Keine Mission, keine Vision, keine Revolution?
Die postmoderne Jugend zwischen Pragmatismus und Idealismus
„Die Jugend gibt es nicht“, das ist wohl eine soziologische Binsenweisheit, dennoch muss sie immer wieder ausgesprochen werden, da nach wie vor in den Medien, aber auch in sozialwissenschaftlichen Forschungsberichten, ein Jugendbild vermittelt wird, das Homogenität suggeriert, wo doch in Wirklichkeit kulturelle Differenzen und soziale Widersprüche die Jugend in ungleiche, wenn nicht sogar antagonistische Teilgruppen scheiden.
Vor allem eine weitgehend theorielos arbeitende quantitativ-empirische Sozialforschung, die glaubt, die Rätsel der sozialen Welt ließen sich durch die Anwendung von simplen Rechenoperationen lösen, aggregiert ohne Sinn und Verstand Daten und produziert Artefakte am laufenden Band, die sie dann für Modelle der Wirklichkeit ausgibt. So wird in Gruppen zusammengeführt, was nicht zusammengehört, und es entstehen lediglich schöne Fassaden, die naturgemäß mehr verschleiern als sie enthüllen. Analytische Einblicke in die Lebenswelt der jungen Menschen unserer Zeit liefern die Mathematiker und Hochrechner der Jugendforschung jedenfalls nicht. Im Gegenteil. Ihre Studien sind häufig im hohen Maße ideologisch und offenbaren wenig darüber, was die Jugend wirklich will, und viel darüber, wie die Politik und die Mächtigen der Wirtschaft die Jugend gerne hätten. Was in den großen quantitativen Analysen der Meinungsforschung unserer Tage verloren geht, ist die subjektive Perspektive der Menschen, die, folgt man Alfred Schütz, die einzige hinreichende Garantie dafür ist, „dass die soziale Wirklichkeit nicht durch eine fiktive, nicht existierende Welt ersetzt wird, die irgendein wissenschaftlicher Beobachter konstruiert hat“ (Schütz nach Honer 2011: 27).
Differenzen, Widersprüche und Abkoppelung
Durch die Jugend verläuft nicht ein Riss, sondern wir finden gleich mehrere Risse. Um einen Bildvergleich zu bemühen, die Jugend ist wie eine Fensterscheibe, die nach dem Aufprall eines Steines nicht vollkommen zersplittert ist, aber nur mehr eine höchst fragile, von Sprüngen durchzogene Einheit bildet. Wir können also noch Gemeinsamkeiten entdecken, wenn wir die Altersgruppe der unter Dreißigjährigen betrachten, doch immer dominanter werden die Gegensätze, und auch ein Auseinanderbrechen der Jugendpopulation in völlig unvermittelte Teilgruppen ist nicht mehr auszuschließen.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Jugend ist bereits dermaßen nachhaltig vom Mainstream abgekoppelt, dass es wohl mehr als eine Generation dauern würde, wollte man diese Gruppe wieder in die Gesellschaft eingliedern. Aber es fehlt den politischen Parteien ohnehin der Wille dazu, das an die 10 Prozent umfassende juvenile Prekariat wieder in die Normalität zurückzuholen (vgl. Calmbach u. a. 2012). Es ist wohl ein typischer Charakterzug des modernen politischen Pragmatismus, der relativ ideologiefrei, mit ruhiger Hand und mit Augenmaß die Regierungsgeschäfte betreibt, indem er Entscheidungen in erster Linie nach den Maßgaben der betriebswirtschaftlichen Vernunft trifft. Diese „coole“ Form der Vernünftigkeit evoziert einen politischen Umgang mit den Prekären, der der kostengünstigsten Variante der Alimentierung der Hoffnungslosigkeit auf niedrigstem Niveau bei gleichzeitig exzessiver Kontrolle durch Sozialämter und Polizei gegenüber einer kostenintensiven Reintegration den Vorrang gibt. Die Situation, in der sich diese jungen Menschen befinden, beschreibt eine Formulierung von Jeremy Rifkin treffend, die Oskar Negt in einem Text, in dem er sich mit der Verbetriebswissenschaftlichung der Vernunft im Spätkapitalismus auseinandersetzt, paraphrasiert. „Es ist schlimm, wenn Menschen ausgebeutet werden, aber noch schlimmer ist es, wenn sie noch nicht einmal mehr für Ausbeutung benötigt werden.“ (Negt 2010: 195) Eine Gruppe, deren Arbeitskraft für das Verwertungsinteresse des Kapitals irrelevant geworden ist, ist am untersten Ende der sozialen und Statushierarchie angelangt. Tiefer kann niemand sinken.
Wir haben also nun schon einen wesentlichen differenzierenden Sprung oder Bruch identifiziert, der es unmöglich erscheinen lässt, von einer homogenen Jugendpopulation zu sprechen. Dieser Bruch ist ein vordergründig sozialer, der aber naturgemäß kulturelle Differenzierungen nach sich zieht. Das heißt, die Prekären schaffen sich einen eigenen, ihrer sozialen Lage angepassten kulturellen Raum mit spezifischen Denk- und Sprechweisen und typischen alltagsästhetischen Formen (vgl. Calmbach u. a. 2012).
Bildungsdifferenzen
in der Wissensgesellschaft
und ihre Folgen
In einer Wissensgesellschaft hängen soziale
Anerkennung, Einkommen und
soziale Sicherheit im hohen Maße vom Bildungs-
niveau der Menschen ab. Dies zeigt sich zum Beispiel an der
Möglichkeit für Eltern, ihre Kinder in Bildungsgänge zu bekommen,
die diesen zum sozialen Aufstieg verhelfen oder zumindest den
drohenden sozialen Abstieg durch Arbeitslosigkeit vermeiden helfen.
Die höchste Gefahr, in Arbeitslosigkeit zu geraten, droht
Jugendlichen, die lediglich die Pflicht-/Hauptschule absolviert
haben, danach folgen die Absolventen einer Lehrausbildung. Im
Vergleich dazu wenig von Arbeitslosigkeit bedroht sind
AkademikerInnen. So waren im Januar 2012 von den österreichischen
Arbeitslosen 46,1 Prozent PflichtschulabsolventInnen, 37,3 Prozent
AbsolventInnen einer Lehre und lediglich 3,3 Prozent
UniversitätsabsolventInnen (http://www.ams.at/_docs/001_am_bildung_0112.pdf).
Kein Wunder also, wenn sich das Gros der Eltern bemüht, ihre Kinder
in höheren Schulen unterzubringen.
Die Werteforschung zeigt uns, dass PflichtschülerInnen und Lehrlinge eine materialistische Grundhaltung aufweisen. Für sie zählen zum Beispiel im Beruf in erster Linie materielle Gratifikationen, und Freizeit ist für sie fast ausschließlich Konsumzeit. Hochwertige Konsumartikel werden in dieser Gruppe dazu benutzt, um höhere Statuspositionen zu besetzen und um sich von der Umgebung abzugrenzen. Der Wert des Menschen erscheint auf den Tauschwert der Konsumgüter reduziert, die er sich aneignet und demonstrativ nutzt.
Im Gegensatz dazu neigen vor allem GymnasiastInnen und StudentInnen humanwissenschaftlicher Fächer zu einem postmaterialistischen Verhalten. Zumindest kommunizieren sie der sie umgebenden Öffentlichkeit, dass für sie Ideen mehr zählen als Geld und der Sinn des Lebens eher im gemeinschaftlichen Engagement als im materialistischen Egoismus liegt. Die gegensätzlichen Grundwerte der beiden Gruppen schlagen sich auch in ihrem kulturellen und politischen Verhalten nieder. Findet man die materialistischen jungen Berufstätigen und Auszubildenden eher in Vorstadtdiskotheken wieder, wo sie zu kommerziellen Eurodance-Produktionen à la DJ David Guetta tanzen, so lassen sich Studierende lieber in alternativen Clubs nieder. Wenn es um Politik geht, dann wenden sich bildungsferne Jugendliche überwiegend den neopopulistischen Rechten zu, während die Lieblingsparteien der Studierenden im grünalternativen Spektrum liegen (vgl. Ikrath 2012; Großegger 2011; Heinzlmaier 2010).
Nachdem wir bisher auf soziale und kulturelle Differenzen in der Jugendpopulation abgestellt haben, wollen wir nun versuchen, gesellschaftliche Bedingungen auszumachen, denen alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen in gleichem Maße ausgesetzt sind und die am Ende zu klassen-, schicht- und milieuübergreifenden Denk- und Verhaltensweisen führen. In sozialwissenschaftlichen Berichten und Kommentaren ist die Rede vom „Pragmatismus der Jugend“ als durchgängiges Leitmotiv. Das Diktum von der „pragmatischen Generation“ geht auf die 14. Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2002 zurück, die unter der Federführung von Klaus Hurrelmann in Deutschland entstanden ist. Der Pragmatismus des Jahres 2002 war aber noch ein „konstruktiver“. Die 15. Shell Jugendstudie, die vier Jahre später durchgeführt wurde, fand nach wie vor eine pragmatische Jugend vor, die ihre Lebensführung an „praktischen Problemen orientiert, die mit persönlichen Wünschen verbunden sind“, aber die in der Zwischenzeit weiter verschlechterte wirtschaftliche Lage hatte dazu geführt, dass der konstruktive Pragmatismus der Jugend unter Druck geraten war. Es ist nun schwerer geworden, seinen pragmatischen Lebensentwurf in die Praxis umzusetzen (Hurrelmann 2006: 31). Auch die flexibelsten und anpassungsbereitesten Pragmatiker können nicht mehr davon ausgehen, dass ihrer systemkonformen Handlungspraxis Erfolg beschieden sein wird. Und wenn der Lohn für den Verzicht auf Selbstverwirklichung ausbleibt, wie werden sie dann reagieren, die braven Biederlinge, die coolen Kalkulanten ihres eigenen Vorteils?
Über den Mangel an Urteilskraft und Deutungskompetenz
Um es in eine Metapher zu kleiden: Die Jugend glaubt sich auf einem langfristig dem Untergang geweihten Schiff, auf dem ihr aber noch genügend Zeit bleibt, um das eigene Leben zufriedenstellend über die Runden zu bringen. Oder: Die Welt wird untergehen, aber davor werde ich noch ein gutes Leben haben. Oder: Nach mir die Sintflut.
Anhand dieses Beispiels, der Differenz zwischen gesellschaftlicher und persönlicher Zukunftserwartung, zeigt sich die Bildungskatastrophe unserer Tage, die man mit Oskar Negt wohl als einen Aspekt des „Ungleichgewichts in der Wissensgesellschaft“ bezeichnen kann (Negt 2010: 188). Unter dem „Ungleichgewicht in der Wissensgesellschaft“ versteht Negt das Übergewicht des technischen, betriebswirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Wissens bei gleichzeitigem Mangel an politischer Urteilskraft und gesellschaftlicher Deutungskompetenz (ebd.: 189). Wie könnte man es anders als als Mangel an Urteilskraft und Deutungskompetenz bezeichnen, wenn die Mehrheit der unter Dreißigjährigen Staat und Gesellschaft den Bach runtergehen sieht und gleichzeitig glaubt, davon unbetroffen ein individuell glückliches Leben führen zu können? Am Werk ist hier ein pragmatischer Individualismus, der wohl aus Unkenntnis und auch aus Zynismus nur mehr sich selbst im Blick hat und das gesellschaftliche Umfeld verzweifelt ausblendet, um von diesem in seinen Bestrebungen nicht irritiert zu werden. Für das Aufkommen und die Ausbreitung dieses pragmatisch-individualistischen Sozialcharakters macht Oskar Negt die Bildungsinstitutionen verantwortlich, die nur noch technisches Wissen, aber keine Bindungsfähigkeit mehr vermitteln. „Es ist bemerkenswert, in welcher Weise das Symbol- und Sprachspektrum dieser ökonomischen Denkweise in Bereiche eingedrungen ist, die doch bisher aufgrund ihrer eigensinnigen Strukturen mit Bedacht von rein betriebswirtschaftlichen Kalkulationen freigehalten wurden. Ich meine die Bildungseinrichtungen, Schulen und Universitäten, in denen ja nicht nur Informationen vermittelt, sondern Menschen erzogen und gebildet werden sollen. Betrachtet man dagegen die Studenten als Kunden, denen, wie in einem Warenhaus, etwas angeboten wird, was sie kaufen können oder auch nicht, dann geht etwas verloren, was wir bisher als den Bildungsauftrag dieser Institutionen angesehen haben. Das bedeutet jedoch mehr als die Umdefinition dieser Institutionen. Es bedeutet die Umdefinition des Lebens, des Überlebenswerten. Unterschlagen wird dabei, dass in schulischen und universitären Sozialisationsprozessen immer auch Bindungsfähigkeit hergestellt werden muss und Kraftreserven für den sorgsamen Umgang mit dem Gemeinwesen geschaffen werden sollten.“ (Ebd.: 193f.)
Die Ökonomisierung der Bildung, die Verwandlung der Studierenden von Bildungssubjekten in KundInnen und ein ökonomistischer Sprachgebrauch, führt am Ende nicht nur zur Umdefinition der Bildungseinrichtungen, sondern zur Umdefinition des ganzen Lebens. Der pragmatische Individualist wird in den Bildungsinstitutionen herangezogen. Sein Blick ist nur mehr auf das eigene kleine Leben gerichtet, seine Bindungsfähigkeit durch den „abgemagerten Vernunftbegriff“ (ebd.: 192) des homo oeconomicus auf Nützlichkeitsbeziehungen reduziert, seine Kraftreserven werden vom Kampf um den eigenen Vorteil vollständig aufgebraucht, so dass ihm ein Engagement für das Gemeinwesen gar nicht möglich wäre, auch wenn es ihm wider Erwarten etwas bedeuten würde.
Blinder und verbissener Fleiß
Für Theodor Adorno ist Erziehung überhaupt nur als kritische Selbstreflexion denkbar (vgl. Adorno 1971: 90) Vor dem Sturz in die Barbarei ist nur der Mensch gefeit, der selbständig denkt und sein eigenes Denken und Handeln kritisch reflektiert.
Adorno sieht den Menschen eingeschlossen in eine verwaltete Welt. Die Klaustrophobie des in einen „durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang“ eingesperrten Menschen führt zur Wut gegen die Zivilisation, gegen die dieser irrational und gewalttätig aufbegehrt (vgl. ebd.). Aufgabe der Bildung ist es nun, den Menschen davon abzubringen, dass dieser seine aufgestaute Wut gegen Schwache richtet, nicht „ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen“ beginnt (ebd.).
Erziehung des Menschen zur kritischen Selbstreflexion hat keinen Raum mehr in Bildungseinrichtungen, die auf ihre Ausbildungsfunktion reduziert werden, die darauf reduziert sind, in ökonomisch effizienter Weise berufsdienliche Informationen und Fertigkeiten weiterzugeben.
Was bei vielen Jugendlichen und
jungen Erwachsenen, vor allem aber bei solchen aus der Gruppe der
naturwissenschaft-
lich-technischen Intelligenz, auffällt, ist ihr kaum ausgeprägter
Autonomieanspruch und ihr individualistischer Utilitarismus.
Pragmatisch und ohne Zeit für die Reflexion über sich selbst und
über größere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge zu
verschwenden, gehen sie „straight“ ihren Weg. Sie machen dort mit,
wo sie sich persönlichen Nutzen versprechen. Selbst
Vergemeinschaftung orientiert sich am persönlichen Nutzenkonzept.
Man „vernetzt“ sich mit jenen, die dem Erreichen der persönlichen
Ziele dienlich sind. Im Fachjargon der Kommunikationsbranche nennt
man das etwas salopp „Netzwerken, bis der Arzt kommt“.
Jetzt soll gar nicht grob verallgemeinernd behauptet werden, dass die Jugend in den (Aus-)Bildungsinstitutionen zum Egoismus und zur Anpassung erzogen wird. Was wir aber konstatieren müssen, ist, dass ihnen offensichtlich in den Bildungsinstitutionen wenig Anleitung zur kritischen Reflexion gegeben wird und der Jugend auch die Freiräume fehlen, in denen sie sich ohne Anleitung anderer ihres eigenen Verstandes bedienen kann. Die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen kann in den (Aus-)Bildungseinrichtungen weder entdeckt noch entwickelt werden. Anstelle dessen scheinen unsere Bildungsinstitutionen immer mehr zu Orten des blinden und verbissenen Fleißes zu werden, vor dem Adorno gewarnt hat. Denn ein solcher Ungeist, der die passive Aneignung von vorgegebenen Inhalten verlangt, „widerspricht der Bildung und der Philosophie, weil er von vornherein definiert wird von der Aneignung eines bereits Vorgegebenen und Gültigen, in der das Subjekt, der Lernende selbst, sein Urteil, seine Erfahrung, das Substrat von Freiheit abwesend sind“ (ebd.: 45).
Der Aufruhr der
Ausgebildeten, eine Hoffnung
für die Zukunft?
Im Dezember 2010 übergießt sich in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der 26-jährige Mohammed Bouazizi mit Benzin und setzt sich in Brand. Er erliegt am 4. Januar seinen Verletzungen. Bouazizi, der als fliegender Obsthändler seinen Unterhalt verdient, entzündet sich selbst, weil ihm das Ordnungsamt den Straßenhandel untersagte und seine Wagen konfiszierte.
Mohammed Bouazizi wird zur Symbolfigur des Widerstands gegen das autokratische System von Präsident Ben Ali und in der Folge zum Auslöser einer landesweiten Protestbewegung, die zum Sturz des Präsidenten führt. Der Volksaufstand in Tunesien führt zu einer Kettenreaktion. Er leitete nicht nur den so genannten „Arabischen Frühling“ ein, sondern ist auch die Initialzündung für das Entstehen neuer Protestbewegungen in Europa, den USA und Lateinamerika. Selbst in China kommt es zu Protesten.
Die populärste Bewegung, die im Gefolge des Arabischen Frühlings entstand, war „Occupy Wallstreet“, der Aufstand der 99 Prozent gegen das politische System Amerikas, in dem „both parties govern in the name of the 1% of americans“ (Graeber 2012a: 37).
Ob nun die Indignados, die ihre Zelte in Madrid aufschlugen, die Israelis, die gegen den Wohnungswucher protestierten, oder jene, die im Zuccotti Park in New York campierten, überall waren junge Menschen tonangebend. Für Wolfgang Kraushaar bestand die Gemeinsamkeit des Arabischen Frühlings und der europäischen und amerikanischen Occupy-Bewegung im „Aufbegehren gegen die durch den herrschenden Neoliberalismus erzeugte Perspektivenlosigkeit der Jugend weltweit“ (Kraushaar 2012: 204). Und er bringt es weiter auf den Punkt: „Sie sind jung, sie sind qualifiziert, sie sind internetaffin, und sie sind perspektivlos. Es sind nicht nur die Kinder der letzten großen Finanzkrise, es sind die Kinder einer die Gesellschaft bereits seit langem durchdringenden Prekarisierung.“ (Ebd.: 208)
Aber warum hat die Sozialisation der Aufbegehrenden in Bildungsinstitutionen und bürgerlichen Familien deren Rebellion überhaupt zugelassen? Die meisten von ihnen waren angepasste junge Menschen, solche, wie sie heute an unseren Universitäten und Fachhochschulen aus- und eingehen, mit niedrigen Autonomieansprüchen und mit der großen Bereitschaft, mit blindem und verbissenem Fleiß den Weg zu gehen, den ihnen der enge Rahmen ihrer Studiencurricula vorgaben. Warum brachen sie plötzlich aus? Warum entschlossen sie sich, von angepassten Mitmachern zu rebellischen Nicht-Mitmachern zu werden? Der Hauptgrund dafür liegt wohl darin, dass ihnen der Lohn für Unterordnung, Selbstunterdrückung und Zurückhaltung verweigert wurde. Der pragmatische Individualist passt sich dann an, wenn er dafür persönliche Vorteile realisieren kann. Werden ihm diese Vorteile vorenthalten, steigt er auf die Barrikaden. Wir müssen also davon ausgehen, dass hier nicht, wenn auch mit Ausnahmen, die postmaterialistische, nach Freiheit und Selbstbestimmung gierende Autonomiebewegung auf der Straße war, sondern frustrierte junge Materialisten, denen der Staat durch Versprechungen der Politik im Wort war, aber dieses Wort nicht halten konnte oder wollte. Selbst von den Forderungen der „Aufständischen“ nach mehr nichtrepräsentativen Formen der Demokratie darf man sich nicht blenden lassen. Deren Ursprung ist keineswegs in irgendeiner Form idealistisch, denn „die Akteure fühlen sich mit ihren Sorgen und Problemen von einer ernst zu nehmenden Mitsprache am Politischen ausgeschlossen und dringen deshalb auf Modalitäten, die ihnen größere Erfolgsaussichten bei der Verfolgung ihrer Ziele garantieren könnten. Den Protesten liegen insofern ganz überwiegend materielle Interessen und keine postmaterialistischen Motive zugrunde – die Sorge um den Arbeitsplatz, die Gründung einer Familie, der Statuserwerb und die Zukunft insgesamt“ (ebd.: 209).
Waren die Proteste also auch nur Mittel zum kleinbürgerlichen Zweck? Ging es den Demonstranten allein um ihre persönlichen Interessen? Wollten sie mit den Protesten lediglich die materielle Belohnung für braves Mitmachen und den kalkulierten Verzicht auf Selbstbestimmung und Freiheit einklagen?
Die ursprüngliche Motivation wird bei der Mehrheit der Protestierenden wohl die Sorge um die persönliche Zukunft, die Angst vor Arbeitslosigkeit, die Wut wegen der verweigerten Anerkennung für ihre Studienabschlüsse und die Hoffnungslosigkeit ihrer Bestrebungen nach einer bürgerliche Familienexistenz gewesen sein. Nachzufragen wäre aber, wie sich die aktive Teilnahme an den Protestbewegungen, wie sich die Erfahrungen, die sie in den Konfrontationen mit der Staatsmacht gemacht haben, auf das Bewusstsein der Protestierenden ausgewirkt hat? Und vor allem, welche Politisierungseffekte haben die Diskussionen mit Gleichgesinnten in den Occupy-Camps nach sich gezogen?
David Graeber beschreibt in seinem Buch „inside Occupy“ die Bewusstseinslage der Protestierenden am Beginn der Bewegung ähnlich wie Wolfgang Kraushaar. Er spricht von einer Ansammlung von jungen Menschen, denen man Knüppel zwischen die Beine geworfen hatte, anstatt sie bei der Erreichung ihrer Ziele zu fördern und zu unterstützen. Und ganz ähnlich wie Wolfgang Kraushaar formuliert er: „Sie haben nach den Regeln gespielt und mussten zusehen, wie die Finanzklasse auf alle Regeln pfeifend die Weltwirtschaft mit betrügerischen Spekulationen in den Graben fuhr.“ (Graeber 2012a: 61) Aber in dieser Formulierung deutet sich schon der Übergang von einem auf die Durchsetzung von persönlichen Interessen gerichteten Motiv auf ein politisches Bewusstsein an, das die politischen und ökonomischen Zusammenhänge reflektiert, die die Misslichkeit der individuellen Lage hervorgerufen haben – und damit ist zumindest die Grundlage dafür geschaffen, dass ein politischer Veränderungswille entsteht, der sich nicht nur die Verbesserung der individuellen Position zum Ziel setzt, sondern der die politischen und ökonomischen Strukturen und Diskurse ins Visier nimmt und längerfristig mehr verändern möchte als bloß die eigene Situation.
Und was bleibt von Occupy?
Die Lager sind geräumt, die Euphorie ist vorbei, die Kommentare aus Wissenschaft und Medien sprechen von einem Scheitern einer Revolution. Die Beantwortung der Frage, ob eine Revolution gescheitert ist oder nicht, hängt aber davon ab, wie man Revolution definiert. Geht es bei einer Revolution nämlich nicht primär darum, den Staatsapparat zu übernehmen, sondern um die weltweite Transformation des politischen Common Sense, wie David Graeber meint, dann kann man nicht mehr so einfach vom Scheitern der Occupy-Bewegung sprechen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich durch die Occupy-Bewegung Auffassungen darüber, worum es in der Politik eigentlich geht, verändert haben. Oder wie Graeber es formuliert: „Im Gefolge einer Revolution werden Vorstellungen, die man bis dahin ausschließlich mit randständigen Spinnern verbunden hatte, im Handumdrehen zur akzeptierten Basis der Diskussion.“ (Ebd.: 176) Und tatsächlich scheint es so zu sein, dass es heute wieder möglich ist, über Systemalternativen zu diskutieren, die jenseits des herrschenden Kamikaze-Kapitalismus (vgl. Graeber 2012b) liegen, ohne gleich als linker Spinner abgetan zu werden, und auch Debatten über Alternativen zur traditionellen repräsentativen Demokratie werden nicht mehr am Rand der Gesellschaft geführt, sondern sind in ihr Zentrum eingewandert. Und noch etwas könnten die Jungen von Occupy gelernt haben: Um etwas zu verändern, braucht man nicht unbedingt traditionelle Großorganisationen mit hierarchischen Strukturen und wortgewaltige Anführer wie die, die die ’68er Bewegung dominierten. Viele haben vielleicht gelernt, dass auch horizontale Strukturen neben mehr Gerechtigkeit durchaus zu erfolgreichen politischen Aktionen führen können.
Unsere politische Landschaft wird vom Populismus dominiert. Die abscheulichste Form des Populismus ist der Rechtspopulismus. Strache in Österreich, Orbán in Ungarn oder Blocher in der Schweiz stehen für einen Populismus von oben. Sie inszenieren sich als charismatische Lichtgestalten, die versprechen, jene zu belohnen, die ihnen bedingungslos folgen. Will der kleine Bürger etwas erreichen, so ist seine Selbstaufgabe als Subjekt der Demokratie gefordert. Es gibt nur einen einzigen demokratischen Akt, die Ermächtigung des Führers. Danach denkt und handelt der Führer für den Bürger. Im Gegensatz dazu könnte man bei Occupy von einem Populismus von unten sprechen. Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie oder andere Sündenbockideologien spielten bei den Bewegungen in Spanien, den USA, in Chile, in Deutschland etc. keine Rolle. Die Kritik der Bewegungen „richten sich stattdessen gegen wirtschaftliche und politische Eliten, gegen Wirtschaftsbosse, Banker und Parteipolitiker (...)“ (Kraushaar 2012: 57). Und das ist wohl auch das Sympathische an diesen neuen außerparlamentarischen Beteiligungsformen der Jugend. Sie kühlen sich ihr Mütchen nicht an den Schwachen der Gesellschaft, sondern an den herrschenden politischen und ökonomischen Eliten, ganz nach dem Motto von Kalle Lasn, der meint: „Es ist unterhaltsam, mit Titanen zu kämpfen.“ (Lasn 2005: 132) Das ist jedenfalls eine Form von Unterhaltung, die man sich einreden lässt.