Dieser Albtraum war der schlimmste bislang.
Schwärme körperloser Stahlhände krallten nach seinen Beinen, während er einen Hang aus geschmolzenem Teer emporrannte. Klauenartige Finger zogen ihm das Fleisch bis auf die Knochen ab, das klebrige Schwarz unter seinen Füßen war glitschig von seinem eigenen Blut. Stimmen. Ein unaufhörliches Kreischen, als kratzten die Hände das Geräusch mit ihren Metallfingernägeln aus der Luft.
Als Alex erwachte, erloschen die Bilder in seinem Kopf, alles wurde schwarz. Nur das Kreischen dauerte noch einen Augenblick an, bis es ebenfalls erstarb und alles still und stumm war.
Zwei Uhr morgens. An Schlaf war nicht mehr zu denken, außerdem hatte Alex zu viel Angst, dass der Albtraum weiterging, sobald er die Augen zumachte. Aber wach auf dem Bett zu liegen und an den Tod zu denken – seinen Tod –, war noch viel schlimmer.
Am Morgen zerrte ihn das Quäken des Weckers wie einen Zombie aus dem Bett. Er erinnerte sich nicht mehr daran, dass er wieder eingeschlafen war, aber es war wohl so gewesen. Er stand auf und spulte seine morgendliche Routine mehr oder weniger auf Autopilot ab: duschen, Schulklamotten anziehen, nach unten gehen, Müsli essen, Saft trinken. Die Mutter war schon auf dem Sprung zur Arbeit und Mr Garamond schlief noch seinen Rausch vom Fachbereichstreffen aus. Auf dem Treppenabsatz wäre Alex beinahe in Teri hineingelaufen, die in eine Dampfwolke gehüllt aus dem Bad kam, mit nassen Haaren, geröteter Haut und einem grün-weiß gestreiften Handtuch, das sie wie einen Sarong um sich gewickelt hatte.
»Du siehst grauenhaft aus«, sagte sie eher angewidert als besorgt. »Was ist mit deinem Gesicht passiert? Hat dir eine deiner Freundinnen was aufs Maul gegeben?«
Alex betastete seine Lippe und staunte, dass sie lädiert war. »Ach ja. Kricket.«
»Soll man den Ball nicht mit der Hand fangen?«
Später würde ihm eine passende Erwiderung einfallen, aber gerade jetzt, gerädert vom fehlenden Schlaf, flatterten ihm die Worte wie torkelnde Motten im Kopf herum.
Ich bin tot.
Sollte er sich ihr anvertrauen? Teri, die Sache ist die, ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich heiße Alex. Und ich bin tot. Nein, das ging natürlich nicht. Weder ihr noch Flips Mutter konnte er so etwas erzählen, weder Miss Sprake noch Jack, Donna oder Billie, und auch dem Mädchen aus der Schule nicht, Cherry. Niemandem. Und auch niemandem bei sich zu Hause. Mum, Dad, Sam. David. David, der sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, seine letzte Mail zu beantworten. Aber das war jetzt auch schon egal. Alex war von ihnen allen abgeschnitten und musste sich ganz allein mit seinem Geheimnis herumschlagen.
Er hatte gar nicht gemerkt, dass er Teri anglotzte, aber er musterte unwillkürlich ihre bloßen, mit Wassertropfen übersäten Schultern und die Ausbuchtung des Handtuchs über ihrem Busen.
»Ich erklär’s dir kurz, Philip«, sagte sie. »Du hast zwei Schalter in deinem Hirn: Auf dem einen steht MÄDCHEN, auf dem anderen SCHWESTER. Wenn ich dir hier im Haus praktisch nackt über den Weg laufe, muss der erste auf AUS stehen – kannst du mir folgen? – und der zweite auf AN. Kriegst du das auf die Reihe?«
Damit verschwand sie in ihrem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Alex ging nach unten und schnappte sich seinen Schlüssel und die Schultasche.
Alles wäre ihm lieber gewesen, als noch einen Tag in der Litchbury High als Flip zu verbringen, aber genau darauf lief es unwillkürlich hinaus. Als er eben das Haus verlassen wollte, erblickte er die Brieftasche des Vaters auf dem Regal im Flur. Mr Garamond musste sie dort hingelegt haben, als er am Abend angetrunken nach Hause gekommen war.
Alex blieb stehen. Betrachtete die Brieftasche. Spitzte die Ohren.
Die Mutter war schon weg, und nach den Geräuschen zu urteilen, war Teri noch in ihrem Zimmer und föhnte sich die Haare. Flips Vater war überhaupt noch nicht aufgetaucht.
Alex nahm die Brieftasche und öffnete sie. Er holte das Bargeld heraus und zählte es. Dann tat er das Geld wieder zurück und machte die Börse wieder zu. Doch er stand immer noch da, den Blick auf die Brieftasche gerichtet. Lauschte wieder. Der Föhn. Beagle schnüffelte unten im Keller herum. Das Schlürfen und Plätschern der Spülmaschine. Sonst nichts. Alex öffnete die Brieftasche noch einmal, stopfte sich die Scheine in die Tasche, legte die Brieftasche wieder auf das Regal und verließ eilig das Haus, zog die Tür hinter sich zu und schloss sorgsam ab.
Wen kümmerte jetzt noch Flips PIN-Nummer?
In einer Viertelstunde würde er im Regionalzug nach Leeds sitzen. Gegen Mittag würde er in King’s Cross ankommen. Und am frühen Nachmittag wäre er zu Hause.
Allerdings hatte er keine Ahnung, wie er die Sache angehen sollte. Was sollte er zu wem sagen? Was würden sie von ihm halten? Seine Eltern. Würden sie ihn »erkennen«, so wie Beagle gespürt hatte, dass Flip nicht mehr der echte Flip war? Alex hatte mal eine Fernsehsendung über eine Schaffarm gesehen, wo man einem verwaisten Lamm das Fell eines anderen Lammes umgelegt hatte, damit das Mutterschaf das Junge für ihr eigenes hielt und es bei sich saugen ließ. Ließen sich Menschenmütter genauso leicht täuschen? Wenn er Mum bloß gegenüberstehen könnte, dann würde sie ihn trotz allem erkennen – irgendwie, mit ihrem Mutterinstinkt oder so. Oder er könnte ihr Dinge über sich erzählen, aus seinem Leben, aus der Familie, die nur Alex wissen konnte. David hatte er auf diese Weise nicht überzeugen können, aber David war sein Freund, nicht seine Mutter – die Frau, die ihn in ihrem Leib getragen und ihn zur Welt gebracht hatte, die ihn gestillt und vierzehn Jahre lang aufgezogen hatte. Er hatte einst in ihr gelebt, so wie er jetzt in Flip lebte. Wenn ihn irgendjemand im Körper dieses fremden Jungen, mit dem Gesicht dieses fremden Jungen wiedererkannte, dann seine Mum.
Und wenn nicht, wenn niemand ihn erkannte, dann würde er abhauen. Sich aus dem Staub machen, sich irgendwo verstecken. Als Obdachloser im Wald hausen, wenn es sein musste. In Philip gestrandet, aber nicht länger gezwungen, er zu sein oder als Philip zu leben, bei Philips Familie, in dessen Schule. Lieber würde er fliehen, sich auf eigene Faust durchschlagen und, so gut es ging, weiter existieren. Als er selbst. Daran musste er festhalten: Was auch mit seinem Körper passiert sein mochte, innen drin war er immer noch »Alex«. Alex’ Seele, Alex’ Verstand, das, was Alex ausmachte.
Was ihn auch umgebracht haben mochte, diesen Teil hatte es nicht abgetötet.
Es musste ganz plötzlich gekommen sein, ohne jede Vorwarnung, sonst könnte er sich daran erinnern. Gehirnschlag, ein Unfall, Herzinfarkt. Etwas in der Art. Vielleicht hatten ihn Terroristen mit einer Bombe in die Luft gesprengt (unwahrscheinlich – auf dem Heimweg von David beziehungsweise in seinem eigenen Bett). Oder er war überfallen worden, von einer Bande Jugendlicher, die ihn getreten und erstochen hatten. Aber Alex erinnerte sich an keine Prügelei. Dabei wäre es das Einfachste von der Welt, herauszufinden, was passiert war. Gleich am ersten Abend, in der Stadtbücherei, als er mit Beagle Gassi war; in der Schulbibliothek, als er David gemailt hatte; jederzeit an Flips PC, nachdem er sich ein neues Passwort verschafft hatte. Wenn ein Vierzehnjähriger stirbt, wird garantiert darüber berichtet. Und wenn es in den Nachrichten kommt, dann ist es auch online, irgendwo, in irgendeiner Form. In null Komma nichts hätte er sie auf dem Bildschirm lesen können: die Geschichte seines eigenen Todes.
Aber die Angst davor, seine Befürchtungen bestätigt zu sehen, war viel, viel stärker gewesen als die Angst, nichts zu wissen. Sich selbst zu googlen hätte die Sache irgendwie endgültig gemacht.
Alex war noch nicht bereit für Endgültigkeit gewesen.
Er war auch jetzt noch nicht dafür bereit. Er musste nach Hause und sonst nichts.
Erst als der Zug Litchbury hinter sich ließ, wurde Alex richtig klar, was er getan hatte. Einfach abhauen, Flips Vater beklauen – so etwas Rücksichtsloses und Impulsives hatte er noch nie gemacht. Sein Herz raste und er befürchtete, sich übergeben zu müssen. Bestimmt sahen ihm die anderen Leute im Abteil an, dass er auf der Flucht war. Dass er ein Dieb war.
Er starrte aus dem Fenster. Versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen.
Mr und Mrs Garamond waren bestimmt am Boden zerstört, wenn sie feststellten, dass er einfach weggelaufen war. Dass ihr Sohn verschwunden war. Er stellte sich vor, wie sie am Telefon auf Neuigkeiten warteten oder wie sie Philip vor laufenden Kameras tränenreich anflehten, doch wieder zurückzukommen. Die Tragweite dessen, was er angestellt hatte, erschütterte ihn, die Sorge, die er zwei unschuldigen Menschen bereitete. Drei Menschen, wenn er Teri mitzählte. Auch wenn sie ihren Bruder nicht leiden konnte, fiel es Alex schwer, sich vorzustellen, dass sie sich über sein plötzliches Verschwinden freute.
Während ihn der Zug aus Flips Leben forttrug, traf Alex unvermittelt die Erkenntnis, dass – was auch immer in London passierte – er nie wieder einen Fuß in das Haus der Garamonds setzen würde.
Es war schon fast vier, als Alex in die Straße einbog, in der er wohnte. Er hatte zwei Stunden in einem Café am Bahnhof Crokeham Hill totgeschlagen, ehe er für das letzte Stück seiner Heimreise in den Bus gestiegen war. Es hätte komisch ausgesehen, wenn er früher zu Hause aufgetaucht wäre, wo doch Jugendliche in seinem Alter um diese Zeit in der Schule sein sollten. Die beiden Stunden waren ihm wie zehn vorgekommen, aber er hatte die Zeit genutzt und sich die Geschichte noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Er hatte sich innerlich auf die Begegnung mit seiner Mutter vorbereitet.
Als er nun auf das Haus zuging, musste Alex unwillkürlich daran denken, dass er sich womöglich selbst sehen würde. An einem Fenster, im Garten oder auf der Straße. Vielleicht öffnete er ja selbst die Tür, wenn Alex anklopfte. Der lebendige Körper, den er zurückgelassen hatte und der womöglich ohne ihn weiterlebte. Aber das würde natürlich nicht geschehen. Es konnte nicht geschehen. Es gab keinen lebendigen Körper mehr. Inzwischen hatte er begriffen, wovor die Kollegin seine Mutter hatte beschützen wollen. Und warum der Anruf sie dermaßen empört hatte.
»Alex« war nicht mehr hier. Er war nirgendwo mehr, er war weg.
Die Monks Road sah aus wie immer. Unverändert. Zuletzt war er im Winter hier gewesen, jetzt war Sommer, aber ansonsten sah alles noch ziemlich genauso aus. Die Cockers in Nummer 157 bauten über der Garage an, und vor dem Haus der alten Tratschtante in Nummer 143 stand ein ZU VERKAUFEN-Schild, das war alles. Ob ihn ein Nachbar sah? Egal, man würde ihn ohnehin nicht erkennen. Als Flip konnten die Leute mit ihm nichts anfangen. Ob sie mit Alex je etwas hatten anfangen können? Es kam ihm nicht richtig vor, dass sich hier so gut wie nichts verändert hatte, dass das Leben einfach weitergegangen war. Die gleiche kleine Einkaufszeile gegenüber, auch die gleichen Läden, nur in der Bäckerei standen andere Verkäufer und ein Fenster vom Supermarkt war mit einer Spanplatte vernagelt. Die gleichen Jungs fuhren auf Skateboards die Rampe für die Rollstühle und Kinderwagen herunter. Die gleiche Schlange an der Pommesbude. Auf dieser Straßenseite: die gleichen Häuser, Garagen, geparkten Autos; die gleichen Sträucher, Blumenbeete und Hecken. Die gleichen Rasenflecken. Die gleichen Vordächer. Die gleichen Türen und Fenster. Die gleichen Vorhänge. Demzufolge waren auch die Leute in diesen Häusern immer noch dieselben. Sie führten ihr Leben weiter wie immer, als spielte Alex Grays Abwesenheit überhaupt keine Rolle oder als hätten sie ihn ganz schnell vergessen oder als hätte es ihn nie gegeben.
Was hatte er erwartet? Dass sich die Straße, das ganze Viertel vor lauter Trauer in eine trostlose Einöde verwandelt hatte? Dass die Ausgelöschten eine sichtbare, fühlbare Spur hinterließen?
Hinter der Tür von Nummer 151 würde es anders sein. Von außen sah alles wie immer aus: das schäbige Mauerstück neben der Treppe, wo die Farbe abgeblättert war und das schon seit Jahren auf Dads Aufgabenliste stand; die senffarbene Tür mit dem Streifen freiliegender Grundierung; der Weihnachtsbaum, den sie vor Ewigkeiten im Vorgarten eingepflanzt hatten und der jetzt bis zur Dachrinne reichte. Aber drinnen würde Alex’ Abwesenheit Spuren hinterlassen haben. Vielleicht indem sein Zimmer seit dem Tag, an dem er gestorben war, unverändert geblieben war. Oder in Mum, Dad, sogar Sam – die Trauer in ihren Augen, immer noch, nach so vielen Monaten. Irgendetwas. Eine Spur von ihm.
Als er sich den Augenblick seiner Rückkehr vorher ausgemalt hatte, hatte er sich immer irgendwo hinter einer Ecke gesehen, eine im Schatten verborgene Gestalt, die aus ihrem Versteck heraus alles beobachtete. Jemand, der den richtigen Moment abwartete, bis er zur Haustür hochging. Jetzt war es natürlich nicht dunkel, nicht einmal Abend, es gab keine dunklen Ecken, in denen man sich verstecken konnte. Es war die letzte Juniwoche, ein viel zu heller, viel zu schöner Sommernachmittag. Also stand er einfach da, auf der Straße, unübersehbar und gelähmt von Unentschlossenheit. Das hier war sein Zuhause, hier lebte seine Familie. Obwohl für ihn selbst seit »damals« nur ein paar Tage vergangen waren, hätte Alex ein Zeitreisender, ein Fremder sein können, ein Außerirdischer, der von einem Raumschiff auf die Erde gebeamt worden war. Die Vorstellung, seine Mutter könnte den Geist ihres toten Sohnes im Körper dieses falschen Jungen erkennen, kam ihm mit einem Mal absurd vor.
Das Auto stand nicht in der Einfahrt. Das war ihm nicht gleich aufgefallen. Dad war bestimmt noch bei der Arbeit. Trotzdem war jemand da – in Mums und Dads Schlafzimmer stand ein Fenster offen, der Vorhang wehte im Luftzug und Alex hörte die Klospülung rauschen. Sams Roller lag auf der Vordertreppe wie ein abgefallenes Teil von einem Roboter. Alex hätte den Roller am liebsten aufgehoben und in den Hof geschoben, wo er nicht geklaut werden konnte. Früher wäre es ihm so was von egal gewesen, ob Sams Roller geklaut wurde oder nicht. Jetzt nicht mehr. Nachdem er ein paar Tage Flip gewesen war, der jüngere Bruder von Teri … Lag es daran? Wie auch immer, der Gedanke, dass Sam ihn nicht erkennen würde, war fast so erschreckend wie die Vorstellung, dass Mum ihn wie einen Fremden ansah, wenn sie die Tür aufmachte.