Marketing in einer juvenilen Kultur
Über die Notwendigkeit der Verallgemeinerung jugendkultureller Kommunikationsstile
Die kulturelle Macht der Jugend
Seit Jahren mehren sich empirische Befunde, die darauf hindeuten, dass die Jugendphase sich ausdehnt (vgl. Ferchhoff 2007: 87). Sie beginnt immer früher und endet immer später. Die kommerziellen Jugendkulturen und das Jugendmarketing erfassen heute bereits große Teile der unter Zehnjährigen. Nicht zuletzt dies führt zu einem frühzeitigen Aufbrechen des Schutz- und Schonraums der Kinderkulturen, in denen noch an Feen, Riesen, Zauberer und den Weihnachtsmann geglaubt werden durfte. An die Stelle von Fabelwesen und Märchengestalten sind Actionhelden, Popstars und Spitzensportler getreten. Immer früher hängen Poster, auf denen die ephemeren Stars des kulturindustriellen Komplexes abgebildet sind, in den Zimmern unserer Nachkommenschaft. Immer früher werden Kinderzimmer zu Jugendzimmern.
Das frühzeitige Verschwinden der Kindheit (vgl. Postman 2009) geht wohl ohne Zweifel in erster Linie auf das Konto einer medial vermittelten Popkultur. Wenn in den Ferienclubs in der Kinderdisco am Nachmittag weitgehend zur selben Musik getanzt wird wie am Abend in der Erwachsenendisco, dann wird deutlich, dass es der Kulturindustrie offenbar gelungen ist, große Teile der Kinderpopulation in KonsumentInnen von Popkultur zu verwandeln. Ein mediales Phänomen, dass ein Beleg für die zunehmende Kolonialisierung der Kinderkulturen durch die kommerzielle Popkultur ist, sind die immer häufiger in Castingshows wie dem „Supertalent“ in Deutschland oder „Die große Chance“ in Österreich auftretenden „Mini-Kandidaten“, die Popstar imitieren, z. B. Michael Jackson. In den 1990er Jahren war die „Mini Playback Show“ ein TV-Format, in dem Kinder die Bühnenperformance von Popstars möglichst stilecht darzustellen hatten. Auch dieses Format leistete einen Beitrag für die Vorverlagerung der Integration von Kindern in popkulturelle Kontexte.
Mit den Folgen dieser frühzeitigen Verwandlung von kinderkulturell ausgerichteten Kindern in popkulturelle Kids und der damit verbundenen Veränderung des kulturellen und Konsumverhaltens der Betroffenen muss sich das Jugendmarketing ebenso auseinandersetzen wie mit den Phänomen der so genannten „Nesthocker“, also der Jugendlichen, die das Elternhaus immer später verlassen, ein Begriff, der symbolisch für die Verlängerung der Jugendphase oft bis hinein ins vierte Lebensjahrzehnt steht. Schon seit den 1980er Jahren hat die Jugendforschung versucht, der Ausdehnung der Jugendphase weit hinein in das Erwachsenenalter Rechnung zu tragen, indem sie den Begriff der „Nach-Jugend“, die Postadoleszenz, in Stellung brachte.
Bereits die Shell-Studie 1981 entdeckte, dass sich „das System der Altersgliederung, das im Industriekapitalismus sich herausgebildet hat, neu konstituiert“ (Jugendwerk der Deutschen Shell 1981: 101). Der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter war offensichtlich ins Stocken geraten. Zwischen die beiden Lebensphasen schob sich ein neuer Lebensabschnitt, in dem die Menschen weder richtig jugendlich noch richtig erwachsen zu sein schienen, ein Hybrid aus beiden Lebenskulturen, verwirrend, schillernd, widersprüchlich, uneindeutig und ohne klare Konturen.
Drei neue soziokulturelle Konstellationen sind ausschlaggebend für das Entstehen der postadoleszenten Lebensphase: die Verlängerung der Verweildauer in Bildungseinrichtungen, die zunehmende Jugendarbeitslosigkeit und die Herausbildung von posttraditionellen Formen der Vergemeinschaftung, so genannte Szenen, in die sich jene flüchten können, die den Einstieg ins Erwachsenenleben zumindest hinauszögern wollen (vgl. ebd.: 101ff.).
Seit 1981 hat sich die Tendenz zum verzögerten Ausstieg aus der Jugendphase verstärkt. Die Gründe dafür liegen in der deutlichen Intensivierung der Wirkungsmacht der oben genannten drei für die Herausbildung der biographischen Phase Postadoleszenz wesentlichen soziokulturellen Faktoren. Die Zahl der jungen Menschen in höheren Bildungsgängen ist drastisch gestiegen, ebenso die europäische Jugendarbeitslosigkeit, und auch der Einfluss der kommerziellen Jugendkulturen auf die Jugend und die damit verbundene fast flächendeckende Ausbreitung von Jugendszenen ist größer geworden.
Schon der britische Soziologe Gillis hat festgestellt, dass die postadoleszente Lebensphase durch „Mündigkeit ohne wirtschaftliche Grundlage“ (zitiert nach Schäffers/Scherr 2005: 25) gekennzeichnet ist. Die Postadoleszenten sind soziokulturell selbständig, aber wirtschaftlich abhängig. Ob sie nun zur Schule gehen, arbeitslos sind oder sich freiwillig in ein jugendkulturelles Moratorium flüchten, immer bleibt das Angewiesensein auf das Geld der Familie oder des Staates ein diese Lebensphase prägender Umstand.
Die Diskrepanz zwischen kultureller Stärke und ökonomischer Schwäche prägt die Situation der jungen Altersgruppen insgesamt. Die postmoderne Jugend ist kulturell wohl die mächtigste Jugend aller Zeiten, ihr ökonomischer und politischer Einfluss ist dagegen verschwindend gering. So liegt die Macht in der Wirtschaft noch immer bei alten Männern zwischen 45 und 65 Jahren und die Politik ist weitgehend jugendfrei. Jedenfalls finden sich kaum Menschen unter 30 Jahren in den Entscheidungsgremien der repräsentativen Demokratie in Deutschland. Dies ist auch in Österreich so, obwohl dort seit 2007 die Sechzehnjährigen über das aktive Wahlrecht verfügen. In Deutschland wird das aktive Wahlrecht mit 16 Jahren seit einigen Jahren öffentlich diskutiert, in Brandenburg und Bremen ist es bereits eingeführt, aber auch hier bleiben die Sitze in den Parlamenten den Alten vorbehalten. Selbst ehemalige junge Parteien, wie die aus außerparlamentarischen Jugendbewegungen hervorgegangenen Grünen, sind in der Zwischenzeit zu einer Vereinigung von älteren HonoratiorInnen geworden. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland prägen die 45-60-Jährigen das parlamentarische Erscheinungsbild der grünen Parteien.
Aber dort, wo es um Zeichen, Symbole und ästhetische Formen geht, in der Sphäre des Kulturellen, dort hat sich die Vormachtstellung der Jugend etabliert. Hier sind die Verhältnisse längst „präfigurativ“, d. h., das traditionelle kulturelle Machtverhältnis steht auf dem Kopf. Nicht mehr die Jungen lernen von den Alten, sondern umgekehrt, die Alten müssen sich an den Jungen orientieren, wollen sie Akzeptanz und Ansehen erreichen. Geht es um die Frisur, die Jeans, das T-Shirt, die Musik, den Sport oder um Laptop und Handy, dann kommen die Alten nicht mehr am Vorbild der Jungen vorbei. In der kommerzialisierten Alltagskultur geben die Jungen die Richtung vor und die Alten folgen ihnen nach. Es ist gekommen, wie es Margaret Mead schon in den 1960er Jahren vorhergesagt hat. In einer posttraditionellen Kultur, in der das Althergebrachte weitgehend an Einfluss und Bedeutung verliert, in der der Blick der Menschen primär auf die Zukunft gerichtet ist, weil das Zukünftige, ohne das es jemand wirklich vorhersehen kann, dem Alten und Gegenwärtigen als überlegen gilt, in einer solchen Zeit kommt der Jugend die Aufgabe zu, die Älteren bei der Hand zu nehmen und ihnen den Weg ins Unbekannte der Zukunft zu weisen (vgl. Mead 1971: 128). Denn die Jugendlichen gelten als ExpertInnen für die Zukunft, während die Erwachsenen Spezialisten der Vergangenheit sind. Dort, wo das Alte nichts mehr wert ist und „der Zuchtmeister der modernen Gesellschaft“ (Liessmann 2012) die Zukunft ist, dort beginnt der „Style“ der Jugend zu dominieren. Aber das ästhetische Phänomen des Styles übte in erster Linie Einfluss in den Feldern des Kulturellen und der Mode aus, Politik und Ökonomie sind der Herrschaft der Alten unterworfen geblieben. Und den Alten kann die Stylerevolte nur recht sein, denn die Inszenierungen der lebendigen Vielfalt einer juvenilen Mode helfen sogar, ihre Macht in Staat und Gesellschaft zu befestigen, denn „die Betonung des Modischen bekräftigt, dass nichts Wichtiges geändert wird“ (Mead 1971: 65). Im Klartext: Wird viel in die Ästhetik der Oberfläche, in das kulturelle Spektakel investiert, dann wird dadurch oft ganz gezielt verdeckt, dass die politische und ökonomische Macht ohne Veränderung in den Händen derer bleibt, die sie immer schon hatten.
Die Dominanz der Ästhetik und der Werte der Jugend
„Freundlich oder erbost sagten mir viele Leute, vor allem ältere, bis zum Überdruss, es gäbe kein Alter. Es gäbe lediglich mehr oder weniger junge Leute, das sei alles. Für die Gesellschaft ist das Alter eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt.“ (Simone de Beauvoir 2000: 5)
An dieser Feststellung von Simone de Beauvoir, die die gesellschaftliche Verdrängung des Alters, des Symbols des nahenden Todes, in der französischen Gesellschaft der 1970er Jahre beschreibt, zeigt sich, dass das sozialpsychologische Phänomen der Todesverdrängung immer ein Gesellschaftsthema war. Die Versuche aber, das Alter unsichtbar zu machen, zumindest als ästhetisches Phänomen zum Verschwinden zu bringen, haben sich in unserer Gegenwart deutlich verstärkt. Heute verstecken wir nicht mehr nur das Alter hinter den Mauern von Spezialeinrichtungen, sondern wir versuchen es gar als schicksalhafte Notwendigkeit auszuschalten, indem wir probieren, es weg zu trainieren oder weg zu operieren, es mit Kosmetikprodukten, Hormonen und anderen Medikamenten bearbeiten. In einer juvenilen Gesellschaft ist das Alter ein Makel, es ist imageschädigend, man ekelt sich davor und es ist vor allem schlecht für das Geschäft. Alte Gesichter und alte Körper wirken nicht verkaufsfördernd. Bilder des Alters kommen nur als gezielte Provokation, als Ausnahme von der Regel, in der Werbekommunikation vor. Der Mainstream der Werbung zeigt sich jung und schön, er stellt jene jungen und makellos schönen Bilder des Menschen vor, die die Leute sehen wollen, auch jene, deren Jugend selbst schon verbraucht ist. Und damit kommen wir an einen entscheidenden Punkt. Das Alter will gar nicht in den Medien repräsentiert sein, außer es erscheint als jugendlich maskierte Betagtheit. Aber auch dieser Mummenschanz ist nur die zweitbeste Lösung für das Medienpublikum. Am liebsten ist es den Zusehern, wenn die Medien das Original inszenieren, die ungezügelt vitale, vor selbstbewusster Kraft und Lebensenergie strotzende Jugend.
Aber nicht nur die Ästhetik der Jugendkulturen bestimmt heute die Gesellschaft, auch ihre Werte dominieren die Medien- und Lebenswelten der Menschen. Alle, ob jung oder alt, sind gefordert, hungrig auf Neues, auf Abenteuer, auf Erfolg zu sein. Die Lust auf die Zukunft wird zur Pflicht. Nicht reminiszent in die Vergangenheit zu blicken ist angesagt, im Gegenteil, es geht um die Offenheit für das Unerwartete, für dass, was die Zukunft, bringen wird. Alle, ob alt oder jung, müssen demonstrativ die Werte der Jugend leben, den Erlebnishunger, die Abenteuerlust, die Spontanität. Leben in der Postmoderne ist verpflichtend hyperaktiv. Ständig auf dem Sprung und niemals passiv, das ist der Kern der dominierenden Lebensphilosophie unserer Zeit.
Dennoch, der Jugend sind biologische Grenzen gesetzt. Rund um das vierzigste Lebensjahr wird die Unmöglichkeit, die Jugend auf Dauer stellen zu können, evident. Vor allem durch die unabweisbare Erkenntnis, dass die zukünftige Lebenszeit eines über Vierzigjährigen wohl kürzer sein wird als seine bereits verlebte Vergangenheit. Zudem wird jetzt auch offensichtlich, dass der Alterungsprozess das Aufrechterhalten eines juvenilen Körperbildes mehr und mehr erschwert. Dennoch geben die meisten von uns ihre Versuche, ein jugendliches Erscheinungsbild aufrecht zu erhalten, nicht auf und versuchen, ihre Bemühungen um Verjugendlichung bis an die Grenzen des Möglichen auszureizen.
Körperkult und Selbstinszenierung als Kriterien des Erfolges
Mit dem Körper zeigt man, wer man ist und wodurch man sich von den anderen unterscheidet. In einer Massengesellschaft ist der Körper der Garant für Individualität. Er hebt den Einzelnen aus der Masse heraus und macht ihn zu etwas Besonderem und Einzigartigen. Und es ist der jugendliche Körper, der als zukunftsfähiger Körper wahrgenommen wird, der Eigenschaften wie Vitalität, Durchhaltevermögen, Durchsetzungsfähigkeit, Selbstkontrolle und Leistungsfähigkeit symbolisiert. Die Ästhetik des vitalen jugendlichen Körpers steht für die Werte einer liberalen Konkurrenzgesellschaft, in der der Einzelne täglich seine Fitness unter Beweis stellen muss. Das jugendlich-vitale Körperbild ist der Ausweis dafür, dass sein Träger die Werte der Erfolgsgesellschaft anerkennt und nach ihnen zu leben versucht.
Gemeinschaftsverlust und egozentrischer Individualismus
Wenn Ulrich Beck davon spricht, dass das Individuum zum zentralen Bezugspunkt für sich selbst und für die Gesellschaft geworden ist, so müssen wir zugleich aber auch sehen, dass die Gesellschaft, in der das egozentrische Individuum agiert, von diesem in erster Linie als Zweck- oder Interessengemeinschaften wahr- und in Anspruch genommen wird. Ganz in einem radikal-liberalen Sinn sehen sich diese „egozentrischen Individualisten“, wenn sie an ihre Rolle in Staat und Gesellschaft denken, „lediglich als Mitglied einer politischen Zweckgemeinschaft, durch die Freiheits- und Eigentumsrechte des Individuums geschützt werden“ (Baringhorst 2007: 12). Aber auch der Bezug zu Gemeinschaften im mikrosozialen Bereich wird instrumentell. Wie die Gesellschaft werden auch die kleinen Lebenswelten wie Freundeskreise, Sportgemeinschaften und selbst Familien immer mehr zur Ansammlung von Individuen, die durch ihr gemeinsames Handeln Vorteile erhalten wollen, die sie sich individuell nicht sichern können (vgl. Tietz 2002: 130). „Das Handeln ist kollektiv, doch sein Sinn bleibt ein individueller.“ (Sandel, zitiert nach ebd.: 130f.) Die betriebswirtschaftliche Logik, die vom Prinzip „mit wenig Input zu möglichst großem Output“ geprägt ist, befindet sich im Vormarsch. Das soziale Gegenüber erscheint den Menschen, die die Betriebswirtschaft als Lebensprinzip internalisiert haben, in erster Linie als Geschäftspartner, der Mitmensch wird ihnen zum Geschäftsfall. Die „commercio“ tritt an die Stelle der „communio“.
Vor allem unter den Eliten, den hochgebildeten Führungskräften, breitet sich eine Grundhaltung aus, die Heitmeyer als „verrohte Bürgerlichkeit“ bezeichnet (Heitmeyer 2010). Große Teile der Eliten sind nicht mehr zum Mitleid mit sozial Schwachen und Benachteiligten fähig oder bereit. Das gesellschaftliche Ganze aus den Augen verloren, geht es ihnen nur mehr um den eigenen Vorteil, den sie zu realisieren trachten, völlig ungerührt vom Elend des Prekariats, deren miserables Leben sie durch ihr Handeln möglicherweise mit hervorgerufen haben.
Ästhetisierung der Jugendkultur und Verabschiedung des Authentizitätsprinzips
„Zweifellos erleben wir gegenwärtig einen Ästhetik-Boom. Er reicht von der individuellen Stilisierung über die Stadtgestaltung und die Ökonomie bis zur Theorie. Immer mehr Elemente der Wirklichkeit werden ästhetisch überformt, und zunehmend gilt uns Wirklichkeit im Ganzen als ästhetisches Konstrukt.“ (Welsch 1996: 9) Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich der von Wolfgang Welsch konstatierte „Ästhetik-Boom“ ohne Zweifel verstärkt. Mehr denn je kommt heute die Form vor dem Inhalt. Eine Selbstdarstellungsökonomie ist entstanden, in der der Leistungsverkauf vor der Leistungserbringung kommt. Castingshows regieren die Fernsehwelt, Shows, in der die gelungene (Selbst-)Präsentation über alles geht. Auch die Castingshows nahmen ihren Ausgang von den Jugendkulturen. Die ersten Produktionen (z. B. „Popstars“) zielten primär auf die jungen Zielgruppen, nach und nach rückten die Shows ins Hauptabendprogramm und sind heute ein attraktives Angebot auch für die Altersgruppe 40+. Das präfigurative Prinzip wirkte auch hier. Zuerst begeistern sich die Jungen für die Laufstegökonomie und dann ziehen die Alten nach.
Wie die Jugendkultur ist nun auch die Erwachsenenkultur dabei, das Authentizitätsprinzip zu verabschieden. Wen interessiert schon, wer der Mensch wirklich ist, wen seine Herkunft, seine Ausbildung, seine Religion, seine Moral? Wichtig ist, ob er die Rolle, die er jetzt gerade spielt, gut spielt. Es geht nicht darum, woher der Mensch kommt, um seine Geschichte, um die Entwicklung, die er genommen hat. Es geht um das, was er jetzt gerade ist, ohne Rücksicht darauf, was er war und woher er kommt. Junge und Alte stehen der Welt wie Schauspieler und Theaterpublikum gegenüber. Man weiß zwar, dass der Hamlet auf der Bühne nicht wirklich der Prinz von Dänemark ist, sondern ein versoffener Darsteller, der seine Frau betrügt, aber alle achten im Moment der Aufführung nur auf die Rolle und keiner sieht den Schauspieler. So ist heute das ganze Leben, ein Schauspiel in Permanenz, bei dem für niemanden mehr der Mensch hinter der Rolle von Interesse ist.
Es gilt als „uncool“ unter Jugendlichen, das Rollenspiel von Menschen zu unterlaufen, indem man aufdeckt, was und wer wirklich hinter einer kunstvoll dargebotenen Maskerade steckt. An Aufklärung und Kritik im Dienste der Wahrheit besteht kein Interesse mehr. Der Grund dafür liegt im Prinzip der pragmatischen Komplizenschaft. Wer selbst niemanden aufdeckt, läuft weniger Gefahr, von anderen aufgedeckt zu werden. Wie die „Superstars“ auf der Fernsehbühne, die Lieder singen, die nicht die ihren sind, so verwenden die Rollenspieler des Alltags einen Jargon, der nicht der ihre ist, stellen Bilder ins Internet, die sie als die eigenen ausgeben, obwohl sie die gutaussehende Freundin zeigen, machen Fantasieangaben zu Alter, Beziehungsstand und Beruf. Das Meiste von dem, was die postmoderne Jugend von sich zeigt, ist nicht echt. Das stört aber keinen, denn so ist die ganz Welt, nichts ist echt an ihr. Die gesamte Realität ist verdreht und fingiert. Vor allem in den Medien ist alles bloßer Schein, entweder frei erfunden, zumindest aber massiv verfälscht. Die Ignoranz der Medienbranche gegenüber dem Realitätsprinzip legitimiert die Jugend in ihrem Spiel mit eigenen erfundenen oder verfälschten Identitäten. Und wenn jedes Unternehmen, jede politische Partei, jeder Prominente PR-Berater engagieren darf, damit sie in der Öffentlichkeit mit ihrer Hilfe so erscheinen, wie sie in Wirklichkeit gerade nicht sind, warum soll dann der Durchschnittsjugendliche dasselbe nicht in Eigenregie machen dürfen?
Die Lust am Ästhetischen und ihre präsentative Symbolik
Die Jugend lebt in einer Selbstdarstellungsgesellschaft, in einer Gesellschaft, in der die Form vor dem Inhalt kommt. Der ästhetische Schein bestimmt das Bewusstsein. Die Jugendlichen sind ästhetische Wesen. Sie wissen, dass in einer Gesellschaft, in der die Warenästhetik regiert, die ästhetische Hülle alles und der Inhalt fast nicht bedeutet.
Die Lust am Ästhetischen prägt das Leben der Jugendlichen. Sie sehen gerne und lassen sich gerne sehen. Sie haben Freude daran, an ihrem Körper, an ihren Frisuren und ihren Kleidungsstilen zu arbeiten. Wenn sie sich entscheiden müssen, dann lassen sie sich von ihren Augen leiten, nicht von ihrem Verstand. Das muss die Kommunikation berücksichtigen, die in einer performativen Jugendkultur erfolgreich sein will.
Die 1985 verstorbene amerikanische Philosophin Susanne K. Langer unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Arten der Vernunft: einer diskursiven und einer präsentativen Vernunft. Die diskursive Vernunft ist an die Sprache gebunden und damit an die kognitive Logik. Es geht also um vernünftiges Denken und logisches Argumentieren. Die Möglichkeiten der Sprache, z. B. Gefühle auszudrücken, sind aber sehr eingeschränkt. Schnell ist man an die Grenzen ihres Vermögens gekommen, wo mit Wittgenstein gesagt werden muss: „Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen.“ (Wittgenstein 1963) Im Gegensatz zur diskursiven ist die präsentative Vernunft unmittelbar in den Wahrnehmungsapparat eingelagert. Schon im Verfahren der Perzeption ordnet und typisiert der Mensch die Gegenstände der Wahrnehmung. Sehen, aber auch das Hören, nehmen ihre eigenen, uns unbewussten Abstraktionen vor und ordnen dadurch das einzelne wahrgenommene Objekt einer allgemeinen Kategorie zu. Für Susanne K. Langer ist Sehen selbst schon ein Formulierungsprozess. „Unser Verständnis der sichtbaren Welt beginnt im Auge.“ (Langer 1987: 97) Die präsentative Wahrnehmung hat einen unbestreitbaren Vorteil: Mit ihr kommt man über die engen Vernunftsgrenzen, die die Sprache setzt, hinaus. Die Wahrnehmung und Erkenntnis kann sich nun auch den Bilder- und Gefühlswelten zuwenden und sich damit für intuitive Formen der Erkenntnis und dem Verstehen öffnen.
Die Menschen der Postmoderne, vor allem die jungen, sind Augenmenschen. Die von ihnen bevorzugte Vernunft hat präsentativen Charakter. Damit sind sie Bildern zugänglicher als Sprache. Die postmoderne Jugend will fühlen, will affiziert werden, will die Verführung anstelle der Überzeugung. Wer heute erfolgreich kommunizierend Gesellschaft verändern will, der muss seine Botschaften in Bilder verwandeln können. Wer den jugendkulturellen Bildercode nicht beherrscht, der kämpft auf verlorenem Boden.
Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass wichtiger als die Dinge selbst die Art und Weise ist, in der sie arrangiert werden. Als Beispiel kann hier das Essen in Restaurants dienen. Die Nachkriegsgeneration besuchte mit Vorliebe Restaurants, in denen für wenig Geld üppige Speisen serviert wurden. Wichtig war, dass die Speisen nahrhaft und wohlschmeckend waren, und vor allem, dass viel auf dem Teller lag. Sekundär war die Art und Weise, wie die Speisen angerichtet waren. Heute spielt die Inszenierung des Essens eine tragende Rolle. Das Wesentliche ist nicht mehr die Speise, sondern die Art und Weise ihrer ästhetischen Inszenierung. Die Gestaltung der unmittelbaren Umgebung, in der gegessen wird, ist wichtig geworden. Wie ist das Restaurant ästhetisch konzipiert? Welchen Lifestyle repräsentiert die Restaurantausstattung? Welche erlebniskulturellen Themen werden angesprochen? Sogar die Form des Essgeschirrs hat nun Bedeutung gewonnen. In vielen Restaurants hat das Geschirr ein unverwechselbares, individuelles Design. Und natürlich geht es auch darum, wie das Essen angerichtet ist. Die Speisen müssen kreativ arrangiert sein, wollen sie die ästhetischen Bedürfnisse der Augenmenschen befriedigen. Als zweites Beispiel für die Ästhetisierung des Sozialen soll die Politik herangezogen werden. Der Gebrauchswert des Politischen hat sich weitgehend ins Ästhetische verschoben. Es kommt nun darauf an, wie PolitikerInnen aussehen, was sie in ihrer Freizeit tun, ob sie körperlich fit und vital wirken, ja selbst, wie ihre persönliche Wohnumgebung gestaltet ist, spielt eine Rolle. Homestorys können wahlentscheidend sein. Die Tätowierung der Ehefrau eines Spitzenpolitikers kann ausschlaggebender für den Wahlerfolg sein als das Programm, das er vertritt.
Jugendkommunikation ist vor allem dann erfolgreich, wenn sie in der Form einer bildzentrierten, nicht-argumentativen Kommunikation auftritt. Ein wichtiger Grund für dieser Entwicklung besteht in der grundlegenden Transformation der Medienlandschaft, im Zuge derer die Bilder in den Vordergrund treten und der wortsprachliche Anteil von Kommunikation mehr und mehr reduziert wird. An die Stelle der an die Sprache gebundenen diskursiven Symbolik der Kommunikation tritt die von der Präsentation von Bildern, nonverbalen Lifestyle-Codes und sinnenbestürmender Musik abhängige präsentative Symbolik. Die durch Bildmedien maßgeblich beeinflusste Sozialisation der Jugend schafft Rezipienten, die vor allem für die nichtbegriffliche Kommunikation der Verführung sensibel sind. Wer also Jugendliche erreichen will, der muss Bilder zeigen, Events inszenieren, muss der präsentativen Logik folgende „Gesamtkunstwerke“ zur Aufführung bringen, die die Gefühle und die Körper der Zielgruppe berühren, anstatt auf sie mit guten Argumenten einzureden.
Grundsätze der Jugendkommunikation
Wenn wir das bisher Gesagte zusammenfassen, so zeigt sich, dass die Jugendkultur der Postmoderne auf dem Weg ist, zur allgemeinen Kultur der Gesellschaft zu werden. Ihr radikaler Individualismus, verbunden mit Leitwerten wie Vitalität, Zukunftsorientierung, Spontanität, Pragmatismus und Aktivismus, passt sich geradezu symbiotisch in die dominante neoliberale Leitkultur unserer Gegenwart ein. „History is bunk“, meinte Henry Ford und verwies damit schon vor fast 100 Jahren auf das leitende Grundprinzip eines radikal marktwirtschaftlichen Liberalismus, dem die nachdenklich-reflexive, in historischen Zusammenhängen denkende Persönlichkeit nichts, das ohne Respekt vor Traditionen, vor allem am wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtete, unbekümmert vorwärts in die Zukunft stürmende Individuum alles ist. Im Zuge der Verallgemeinerung dieser ihrer Kultur blieb die Jugend aber bis dato als Opfer einer Enteignung auf der Strecke. Die alten Eliten in Ökonomie und Wirtschaft vereinnahmten die Kultur der Jugend, perfektionierten damit ihre politische Macht und die Wirkweise ihrer Ökonomie, den Jugendlichen selbst verbleibt bis heute nicht mehr als die Rolle der modischen Trendsetter. Die Alten haben sich den Style und die Werte der Jugendgeneration angeeignet, ohne ihnen auch nur ein Stück der politischen und ökonomischen Macht abzugeben.
Gleichzeitig sind die Attribute der Jugendlichkeit zu mächtigen Instrumenten der Ausgrenzung geworden. Wer nicht mehr vital, erfolgshungrig und aktiv genug ist, der verschwindet vom Schirm der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die, die den Kampf gegen das Alter verlieren, werden vor allem ästhetisch ausgeblendet, obwohl sie zwischendurch immer wieder, fast hinterhältig, als die unverzichtbaren Träger wertvoller Erfahrung angerufen werden. Dazu passt, dass über Fünfzigjährige kaum mehr einen Arbeitsplatz finden. Offensichtlich ist die Erfahrung, die sie repräsentieren, doch nicht so viel wert, wie in Feiertagsreden gerne verlautet wird.
Vor allem die Ausbreitung der Bildmedien hat zu einer Privilegierung präsentativer Formen der Symbolverwendung geführt. Bilder, Events und musikalische Klangwelten verdrängen vor allem in der kommerziellen, aber auch in der politischen Kommunikation diskursive Formen der Kommunikation, die auf überzeugenden Argumenten fußen. Postmoderne Kommunikation richtet sich direkt auf den Körper, spricht Gefühle an und lässt den Geist weitgehend außen vor.
Welche allgemeinen Grundsätze einer postmodernen Jugendkommunikation lassen sich nun aus dieser Zusammenschau der Argumente ableiten?
Jugendkommunikation als totale Kommunikation
Die Jugendkultur ist zur ästhetischen Leitkultur der Gesellschaft geworden. Wer Einfluss auf die gesamte Gesellschaft bekommen will, der muss eine juvenile Kommunikation anbieten. Die Älteren orientieren sich an den Jungen. In einer Gesellschaft, die sich zwanghaft am Ideal der Juvenilität ausrichtet, ist soziale Integration und Anerkennung an ein jugendliches Erscheinen und Verhalten gebunden. So lange die herrschenden Diskurse so gelagert sind, dass sie all jene mit der Auslöschung bedrohen, die sich nicht mit jugendkulturellen Ästhetiken und Werten inszenieren, bleibt die juvenile Selbstinszenierung ein universelles Ideal. Dies bedeutet, dass das Marketing der Postmoderne in erster Linie juvenil sein muss. Selbst bei der Generation 50+ ist es besser, sie mit einer jugendkulturellen Ästhetik zu überfordern, als sie mit einer „altersadäquaten“ Kommunikation als kulturell randständige und dem Gestern zugehörige Existenzweise zu brandmarken.
Verführung durch Bilder und Events
Nicht nur die Jugend, die gesamte Gesellschaft ist von „Augendenkern“ dominiert. Verführung durch Bilder anstatt Überzeugen durch Argumente lautet das postmoderne Grundprinzip der Kommunikation. Die Form kommt vor dem Inhalt, der Gebrauchswert von Produkten und Produktkommunikationen ist weitgehend vom Inhalt in die Form ausgewandert.
Die neben dem Bild wesentlichste Form nicht-diskursiver Kommunikation ist das Spektakel, das Event. Das Spektakel ist eine Gefühlsangelegenheit. Es verführt, indem es alle Sinne in den Bann zieht. Die Beschäftigung der Sinne ist die Hauptaufgabe juveniler Marketingkommunikation. In einem Zeitalter des Spektakulären wollen die Menschen nicht überzeugt, sie wollen berührt, verführt, erschüttert werden. Ein gut inszenierter, völlig sinnloser Sprung aus 39 Kilometer Höhe ist wichtiger als jede Produktinformation. Das postmoderne Individuum will den (Sinnes-)Rausch und nicht die Wahrheit.
Juvenile Kommunikation braucht ein sicheres ästhetisches Terrain
Bild ist nicht gleich Bild, Codes sind nicht gleich Codes. Die spektakuläre Lifestyle-Kultur hat sich breit ausdifferenziert. Unterschiedliche Gruppen, vor allem unter den jungen KonsumentInnen, sind mit unterschiedlichen symbolischen Formen emotional verbunden. Werden Codes zu weitgehend verallgemeinert, verlieren sie ihre „magische“ Wirkung. Mehr denn je gilt heute in der juvenilen Kommunikation der alte Satz: „Wer für alles offen ist, der ist nicht ganz dicht.“ Zielgruppen strukturieren sich nach symbolischen Formen, grenzen sich aufgrund spezifischer Ästhetiken voneinander ab. Es ist besser, auf einem sicheren ästhetischen Terrain zu stehen, als es allen recht machen zu wollen. Die intensive Zuwendung zu einer klar abgegrenzten „Szene“ ist die notwendige „Homebase“, von der ausgehend es einmal möglich sein könnte, andere Symbolkulturen zu erobern.
Role Models statt Vorbilder
Das ästhetische Zeitalter sucht keine Vorbilder, sondern Role Models. Vorbilder funktionieren nach der alten diskursiven Symbolik. Sie versuchen, mit Argumenten zu überzeugen. Role Models überzeugen durch ihre ästhetische Kompetenz, sie folgen einer präsentativen kommunikativen Logik. Lady Gaga argumentiert genauso wenig wie David Beckham. Vor allem deshalb beeinflussen sie das kulturelle und Konsumverhalten der Menschen. Role Models sind niemals angepasst. Sie überschreiten Grenzen, sie fordern heraus. Wir bewundern, was uns überlegen ist, und lieben, was sich uns unterwirft. Role Models müssen überlegen sein, sollen sie funktionieren. Wir bewundern nicht unser langweiliges „authentisches“ Selbst, wir bewundern den, der unsere Durchschnittlichkeit überschreitet. Role Models funktionieren dadurch, dass sie Rebellen im Medium des „Styles“ sind, Stil-Rebellen. Sie fordern die Gesellschaft auf dem Terrain des Ästhetischen heraus. Aber trotzdem sie die Grenzen des Alltäglichen überschreiten, müssen sie anschlussfähig an die Alltagskultur bleiben. „Most advanced, yet acceptable“ heißt das Prinzip, nach dem sie funktionieren.
Das Körperbild als Köder für egozentrische Individualisten
Der Körper steht im Zentrum der egozentrischen Individualisierung. Er wirkt deshalb, weil er sich der präsentativen Symbolik bedient. Der Körper argumentiert nicht, er zeigt sich. Er ist das Zentrum einer „performativen Ökonomie“ (vgl. Neckel 2008). Dies bedeutet, dass der Körper nicht dem Leistungs-, sondern dem Erfolgsprinzip unterliegt. Er überzeugt nicht primär durch arbeitsbezogene Leistungen, sondern durch den performativen Markterfolg. Das Körperbild muss nicht ehrlich erarbeitet sein. Es ist egal, durch den Einsatz welcher Mittel es erzeugt wird. Authentizität ist ein altes Wort mit einer alten Bedeutung. Keinen interessiert mehr, was sich hinter einer ästhetischen Form, einer Maskerade verbirgt. Der Körper ist, wie er ist. Er wird zur Kenntnis genommen, nicht hinterfragt. Der Körper steht im Mittelpunkt des egozentrischen Individualismus, der ein ästhetischer Individualismus ist. Das Besondere ist das Körperliche, das, was sich zeigt, nicht das, was spricht. Das postmoderne juvenile Marketing zeigt sich eng mit dem Körper verbunden. Die Magie der präsentativen Symbolik wird eingesetzt, um Menschen zum Konsum zu verführen. Der Körper ist der Köder, mit dem der egozentrische ästhetische Individualist gefangen wird.