7. KAPITEL
Wo hatte sie den Mann schon einmal gesehen? Emma konnte sich nicht erinnern. Er war groß, etwa 1,90 Meter, aber sehr dünn, fast schon hager. Als er mit dem Motelbesitzer sprach, hob er seine Hand in Hüfthöhe, als sagte er gerade: “Der Junge ist etwa so groß.” Jedenfalls interpretierte Emma diese Geste so. Er trug eine Lederweste und sah schmutzig und roh aus, anders als Manuels Helfer. Denn Manuel legte Wert auf ein gewisses elegantes Auftreten, auch bei seinen Leuten.
“Warum gehen wir denn nicht weiter?”, wollte Max wissen.
Emma wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Alarmiert stand sie da und spürte eine Gefahr, die ihr nur allzu bekannt vorkam.
“Mommy?”, fragte Max mit müder Stimme.
“Wir warten, bis die Straße frei ist”, sagte sie. Allerdings fuhren schon seit drei oder vier Minuten keine Autos mehr vorbei. Dennoch zögerte sie. Sie war wie gelähmt. Wenn dieser Mann dort nun doch in Manuels Auftrag herumschnüffelte? Dann liefen sie ihm direkt in die Arme.
Aber Max zerrte an ihrem Arm. “Komm jetzt.”
Wer war der Kerl? Hatte sie ihn schon einmal bei sich zu Hause gesehen? Gelegentlich kamen fremde Männer vorbei, um sich mit Manuel in dessen Büro zu besprechen. Dieser könnte einer von ihnen gewesen sein. Vielleicht sah sie aber auch Gespenster, so wie es ihr mit dem roten Toyota auf der Fahrt hierher passiert war.
So wird es wohl sein, entschied sie, und nahm Max an der Hand. Sie überquerten die Straße und gingen auf den Moteleingang zu. Der Mann wollte sicher nur ein Zimmer mieten. Bestimmt würde er gleich einen Anmeldezettel unterschreiben und dann mit einem Schlüssel in der Hand zu seinem Zimmer gehen.
Doch die Frau des Motelbesitzers begleitete ihn aus dem Büro, ohne dass er vorher irgendetwas unterschrieb. Emma machte ein paar Schritte zurück und zog Max mit sich in den Schatten der Markise eines kleinen Ladens.
Der Mann folgte der Frau über den Parkplatz. Ab und zu blieben sie stehen und sprachen miteinander. Trotzdem ahnte Emma, wohin sie gingen. Als sie vor dem Zimmer mit der Nummer 21 stehen blieben und anklopften, wusste Emma, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren. In Zimmer Nummer 21 schliefen Max und sie. Manuels Häscher hatte sie gefunden.
“Mommy, kann ich jetzt meinen Abendsnack bekommen?”, fragte Max.
“Ja, gleich, eine Minute noch.” Was konnte in einer einzigen Minute nicht alles passieren. Genau jetzt, in dieser Minute! Sie durften unmöglich stehen bleiben und wie gebannt auf das drohende Unheil starren.
So wie es aussah, holte die Frau einen Generalschlüssel aus ihrer Hosentasche.
Emma stöhnte. Die Diabetesausrüstung von Max lag direkt neben dem Fernseher. Wenn der große Mann sie sah, wüsste er mit Sicherheit, dass er sie gefunden hatte. Wie viele Frauen mit einem diabeteskranken Jungen hatten wohl in diesem Ort ein Motelzimmer gemietet?
Emma bekam kaum noch Luft. Eine schwere Last drückte auf ihre Brust. Die Medizin von Max! Der Rucksack mit all den lebensnotwendigen Sachen lag dort in diesem Zimmer!
“Kaufst du mir ein Eis?”, fragte Max.
Sie schüttelte leicht den Kopf, verwirrt und verzweifelt. Max brauchte die Sachen aus dem Rucksack, sonst konnte er nicht überleben! Was sollte sie jetzt tun? Ihr Sohn musste seine Medizin nehmen. Aber den Weg dorthin in ihr Zimmer versperrte Manuels Gehilfe. Denk nach! Ganz intensiv! Los, Emma, du musst eine Lösung finden!
Sie zwang sich ruhig zu bleiben, versuchte, eiskalt abzuwägen. Das Testgerät von Max lag in ihrer Handtasche, und die trug sie bei sich. Falls sie genügend Teststreifen, Injektionsnadeln und Insulin für die Nacht eingepackt hätte, konnte sie morgen früh in der Apotheke die fehlenden Medikamente wieder kaufen.
In Windeseile durchsuchte Emma die Handtasche und stellte fest, dass die Medikamente reichten. Erleichtert atmete sie auf. Dann fiel ihr etwas ein. Mit etwas Glück bekäme sie alles, was ihnen jetzt fehlte, wieder.
Aber die Situation war alles andere als günstig. In der Apotheke müsste sie für die fehlenden Geräte und Medikamente über zweihundert Dollar zahlen. Und es ging ja nicht nur um die medizinischen Dinge, die Max benötigte. Auch ihre Kleider lagen dort im Zimmer. Momentan trugen sie nur T-Shirts und Badesachen und nicht einmal Hosen …
Mit einem Mal realisierte sie, dass das alles ganz egal war. Geld spielte keine Rolle, Kleider auch nicht. Das Einzige, was zählte, war Max. Und wenn sie sich nicht zusammenriss und eine Lösung fand, würde sie ausgerechnet ihn verlieren.
Sie drehte sich um und zog ihren Sohn mit sich fort, zurück zu dem großen Motel.
“Gehen wir jetzt doch nicht ins Bett?”, fragte Max erstaunt.
“Später vielleicht”, murmelte Emma.
“Wollen wir noch einmal baden?”
“Nein.” Emma erinnerte sich an die kleine Polizeiwache am Ortseingang, an der sie vorbeigefahren waren. Wenn sie dort doch nur um Hilfe bitten könnte! Schon oft hatte sie überlegt, die Polizei einzuschalten. Aber was konnte sie schon vorweisen, um zu belegen, dass Manuel sie misshandelte? Nur eine einzige Brandwunde. Die Narben in ihrer Seele waren unsichtbar. Manuel sah aus und benahm sich wie ein perfekter Geschäftsmann, spielte den fürsorglichen Vater und den verständnisvollen Nachbarn. Und er konnte sich so gut verstellen! Er würde alles auf sie schieben und den Beamten einreden, sie wäre psychisch labil, und dann würden die Ermittlungen im Sande verlaufen.
Sie hörte die Polizei schon sagen: Es tut uns leid, aber wir können ihn nicht festnehmen, bevor er etwas getan hat. Und ihre Antwort darauf würde ihre ganze Hilflosigkeit demonstrieren: Aber wenn er es getan hat, ist es doch längst zu spät!
Auf die Hilfe der Polizei durfte sie nicht hoffen. Und sie musste stark sein, denn es ging vor allem um Max.
Max rannte, um mitzukommen “Wo gehen wir denn hin?”
Erst als sie das Schwimmbad wieder erreichten, wurde Emma langsamer. “Hierhin.”
“Wieso denn?”
Weil sie kein anderes Zimmer mieten konnte, jedenfalls nicht in einer kleinen Stadt wie dieser. Wenn Manuel und die Männer, die für ihn arbeiteten, erstmal feststellten, dass sie nicht in ihr Motelzimmer zurückkehrten, würden sie weitersuchen. Sie würden alle Hotels im Ort abklappern und nach einer Frau mit einem fünfjährigen Jungen fragen. Mit einem neuen Zimmer löste sie das Problem nicht. Also mussten sie einen anderen Platz für die Nacht finden.
“Ich will Fernsehen gucken”, jammerte Max.
“Gut.”
“Was machen wir denn eigentlich?”
“Wir suchen Mr. Holman.”
“Warum denn?”
“Wir fragen ihn, ob er Lust auf eine Pyjama-Party hat.”
“Mit uns?” Die Aussicht auf eine Party belebte Max regelrecht. Auf einmal wirkte er wieder hellwach. Dass ihr Sohn nun tatsächlich noch eine ganze Weile länger aufbleiben würde, beunruhigte Emma.
Preston saß noch immer im Whirlpool. In dem aufsteigenden Dampf war sein Kopf kaum zu erkennen. Gott sei Dank, er war noch nicht gegangen. Aber als sie sich dem Zaun näherte, der das Schwimmbad umgab, sank ihr Mut. Sie musste ihn irgendwie überreden, ihnen noch einmal zu helfen. Geld hatte sie ihm bereits angeboten, genau wie ihre Freundschaft und Hilfe. Alles vergeblich. Und zu allem Überfluss hatte sie ihm erst vor wenigen Minuten einen bitterbösen Blick zugeworfen.
Verzweifelt suchte Emma nach einer Möglichkeit, ihn auf ihre Seite zu ziehen, aber ihr fiel nichts ein. Auf einmal erinnerte sie sich wieder an dieses eigenartige Lächeln, mit dem er sie im Schwimmbecken beobachtet hatte. Der Gedanke daran verursachte ein eigenartiges Gefühl in ihrer Magengegend. Sie konnte ihm ja sonst nichts anbieten. Nie in ihrem Leben hätte sie gedacht, einmal so etwas in Erwägung zu ziehen. Sie schaute ihren Sohn an, der neben ihr stand. Egal, es ging um ihn, und da war jedes Mittel recht. Sie drückte seine Hand. Hoffentlich genügte es, um ihnen das zu verschaffen, was sie so dringend brauchten.
“Mommy? Will er eine Pyjama-Party mit uns feiern?”, fragte Max.
Sie setzte ein Lächeln auf und nickte. Zum Glück würde ihr Sohn schon schlafen, wenn die eigentliche Party begann.
“Mr. Holman!”, hörte Preston eine Kinderstimme rufen.
Er drehte den Kopf und entdeckte Emma und Max wenige Meter entfernt am Zaun.
“K-kann ich Sie mal kurz sprechen?”, fragte Emma stockend.
Einer der anderen Männer im Whirlpool murmelte grinsend: “Du kannst gern mit mir sprechen, Kleine.” Preston wertete die Rückkehr von Emma und Max jedoch nicht als gutes Zeichen. Ob sie in diesem Bikini nun attraktiv und sexy aussah oder nicht, interessierte ihn schon längst nicht mehr. Er war froh gewesen, sie endlich los zu sein. Denn er wollte sich keine Gedanken darüber machen müssen, wo er die Pistole verstecken sollte, damit sie sie nicht bemerkten. Er wollte nicht noch mehr Ärger. Es hatte ewig gedauert, bis er Vincent Wendell ausfindig gemacht hatte und er wollte sich auf keinen Fall von seinem Ziel ablenken lassen, auch nicht für einen kurzen Augenblick.
Dennoch konnte er sie da nicht einfach am Zaun stehen lassen. Mit einem leisen Fluch stieg er aus dem Wasser und ging zu ihnen. “Stimmt etwas nicht?”
“Möchten Sie mit uns eine Pyjama-Party machen?”, fragte Max, bevor Emma etwas sagen konnte.
Preston wusste, dass sein Gesichtsausdruck Bände sprach. Eine Antwort war eigentlich gar nicht nötig. Er wollte nichts von ihnen wissen. Aber Max schien das nicht zu bemerken.
“Sagen Sie doch ja”, bettelte er. “Ich bin noch nie auf einer Pyjama-Party gewesen.”
Preston schaute Emma an. “Soll das ein Witz sein?”
Sie trat näher. Als ihre kühle Hand seinen überhitzten Arm berührte, fragte er sich, ob sie zitterte oder er. In jedem Fall aber hatte sie die ablehnende Haltung aufgegeben, mit der sie sich vorhin von ihm verabschiedet hatte.
“Wir können nicht in unser Zimmer zurück”, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Preston warf Max, der jetzt versuchte, sich zwischen seine Mutter und den Zaun zu drängen, einen finsteren Blick zu.
“Was hast du zu ihm gesagt, Mommy?”
Emma sah Preston bittend an und antwortete nicht.
“Warum denn nicht?”, fragte er.
“Manuel hat uns gefunden. Einer seiner Männer ist hier.”
Das könnte natürlich auch ein schlauer Versuch sein, ihn zu bewegen, sie doch weiter mitzunehmen. Aber Emma zitterte so stark, dass er ihr glaubte. “Der Vater von Max?”
Sie nickte.
Er strich sich mit der Hand über das Gesicht. Womit hatte er das verdient? Würde er die zwei denn nie loswerden?
“Gehen Sie zur Polizei”, sagte er schließlich. “Ich kann Ihnen doch auch nicht helfen.”
Damit wandte er sich ab und wollte fortgehen, aber sie hielt ihn am Arm fest. “Ich … ich verlange ja nicht, dass Sie es umsonst tun. Ich … bin bereit, etwas dafür zu geben. Vielleicht möchten Sie ja …” Ihre Stimme erstarb.
“Was?”
Sie versuchte, ihn näher zu sich zu ziehen. Widerstrebend ließ er zu, dass sie ihm erneut etwas ins Ohr flüsterte. “Ich habe gesehen, wie Sie mich vorhin angeschaut haben.”
Er war ihr jetzt so nah, dass er den Geruch ihres Shampoos roch.
“Sie …” Sie räusperte sich. “Es hat Ihnen doch gefallen, was Sie gesehen haben.”
Preston bemühte sich, nicht daran zu denken, wie sie ohne T-Shirt ausgesehen hatte. “Und wenn es mir gefallen hat?”
“Dann schlage ich Ihnen ein Geschäft vor.”
“Ich verstehe nicht, was Sie meinen.”
Er ließ sich von ihr ein Stück beiseiteziehen, weg von Max. Jetzt sprach sie so leise, dass er sie kaum verstand.
“Sie können alles haben, was Sie wollen, wenn Sie mir jetzt helfen.”
Nicht nur ihre Hand zitterte, sondern auch ihre Stimme. Ihm wurde klar, dass sie ihm nicht vorschlug, sich an den Spritkosten zu beteiligen. “Bieten Sie mir etwa an, dass Sie mit mir schlafen würden?”, fragte er völlig überrascht.
Trotz seiner Verwunderung hob er nicht die Stimme. Aber Max drängte sich schon wieder zwischen Emma und den Zaun. Sie legte die Hände über die Ohren ihres Sohns, bevor sie antwortete.
“Wenn Sie es gern direkt ausgesprochen hören wollen, bitte: Genau das biete ich Ihnen an.”
So steif und stoisch wie sie in diesem Moment vor ihm stand, schien ihr der Gedanke, mit ihm ins Bett zu gehen, nicht gerade zu behagen. Und das half Preston dabei, seine Gefühle zu beherrschen. Er konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, mit einer Frau zu schlafen, die nichts dabei empfand. Abgesehen davon wusste er ohnehin längst, dass Emma nicht zu denen gehörte, die man einfach so abschleppte. Sie war nicht der Typ, der einfach nur Spaß wollte. Dazu war sie viel zu sensibel. Wenn er sich auf diese Art mit ihr einließ, gäbe es nur ganz schreckliche Komplikationen.
Trotzdem fragte er weiter, denn er wollte unbedingt wissen, was sie als Gegenleistung verlangte. “Und was muss ich Ihnen dafür bieten?”
Sie schaute sich um. Offenbar fürchtete sie, jemand könnte sich von hinten an sie heranschleichen. “Sie müssen Max und mich heute Nacht bei sich aufnehmen. Und uns so schnell wie möglich nach Salt Lake City bringen. Sobald Ihr Wagen wieder heil ist. Wir müssen so schnell wie möglich aus Nevada raus.”
Ihre Augenlider flatterten. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten. Das hier war wirklich kein Scherz. “Ich bitte Sie!”, fügte sie verzweifelt hinzu, als fürchtete sie, er könnte nein sagen.
Sie bot ihm an, mit ihm zu schlafen, im Tausch gegen ein wenig Mitgefühl und Hilfe. Das Schreckliche daran war, dass sie es tat, weil sie fürchtete, er würde andernfalls ablehnen. Oh Gott, dachte Preston, wie konntest du nur so tief sinken. Er seufzte tief und schaute Max an.
Der Junge lächelte hoffnungsfroh.
“Bitte sagen Sie ja”, bettelte er. “Ich bin auch ganz bestimmt brav.”
Was sollte er darauf schon erwidern? Mochte sein Herz auch vor Kummer geschrumpft sein, aber was noch davon übrig war, genügte, um ihn davor zu bewahren, zu einem Unmenschen zu werden. So verzweifelt wie Emma aussah, würde sie dieses Angebot womöglich einem völlig Fremden machen, jemandem, der sie schamlos ausnutzte. Oder sie fiele wieder dem Mann in die Hände, vor dem sie sich so schrecklich fürchtete.
Preston ging zu seinem Liegestuhl, hob das Handtuch hoch und nahm den Zimmerschlüssel. Glücklicherweise lag die Pistole im Kofferraum seines Wagens versteckt. Er reichte Emma den Schlüssel und sagte: “Zimmer 341. Ich komme gleich nach.”
Emma starrte ihr Spiegelbild über dem Waschbecken in Prestons Badezimmer an. Große ängstliche Augen sahen ihr entgegen, Augen, die deutlich die Spuren großer Müdigkeit und Anspannung zeigten. Ihr Gesicht war blass, die Haut wirkte dünn, fast durchsichtig – kein Wunder. Sie hatte sich dem Mann, der auf der anderen Seite der Tür auf sie wartete, als Prostituierte angeboten, einem Mann, den sie knapp zwei Tage kannte.
Ganz kurz dachte sie an ihre Mutter und ihre Schwester in Arizona und erschauderte. Sie würden ihr nie glauben, wenn sie ihnen erzählte, was sie hier tat. Niemand würde ihr das glauben. Auch ihr selbst kam es völlig unwirklich vor.
“Wie konnte mein Leben nur in solche Bahnen geraten”, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Als junges Mädchen war sie ein Ass in der Schule und auf dem Sportplatz gewesen. Später auf dem College gehörte sie zu den Besten in ihrer Klasse. Sie machte weiter Leichtathletik und ging zweimal in der Woche in eine nahe gelegene Grundschule, um den Schülern dort vorzulesen. Emma empfand es als große und wunderbare Herausforderung, eines Tages als Lehrerin vor der Klasse zu stehen. Insgesamt betrachtet führte sie ein vorbildliches Leben. Bevor sie Manuel kennenlernte, hatte sie mit keinem anderen Mann geschlafen.
Und jetzt stand sie hier im Badezimmer von Preston Holman, duschte, föhnte sich die Haare und bereitete sich darauf vor, ihren Teil des vereinbarten Geschäfts zu erfüllen.
Sie hängte den Föhn zurück in die Halterung und schloss die Augen, um sich nicht länger selbst anschauen zu müssen. Manchmal mussten Menschen eben Dinge tun, die sie normalerweise niemals in Erwägung gezogen hätten. Das gehörte nun mal zum wirklichen Dasein, es ging ums nackte Überleben. Aber so sehr Emma auch nach Rechtfertigungen für ihr Handeln suchte, wusste sie doch, dass es die Sache an sich nicht leichter machte. Sie schaute zu Boden, wo Max friedlich auf den Handtüchern schlief, die sie für ihn auf dem Boden vor der Wanne ausgebreitet hatte. Vor Prestons Rückkehr hatte Emma den Blutzuckerspiegel ihres Sohnes getestet und ihm einen Müsli-Riegel gegeben, um den Wert nach dem Schwimmen wieder anzuheben. Dann legte sie ihn auf das provisorische Bett und gab ihm einen Gutenachtkuss. Er konnte ja schlecht im Wohnzimmer bleiben, wenn sie ihren Teil der geschäftlichen Vereinbarung mit Preston erfüllte.
Max jedenfalls war erstmal in Sicherheit, und nur das zählte. Dieser schmierige Kerl in ihrem Motel ahnte nicht, wo sie sich versteckten. Für diese Nacht war Max außer Reichweite von Manuel und seinen Handlangern.
Sie schaute ihren Sohn an und wusste, dass sie für ihn jeden Preis zahlen würde. Immerhin sah Preston Holman sehr gut aus. Mit glatter, gebräunter Haut, ohne so schrecklich viele Haare. Er war jung, ungefähr so alt wie sie. Er roch sogar gut. Das hatte sie neben ihm im Auto bemerkt.
Die meisten Frauen fänden vermutlich Gefallen daran, mit einem Mann wie ihm zu schlafen. Nur sie nicht. Wenn Manuel sie berührte, hatte sie zuletzt nur noch Abscheu und Widerwillen empfunden. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass es so etwas wie Zärtlichkeiten zwischen Mann und Frau gab. Vor allem sehnte sie sich danach, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Sie wollte unabhängig sein und frei.
Bis dahin würde es leider noch eine Weile dauern. Aber irgendwann wäre es so weit – wenn sie eine Wohnung und einen neuen Job gefunden hatte. Vorher musste sie sich irgendwie durchschlagen und Kompromisse eingehen. In diesem Moment gab es keinen anderen Ort, an den sie flüchten konnte, als Prestons Hotelzimmer.
Emma atmete tief aus und zwang sich, die Augen zu öffnen. “Ich schaffe das schon”, murmelte sie. “Ich tue es für Max.” Preston hatte bislang kaum mit ihr gesprochen. Wahrscheinlich würde er sich schnell mit ihr vergnügen und das war’s dann. Sie musste sich auch keine Sorgen über eine Schwangerschaft machen. Seit der Geburt von Max nahm sie regelmäßig die Pille, denn sie wollte auf keinen Fall ein zweites Kind von Manuel.
Der Fernseher im Nebenraum wurde leiser gestellt. Emma griff hastig nach den trockenen Sachen, die sie auf dem Toilettensitz bereitgelegt hatte. War er vielleicht schon ungeduldig? Sie wusste nicht, was als Nächstes passieren würde. Als Preston vor einer halben Stunde ins Zimmer gekommen war, hatte er sie gefragt, ob sie trockene Sachen bräuchte. Die hatte sie natürlich bitter nötig, aber mehr als ein T-Shirt und eine Boxershorts konnte er ihr nicht geben. Immerhin passten sie einigermaßen.
Nachdem er ihr die Sachen überreicht hatte, ging er ins Badezimmer und duschte. Danach kam er wieder heraus, nur mit einer abgewetzten Jeans bekleidet. Dann ließ er sich auf eines der Betten fallen und stellte den Fernseher an. Daraufhin ging sie ins Bad. Zum Glück war Max viel zu müde gewesen, um noch fragen zu können, warum sie ihm so ein eigenartiges Bett machte.
Sie brauchte wesentlich länger als Preston, was ihm inzwischen vermutlich auch auffiel.
Kurz hielt sie sich sein T-Shirt unter die Nase. Es roch ganz sauber, nach Weichspüler. Aber sie besaß nicht einmal einen BH, den sie darunter anziehen konnte oder einen Slip, um ihn unter der Shorts zu tragen.
“Was tun Sie denn da so lange?”, rief er.
Als sie seine Stimme hörte, erstarrte sie. “Ich … ich bin schon fertig”, antwortete sie. Aber er sprach schon wieder weiter und da merkte sie erst, dass er gar nicht sie meinte. Er telefonierte.
“Hallo? Ja, ich bin’s. Danke, mir geht’s gut. Mir geht’s immer gut, stimmt’s?”
Auf einmal schämte sie sich, weil sie geantwortet hatte. Sie horchte an der Tür, um herauszufinden, warum er so schlecht gelaunt klang.
“Nein, deswegen rufe ich nicht an”, hörte sie ihn sagen. “Ich habe Vincent gefunden. Hast du gehört, Christy? Ich habe ihn gefunden!”
Emma hatte nicht die leiseste Ahnung, wer Vincent sein könnte, aber so wie Preston sich ausdrückte glaubte er offenbar, dass seine Worte einen gewissen Eindruck hinterließen.
“Weil du es wissen sollst, deshalb … Was meinst du denn damit? Mein Gott, hast du Dallas etwa schon völlig vergessen?” In seiner Stimme schwangen Wut, Anklage und andere Gefühle mit. Irgendetwas schien einen tiefen Schmerz in ihm zu wecken. “Ja, natürlich sind wir geschieden. Aber das heißt doch nicht, dass wir nicht über unseren Sohn sprechen dürfen, oder? Ach, vergiss es. Du hast recht. Ich sollte dich nicht in deinem neuen bequemen Leben mit diesem Bob stören.”
Preston war also einmal verheiratet gewesen. Und im Leben seiner Ex-Frau gab es offensichtlich einen neuen Mann.
“Nein, du hörst jetzt auf damit. Unser Sohn ist tot. Unser toller, großartiger sechsjähriger Sohn, der …” Seine Stimme brach. Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Aber dann fing er sich wieder und sprach weiter, ganz eindeutig von dem Bedürfnis getrieben, seiner Gesprächspartnerin wehzutun. “Ja, scheinbar bist du ja in der Lage, einfach weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre, aber ich kann das nicht. Jedenfalls nicht, bevor die Sache abgeschlossen ist … Wie bitte? Was für eine Sache? Das kann ich dir sagen: Ich will Gerechtigkeit!”
Er fügte noch etwas hinzu, aber Emma verstand ihn nicht mehr. Offenbar hatte er sich von der Badezimmertür weggedreht.
“Ich war sein Vater”, sagte er, als sie ihn wieder besser hörte. “Er hat mir vertraut … Wenn das nicht meine Angelegenheit ist, wessen denn sonst? … Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich zulassen werde, dass Vincent einfach so davonkommt … Schön, nenn es doch, wie du willst.”
Emma musste tief durchatmen, als sie begriff, was das alles bedeutete. Preston hatte einen Sohn gehabt – und ihn verloren. Jetzt machte sein eigenartiges Benehmen auf einmal Sinn. Kein Wunder, dass er den Anblick eines kleinen Jungen wie Max nicht ertrug. Er kam nicht über den Tod seines Sohnes hinweg.
Und sie hatte ihm entgegengeschleudert, sie habe noch nie in ihrem Leben einen Menschen getroffen, der Kinder so verabscheue wie er! Aber sie hatte ja nichts davon gewusst, hatte nicht im Traum an so etwas gedacht. Und nun schrak sie zusammen bei dem Gedanken, dass ihr mit Max ein ähnliches Schicksal bevorstand. Um Himmels willen! Es spielte doch gar keine Rolle, ob sie nun gezwungen war, mit Preston Holman zu schlafen. Um zu verhindern, dass jemand ihr Max wegnahm, war jedes Mittel recht.
“Es ist mir egal, was Bob und alle anderen darüber denken”, rief Preston gerade. “Wie viele Helden kennst du denn, Christy? Wann hast du das letzte Mal in der Zeitung von einem Arzt gelesen, der auf wundersame Weise ein Kind geheilt hat?”
Wovon redete er denn da?
“Es geht doch um viel mehr.”
Dann gab es eine längere Pause. Als Preston weitersprach, klang er mutlos. “Ich muss eben tun, was ich tun muss … Okay, warte … Nein, bitte, wein doch nicht. Bitte, Christy! Es tut mir leid.”
Er sagte noch etwas, das Emma wieder nicht verstand, dann legte er auf.
Emma wartete ab, was als Nächstes passierte, aber nichts geschah. Sie hörte keinen Ton mehr. Preston schwieg, und Max schlief friedlich auf seinem Lager. Sie konnte sich nicht entschließen, etwas zu tun und kam sich nach einer Weile feige und dumm vor.
Preston litt also unter einem Verlust, den sie nur allzu gut nachvollziehen konnte. Und er hatte zugestimmt, ihnen zu helfen. Sie vermutete jetzt, dass es weniger mit ihrem Angebot von vorhin zusammenhing. Möglicherweise wusste Preston schon gar nicht mehr, dass sie da war. Aber eine Abmachung sollte man einhalten. Zumindest wollte sie zu ihm gehen und ihn fragen, was er als Gegenleistung erwartete.
Falls er verlangte, dass sie zu ihm ins Bett stieg, würde sie ihr Bewusstsein vom Körper abkoppeln. Darin hatte sie viel Erfahrung. Mit diesem Mann hier zu schlafen konnte auch nicht schlimmer sein, als unter Manuels seltsamen Anwandlungen zu leiden.
Sie seufzte, entschlossen, sich in ihr Schicksal zu fügen. Aber zuerst lieh sie sich Prestons Zahnbürste aus und zog seine Kleider an.