand, den ich unterwegs ein Stück mitgenommen habe. Das hat nichts zu bedeuten.

Er hatte sie gemeint, als er sagte: “Das hat nichts zu bedeuten”.

“Ein bisschen schon”, sagte sie.

“Du bist sehr schweigsam heute.”

Es gab eben nicht viel zu sagen. Sie kam sich lächerlich vor, weil sie sich unter der Dusche die tollsten Sachen für ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt hatte, weil sie geglaubt hatte, dass es ihm etwas bedeutete, was gestern Abend passiert war. Und es überraschte sie sehr, wie weh ihr der Gedanke daran tat. Vor einer Woche erst hatte sie sich vorgenommen, ganz neu anzufangen und unabhängig zu bleiben. Aber nur wenige Tage in Prestons Gegenwart reichten, um ihr überdeutlich zu zeigen, wie sehr sie sich nach Liebe und Zuneigung sehnte.

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Sie hätte es wirklich besser wissen müssen und sich niemals so gehen lassen dürfen.

“Emma?”

“Was?”

“Stimmt etwas nicht?”

“Nein.”

“Woran denkst du?”

“An die Zukunft.”

“Und wie stellst du dir deine Zukunft vor?”

Sie schlug die Augen auf und bewunderte die Wiesen, Felder und Beete und die hübschen bunten Bauernhöfe, die mitten darin lagen und wünschte sich, ihr Leben könnte so wohlgeordnet sein. “Ich möchte in einem kleinen Städtchen wohnen.”

“Und weiter?”

“In einem kleinen gelben Haus mit einem weißen Lattenzaun drum herum und Blumen im Vorgarten.”

“Das klingt aber ganz anders als ein Anwesen mit Swimmingpool. Würdest du das luxuriöse Leben, das du geführt hast, nicht vermissen?”

“Soll das ein Scherz sein? Das Anwesen, auf dem ich gewohnt habe, war ein goldener Käfig, ein Gefängnis. Ich möchte nichts mehr davon sehen und hören. Und abgesehen davon …”, sie zuckte mit den Schultern, “… kann man mit dem Gehalt einer Lehrerin nun mal keine großen Sprünge machen. Ich habe mir aber vorgenommen, mit dem zufrieden zu sein, was ich mir leisten kann.”

“Du möchtest also als Lehrerin arbeiten?”

“Ja, wenn ich eine Anstellung finde.”

“Und wo in Iowa würdest du dich gern niederlassen?”

“Das weiß ich noch nicht.” Vor allem aber fragte sie sich, ob sie wohl schon genug Kilometer zwischen sich und Manuel gebracht hatte. Vielleicht sollte sie Preston bitten, sie in der nächsten Stadt abzusetzen. Je früher sie sich voneinander trennten, umso besser. Und wer wusste schon mit Sicherheit, dass Iowa für sie sicherer war als Nebraska?

Sie faltete die Straßenkarte auseinander, die er auf das Armaturenbrett gelegt hatte. “Vielleicht wäre ein Ort in dieser Gegend hier ja auch ganz hübsch.”

Er schaute sich um. “Hier? Willst du dich etwa in Nebraska niederlassen?”

“Warum nicht?”

“Und warum nicht mehr in Iowa?”

Es waren noch vier Stunden bis zur Landesgrenze. Danach würde er Richtung Cedar Rapids fahren, was noch mal ungefähr fünf Stunden dauern dürfte. Obwohl Max immer noch total fasziniert von seinem Computer war, genoss er es jedes Mal sehr, wenn Preston ab und zu anhielt, damit sie zusammen Baseball spielen konnten. Je länger die beiden Spaß miteinander hatten, umso schwerer würde Max der Abschied fallen. Und auch sie selbst wollte ihn nicht länger als nötig in ihrer Nähe haben, denn nach der Trennung sähen sie sich bestimmt nie wieder. Warum es also noch schwerer machen, als es ohnehin schon war?

“Ich möchte mich einfach nur in einem ländlichen Ort niederlassen, wo ich das Leben führen kann, von dem ich in den vergangenen Jahren geträumt habe. Hier in Nebraska scheint es eine Menge solcher Städtchen zu geben. Das ist doch die Kornkammer Amerikas, stimmt’s?” Sie versuchte zu lächeln, was ihr kläglich misslang. Er lächelte nicht zurück.

“Warum hast du es denn plötzlich so eilig?”, fragte er.

Diese Frage wollte sie lieber nicht beantworten, also tat sie so, als würde sie die Karte intensiv studieren. “Hazard liegt nicht weit entfernt von hier. Das ist bestimmt ein netter Ort. Oder Rockville oder Ashton …”

“Emma.”

Natürlich hörte sie den ernsten Unterton in seiner Stimme, starrte aber trotzdem weiter auf die Landkarte. “Sieht so aus, als könnte es ab dem Missouri wieder gebirgiger werden, also wäre es wohl besser, sich vorher etwas auszusuchen.”

“Es tut mir leid, was ich heute Vormittag am Telefon gesagt habe, falls es das ist, was dich quält.”

“Du musst dich für nichts entschuldigen.” Sie hatte lediglich völlig übertriebene Erwartungen gehabt. Preston hatte sie und ihren Sohn gut behandelt und viel mehr für sie getan, als sie jemals verlangen konnten. Es stand ihr wirklich nicht zu, sich zu beklagen. “Am besten, du fährst die nächste Ausfahrt ab. Ich kann mich ja in Kearney nach einem Job umsehen und wenn es da nichts gibt, suche ich in den Nachbarorten weiter.”

“Ich habe es nicht so gemeint.”

Endlich sah sie ihn doch an. “Natürlich hast du es so gemeint. Wir sind eine Last für dich. Aber der Druck ist jetzt weg, und es gibt keinen Grund mehr für uns, dich weiter zu belästigen.”

Sie verschränkte die Arme und wartete darauf, dass er die nächste Ausfahrt nahm. Aber er fuhr geradewegs daran vorbei.

“Du bist nicht abgebogen.”

Buchstabiere jetzt Zoo …”

“Und was ist mit Manuel?”, fragte er.

“Was soll mit ihm sein?”

“Er kann euch immer noch einholen.”

“Er kann uns überall einholen. Das ist ein Risiko, mit dem ich leben muss. Da kommt schon die nächste Ausfahrt.”

Er zog die Augenbrauen zusammen. “Ich will euch aber nicht hier absetzen.”

“Warum denn nicht?”

Er suchte ihren Blick. “Bleib noch eine Nacht bei mir, Emma.”

Ihr war klar, dass er sie nicht um eine gemeinsame Nacht bat, in der sie ihre Kleider anbehielten. Sie wusste, dass sie ablehnen sollte. Gerade hatte sie sich noch dafür getadelt, dass sie in ihrer Beziehung zu Preston so viel Nähe und Intimität zugelassen hatte. Aber sie bemerkte diese Sehnsucht in seinem Blick und wusste, dass sie die gleiche Sehnsucht verspürte, und schon stockte ihr der Atem.

Dann musste sie daran denken, wie er sie in seinen Wagen geschubst und mit quietschenden Reifen die Tankstelle verlassen hatte, an der sie beinahe Manuel in die Arme gelaufen waren. Sie dachte an den riesigen Umweg, den er für sie in Kauf genommen hatte, an die wunderschönen Kleider, seine Großzügigkeit und seine liebenwerte Art im Umgang mit Max. Wie konnte sie, nach all ihren schrecklichen Erlebnissen mit Manuel, verhindern, dass sie sich in diesen Mann verliebte?

So wie er die Bitte formuliert hatte, schwang etwas Verletzliches mit, die Angst, sie könnte ablehnen. Ach, wenn das doch nur möglich wäre. Aber sie schaffte es einfach nicht, jetzt nein zu sagen. Stattdessen hörte sie ein deutliches “gut” aus ihrem Mund.

Als Preston einen langsam fahrenden Lieferwagen überholte, starrte Emma auf sein Handy, das sie sich von ihm geliehen hatte. “Und deine Nummer wird nicht auf seinem Display erscheinen?”, fragte sie unsicher.

“Nicht, wenn du vorher die Rautetaste drückst und die Zahlenkombination 67 eingibst.”

“Bist du ganz sicher?”

Er schaute auf den Tachometer. “Absolut.”

Max beugte sich nach vorn. “Wen rufst du denn da an, Mommy?”

Aber sie wollte nicht, dass Max etwas davon mitbekam. Vielleicht würde er irgendwann einmal mit seinem Vater sprechen dürfen. Aber heute noch nicht. “Lehn dich bitte wieder zurück, Liebling. Es ist nicht gut, im Auto herumzuzappeln.”

“Aber ich muss mal zur Toilette.”

Emma bezweifelte das, er war schließlich gerade erst dort gewesen. Aber er gab nicht nach. “Wir halten an einem Rastplatz, sobald einer in Sicht kommt, okay?”

“Wann denn?”

“Bald. Setz dich bitte wieder ordentlich hin.”

Endlich gehorchte er, und Emma konnte sich wieder Preston zuwenden. “Ich rufe zuerst bei Rosa an”, sagte sie.

“Was soll das denn bringen? Sie erzählt doch sowieso alles weiter an du-weißt-schon-wen.”

“Aber nur, weil sie Angst hat. Das ist doch ganz normal.”

Er antwortete nicht.

“Abgesehen davon möchte ich unbedingt wissen, wie es Juanita geht. Das wird sie mir ja wohl sagen.”

“Ich möchte mit Juanita sprechen!”, rief Max. “Ich vermisse sie so.”

Emma vermisste sie auch und hoffte inständig, dass es ihr gut ging. Falls ihre Drohung gewirkt hatte und Juanita wieder heil nach Hause gekommen war, wüsste Emma, dass die Liste, die sie besaß, tatsächlich so wichtig war, wie sie hoffte. Hinzu kam, dass sie sich für Juanita verantwortlich fühlte. Wenn sie ihr nicht geholfen hätte, wäre Juanita nie in diese schreckliche Lage gekommen. Sollte ihr etwas Schlimmes zugestoßen sein, würde sie sich das niemals verzeihen.

Sie atmete einmal tief durch und wählte die Nummer.

Hola, das ist der Anrufbeantworter von Rosa. Hinterlassen Sie Ihre Nachricht oder Namen und Telefonnummer …

Emma drückte auf den roten Knopf. “Anscheinend niemand zu Hause.”

Preston setzte sich bequemer hin. “Und was nun?”

“Es wird Zeit, dass wir unseren … Freund anrufen.”

“Soll ich das machen?”

Als sie sich daran erinnerte, welche Drohungen Manuel Preston gegenüber ausgestoßen hatte, schüttelte sie hastig den Kopf. Manuel hatte Preston bereits zweimal getroffen und würde wahrscheinlich seine Stimme erkennen. Sie wollte unbedingt vermeiden, dass Manuel auch noch Preston jagte.

“Lass mich das erledigen”, drängte er.

“Nein.”

Er schien nicht glücklich über ihre Antwort, aber sie drückte wieder die Rautetaste und 67 und wählte.

Manuel meldet sich knapp und atemlos, was ihren Verdacht bestätigte, dass ihre Flucht ihn allmählich um den Verstand brachte.

“Ist sie zurück?”, fragte sie ohne Einleitung.

“Du bist das also.”

“Gut geraten.” Sie schaute nach hinten, um zu sehen, was Max gerade tat, und stellte fest, dass er sie anstarrte. “Ist … unsere gemeinsame Bekannte wieder nach Hause gekommen?”

“Meinst du Juanita?”

“Ja.”

“Woher zum Teufel soll ich das wissen?”

“Lass das, mir kannst du nichts vormachen.”

“Glaubst du, du kannst mich erpressen, querida?”

“Hör auf, mich so zu nennen.” Emma warf Preston einen kurzen Blick zu und war ganz überrascht, als er plötzlich ihre Hand ergriff.

Seine Unterstützung half ihr, standhaft zu bleiben. Seine Zuneigung gab ihr die Stärke, die sie jetzt brauchte.

“Ich nenne dich so wie ich will”, sagte Manuel. “Du hast mich herausgefordert, und das weißt du auch.”

“Ich lass mich nicht von dir einschüchtern”, erwiderte sie zornig. “Ich werde die Informationen, die ich habe, an die Polizei weitergeben. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.” Sie tat, als würde sie auflegen.

“Warte!”

“Funktioniert dein Gedächtnis jetzt besser?”

“Mach dich nicht lustig über mich! Du wirst es bald bereuen!”

“So, so, soll ich jetzt also auflegen?”

“Nein.”

Sie zögerte.

Schließlich sagte er: “Schläfst du mit ihm?”

“Das geht dich überhaupt nichts an.” Sie spürte, wie Prestons Hand ihre eigene fester drückte.

“Einen Teufel tut es!”, schrie Manuel. “Sag mir die Wahrheit! Du bist immer noch mit diesem Kerl zusammen, den ich im Hilton gesehen habe, stimmt’s? Ich hab ihn ja auch schon in Ely getroffen, da hätte ich Lunte riechen sollen. Stattdessen habe ich mich ablenken lassen. Las Vegas, der Flughafen …

Emma wollte nicht, dass Manuel die Oberhand über das Gespräch bekam und unterbrach ihn: “Was hast du mit unserer … Freundin gemacht?”

“Wo hast du ihn kennengelernt? Habt ihr beiden euch die ganze Zeit hinter meinem Rücken vergnügt?”

“Ich werde das Gespräch jetzt beenden …”

“Wow, Mommy, du bist ja richtig wütend”, stellte Max fest.

Aber Emma war viel zu aufgewühlt, um darauf zu antworten.

“Juanita geht es gut”, sagte Manuel.

“Beweise es.”

“Komm zu mir zurück, dann tue ich es.”

“Niemals.”

Offenbar brachte ihre Antwort ihn dazu, irgendetwas durch die Gegend zu werfen. Emma hörte ein lautes Krachen, gefolgt von dem Klirren von Glas. Gleichzeitig fluchte er laut. “Das kannst du mit mir nicht machen! Hörst du! Das lasse ich nicht zu!”

Seine Stimme überschlug sich und klang derart irrsinnig, dass Emma ein eiskalter Schauer den Rücken hinunterlief. Dennoch versuchte sie, sich zu beherrschen und seinen Drohungen zu widerstehen. Sie hatte ihr Leben jetzt selbst in die Hand genommen und würde nie mehr in dieses Klima der Angst zurückkehren.

“Das hängt nicht mehr von dir ab”, sagte sie und unterbrach das Gespräch. Dann wählte sie erneut Rosas Nummer. Als der Anrufbeantworter wieder anging, sprach Emma zum ersten Mal aufs Band und bat Rosa, zu einer bestimmten Zeit zu Hause zu sein, damit sie es noch einmal versuchen könne, denn es sei sehr wichtig, da ging Rosa doch noch an den Apparat.

“Vanessa?”

Preston hatte Emmas Hand losgelassen, als sie wählte, aber nun fasste sie wieder nach der seinen. Rosa schluchzte und weinte heftig.

“Ja?” Emma schluckte.

“Sie ist tot. Juanita ist tot. Die Polizei hat ihre Leiche gefunden.”