4. KAPITEL

Emma wusste, dass sie Max’ Blut testen sollte, und zwar möglichst bald. Um ihn zu beruhigen, hatte sie ihm heute viel zu oft etwas zu essen gegeben. Da er sich im Moment nicht genügend bewegte, brauchte er unbedingt Insulin. Aber da sie behauptet hatte, Max wäre ein “ganz pflegeleichtes Kind”, traute sie sich nicht, das Testgerät herauszuholen. Der Mann, der sich als Preston Holman vorgestellt hatte, als sie in seinen Lieferwagen stieg, schien Kinder nicht besonders zu mögen. Womöglich zwang er sie zum Aussteigen, wenn er erfuhr, dass Max wegen seines Leidens eine besondere Behandlung brauchte.

Wenn Max es bis zum nächsten Halt schaffte, würde sie ihn mit auf die Damentoilette nehmen und ihm heimlich Blut abnehmen. Aber im Moment fuhren sie über Land, und Preston machte nicht den Eindruck, als hätte er Lust auf eine Pause. Sie waren jetzt bereits seit drei Stunden unterwegs und er hatte kaum ein Wort gesprochen. Ihr kam es fast so vor, als betrachte er die Anwesenheit von ihr und Max als eine Art Test, um zu sehen, wie lange er es in Gesellschaft aushielt. Wahrscheinlich sehnte er sich nach dem Moment, in dem er sie endlich wieder loswurde.

Beim kleinsten Ärger, so fürchtete Emma, würde er an den Straßenrand fahren und sie rausschmeißen.

“Mommy, ich hab Hunger”, klagte Max.

Emma wusste, dass er keinen Hunger haben konnte.

“Du hast genug gegessen.”

“Ich will aber einen Keks.”

Sie warf Preston einen kurzen Blick zu. Aber dessen Blick ruhte unverwandt auf der Straße vor ihnen. Sie hoffte darauf, dass er in Gedanken versunken war und nicht weiter auf sie achtete. Aber so wie er das Lenkrad umkrampfte, als Max “Bitte, bitte” sagte, hörte er sie sehr wohl.

“Du hast genug Süßes gehabt”, sagte sie sanft in der Hoffnung, dass Max es ganz einfach akzeptierte. Wenn er doch nur weiter mit seinem magnetischen Schachspiel spielen würde, das sie ihm im Supermarkt gekauft hatte. Oder mit den Playmobil-Figuren oder dem Malbuch.

“Wann sind wir denn endlich da?”, fragte er.

“Wenn es dunkel ist.”

“Muss ich dann ins Bett gehen?”

“Ja.”

“Aber warum dauert es denn so lange? Ich will etwas essen.”

Voller Sorge bemerkte Emma, wie sich ein Muskel in Prestons Nacken anspannte. Sie lockerte ihren Sicherheitsgurt und drehte sich zu Max um. Mit gesenkter Stimme raunte sie ihm zu: “Du hast dein Mittagessen schon gehabt, Liebling, das weißt du.”

“Kann ich dann jetzt meinen Nachtisch haben?”

Nur mit größter Mühe schaffte sie es, nicht laut loszuschimpfen. Wie sehr sie sich auch ärgerte, sie musste unbedingt ruhig bleiben. “Du hast doch schon so viele Süßigkeiten gehabt.”

“Aber ich hab Hunger!”

“Dann musst du eben …” Deine Proteine zu dir nehmen, wollte sie schon sagen, aber sie brach ab, weil sie nicht Prestons Misstrauen wecken wollte. Denn normalerweise benutzten Eltern im Gespräch mit ihren Kindern keine Fachbegriffe wie Kohlehydrate oder Proteine. “Dann musst du eben ein bisschen Käse essen oder das Fleisch, das eigentlich fürs Abendessen gedacht war.”

“Ich will aber keinen Käse und kein Fleisch!”

Max hatte einfach keine Lust auf etwas “Vernünftiges”. Und vor allem wollte er nicht mehr im Auto sitzen.

“Schlaf doch ein bisschen, Liebling, dann geht die Zeit schneller herum. Und wenn wir dann anhalten, darfst du dir etwas zu essen aussuchen, was du gern magst, okay?”

“Ich will wieder nach Hause”, sagte Max und begann zu weinen.

Hin und her gerissen zwischen ihrem Unmut und der Angst, dass Preston sie bei der nächsten Gelegenheit am Straßenrand stehen ließ, wenn sie ihren Sohn nicht zum Schweigen brachte, presste Emma die Zähne zusammen und stieß ungeduldig hervor: “Max, hör jetzt bitte auf!”

In diesem Moment griff Preston plötzlich unter sich, holte eine Packung Kekse hervor und warf sie nach hinten auf den Rücksitz.

“Hier, die kann er essen.”

Max schluchzte noch einmal kurz auf und schnappte sich dann die Packung. Aber Emma wusste, dass sie ihren Sohn nicht weiternaschen lassen durfte. Ohne seine Insulininjektion konnte zu viel Zucker für ihn sehr schnell lebensbedrohlich werden.

“Ich müsste mal zur Toilette”, sagte sie.

Prestons Blick verdüsterte sich noch mehr. “Jetzt?”

“Ja, jetzt.”

Er deutete nach draußen, wo sie nur Wüste sahen. “Hier ist nirgendwo ein Rastplatz.”

“Wann kommen wir denn in die nächste Stadt?”

“Das dauert noch ein paar Stunden.”

Es gab nicht einmal Bäume, hinter denen man Schutz suchen konnte, nur karges Gebüsch. Emma hörte, wie Max die Kekspackung aufriss und hineinfasste.

“Dann muss es eben so gehen”, sagte sie. “Bitte halten Sie an.”

Preston warf einen Blick unter die Motorhaube, wo er die Pistole versteckte. Mit einem Gummiband in einer Ecke festgezurrt. Sie war nicht verrutscht, alles war in bester Ordnung.

Erleichtert lehnte er sich gegen die Stoßstange und zündete sich eine Zigarette an, die er in aller Ruhe rauchen konnte, während Emma und ihr Sohn auf der anderen Seite ihrem Geschäft nachgingen. Vor knapp zwei Jahren, als er noch Ehemann und Vater und ein erfolgreicher Börsenmakler in San Francisco gewesen war, hatte er regelmäßig Sport getrieben. Peinlich auf eine gute Figur und Fitness bedacht. Er hatte nur gesunde Sachen gegessen, Gewichte gestemmt und war Fahrrad gefahren. Nicht im Traum hätte er gedacht, eines Tages einmal am Rand einer endlosen staubigen Straße mitten in Nevada – gegen einen verbeulten Kombi, seinen einzigen Besitz, gelehnt – zu stehen, mit einer Pistole unter der Motorhaube und einem Krebs verursachenden Glimmstängel zwischen den Lippen.

Das Leben hielt wirklich einige Überraschungen bereit.

Er zuckte mit den Schultern und zog an der Zigarette, mit der vagen Hoffnung, dass das Nikotin ihn vielleicht bald umbringen würde, dann stieß er langsam und genüsslich den Rauch aus.

“Sind Sie bald fertig?”, rief er.

Gordons Hinweise auf Vincent Wendells Aufenthaltsort beschäftigten ihn. Endlich eine Spur. Er wollte unbedingt weiterfahren. Es war falsch, jemanden mitzunehmen, und dann auch noch eine Mutter mit ihrem Kind. Dennoch machte er sich Gedanken über die Brandwunde an Emmas Hand. Was für ein brutaler Mistkerl, der einer Frau so etwas vorsätzlich zufügte! Außerdem fand er es gar nicht so anstrengend, die beiden im Auto zu haben. Sie kämen ja bald nach Salt Lake City. Länger als einen Tag konnte die Fahrt nicht dauern. Das würde er schon aushalten.

“Dauert noch einen Moment!”, rief Emma zurück.

Preston hörte Max von einem Stein sprechen, den er offenbar gefunden hatte. Emma wollte ihn überreden, ihn wieder wegzulegen. Als Max sich weigerte, verlangte sie, dass er ihn in seine Hosentasche steckte. Kurz darauf schimpfte sie ihn aus, weil er sich schmutzig gemacht hatte.

Wie sie den Jungen bemutterte, gefiel Preston gar nicht. So ein bisschen Dreck hat noch keinem geschadet. Das hätte er ihr am liebsten gesagt. Und wenn Max sein eigener Sohn gewesen wäre, hätte er das auch getan. Aber sein Sohn war tot, und Preston wollte sich nicht in Emmas und Max’ Leben ziehen lassen. Er würde sich nicht weiter um die beiden kümmern, bis sie nach Salt Lake City kamen.

“Domin… Ich meine Max, hör jetzt endlich auf damit”, rief Emma.

Max lachte: “Jetzt hast du es beinahe vergessen.”

“Sei ruhig. Du weißt doch, dass wir das machen müssen.” Danach senkte sie die Stimme und sprach flüsternd auf ihn ein. Preston verstand nicht, um was es ging, bis sie schließlich laut erklärte, dass sie es jetzt geschafft hätten.

“Hat Max auch alles erledigt?”, fragte er. Noch einen solchen Halt konnte er nun wirklich nicht brauchen.

“Ja, hat er.”

“Gut, dann kann es ja weitergehen.” Er trat seine Zigarette aus, drehte sich um und fuhr zurück, als er Max am Heck des Wagens stehen sah. Ungläubig starrte der Junge ihn an.

“Du rauchst ja”, stellte er fest.

Wo steckte Emma? Sie sollte doch auf ihren Sohn aufpassen und ihn so weit wie möglich von ihm entfernt halten.

Als er den Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Gesicht des Jungen bemerkte, pochte sein Herz laut. Preston schaute durch die Fenster auf die andere Seite des Lieferwagens und sah Emma, die sich gerade die Hände säuberte.

“Meine Mommy mag es überhaupt nicht, wenn Leute rauchen”, erklärte Max. “Sie sagt, das stinkt eklig. Und außerdem kann man davon ein Loch im Hals kriegen.”

“Sie hat recht.” Preston zog die Fahrertür auf und zögerte. Er konnte jetzt nicht einfach einsteigen und die Tür zuschlagen. Zwar war die Straße nicht sehr belebt, aber Max könnte auf die Fahrbahn laufen, wenn niemand auf ihn aufpasste.

“Mein Dad raucht auch”, sagte der Junge.

Obwohl er eigentlich überhaupt nicht mit Max reden wollte, siegte Prestons Neugier. War der Vater von Max der Mann, von dem Emma diese hässliche Wunde hatte? “Wo ist dein Dad denn jetzt?”

“In Mexiko.”

“Und wie lange schon?”

Max zuckte mit den Schultern. “Weiß ich nicht.”

“Max?”, rief Emma.

Der Junge drehte sich um und lief um den Wagen. “Was?”

“Ich hab dir doch gesagt, dass du hierbleiben sollst.”

“Er hat eine Zigarette geraucht”, rief Max.

Emma senkte ihre Stimme. “Das geht uns nichts an.”

“Ich hab ihm gesagt, dass du es nicht leiden kannst.”

“Na, dann vielen Dank.”

Preston konnte ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken, als er den sarkastischen Unterton in ihrer Stimme hörte. Kinder verstanden solche Feinheiten nicht. Sie waren ehrlich, geradeheraus und unschuldig …

Auch Dallas war so gewesen.

Die Erinnerung an seinen Sohn wühlte jenen Schmerz wieder auf, den er so lange unterdrückt hatte. Du hast ihn im Stich gelassen, du hast nicht auf ihn aufgepasst. Es war alles seine Schuld. Christy hatte er auch im Stich gelassen. Aber vor allem seinen Sohn.

Emma kam mit Max an der Hand um den Wagen herum. “Soll ich mal eine Weile fahren? Dann können Sie sich ausruhen.”

Widerstrebend hob Preston den Kopf. Zerbrechlich und sorgenvoll sah sie ihn an, genau wie Christy damals, vor zwei Jahren. Er fragte sich, welche schrecklichen Ereignisse wohl für ihren ängstlichen Gesichtsausdruck verantwortlich waren. Gleichzeitig wollte er nichts davon wissen. Er durfte sich da nicht hineinziehen lassen, er konnte sich nicht darum kümmern. In seinem Innern gab es nur noch ein einziges Gefühl, die unbändige Sehnsucht, seinen Jungen noch einmal in die Arme schließen zu können. Aber das war unmöglich. Und so blieb nur noch der Hass übrig, der Hass auf den Mann, der Dallas auf dem Gewissen hatte. Diesen Mann wollte er zur Strecke bringen.

“Steigen Sie ein”, sagte er und hoffte, sie würde einfach nur tun, was er verlangte.

Aber das tat sie nicht. Stattdessen fragte sie: “Ist alles in Ordnung mit Ihnen?”

Kalter Schweiß lief Preston den Rücken hinunter, wie immer, wenn ihn die alten Bilder quälten. Er versuchte sich zusammenzureißen, doch dieses eine Bild, das sich in sein Gedächtnis eingegraben hatte, ließ ihn nicht los. Das Bild von Dallas, der von Fieberanfällen gepeinigt, heftig schwitzend auf dem Bett lag. Und daneben Christy, Gebete vor sich hinmurmelnd und um sein Leben flehend. Vincent, der nicht wusste, was er noch tun sollte. Und schließlich das Bild vom sechs Jahre alten Dallas, klein, zerbrechlich und unschuldig in seinem Sarg, steif und kalt und für immer von ihnen getrennt.

Die Anwesenheit von Emma und Max bewirkte, dass er sich wieder an alles erinnerte. Wieder spürte er den Schmerz dieses bitteren Verlustes. Alle mühsam in zwei Jahren verheilten Wunden brachen erneut auf, nur weil zwei Menschen in sein Leben getreten waren.

Mit zitternder Hand griff er nach dem Türgriff. Ihn schwindelte. Er musste sich abstützen.

“Machen das die Zigaretten?”, hörte er Max flüsternd fragen.

“Geh mal los und such dir noch so einen schönen Stein, okay?”, erwiderte sie. “Aber such auf der anderen Seite, ein Stück weiter von der Straße entfernt.”

Jetzt, wo Max endlich einmal die ersehnte Erlaubnis bekommen hatte, im Dreck wühlen zu dürfen, wollte er nicht weg. “Was hat er denn?”

“Es ist nichts Schlimmes. Geh einfach spielen, okay?”

Endlich tat Max, worum Emma ihn bat. Abgesehen von dem einen oder anderen gelegentlich vorbeirauschenden Auto, umgab sie die große Stille der Wüste. Alles schien wie erstarrt. Wie eine große Glocke lag die Mittagshitze über der endlos weiten Landschaft.

“Sind Sie krank?”, fragte Emma.

Preston holte tief Luft und nahm alle Kräfte zusammen, um die schlimmen Erinnerungen zu bannen und zu vermeiden, dass sie ihn in den Abgrund einer lähmenden Depression zogen. Schuld und Zorn überfielen ihn manchmal mit solcher Wucht, dass er sich nicht dagegen wehren konnte. In gewisser Weise war auch er ein Opfer, genau wie Dallas. Aber er wollte diese Opferrolle nicht sein Leben lang spielen. “Nein.”

“Aber irgendetwas stimmt doch nicht.”

“Es geht schon wieder.” Er dachte an die Pistole und das Versprechen, das er sich gegeben hatte. Bald wäre alles vorbei …

“Geben Sie mir die Autoschlüssel”, sagte Emma. “Ich fahre ein paar Stunden.”

Er schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. “Nein.” Er fühlte sich ja schon besser, hatte sich schon wieder im Griff.

“Warum ruhen Sie sich nicht ein bisschen aus und ich kümmere mich um die Weiterfahrt?”

Ein Laster hupte im Vorbeifahren, und der heiße Fahrtwind wehte ihr die blonden Haare ins Gesicht.

“Nein, ich brauche keine Pause. Mir geht’s gut”, erwiderte er so barsch wie möglich, aber es schien sie nicht zu beeindrucken.

“Also hören Sie mal. Sie können morgen wieder den harten Mann spielen. Dann müssen Sie sowieso wieder zwei Tage ganz allein fahren.”

Harter Mann? Er wünschte, er wäre einer. Wünschte, er wäre so hart und stark wie Christy und könnte sein Leben einfach noch mal von vorn beginnen. Die ganze Zeit während Dallas’ Krankheit hatte Preston nicht eine einzige Träne vergossen. Und bis heute ließ er nicht zu, dass all das Leid, das tief in ihm verborgen lag, sich seinen Weg nach draußen bahnte. Christy dagegen hatte von Anfang an geweint. Und jetzt war sie wieder verheiratet. Auf der Einladung zu ihrer Hochzeit hatte sie ihm mit einem strahlenden Lächeln von einem Foto entgegengesehen, neben dem Mann, der einmal ihr Nachbar gewesen war.

Man muss vergessen können und vorwärts gehen, hatte sie einmal zu ihm gesagt, als Dallas gerade mal ein paar Monate tot war. Es ist nur zu unserem Besten. Wir müssen nach vorn schauen. Lass Dallas los, Preston, bitte. Lass ihn los, damit ich es auch kann …

Aber Preston konnte ihn nicht loslassen. Damals nicht und heute nicht. Also war Christy ohne ihn in eine neue Zukunft aufgebrochen.

Er bewunderte sie für ihre Fähigkeit, noch einmal ganz neu anzufangen. Sie war nicht im Entferntesten so zerbrechlich, wie er gedacht hatte.

“Hallo?”, hakte Emma nach, als er nicht gleich antwortete.

“Ich kann schon noch fahren.” Es fiel ihm wirklich nicht leicht, von jemandem eine Gefälligkeit anzunehmen, dem man selbst viel lieber keinen Gefallen getan hätte.

Sie musterte ihn abschätzend, beinahe widerspenstig. “Sie brauchen dringend eine Pause.”

Preston war fast schon wieder eingestiegen, doch dann zögerte er. Wenn sie unbedingt wollte, sollte sie doch fahren. Ihm konnte es doch egal sein. Und schaden würde es auch nicht.

Ohne einen Kommentar warf er ihr die Autoschlüssel zu und ging um den Wagen auf die Beifahrerseite. Seit seiner Scheidung hatte er nicht mehr auf dem Beifahrersitz gesessen. Er bezweifelte, dass es ihm gelingen würde zu schlafen, auch wenn er nicht fahren musste. Seit Dallas’ Tod kam er nicht mehr wirklich zur Ruhe. Zu viele Ängste brodelten in seinem Inneren, vor allem fürchtete er, dass Vincent ihm wieder entwischte, dass er versagte und seine ganzen Pläne zu Staub zerrannen.

Nach ungefähr dreißig Kilometern nickte Max ein. Und während sie weiterfuhren schien das leichte Vibrieren des Wagens auch die Spannung in Prestons Muskeln zu lösen. Seine Augenlider wurden so schwer, dass er sie kaum noch offenhalten konnte.

“Hören Sie endlich auf, dagegen anzukämpfen”, sagte Emma sanft. “Es wird bestimmt nichts Schlimmes passieren, wenn Sie jetzt einfach mal die Augen schließen.”

Das denkt sie sich so, schoss ihm noch durch den Kopf, als er ein letztes Mal gegen die Müdigkeit aufbegehrte. Sie weiß es eben nicht besser. Aber dann spürte er, wie sich eine tröstliche Dunkelheit in seinem Bewusstsein ausbreitete, da gab er dem Drängen nach und ließ sich hinabziehen auf den Grund eines tiefen, erlösenden Schlafs.

Max und Preston schliefen die ganze nächste Stunde. Im Hintergrund spielte eine Blues-CD, und Emma entspannte sich zum ersten Mal seit sie San Diego verlassen hatte ein bisschen. Manuel käme nie darauf, dass sie in einem braunen verbeulten Kombi unterwegs war, und dann auch noch zusammen mit einem fremden Mann. Es schadete gar nichts, dass die Haar- und Augenfarbe von Max und Preston sich ähnelten. Irgendwie passten sie als Dreiergespann ganz gut zusammen – sie wirkten wie eine echte Familie.

Wie es sein konnte, dass ihr Sohn einem fremden Mann ähnlicher sah als seinem eigenen Vater, war Emma ein Rätsel. Wegen Max’ heller Hautfarbe hatte Manuels Mutter oft geargwöhnt, er könne nicht ihr Enkel sein. Aber Emma hatte bisher nur mit Manuel geschlafen.

“Woran denken Sie denn gerade?”

Emma blinzelte und schaute neben sich. Preston sah sie neugierig an. Die Spitzen seiner dichten Wimpern schienen golden zu glänzen.

“An nichts Besonderes, warum?”

“Weil sie die Stirn gerunzelt haben.”

Es wäre wirklich besser, sie würde nicht ständig an Manuel und seine Familie denken. Statt über die Vergangenheit, sollte sie lieber über das Hier und Jetzt nachdenken, und sich weder von ihren Grübeleien noch von Preston verunsichern lassen. Der Mann neben ihr war nur eine Zufallsbekanntschaft, der sie ein Stück des Weges mitnahm. Abends, in Salt Lake City, würden sie auseinandergehen und sich nie wiedersehen. Von da an musste sie ihre weiteren Schritte ganz allein planen – was ohne Gepäck, ohne Auto und mit so wenig Geld nicht leicht wäre.

“In einer dreiviertel Stunde sind wir in Eureka,” sagte sie, um von seiner Frage abzulenken.

“Kennen Sie die Stadt?”

“Ich war mal in Eureka in Kalifornien, aber nie in der gleichnamigen Stadt hier in Nevada. Ich bin noch nie in dieser Gegend gewesen.”

Er warf einen Blick auf die Landschaft, die sie durchquerten. “Diese Straße wird auch die ‘einsamste Straße von Amerika’ genannt.”

“Wirklich?”

“Auf der Autobahn ist jedenfalls mehr los.”

“Und warum haben Sie dann nicht die Autobahn genommen?”

“Ich mag es nicht, zwischen anderen eingepfercht zu sein.”

“Das habe ich schon bemerkt.” Ihre Stimme bekam einen schärferen Ton. “Ich habe noch nie einen Menschen mit einer so großen Abneigung gegen Kinder getroffen.”

Sie erwartete Protest. Im Grunde hoffte sie sogar darauf, denn sie hätte sich gern ein wenig mit ihm gestritten, weil sie instinktiv allen Menschen misstraute, die Max nicht mochten.

“Ich habe doch gar nichts gegen Ihren Sohn gesagt.”

“Aber ich habe Ihre Abneigung deutlich gesehen. Sie wirken ja regelrecht verbittert.”

“So? Meinen Sie? Dann hätte ich Sie ja genauso gut Ihrem Schicksal überlassen können”, gab er zu bedenken.

Emma musste zugeben, dass das ein Widerspruch war. Vielleicht half er ihnen nicht gern, aber immerhin half er ihnen. “Sie haben recht”, lenkte sie ein. “Es tut mir leid.”

Darauf erwiderte er nichts. Stattdessen wandte er sich ab und sah aus dem Fenster. Sein Gesicht spiegelte sich im Fensterglas, der ausgeprägte Wangenknochen, das kräftige, mit Bartstoppeln übersäte Kinn mit einem Grübchen in der Mitte.

“Sind Sie diese Straße schon oft langgefahren?”, fragte sie.

Er schaute weiter nach draußen. “In den letzten sieben Monaten war ich so gut wie überall in Nevada. Aber die meiste Zeit in Fallon, bei Maude im Motel.”

“Eine Anstellung haben Sie dort aber nicht gesucht. Und richtig niederlassen wollten Sie sich vermutlich auch nicht?”

Jetzt schaute er sie wieder an. “Nein, das wollte ich nicht.”

Wahrscheinlich hat er die ganze Zeit in Motels gelebt, dachte Emma. Sie hätte ihn gern gefragt, warum er ein so unstetes Leben führte, was ihn aus der Bahn geworfen hatte. Aber es stand ihr nicht zu, ihn nach seiner Vergangenheit zu fragen. Mit Sicherheit würde er sehr barsch reagieren. Sie entschied, eine weniger persönliche Frage zu stellen.

“Die Orte hier an der Straße sehen irgendwie alle gleich aus. Und ein bisschen so, als würden sie langsam sterben.”

“Die Menschen in dieser Gegend leben vom Bergbau. Und nun werden die Minen geschlossen. Aber sie sind hart im Nehmen. Sie kommen schon irgendwie durch”, sagte er.

Wie er das sagte und wie er dabei aussah ließ vermuten, dass er zu dieser Landschaft gehörte. “Sie sind nicht zufällig von hier?”, fragte Emma.

“Finden Sie, ich sehe wie ein Bergarbeiter aus?”

“Nein, das nun wirklich nicht.”

“Warum sollte ich dann aus dieser Gegend stammen?”

Dazu fiel ihr erstmal nichts ein. Sie schwieg.

Er lächelte gezwungen. “Vergessen Sie’s einfach.”

“Was denn?”

“Sie glauben, ein Mensch, der keine Kinder mag, gehört in so eine Wüstenei, stimmt’s?”

“Nein, das habe ich nicht gedacht”, widersprach sie. “Ich dachte eher, dass die herbe Schönheit dieser Landschaft und Sie …”

Erstaunt zog er die Augenbrauen in die Höhe. “Herbe Schönheit?”

Sie lachte. “Sie möchten wohl nicht gern als herbe Schönheit bezeichnet werden. Finden Sie, das passt nicht zu ihrer Männlichkeit?”

“Es überrascht mich nur.”

“Wieso?”

“Das fragen Sie noch? Ich habe mich seit Tagen nicht mehr rasiert. Und ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal beim Friseur war.”

“Vom Haarschnitt spreche ich ja auch gar nicht.” Sie musterte seine Kleidung, das alte T-Shirt und die löchrige Jeans. “Und von ihren Klamotten übrigens auch nicht.”

“Wovon dann?”

“Von Ihrem Gesicht, Ihrem Körper.”

Emma konnte einen leicht bewundernden Unterton in ihrer Stimme nicht verhindern. Prompt trafen sich ihre Blicke, und schon bereute sie ihre freimütige Aussage. Zuerst hatte sie ihn verletzen wollen, und dann machte sie ihm Komplimente? Na ja, sie versuchte nur, ihre bissige Bemerkung ein wenig auszubügeln, sonst nichts. Aber als er sie jetzt so forschend ansah, wurde ihr wieder bewusst, dass sie den Mann, mit dem sie hier ganz allein durch den einsamsten Landstrich Amerikas fuhr, kaum kannte. Nur Max war noch da, aber der kleine Max schlief auf dem Rücksitz.

“Nehmen Sie das aber bitte nicht zu wörtlich. Ich … ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.”

Er schwieg einige Minuten. Dann schaute er sie wieder an und fragte betont sachlich: “Der Mann, von dem Sie diese Brandwunde da haben. Ist das der Vater von Max?”

“Ja.”

“Sie haben aber nur von Ihrem Freund gesprochen.”

“Wir sind nicht verheiratet.”

“Warum nicht?”

“Seine Familie war dagegen.”

“Und er hat sich gefügt? Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.”

“Er fühlt sich seiner Familie sehr verbunden.”

“Kaum zu glauben. Wie lange waren Sie mit ihm zusammen?”

“Sechs Jahre. Und fünf davon haben wir unter einem Dach gelebt.”

“Sind Sie nach der Geburt von Max zusammengezogen?”

“Ja.”

“Und wann haben Sie ihn verlassen?”

Emma wunderte sich über Ihre Redseligkeit. Aber eine ehrliche Unterhaltung schien das beste Mittel, um die Spannung abzubauen, die zwischen ihnen entstanden war. Also entschloss sie sich, die Wahrheit zu sagen: “Vor zwei Tagen.”

Wieder schwieg er. Sie glaubte schon, die Unterhaltung sei zu Ende und wollte die Musik lauter stellen, da berührte er ihre Hand und hielt sie zurück: “Sind sie etwa auf der Flucht, Emma?”

Er benutzte ihren neuen Vornamen. Das verwirrte sie. Genau wie seine sanfte Baritonstimme und die kräftige Hand, die ihr Gelenk umfasste.

“Was glauben Sie denn?”, fragte sie und holte tief Luft.

“Ich glaube, dass eine Frau nicht einfach zu einem völlig fremden Mann geht und ihn anfleht, sie mitzunehmen – es sei denn, sie hat keine andere Wahl.”

Emma antwortete nicht. Was sollte sie auch dazu sagen? Es stimmte ja.

“Glauben Sie, dass er hinter Ihnen her ist?”, fragte er.

Natürlich tat sie das. Aber sie wollte Preston nichts von Manuel erzählen. Es würde ihn nur verunsichern und ihm vielleicht sogar Angst machen. Also sagte sie nur: “Ich hoffe nicht.”

Erst jetzt ließ er ihre Hand los und strich ganz vorsichtig über die noch frische Wunde. “So ein Mann lässt eine Frau wie Sie nicht einfach gehen, schon gar nicht, wenn sie ihm den Sohn wegnimmt. Er wird alles tun, um Sie wiederzubekommen.”

Das sagte er nicht direkt zu ihr, sondern mehr zu sich selbst. Aber auch wenn er keine Antwort erwartete, verspürte sie doch das Bedürfnis, etwas darauf zu erwidern: “Er wird es versuchen. Aber ich gehe ganz bestimmt niemals zu ihm zurück. Und Max auch nicht.”