2. KAPITEL
“Emma, Emma, Emma”, sang sie vor sich hin, um sich an den neuen Namen zu gewöhnen. Sie hielt das Lenkrad fest in den Händen, denn nach sechs Stunden Fahrt auf der Schnellstraße spürte sie, wie sie müde wurde. Doch sie wollte einen möglichst großen Abstand zwischen sich und ihr früheres Leben bringen. Noch immer fürchtete sie, Manuel könnte schon kurz nach ihrer Abfahrt herausgefunden haben, dass sie geflüchtet war. Daher fuhr sie sehr schnell und sah immer wieder in den Rückspiegel.
Ein kleiner roter Toyota folgte ihr schon seit längerer Zeit. War das ein Grund zur Beunruhigung? Die Schnellstraße führte sie mitten durch Kalifornien, an vielen kleinen hübschen Orten vorbei. Sie wurde vor allem von Leuten benutzt, die weitere Strecken fuhren. Dass ein ganz bestimmtes Auto schon längere Zeit hinter ihr her fuhr, musste überhaupt nichts bedeuten. Allerdings war ihr bislang kein anderer Wagen aufgefallen, der so lange in ihrer Nähe geblieben war. Immer wieder überholte sie jemand, oder sie überholte selbst jemanden, aber alle Autos verschwanden irgendwann aus ihrem Blickfeld.
“Mommy, ich möchte nach Hause”, klagte Dominick – der jetzt Max hieß – auf dem Rücksitz. Das aufregende Spiel mit der erfundenen Identität langweilte ihn längst. Seit Stunden schon fragte er, ob er nicht endlich aussteigen dürfe. Sie hatte einen kurzen Zwischenstopp in Los Angeles eingelegt, ihm etwas zu essen gegeben, sein Blut getestet und ihm das Insulin gegeben. Aber es widerstrebte Vanessa, schon wieder anzuhalten. Die Zeit war knapp. Und obwohl sie spürte, dass sie der ersehnten Freiheit ganz nah war, fürchtete sie gleichzeitig, sich zu früh in Sicherheit zu wiegen. “Tut mir leid, Liebling. Aber ich kann jetzt noch nicht anhalten.”
“Aber warum denn nicht?”, fragte er, während er an der Kette zerrte, an der sein neuer Name und alle wichtigen medizinischen Informationen über ihn auf einem Schild baumelten.
Emma sah wieder nach dem roten Toyota. Zwei Personen saßen darin, zwei Männer. Weder den einen noch den anderen hatte sie je zuvor gesehen. Aber das musste nichts heißen, sie könnten trotzdem eine Gefahr darstellen. Vielleicht hatten diese beiden ihr Haus beobachtet und sich von ihrer Verkleidung nicht an der Nase herumführen lassen. Oder Juanita durch das Küchenfenster gesehen, kurz nachdem sie losgefahren war …
“Mommy?”, fing Max wieder an, weil er keine Antwort bekommen hatte. “Wann fahren wir wieder nach Hause?”
Ein Blick auf den Tacho verriet ihr, dass sie immer schneller fuhr. “Wir fahren nicht nach Hause.” Im Rückspiegel sah sie, wie Max erneut nach der Kette griff.
“Nie mehr?”
Emma wollte nicht mit ihrem Sohn darüber diskutieren, was ‘nie mehr’ und ‘für immer’ womöglich bedeuten könnte. Außerdem wusste sie ja ohnehin nicht, was sie noch erwartete.
“Jedenfalls für eine ganze Weile nicht”, sagte sie schließlich.
“Und was ist mit Daddy?”
“Was soll denn mit ihm sein?”
Voll und ganz damit beschäftigt, den Toyota zu beobachten, schaffte sie es nicht mehr, sich auf Dominicks Fragen zu konzentrieren. Achtung – auf die Fragen von Max, korrigierte sie sich sofort. Es wurde Zeit, dass sie sich an den neuen Namen gewöhnte. Aber sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Ständig lenkte der andere Wagen sie ab. Fuhren diese Männer jetzt schon ungewöhnlich lange hinter ihr, oder nicht? Hatte sie die beiden vielleicht doch schon mal irgendwo gesehen?
“Kommt Daddy denn nicht mit?”
“Nein, er ist in Mexiko”, erwiderte sie und hoffte, dass der Junge diese Antwort akzeptieren würde. Wenn er auf diese Antwort so wie immer reagierte, dann käme die nächste Frage nach seinem Vater erst in ein paar Tagen, vielleicht sogar erst in ein paar Wochen. So würden schließlich Monate vergehen, in denen Max sich an sein neues vaterloses Leben gewöhnen und das alte vergessen könnte. Sicher wäre es nicht leicht für ihn, aber mit der Zeit käme er darüber hinweg.
“Wird Daddy nicht böse, wenn wir einfach ohne ihn in die Ferien fahren? Er mag es doch nicht, wenn wir einfach so weggehen, ohne ihm Bescheid zu sagen.”
“Ja, ja, ich weiß.” Sie gab wieder Gas, um zu vermeiden, dass der Toyota ihr zu nahe kam.
“Ich glaube, Daddy wird bestimmt ganz wütend”, sagte Max.
Was natürlich stimmte. Manuel würde toben. Aber Emma fühlte sich nicht schuldig, weil sie ihm den Sohn wegnahm. Auch für Max war eine Trennung von seinem Vater das Beste. Wenn sie ihn nicht davor bewahrte, würde Manuel ihn eines Tages, wenn er alt genug wäre, in die “Geschäfte” seiner Familie einweihen.
“Daddy hat zu tun. Er weiß gar nicht, dass wir fort sind.” Sie stellte den Rückspiegel besser ein. Zu ihrer Erleichterung war der Toyota ein ganzes Stück zurückgefallen. Einen Augenblick später merkte sie auch warum: Auf der Überholspur näherte sich ein Streifenwagen.
Sofort nahm Emma den Fuß vom Gaspedal, aber es war zu spät. Der Toyota rauschte an ihr vorbei und keiner der Insassen schien Notiz von ihr zu nehmen. Wohingegen der Streifenwagen sich jedoch sehr wohl für sie interessierte – der Polizeibeamte hatte das Blaulicht eingeschaltet.
Verdammt! Was nun? Wieder Gas geben und davonrasen? Aber Max saß doch bei ihr im Wagen.
Also schaltete Vanessa den Blinker ein, bremste ab und rollte auf den Seitenstreifen. Der Polizist folgte ihr.
“Warum halten wir an?”, fragte Max.
“Weil wir müssen. Hinter uns ist ein Streifenwagen.”
Als sie hielt, löste Max seinen Sicherheitsgurt, drehte sich um und hockte sich auf die Knie, um besser aus dem Heckfenster sehen zu können. “Was will er denn von uns?”
“Das weiß ich auch noch nicht. Sei bitte ganz still, wenn er mit mir redet, okay?”
“Aber wieso denn?”
“Das gehört alles zu unserem Spiel, weißt du. Egal was ich sage, du musst ganz still sein.”
“Und was soll das?”
“Das kann ich dir jetzt so schnell nicht erklären. Sei einfach ruhig.”
Emma hasste es, ihm eine Belohnung zu versprechen. Für sie war das nichts anderes als eine Art Bestechung. Einem Kind ein Geschenk gegen Wohlverhalten anzubieten, förderte das schlechte Benehmen. Aber sie wusste ja nicht, welche Fragen sie gleich zu hören bekäme. Und sie musste unbedingt vermeiden, dass ihr Sohn etwas ausplauderte. Also sagte sie: “Wenn du ganz ruhig bist und kein Sterbenswörtchen sagst, dann kaufe ich dir in der nächsten Stadt ein schönes Spielzeug, okay?”
“Super!” Wenn er sich so sehr darauf freut, dachte Emma, wird er sich hoffentlich an die Vereinbarung halten. Aber Max war nur ein Teil des Problems. Was passierte, wenn sie dem Polizisten ihren gefälschten Ausweis geben musste? Womöglich gab er die Daten in seinen Computer ein. Würde dann herauskommen, dass der Führerschein gefälscht war? Und wenn der Beamte die Fahrzeugpapiere sehen wollte? Das Auto war wahrscheinlich gestohlen.
Sollte sie ihm den echten oder den gefälschten Ausweis geben? Beides könnte sie in Schwierigkeiten bringen. Während sie in der Handtasche nach ihrem Portemonnaie tastete, spürte sie, wie ihr der Schweiß ausbrach.
Die Stiefel des Polizeibeamten knirschten auf dem Kies, als er näher kam. Im Rückspiegel sah sie die graue Uniform mit dem schwarzen breiten Gürtel und dem Pistolenhalfter. Die Polizeiabzeichen glänzten im grellen Licht des Nachmittags. Dann erblickte sie das Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Mannes mit graumelierten Haaren, die unter der Schirmmütze hervorlugten.
In ihrer Angst vor dem roten Toyota hatte sie einen schweren Fehler begangen. Sie war zu schnell gefahren. Wie dumm von ihr!
Nachdem sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, rückte sie Juanitas Sonnenbrille zurecht und nestelte ein wenig am Schal herum. Erst dann ließ sie die Seitenscheibe herunter.
“Guten Tag”, sagte er.
“Guten Tag.” Sie las den Namen auf seinem Brustschild – Daniels. Nun hing alles davon ab, wie sie sich in den nächsten Minuten verhielt.
Er beugte sich ein wenig nach vorn, um Max einen Blick zuzuwerfen, der sich gleichzeitig auf dem Rücksitz bemühte, den Polizisten anzuschauen. “Wohin soll’s denn gehen?”
“Nach Sacramento.” Fast hätte sie hinzugefügt, dass sie dort Familie hatte, um die Lüge etwas glaubhafter zu machen. Da sie aber fürchtete, dass eine solche Bemerkung Max zu einer Bemerkung veranlassen könnte, ließ sie es bleiben. Ihre Familie lebte in Arizona. Vor zwei Jahren war sie mit Max dort gewesen, damals, bei ihrem ersten Versuch zu fliehen. Max hatte es dort gut gefallen, und er bat sie seitdem oft, noch mal hinzufahren.
“Darf ich Ihren Führerschein sehen?”
Sie reichte ihm das Dokument und sandte gleichzeitig ein stilles Gebet gen Himmel.
“Ist die angegebene Adresse richtig?”
“Ja. Stimmt denn etwas nicht?”
“Na ja, Sie sind zu schnell gefahren. Über 130 Stundenkilometer, Frau –”, wieder warf er einen Blick in den Führerschein, “… Beacon.”
“Oh, das tut mir leid. Mein Sohn hat Diabetes, und wir haben es eilig, in die nächste Stadt zu kommen. Er muss dringend etwas essen.” Wenn Max sich jetzt nur nicht an all die kleinen Snacks erinnerte, die sie ihm zugesteckt hatte. Sie hasste es zu lügen, vor allem wenn ihr Sohn dabei war, aber wenn sie es nicht tat, wäre ihre Flucht womöglich schon innerhalb der nächsten paar Minuten beendet. Sie drehte sich um. Max widersprach nicht. Offenbar glaubte er wirklich, dass es sich nur um ein Spiel handelte.
“Was braucht er denn?”, fragte der Polizist.
“Fünfzehn Gramm Kohlehydrate, aber die braucht er sehr bald, sonst bekommt er einen Insulinschock. Wir wissen das erst seit kurzem, deshalb bin ich noch nicht richtig vorbereitet. Sonst hätte ich uns bei unserem Zwischenstopp in Los Angeles etwas gekauft. Aber da habe ich nur ans Mittagessen gedacht und ganz vergessen, etwas für den Notfall zu besorgen. Während der Fahrt habe ich plötzlich angefangen, mir Sorgen zu machen – und nicht mehr auf die Geschwindigkeit geachtet.”
Sie warf einen Blick in den Rückspiegel auf Max. Hoffentlich hielt er jetzt den Mund. Aber er tat es nicht! Ihr Magen krampfte sich zusammen.
“Muss ich denn was essen?”, fragte der Junge.
“Ja, Liebling. Du hast dein Mittagessen nicht aufgegessen.” Das entsprach sogar halbwegs der Wahrheit.
Der Polizist schien sich etwas zu entspannen. Aber noch gab er ihr den Führerschein nicht zurück. “Ich lasse sie sofort weiterfahren, wenn alles Nötige erledigt ist”, sagte er. “Darf ich bitte mal die Fahrzeugpapiere sehen?”
“Ich sagte Ihnen doch, dass ich es eilig habe!” Sie musste sich nicht sehr darum bemühen, panisch zu klingen. “Können Sie mir nicht einfach bis in die nächste Stadt folgen?”
Der Polizist warf Max einen prüfenden Blick zu. “Ich habe bestimmt etwas zu essen in meinem Wagen. Davon gebe Ihnen etwas, bevor Sie losfahren. Im Augenblick scheint es ihm doch noch ganz gut zu gehen.”
Emma sah ihren Sohn an, der einen überaus aufgeweckten und gesunden Eindruck machte.
Mist! Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und verloren.
Nervös durchsuchte sie das Handschuhfach, völlig im Unklaren, was sie dort wohl finden würde. Schließlich fiel ihr tatsächlich ein Fahrzeugschein in die Hände. Außerdem lag da noch ein zugeklebter Briefumschlag mit ihrem Namen darauf. Was sich darin verbarg, war ihr völlig schleierhaft. Aber es wäre wohl besser, ihn erstmal nicht zu öffnen. Sie legte den Umschlag zurück ins Handschuhfach und reichte dem Beamten den Fahrzeugschein.
Er warf einen kurzen Blick darauf. “Der Wagen gehört also einer Frau Maria Gomez?”
Darauf wusste Emma keine Antwort. Sie konnte nur hoffen, dass der Wagen bislang noch nicht als gestohlen gemeldet worden war. “Ja”, sagte sie, “Maria ist eine Freundin von mir.”
“Einen Moment bitte.” Der Polizist ging zu seinem Streifenwagen zurück. Im Seitenspiegel sah sie seinen Kopf und seine Schultern, als er sich hinter das Steuer setzte. Die Tür ließ er offen und so konnte sie hören, wie er leise etwas in sein Funkgerät murmelte. Überprüfte jetzt ein Computer das Nummerschild? Und wenn ja, was käme wohl dabei heraus?
Ein Lieferwagen rumpelte vorbei und übertönte alle anderen Geräusche. Weitere Autos zischten vorüber. Emmas Hand umklammerte den Knüppel der Gangschaltung. Am liebsten hätte sie Gas gegeben und sich mit dem Strom der anderen Autos forttragen lassen, solange es noch möglich war. Jetzt umzukehren war unmöglich. Sie konnte nicht mehr zu Manuel zurück, denn diesmal würde er ihr ganz bestimmt Max wegnehmen.
“Hab ich alles richtig gemacht, Mommy?”, fragte Max. “Krieg ich jetzt ein Spielzeug?”
“Du warst ganz toll, Liebling. Aber es ist ja noch nicht vorbei. Sei bitte noch eine Weile still, ja?” Sie ließ die Hand auf dem Knüppel der Gangschaltung liegen, falls etwas schief ging, und beobachtete, wie der Streifenbeamte zurückkam.
“Wir haben es gleich”, sagte er und gab ihr den Fahrzeugschein zurück. Den Führerschein behielt er allerdings noch. Er nahm einen Notizblock in die Hand und schrieb etwas auf. Bekam sie jetzt einen Strafzettel?
Emma ließ die Gangschaltung los. Offenbar hatte die Überprüfung ihrer Papiere nichts Negatives ergeben, sonst hätte er längst etwas gesagt. Erstaunlicherweise war der Wagen also nicht als gestohlen gemeldet. Dass sie selbst nicht im Computer auftauchte, wunderte sie allerdings nicht. Manuel würde die Polizei erst als allerletztes Mittel einschalten. Er hatte viel zu viel zu verbergen. Und da er sie bei ihrem letzten Fluchtversuch so schnell gefunden hatte, rechnete er sicherlich damit, sie auch diesmal wieder allein nach Hause zu holen.
“Die Versicherungskarte hätte ich dann gern noch gesehen”, sagte der Polizist.
Diesmal machte sie es richtig, klappte ihre Handtasche auf und suchte, bis sie die entsprechende Bescheinigung fand.
Er verglich die Daten darauf mit denen auf dem Führerschein und gab ihr beides zurück. “Wenn Sie jetzt bitte hier unterschreiben”, bat er und reichte ihr den Notizblock. “Falls Sie Einspruch erheben möchten, finden sie die nötigen Hinweise auf der Rückseite. Wenn Sie das Strafmandat unterzeichnen, ist das keineswegs ein Schuldeingeständnis.”
Als ob ihr das nicht völlig egal gewesen wäre! Sie hätte alles unterschrieben, wenn sie nur weiterfahren durfte.
Emma unterschrieb und nahm den Durchschlag in Empfang. Dann wollte sie das Fenster wieder hochlassen, aber der Polizist trat einen Schritt nach vorn und legte eine Hand auf die Scheibe, um sie daran zu hindern.
“Einen Moment noch.”
“Ja, bitte?”
Er zog etwas aus der Tasche. Einen Schokoriegel. “Den hatte ich heute in meiner Frühstücksbox. Vielleicht tut er dem Kleinen ja gut.”
“Vielen Dank.”
“Gern geschehen.” Er beugte sich herunter und sah durchs Fenster zu Max. “Du bist ein hübscher Junge”, sagte er. “Wie heißt du denn?”
Die Aussicht auf etwas Süßes, was ihm wegen seiner strengen Diätvorschriften lieber war als irgendein Spielzeug, machte Max gesprächig. “Dominick”, antwortete er mit breitem Lächeln, ohne daran zu denken, seinen neuen Namen anzugeben. Stattdessen wiederholte er: “Dominick Escalar Rodriguez.”
Wieder krampfte sich Emmas Hand um die Gangschaltung. “Schnall dich bitte an”, forderte sie ihren Sohn auf und versuchte dabei so normal wie nur möglich zu klingen. In Wirklichkeit wollte sie so schnell es ging von hier verschwinden, bevor wer weiß was passierte. “Du möchtest doch nicht, dass Mommy noch einen Strafzettel bekommt, oder?”
Max verzog das Gesicht, ließ sich auf den Sitz zurückfallen und griff nach dem Sicherheitsgurt. “Fahren wir jetzt wieder nach Hause?”
Der Streifenpolizist trat einige Schritte zurück. “Wenn ihr nach Hause wollt, fahrt ihr aber in die falsche Richtung”, stellte er fest.
“Wir machen ein paar Tage Ferien”, sagte Emma und schloss das Seitenfenster. Dann startete sie den Wagen und reihte sich bei der nächsten Gelegenheit in den Verkehrsfluss ein. Das war ja gerade noch einmal gut gegangen. Aber wie lange hielt ihre Glückssträhne an?
Eins stand jedenfalls fest: Sie musste Kalifornien so schnell wie möglich verlassen.
Endlich kam die Dunkelheit. Nun fühlte Emma sich sicherer. Ursprünglich wollte sie gar nicht nach Nevada fahren, aber nach ihrem Erlebnis mit dem Polizisten fuhr sie Richtung Osten anstatt nach Norden, wie ursprünglich geplant. Überrascht stellte sie fest, dass sie die wilde zerklüftete Landschaft in dieser Gegend mochte. Sie durchquerte viele Orte, manche davon waren sehr klein und auf ihrer Straßenkarte gar nicht verzeichnet. In anderen, größeren Orten gab es Kasinos, Motels und altmodische Kinos. Jeder Ort besaß mindestens eine Kirche, ein Schnellrestaurant, eine Tankstelle und gelegentlich ein Postgebäude oder eine öffentliche Bibliothek, manchmal sogar eine Art Rathaus. Alle Städtchen ähnelten sich, im Ortskern standen hübsche alte Gebäude, am Rand hässlichere, neuere Häuser und weiter draußen windschiefe Hütten und verbeulte Wohnwagen.
Irgendwie sieht Nevada aus, als gehörte es noch zum Wilden Westen, dachte Emma. Und auch die Leute schienen aus einer anderen Zeit zu stammen. Sie brauchen all den modernen Luxus nicht, an den wir Großstädter uns so gewöhnt haben. Hier gibt’s ja noch nicht mal richtige Bäume, sondern nur Gebüsch. Am zuversichtlichsten stimmte sie, dass die Menschen hier ganz eindeutig aussahen, als hätten sie nicht die geringste Lust, ihre Nasen in die Angelegenheiten anderer zu stecken.
Emmas Augen brannten. Max war schon vor einigen Stunden auf dem Rücksitz eingeschlafen, nachdem sie eine kurze Pause für ein Abendessen eingelegt hatten. Wenn sie doch nur nicht so müde wäre! Am liebsten würde sie immer weiter- und weiterfahren, aber inzwischen war es bereits elf Uhr. Nach einem ganzen Tag hinter dem Lenkrad spürte sie nun ihre verkrampften Nackenmuskeln. Zeit für eine Rast und ein Quartier für die Nacht – und für einen Bluttest bei Max. Zum Abendessen hatte Emma ihm eine Insulininjektion gegeben und musste nun prüfen, ob sein Blutzuckerspiegel nicht zu stark abgefallen war.
Max schlief vornübergebeugt. Sie langte nach hinten und berührte seine Stirn. Dass er nicht schwitzte, war ein gutes Zeichen. Sie konnte also ruhig noch eine weitere halbe Stunde nach einem geeigneten Motel suchen. Trotzdem war sie besorgt, denn man wusste es nie ganz genau, Diabetes war ein tückisches Leiden.
Emma schrak zusammen, als sie merkte, dass sie den Wagen versehentlich in die Mitte der Straße gelenkt hatte. Hastig drehte sie am Lenkrad, um wieder auf die richtige Spur zu kommen. Bevor sie von der Straße abkam und im Graben landete oder gegen einen Baum fuhr, sollte sie eine Pause einlegen.
Vor sich bemerkte sie die Lichter einer Stadt. Dort würden sie bleiben.
Manuel umkreiste wutentbrannt seinen Schreibtisch und warf dem zitternden Gärtner eine Landkarte hin. “Wohin?”, schrie er. “Wo will sie hin?”
Carlos stand der Schweiß auf der Stirn. Ängstlich sah er zu Richard und Hector, zwei Handlangern von Manuel, die es sich auf Stühlen bequem gemacht hatten. “Ich … ich weiß nicht”, stieß er hervor.
“Das hast du schon einmal gesagt”, entgegnete Manuel. “Wenn dir nichts Besseres einfällt, werde ich die Grenzpolizei anrufen. Und dann ist dein schöner amerikanischer Traum vorbei.”
Carlos war zwar kräftig gebaut, aber nicht sehr groß. Bei jedem einzelnen Wort von Manuel schien er ein Stückchen mehr in sich zusammenzusacken. “Aber ich habe doch überhaupt nichts damit zu tun”, stotterte er.
Hector stand auf. Sehr groß und schlank, überragte er den Gärtner bei Weitem. Mit der Hand fuhr er sich durchs blondierte Haar, dann trat er näher zu ihm. “Ich hab dich gesehen, Carlos”, sagte er. “Ich hab die ganze Zeit das Haus beobachtet, verstehst du? Und heute Morgen, als ich hier angekommen bin, hab ich gesehen, wie du mit jemandem in einem weißen Auto gesprochen hast.” Er kniff die Augen zusammen. “Ich habe gedacht, es sei Juanita.”
“Aber ja, es war Juanita”, erwiderte Carlos. “Das hab ich doch schon gesagt.”
Manuel konnte sich nicht mehr beherrschen. Er holte aus und schlug Carlos die geballte Faust mitten ins Gesicht. Dabei spürte er, wie das Nasenbein unter der Wucht nachgab. Carlos’ Kopf prallte gegen die Wand. Beinahe wäre er vom Stuhl gefallen. Manuel starrte seine Hand an, selbst überrascht von dem plötzlichen Gewaltausbruch. Aber Carlos wusste, dass er und seine Helfer oft rohe Gewalt anwendeten.
Er riss die Arme hoch, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen.
“Lüg mich nicht an!”, sagte Manuel mit eiskalter Stimme. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete er drohend auf den zitternden Gärtner. “Du wirst mir jetzt alles sagen, was du weißt, sonst lasse ich dich ausweisen.”
“Aber … ich …”, stotterte Carlos.
“Und deine Familie werde ich auch anzeigen”, fügte Manuel hinzu. “Ein Besuch der Grenzpolizei wäre doch wirklich das Letzte, was deine arme kranke Mutter jetzt gebrauchen könnte.”
Kraftlos sanken Carlos’ Arme herunter und er starrte auf das Blut an seinen Händen. “Aber, Señor, bitte, por favor. Ich will keinen Ärger. Ich … ich habe doch eine Familie.”
“Dann erzähl mir endlich, was du über meine Familie weißt.” Manuel holte wieder aus. Am liebsten hätte er den Gärtner so lange verprügelt, bis er winselnd am Boden lag. Der Kerl hatte Vanessa und Dominick bei der Flucht geholfen.
Carlos zitterte wie Espenlaub. Er spürte, dass jeden Augenblick etwas Schreckliches passieren konnte.
“Wem gehört das Auto, mit dem Vanessa weggefahren ist?”, fragte Manuel. “Wo hat sie es her?”
Als Carlos schwieg, verpasste Manuel ihm einen weiteren Schlag. Und noch einen. Er hätte weiter auf ihn eingeschlagen, wenn Hector ihn nicht beiseitegezogen hätte. “Manuel, hör auf, nicht hier. Du bist zu unvorsichtig.”
Aber Manuel war nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Seit dem Moment, als er nach Hause gekommen war und das Haus leer vorgefunden hatte, beherrschte ihn nur noch ein einziger Gedanke: Ich will Vanessa und Dominick zurückhaben! Sonst tobte da nur noch diese kalte Wut, die er am liebsten an Carlos ausgelassen hätte, der den beiden geholfen hatte.
Richard, fast genauso groß und dünn wie Hector, legte eine Hand auf Manuels Schulter, um ihn zu beruhigen. “Ruf einfach die Grenzpolizei an, okay?”
Es dauerte eine Weile, bis Manuel sich wieder beruhigte. Noch immer ging sein Atem heftig. Er lief um den Schreibtisch wie ein wildes Tier und packte den Telefonhörer so fest, als wollte er ihn zerschlagen. “Geben Sie mir bitte die Nummer der Grenzpolizei.”
Carlos liefen Tränen über das Gesicht, als Manuel die Nummer notierte. Dann legte er wieder auf und hob erneut ab. Da sprang der Gärtner vom Stuhl. Blut floss aus seiner Nase, die Lippe war aufgesprungen, sein eines Auge war bereits halb zugeschwollen.
“Warten Sie, por favor. Hören Sie, bitte! Sie war so unglücklich. Da musste ich ihr doch helfen.”
“Woher hat sie das Auto, Carlos?”, fragte Manuel drohend.
Carlos trat nervös von einem Fuß auf den anderen. “Es … es gehört meiner Mutter. Ihre Frau hatte doch nicht viel Geld, und als sie zu mir gekommen ist, hatte ich Mitleid mit ihr. Also habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich ihr bald einen neuen Wagen besorge. Dann müssen wir eben wieder ein bisschen Geld zurücklegen. Aber das schaffen wir schon.”
“Ihr seid illegale Einwanderer, Carlos, ihr dürft in diesem Land überhaupt kein eigenes Auto besitzen”, sagte Manuel.
Blut, Schweiß und Tränen vermischten sich auf Carlos’ Gesicht. “Aber … es ist auf den Namen einer Freundin angemeldet.”
“Was für eine Freundin?”
“Sie heißt Maria Gomez.”
Der Name sagte Manuel überhaupt nichts, aber das spielte keine Rolle. Hector war zwar so nachlässig gewesen, Vanessa entwischen zu lassen – im Glauben, sie wäre Juanita. Aber er hatte sich Automarke, Farbe und Nummer aufgeschrieben. Das tat er mit allen Wagen, die auf das Grundstück fuhren.
“Und was weiter?”, fragte Manuel.
Carlos wischte sich das Blut aus dem Gesicht. “Ich habe ihr nur das Auto meiner Mutter gegeben, sonst nichts.”
Hector nahm sein Halstuch ab, um sich damit den Schweiß von der Stirn zu tupfen. “Also? Was machen wir jetzt?”, fragte er.
Einen Moment dachte Manuel darüber nach, ob er Hector und Richard beauftragen sollte, den widerspenstigen Gärtner umzubringen. Eigentlich hatte er es nicht besser verdient, aber andererseits war es nicht ganz einfach, eine Leiche zu beseitigen. Und als illegaler Einwanderer wäre Carlos viel mehr gestraft, wenn man ihm die Grenzpolizei auf den Hals hetzte.
“Wir rufen erstmal die Polizei an”, entschied Manuel.
“Was? Die Polizei!”, rief Richard verwundert.
“Ich dachte, wir wollten die Polizei da nicht mit reinziehen”, sagte Hector, genauso erstaunt.
“Wir ziehen die Polizei nicht mit rein. Wir nicht”, sagte Manuel. “Das erledigen andere für uns. Carlos und seine Freundin Maria werden den Wagen ganz einfach als gestohlen melden.” Er grinste. “Auf diese Weise kann die Polizei uns einen Teil der Sucharbeit abnehmen.”
Emma steuerte den Wagen die Hauptstraße der kleinen Stadt entlang. Rechts und links brannten die Lichter von Restaurants und kleinen Geschäften. Der Ort hieß Fallon und machte einen wesentlich belebteren Eindruck als die meisten anderen Orte, durch die sie auf ihrer Fahrt durch Nevada gekommen war. Neben einigen Schnellrestaurants gab es hier eine Eisdiele und einen großen Supermarkt. Direkt an der Straße standen mehrere Motels, aber sie wollte nicht gleich die erstbeste Unterkunft nehmen. Besser wäre ein versteckt gelegenes Hotel, damit ein möglicher Verfolger ihren Wagen nicht gleich auf einem Parkplatz an der Hauptstraße entdeckte. Vielleicht hatte der Streifenpolizist von vorhin inzwischen gemerkt, dass es ein Fehler gewesen war, sie einfach weiterfahren zu lassen.
Als sie das Ende des Städtchens erreichte, wendete sie und fuhr zurück. Dann bog sie nach links in eine Seitenstraße – auf der Suche nach einem guten Versteck. Leider stellte sie fest, dass der Ort zwar lang gestreckt war, aber fast nur aus der Hauptstraße bestand. Ohne weiter nachzudenken gab sie Gas und folgte einer kleinen Landstraße ins offene Land. Über ihr breitete sich der tintenschwarze Nachthimmel aus wie ein samtenes Tuch. Durch das geöffnete Seitenfenster drangen die typischen Gerüche einer ländlichen Gegend, wo Tiere auf Weiden grasten und weite Felder sich erstreckten. Viel mehr schien es hier nicht zu geben.
Aber wenig später entdeckte sie genau das, wonach sie gesucht hatte: ein kleines schlichtes Motel. Auf einer erleuchteten Tafel stand “Cozy Comfort Bungalows”, darunter, auf einem angehängten Blechschild “Zimmer frei”. Ob ein solches Motel überhaupt jemals ausgebucht war, fragte sich Emma. Aber vor allem war sie dankbar und froh, endlich eine passende Unterkunft gefunden zu haben, um sich von der endlos langen Fahrt auszuruhen.
Sie lenkte den Wagen auf einen mit Kies bedeckten Parkplatz, der sich vor einer Reihe nebeneinanderliegender kleiner Gebäude erstreckte, die zwar nicht wie echte Bungalows aussahen, aber zweifellos Gästezimmer beherbergten. Direkt vor dem Gebäude mit der Aufschrift “Verwaltung” machte sie den Motor aus.
Sollte sie Max mit hineinnehmen? Sie dachte eine Weile darüber nach und entschied dann, ihn im Auto weiterschlafen zu lassen. Danach stieg sie aus, schloss den Wagen ab und nahm sich vor, ihren Sohn nicht aus den Augen zu lassen.
Das Verwaltungsgebäude sah verschlossen aus, aber eine kleine Laterne beleuchtete den Eingangsbereich. Über einem Klingelknopf hing ein Messingschild, auf dem stand: “Wenn Büro geschlossen, bitte hier klingeln.”
In den nächsten fünf Minuten drückte Emma immer wieder auf den Klingelknopf und hörte auch, wie es drinnen im Haus läutete. Aber niemand zeigte sich.
Ein Glück, dass sie sich entschlossen hatte, ihren achtzehn Kilo schweren Sohn im Wagen zu lassen.
“Ist jemand zu Hause?”, rief sie laut und zog die Tür mit dem Fliegengitter auf, um gegen die dahinter gelegene Holztür zu klopfen.
Ein kleiner brauner Kombi hielt auf dem Parkplatz. Im ersten Moment erleichterte es Emma, dass sie nun nicht mehr die Einzige war, die versuchte, den Besitzer des Motels aus dem Bett zu klingeln. Aber als der Motor des Wagens ausging und der Fahrer ausstieg, fragte sie sich, ob es wirklich eine gute Idee war, hier ganz allein mitten im Nirgendwo herumzustehen. Wer auch immer dieser Mann war, der jetzt auf sie zukam, besonders vertrauenerweckend wirkte er nicht gerade. Er sah eigentlich auch nicht aus wie jemand, der so einen Kombi fuhr. Und auch wie ein typischer Einwohner von Nevada sah er nicht aus – er trug nicht die in dieser Gegend typischen Westernklamotten, sondern eine verblichene löchrige Jeans und ein links herum angezogenes Sweatshirt. Bartstoppeln übersäten die kantigen Wangen, das blonde Haar war schulterlang, und einige Strähnen fielen ihm ins Gesicht.
“Meldet sich niemand?”, fragte er und schob sich die widerspenstigen Haare aus dem Gesicht.
Auf der Suche nach einer Waffe für den Notfall schob Emma die Hand in ihre umgehängte Tasche. Von Carlos hatte sie ein Spray zur Selbstverteidigung bekommen.
“Bis jetzt noch nicht”, sagte sie.
Er öffnete die Schiebetür des Lieferwagens, holte eine Umhängetasche heraus, in die ein Laptop passte, und hängte sie sich über die Schulter. Dann holte er noch einen Seesack hervor, schloss die Tür und kam auf sie zu. Da er ganz ruhig und mit koordinierten Bewegungen ging, entspannte Emma sich ein wenig. Zumindest war er nicht betrunken. Und jetzt, als sie ihn genauer betrachtete, bemerkte sie auch, dass er kein bisschen gefährlich aussah. Dafür war er viel zu hübsch. Die Nase war gerade, das Gesicht gut geschnitten, und seine Lippen erschienen ihr für einen Mann beinahe zu sinnlich.
“Vielleicht müssen wir uns doch nach einer anderen Unterkunft umsehen”, sagte Emma.
Er schüttelte den Kopf. “Sie ist da.”
So wie sein Haar sich bewegte, musste es frisch gewaschen sein, dachte Emma. Trotz des nachlässigen Aussehens, der löchrigen Klamotten und der abenteuerlichen Frisur schien er Wert auf Körperpflege zu legen. Jedenfalls waren die Fingernägel akkurat geschnitten, was sie dank der hellen Lampe auf der Veranda gut erkennen konnte. Auch die Zähne strahlten weiß und ebenmäßig. Sein Körper glich dem von Manuel – schlank und gut gebaut, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Eigentlich prädestiniert für elegant geschnittene Anzüge.
Warum trug er nur so kaputte Jeans? War er einer von diesen Computerfachleuten ohne Job? War ihm das Geld ausgegangen? Und wieso wollte er mitten in der Nacht ausgerechnet in diesem völlig abgelegenen Motel übernachten?
Wer immer dieser Mann war, er hatte bestimmt ein interessantes Schicksal. Ob das auch auf die anderen Gäste in dem Motel zutraf?
Er machte sich gar nicht erst die Mühe, auf den Klingelknopf zu drücken. Stattdessen zog er einfach die Tür mit dem Fliegengitter auf und schlug heftig mit der Faust gegen die Eingangstür. Einen solchen Lärm zu veranstalten, hätte Emma sich niemals getraut.
Es dauerte nicht lange und drinnen ging ein Licht an. Wenig später öffnete eine alte Dame mit weißem Haar die Tür.
“Oh, Preston”, sagte sie, als sie nach draußen spähte. “Ich dachte mir schon, dass du das bist.” Ein Geruch nach Katzen und Menthol drang aus dem Innern des Hauses. “Du bist also zurück, hm?”
Emma ließ die Dose mit dem Selbstverteidigungsspray los. Der Mann war hier Stammgast? Das fand sie so verwunderlich wie die Tatsache, dass ein so hübscher Mensch derart kaputte Kleider am Leib trug.
“Nur für eine Nacht, Maude”, sagte er. “Morgen geht’s dann nach Iowa.”
“Nach Iowa!”, rief die alte Frau. “Du willst doch nicht etwa mit dieser Kiste bis nach Iowa fahren?”
“Mit dieser Kiste fahre ich überall hin.”
“Na, wenigstens hast du jetzt eine Freundin dabei.”
Er drehte sich um und schaute Emma aus hellen Augen an. “Sie gehört nicht zu mir. Ich glaube, sie sucht eine Unterkunft.”
Emma räusperte sich und sagte: “Ja, ich hätte gern ein Zimmer.”
“Aber natürlich, meine Liebe. Lassen Sie mich erstmal den Schlüssel für Preston holen. Du nimmst doch am liebsten das Zimmer ganz am Ende, stimmt’s?”
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte Maude sich ab und verschwand im Haus. Als sie zurückkam, reichte sie Preston den Zimmerschlüssel und dazu eine durchsichtige Plastiktüte – ganz offensichtlich mit selbstgebackenen Keksen. “Dann geh mal schlafen, mein Junge. Und morgen früh kann ich dir gern ein paar Pfannkuchen backen, falls du möchtest.”
“Danke”, sagte er, ohne ein Wort über die Kekse zu verlieren. Seine Stimme klang so ausdruckslos, dass sie nicht verriet, ob er nun zum Frühstück zu Maude gehen wollte oder nicht.
Preston – wie auch immer er mit Nachnamen hieß – ging davon, und Emma schaute ihm nach. Auch Maude sah ihm hinterher.
“Armer Kerl”, sagte sie. “Soweit ich das sehen kann, hat das Leben ihm wirklich übel mitgespielt.” Sie schob das Haarnetz auf ihrem Kopf zurecht. “Na, wie auch immer. Sie wollen ein Zimmer. Mal sehen, was wir für Sie tun können …”
Weil ihr Sohn im Auto schlief, zog Emma es vor, draußen vor dem Büro zu warten, während die alte Frau die nötigen Formalitäten erledigte. Zehn Minuten später holte sie ihren Koffer aus dem Auto, brachte ihn zum Haus und ging dann zum Wagen zurück, um Max ins Bett zu tragen. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelingen würde, den Jungen bis ins Motelzimmer zu schleppen, ohne sich eine Muskelzerrung zuzulegen. Aber sie wollte ihn auf keinen Fall aufwecken. Am besten schlief er einfach weiter, dann konnte sie auch noch ein paar Stunden schlafen.
“Liebling, du bist wirklich schwer geworden”, murmelte sie.
“Sind wir jetzt wieder zu Hause?”, murmelte er. Um ihn nicht unnötig aufzuregen, antwortete sie nicht. Was eine gute Entscheidung war, denn kaum dass sein Kopf auf ihre Schulter sank, schlief er auch schon wieder ein.
Nur noch ein paar Schritte, dann hast du es geschafft. Gleich sind wir da … jetzt ist es gut … Aber da stellte sie fest, dass die Tür zugefallen war.
Mühsam schob sie Max noch ein Stück höher über ihre Schulter und versuchte, die Klinke herunterzudrücken. Abgeschlossen. Verdammt.
Sie verlagerte ihr Gewicht so, dass es ihr leichter fiel, ihren schweren Sohn zu halten und lehnte sich gegen die Hauswand. Irgendwie musste sie doch den Schlüssel aus ihrer Tasche kriegen!
“Sie haben ein Kind dabei?”
Sie erstarrte. Im Schatten stand Preston. In der Hand hielt er einen Eimer mit Eiswürfeln. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt.
“Ja.” Sie erwartete, dass er nach Max’ Alter fragen würde, nach seinem Namen und anderen Details – wie das so üblich war, wenn Leute zufällig miteinander ins Gespräch kamen und ein Kind dabei war –, aber das tat er nicht. Er schaute zu ihnen herüber und die blonden Strähnen, die über seinen Augen lagen, verhinderten, dass sie seinen Gesichtsausdruck erkannte. Schließlich gab er sich einen Ruck und trat zu ihr, um den Schlüssel in Empfang zu nehmen, den Emma gerade aus der Tasche gezogen hatte. Dann schloss er ihnen die Tür auf.
“Vielen Dank”, sagte sie und legte Max aufs Bett. Als sie sich wieder umdrehte, stand Preston immer noch da und hielt die Tür fest, damit sie nicht zufiel. Den Schlüssel hatte er noch gar nicht wieder aus dem Schloss gezogen.
“Gute Nacht”, sagte sie verunsichert. Sie fand es merkwürdig, dass dieser Mann, der ihr eben noch kaum Beachtung geschenkt hatte, plötzlich so interessiert wirkte, nachdem er Max bemerkt hatte.
Preston entgegnete nichts. Aber Emma hatte den Eindruck, dass ganz kurz ein heftiger, beinahe wilder Ausdruck über seine Gesichtszüge huschte. Er schien es zu bemerken und bemühte sich, wieder freundlicher zu wirken. Dann zog er den Schlüssel ab, warf ihn ihr zu, schloss leise die Tür und war verschwunden.