Krieg in den Städten
Was treibt die Ghetto-Kids zur Gewalt und wer trägt die Verantwortung?
Wir leben in einer Kultur, in der das Sichtbare, alles das, was in Bildern darstellbar ist und dargestellt wird, das Zeitgeschehen und die Reflexion darüber dominiert. Diese Dominanz des Bildes lässt uns manchmal vergessen, dass Bild nicht gleich Realität ist, dass die Bilder von der Wirklichkeit diese zumindest verfremden, wenn sie ihr nicht gar der Bedeutung nach diametral entgegengesetzt sind.
Die mediale Omnipräsenz der Gewalt
Gewaltereignisse sind gerade in einer Gesellschaft besonders quotenwirksam, in der Gewalt immer stärker tabuisiert wird, die immer gewaltsensibler, gleichzeitig aber immer besessener von medialen Gewaltdarstellungen und der Diskussion darüber geworden ist. Gewalt ist auch in den Informationssendungen omnipräsent. Skandalisierende und dramatisierende Berichte werden besonders von Privat-TV-Stationen in Umlauf gebracht. Ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Folgen wird von kommerziellen Betreibern alles in einer Form gesendet, die wirtschaftlichen und Quotenprofit erwarten lässt. Und die Medienmanager der Privaten machen sich nicht einmal mehr die Mühe zu verschleiern, dass es ihnen nur mehr um Geld und Quote und nicht mehr um Sachlichkeit und Gegenstandsadäquatheit geht. Wie Horkheimer und Adorno schon im Jahr 1944 festgestellt haben, verwenden diese Medienunternehmen die Wahrheit, dass sie nichts als Geschäft sind, als Ideologie, „um den Schund zu legitimieren, den sie vorsätzlich herstellen“ (vgl. Horkheimer/Adorno 2010: 129).
Subjektive und strukturelle Gewalt
Die immer wieder in europäischen Großstädten aufflammende Gewalt ist kein neues Phänomen. Schon 1991 thematisierten Farin/Seidel-Pielen in ihrer Monographie „Krieg in den Städten“ die soziokulturellen Widersprüche der mitteleuropäischen Urbanität und die durch sie ständig präsente Gefahr des Ausbrechens von Unruhen und Aufständen und brachten praktische Beispiele (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1991/2012). Auch das 21. Jahrhundert ist von urbaner Gewalt geprägt. Hervorstechend die Aufstände in den Pariser Vorstädten im Herbst 2005, die Slavoj Zizek in seinem Buch „Gewalt“ thematisiert (vgl. Zizek 2011). Um diese Gewaltphänomene erklärbar zu machen, weist Zizek auf die Notwendigkeit hin, Gewalt in ihrer Vielgestaltigkeit wahrzunehmen. Ignoriert man die Vielgestaltigkeit der Gewalt, dann läuft man Gefahr, den bildvermittelten Einflüssen des sichtbarsten Teils der Gewalt, der subjektiven Gewalt, zu erliegen. Zizek formuliert: „Der überwältigende Schrecken der Gewaltakte und das Mitgefühl, das man für die Opfer hegt, verführen uns unweigerlich dazu, das Denken einzustellen.“ (Ebd.: 11)
Um der manipulativen Bildmacht des
sichtbaren Teils der Gewalt nicht zu unterliegen, verweist Zizek
auf die Notwen-
digkeit, objektive Aspekte der Gewalt in die Analyse von
Gewaltereignissen einzubeziehen. Im Zentrum dabei die „strukturelle
Gewalt“, die „die katastrophalen Konsequenzen des reibungslosen
Funktionierens unseres ökonomischen Systems“ repräsentiert (ebd.:
10).
Wir können davon ausgehen, dass in der Regel Gewalttäter selbst Opfer von Gewalt sind. Die Akteure der Unruhen in Paris 2005 und der in London 2011 müssen also auch als Opfer struktureller und kultureller Gewalt gesehen werden, die unter Ungleichheits- und Ungerechtigkeitserfahrungen, unter Diskriminierung, Stigmatisierung und Exklusion zu leiden hatten. Wir haben es also nicht, wie in sensationslüsternen Quoten- und Reichweitenmedien beschrieben, mit rücksichtslosen, gewissenlosen und amoralischen Extremisten zu tun, sondern mit den Opfern einer neoliberalen Ökonomie, denen sowohl die materiellen, sozialen als auch kulturellen Lebensgrundlagen entzogen wurden, Menschen ohne individuelle Zukunftsperspektive und ohne Hoffnung auf gesellschaftliche Achtung und Anerkennung. Nicht randalierende Egoisten, die aus Lust am Gewaltexzess plündern und brandschatzen, sind hier am Werk, sondern Opfer des „solipsistischen spekulativen Tanzes des Kapitals (...), der seine Profitziele mit gesegnetem Gleichmut verfolgt und sich keinen Deut darum kümmert, wie sein Fortschreiten die gesellschaftliche Wirklichkeit beeinträchtigt.“ (Ebd.: 19)
Unpolitische Demonstration von Unmut
Für Hartmut M. Griese ist Gewalt eine Art Seismograph für wachsende soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit und den Verlust an sozialen Bindungskräften (vgl. Griese 2007: 163f). Die Unruhen und Aufstände treten also dort auf, wo die neoliberale Ökonomisierung des Sozialen das Leben von Randgruppen in sozialer und kultureller Hinsicht dermaßen einschränkt, dass Regelverletzungen und Normenbrüche für diese zur emotionalen Notwendigkeit werden. Die Beteiligung am Gewaltexzess ist ein emotionaler Ausgleich für die täglich erlittene Ausgrenzung und Missachtung und gibt den Akteuren zumindest das vorübergehende Gefühl, auf die sie umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit Einfluss ausüben zu können und Macht zu haben. Der Aufstand in den Ghettos ist auch als vorübergehende Selbstermächtigung der Machtlosesten unserer Gesellschaften zu sehen.
Diese Revolten sind aber eher nicht politische Statements im traditionellen Sinn. Vielmehr sind sie spontane Äußerungen von Unmut und Unzufriedenheit. Denn die sozialen Randgruppen in den europäischen Metropolen sind der Politik zu sehr entfremdet worden, um noch im hergebrachten Sinne politisch denken und handeln zu können. Sie finden in einer postpolitischen Gesellschaft, in der an die Stelle einer lebendigen, agonistischen Diskussion zwischen gegnerischen Parteien ein uninteressanter, undynamischer, träger Konsens der Mitte getreten ist, kein politisches Weltbild und keine politische Kraft mehr, mit Hilfe derer sie ihre Interessen glauben vertreten zu können. In diese Leerstelle könnten in Zukunft noch stärker rechtspopulistische Kräfte eintreten, die zwar auch nicht mehr zu bieten haben als ein bis zur Lächerlichkeit aufgeblasenes ideologieloses populistisches Medientheater, die ihre Rolle aber zumindest distinkt und mit Leidenschaft spielen (vgl. Mouffe 2007: 87).
Gewalt als Symbol von Moral- und Werteverlust
Vor allem von konservativen KommentatorInnen wird angesichts von gewalttätigen Revolten gerne das Thema des Werteverlustes angesprochen. Dabei wird der Vorwurf erhoben, dass es in unserer individualisierten und wertepluralen Gesellschaft nicht mehr gelingen würde, zentrale und für alle gültige Werte des menschlichen Zusammenlebens zu vermitteln. Jeder tue nur, was er persönlich wolle, die Empathie für das gemeinschaftliche Ganze sei verloren gegangen, und Schuld daran trage die mangelhafte Werteerziehung in Elternhaus und Schule. Damit wird das Gewaltproblem zu einem Erziehungsproblem gemacht und auch die Schuldigen für Werteverlust und Gewaltexzesse sind schnell gefunden. Wie schön, wenn die Welt so einfach ist. In diesem Zusammenhang bringt Hartmut M. Griese einen Gedanken ins Spiel, der die in diesem Punkt häufig einmütige Meinung der konsensualen Mitte subversiv herausfordert: Immer, wenn Gesellschaft und Politik versagen, erfolgt der Ruf nach Pädagogik und Erziehung (vgl. Griese 2007: 156).
Diese Aussage tut weh, scheint aber wahr zu sein. Ganz abgesehen davon, ob moralische Werte in einer vom zweckrationalen Ökonomismus beherrschten Gesellschaft überhaupt noch Relevanz für das Handeln der Menschen haben können, stellt sich doch die Frage, wo in Politik und Zivilgesellschaft, von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, die moralischen Persönlichkeiten sind, deren Handeln als Vorbild für junge und ältere BürgerInnen positiv wirksam sein könnte? Ist nicht im Gegenteil eine ansteigende Flut von negativen Vorbildern zu beobachten, die politische Ämter für den eigenen Vorteil missbrauchen, in wirtschaftlichen Führungspositionen Korruption praktizieren und selbst in kirchlichen Ämtern ein Sexualverhalten an den Tag legen, das weit ab von dem liegt, das sie in Sonntagspredigten der ihnen anvertrauten Herde der Gläubigen anempfehlen. Wie kann eine solche von Doppelmoral und egozentrischem Eigennutz getriebene politische und religiöse „Elite“ den Ausgegrenzten und Perspektivlosen mangelnde Moral und fehlenden Respekt vor dem Eigentum der anderen vorwerfen? Und welche moralische Kompetenz befähigt sie, sich an die Spitze einer pädagogischen Bewegung für mehr Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Gesetzestreue zu stellen?
Moral: Was unterscheidet Ghetto-Kids und Finanzkapital?
Was wir heute sehen, ist, dass die Ghetto-Kids nach derselben Moral und denselben Werten funktionieren und agieren wie das Finanzkapital. Unterschiedlich sind nur die Mittel, derer sich die beiden Gruppen bedienen. Während die Broker ihre Verbrechen stilvoll und distinguiert mit Anzug und Krawatte am Computer begehen, schmeißen die Ghetto-Kids Schaufenster ein und klauen und plündern fremdes Eigentum. Aber gibt es dem Wesen nach einen Unterschied zwischen beiden Verbrechen? Liegt die Differenz nicht allemal nur in der Form der Ausführung? Und hat Slavoj Zizek nicht Recht, wenn er darauf hinweist, dass der überwältigende Schrecken der subjektiven Gewaltakte uns dazu verführt, das Denken einzustellen, und wir damit die Fähigkeit verlieren, die Wesensidentität im Handeln der beiden unterschiedlichen Gruppen zu erkennen?
Sollte es uns gelingen, uns der manipulativen Kraft der Bilder der Gewalt und ihrer gezielten medialen Platzierung zu entziehen, dann werden wir bemerken, dass korrupte PolitikerInnen, betrügerische Finanzspekulanten und brandschatzende und plündernde Jugendliche sich dem Wesen ihres Handelns nach kaum unterscheiden. Allen ist gemein, dass sie den Gesetzen einer Winner-Loser-Kultur folgend nicht viel mehr wollen als Macht ausüben, Aufmerksamkeit und Akzeptanz erreichen und sich einen materiellen Vorteil sichern. Und da die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sich die unteren Sozialschichten an den oberen orientieren als umgekehrt, sind es am Ende des Tages die Eliten selbst, deren unmoralisches Sein und Handeln das Vorbild für das Agieren der Ghetto-Kids abgibt und die damit für unmoralisches Handeln im Ghetto die moralische Verantwortung übernehmen müssen.