5 Nebelwelten
Roter Nebel, Triumphane,
Sitz der Benedictine
30397/1/38 SGC
16. November 2014
Raoula
Sie hatte sich in den letzten fünfzig Jahren nicht gestattet, diesen Teil ihrer Erinnerung hervorzuholen. Es gab kein materielles Andenken an die schönste Zeit ihres Lebens – außer diesem.
Raoula hielt ihre zierliche rechte Hand fest geschlossen, umklammerte den kleinen Stein mit aller Kraft. Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild von Damon in der Blüte seiner Jahre – am Tag des Abschieds. Sie hatte ihm den Kryo-Behälter mit zwei ihrer Eizellen überreicht und er hatte ihr ein kleines Kästchen geschenkt. Die brennende Wärme des Papits erfüllte ihre Hand. Es war das einzige Zeichen ihres gemeinsamen Pakts gegen die Urmutter gewesen. Blaues Papit, pulverisiert, in kleinsten Mengen eingenommen, lagerte sich in der Großhirnrinde ab und wirkte wie ein natürlicher Schutzschild gegen die telepathischen Fähigkeiten der höchsten Kirchen-Repräsentanten. Raoula hatte es nie benutzt – es hätte auch sie selbst in ihrer Wahrnehmung von anderen Gedankenströmen beeinträchtigt.
Ihr tränenverhangener Blick aus den mandelförmigen, braunen Augen streifte durch ihr in rotes Licht getauchtes Audienzgemach. Sämtliche Fenster und Türen zu den umlaufenden Balkonen waren verschlossen, die blutroten Vorhänge zugezogen, das Sonnenlicht nahezu ausgeschlossen. Niemand durfte die Benedictine in ihrem augenblicklichen Zustand sehen.
Ramone hatte es herausgefunden. Die Hinrichtung ihres Geliebten als Zweifler durch ihre eigene Hand war ein unmissverständliches Zeichen der Urmutter, dass sie Bescheid wusste – und Raoulas Kinder als zukünftiges Pfand betrachtete. Dass sie selbst noch am Leben war, zeugte von Ramones Respekt und Wertschätzung ihr gegenüber. Ihre Art, den Kirchengeheimdienst in neue, effiziente Strukturen zu führen, hatte ihr zu großem Ansehen bei der Urmutter gereicht – aus keinem anderen Grund hatte Ramone sie zeitgleich mit der Demütigung zu ihrer Stellvertreterin ernannt. Sie hatte ihr ein deutliches Zeichen gegeben, wollte jedoch auf ihr Geschick nicht verzichten und glaubte ihre Benedictine ausreichend kontrollieren zu können.
Raoula drehte sich auf ihrem Audienzsessel, in dem sie die letzte Stunde zusammengekauert gesessen hatte, streckte ihre Beine, wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augen und strich einige blonde Locken aus ihrem zarten Gesicht.
Kommt herein!
Schon vor längerer Zeit hatte sie ihren neuen Primus außerhalb des Audienzgemachs warten gespürt. Jetzt trat er durch eine kleine Pforte und näherte sich ihr bis auf drei Schritte. Betrübt und doch innerlich bestärkt sah sie auf den kleinen Gegenstand, den ihr der Kommandant ihrer Leibgarde auf der Innenseite seines Panzerhandschuhs reichte.
Näher!
Der Kirchenritter beugte sich zu seiner grazilen Oberen herunter, so dass Raoula den kleinen Gegenstand genauer betrachten konnte.
»Ist es das, was ich vermutet habe?«
»Ja, Mutter. Ein modifizierter Cortex-Scanner – wir haben ihn in seinem Stammhirn gefunden. Er konnte damit gleichzeitig empfangen und senden – Euer Verdacht war begründet. Der Speicher war gelöscht, wir konnten keinerlei Informationen mehr auslesen.«
Das war auch nicht nötig gewesen. Sie selbst hatte ihren bisherigen Primus am Morgen gerichtet. Nur er konnte sie ausspioniert haben, nur er war ständig in ihrer Nähe gewesen, um die Urmutter über jeden ihrer Schritte zu unterrichten – zuletzt über ihren Besuch auf Infinitum. Er hatte vor seinem Tod nicht gestanden.
»Wir gehen davon aus, dass der Scanner seine Entscheidungsfreiheit eingeschränkt hat – er hatte Euch nichts sagen können.«
Raoula nahm schweigend das gereinigte Benedictinen-Zepter entgegen, das der Primus ihr reichte. »Wer noch?«
Der Ritter schüttelte den gepanzerten Kopf. »Wir können es nicht herausfinden, ohne nachzusehen, Mutter – es wird weitere geben.«
Die Benedictine hatte es natürlich seit Jahren gewusst und darauf hingearbeitet, loyale Ritter um sich zu scharen. Doch Ramone hatte so viel mehr Erfahrung darin als sie, Netzwerke zu knüpfen – es war ein unendliches Spiel.
»Werdet Ihr der Reinkarnation von Vater Rastolon beiwohnen, Mutter?«
Sie sah auf sein elektronisches Visier, auf die Stelle, unter der sich seine Augen befanden. »Ich habe es versprochen, Primus. Ich werde dabei sein.«
Die große Gestalt im dunkelroten Ornat zögerte. Raoula spürte, dass er weitere Informationen für sie hatte.
Was noch?
Der Ritter zuckte unmerklich zusammen, als die ungeduldige Frage in seinem Kopf aufbrauste.
»Damon und Nestor«, er zögerte, »wir haben sie gefunden, Mutter.«
Raoula richtete sich ruckartig auf, zog ihr rotes Gewand zurecht. Er hat unsere Söhne nach sich selbst und seinem Vater benannt! Plötzlich aufsteigende Röte füllte ihre bleichen Wangen.
»Sie sind noch auf Antaros, Mutter. Als Mündel der Urmutter verwalten sie das Legat.«
Raoula schloss die Augen. Ich muss sie sehen!
»Das geht nicht. Ramone würde es sofort erfahren.«
Der Blick der Benedictine war unmissverständlich. Das leise Klicken der wie spielerisch auseinanderfahrenden Sichelklingen ihres Zepters schien ungewöhnlich laut in der plötzlichen Stille.
Dann holt sie! Lasst Euch etwas einfallen, Primus!