Am nächsten Vormittag ging die Tante hinunter zur Rezeption, um sich nach Möglichkeiten für eine Sightseeingtour zu informieren. Ich blätterte solange in einer Broschüre, die ich vom Flughafen zu Hause mitgenommen hatte. Es ging darum, was man machen musste, wenn man im Ausland krank wurde. Oder einen Unfall hatte oder bestohlen wurde. Eine Reiseversicherung war wichtig, aber das wusste ich ja. Und die Krankenversicherungskarte auch. Die hatten wir dabei. Außerdem stand dort, dass die norwegische Botschaft helfen konnte, wenn man Probleme hatte. Hinten in der Broschüre gab es eine Liste der Botschaften in den verschiedenen Ländern. Die norwegische Botschaft in Paris war auch aufgeführt. Ich ging ins andere Zimmer und rief von dort aus an.
Die Frau, die antwortete, sprach Französisch. Ich sagte auf Englisch, dass ich mit jemanden sprechen wollte, der Norwegisch konnte. Sie stellte mich zu einem Mann durch.
»Wie kann ich helfen?«
Wieder einmal erklärte ich Mamas Situation und warum wir nach Paris gekommen waren. Auch ihm erzählte ich von der geplanten Autofahrt.
»Das ist wohl eines der Dinge, bei der die Botschaft nicht behilflich sein kann«, meinte der Mann.
»Aber kennen Sie jemanden, der ein Cabrio hat? Meine Mutter ist sehr krank, wissen Sie.«
Der Mann seufzte schwer.
»Nein, von Cabrios weiß ich nichts. Aber ich kann einen Krankentransport organisieren. Das ist wohl eher das, was ihr braucht, oder?«
Ich legte den Hörer auf, ohne mich zu bedanken oder zu verabschieden.
Die Tante hatte für uns eine Rundfahrt durch die Stadt gebucht. In zwei Stunden sollte ein Minibus kommen und uns am Hotel abholen. Mit dem sollten wir zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten fahren.
»Wie schön«, sagte Mama.
Die Tante ging, um Lucy fertig zu machen.
»Du«, sagte ich zu Mama. »Das wird schwierig.«
»Was?«
»Das mit dem Auto.«
»Das Sightseeing?«
»Nein, das mit dem Cabrio.«
»Ach, hast du das immer noch nicht aufgegeben? Wir werden doch Paris heute vom Minibus aus sehen. Dann müsstest du doch zufrieden sein, oder?«
»Aber deshalb sind wir doch hier?«
»Weshalb?«
»Wegen der Autofahrt. Weil du in einem Cabrio fahren sollst.«
»Eigentlich«, sagte Mama mit einem Seufzer, »eigentlich sind wir hier, weil du das wolltest. Und weil du so ein Sturkopf bist, hast du nicht lockergelassen. Du hast das Geld besorgt und alles geregelt. Das muss doch ein tolles Gefühl sein, oder?«
»Doch, aber du bist es«, sagte ich. »Du bist der Grund, warum wir hergekommen sind.«
»Jetzt denk nicht weiter an rote Cabrios oder Songs, die populär waren, lange bevor du geboren wurdest. Uns geht es doch prima hier, so gut, wie es uns nur gehen kann.«
»Aber dein Traum? Dein Lebensmut?«
»Na, das ist doch wohl vor allem dein Traum. Du träumst davon, dass ich wieder gesund werde und dass unser Leben wieder so wird wie vorher. Und darüber bin ich sehr glücklich. Aber du musst wissen, dass nichts davon abhängt, ob du es schaffst, einen Ferrari in Paris zu besorgen. Der Krebs wird deshalb nicht verschwinden. Es sind du und Lucy, ihr gebt mir den Lebensmut und die Freude. Die Hoffnung, zu sehen, wie ihr erwachsen werdet. Du bist jetzt fast vierzehn. Das ist viel zu früh, um so viel Verantwortung zu übernehmen. Und das macht mir viel mehr Sorgen als die Frage, ob sich ein Cabrio auftreiben lässt. Was ist, wenn es nicht klappt und ich nicht wieder gesund werde? Willst du dann den Rest deines Lebens darüber grübeln, ob das der Grund war, dass ich gestorben bin? So geht das nicht, mein Schatz. So geht das nicht. Jetzt sind wir in Paris. Und hier machen wir das Beste draus, machen alles, was wir können, und haben ein paar fantastische Tage. Wir alle zusammen.«
Ich wandte mich ab. Sehen, wie Lucy und ich erwachsen wurden. Lebensmut. Ich wusste, was ich wollte. Ich wollte Lebensmut schaffen, Freude. Da konnte sie sagen, was sie wollte. Ich wusste, ich war dafür verantwortlich.
Die Tante und ich halfen Lucy hinunter in die Rezeption. Da es heute wohl auch einige Spaziergänge geben würde, mussten wir den Rollstuhl mitnehmen. Die Tante ging hoch, um ihn zu holen und Mama zu helfen. Ich ging mit Lucy schon mal vor das Hotel. Ohne Mama oder die Tante war sie unruhig. Ich versuchte sie dazu zu bewegen, sich auf den Rand eines Blumenkübels zu setzen, aber das wollte sie nicht. Sie wiegte sich hin und her und gab Laute von sich.
Der Mann in der Rezeption klopfte ans Fenster. Ich schaute zu ihm rüber. Er winkte mir zu, ich sollte hereinkommen.
»Bleib hier stehen«, sagte ich zu Lucy.
Der Mann gab mir Bescheid, dass der Sightseeingbus zehn Minuten Verspätung haben würde. Sie hatten angerufen.
»Okay«, sagte ich.
Ich schaute die Treppe hinauf, um zu sehen, ob die anderen kamen. Dann ging ich wieder hinaus. Lucy war fort.
»Lucy! Lucy!« Ich rief laut nach ihr, obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Sie konnte ja nicht antworten. Ich schaute mich um. Sie war nicht hinter den Blumenkübel gefallen, auch nicht zwischen die parkenden Autos. Ich starrte auf die Hoteltür. Wenn nur Mama und die Tante bald herauskämen. Sie konnten mir suchen helfen. Aber sie würden wütend werden. Wütend, weil ich nicht aufgepasst hatte. Jemand musste Lucy doch gesehen haben. Ich war ja nur eine Minute weg gewesen. Nicht einmal eine Minute. Ein paar Sekunden. Jemand musste etwas gesehen haben.
»Have you seen my …?« versuchte ich es bei einem Paar, das vorbeiging. Sie schüttelten nur den Kopf, verstanden wohl nicht, was ich sagte.
»Lucy! Lucy!«
Ich lief um eine Ecke und schaute dort die Straße rauf und runter. Ich lief weiter, starrte in die Geschäfte. Dann zurück zum
Hotel, keine Lucy vor dem Eingang, weiter zur Straßenecke in die andere Richtung, ich rief, lief, Geschäfte, Hauseingänge, zwischen den Autos, hinter den Mülleimern. Keine Lucy.
Noch einmal lief ich zurück zum Hotel, bis zur Eingangstür und den großen Fenstern. Drinnen konnte ich die Tante mit dem Rollstuhl kommen sehen. Ich schluchzte, lief weiter, drehte mich um, lief zurück. Die Hoteltür ging auf. Ich wollte die Tante anschreien, Mama anschreien. Doch plötzlich stand sie da. Lucy. Sie stand an die Hotelwand gelehnt und hielt sich an dem Regenrohr fest.
»Wo warst du?«, fragte ich sie keuchend. Sie konnte nicht antworten. Stand nur da. Die Tante und Mama kamen auf uns zu. Lucy lächelte mich an. Zum ersten Mal lächelte Lucy mich an. Sie lachte nicht, gab keine Töne von sich. Lächelte nur.
»Der Bus ist etwas verspätet«, sagte die Tante.
»Ich weiß.«
»Wir müssen einfach hier warten.«
Mama schaute mich an.
»Du bist ganz rot im Gesicht. Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, alles in Ordnung.«