Freizeit als Zeit der Selbstbestimmung?

Die Freizeitorientierung Jugendlicher in der Marktgesellschaft

Jugend als lebenslange Aufgabe?

In der traditionellen Jugendforschung galt die Jugend als die Phase des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Das Ende der Jugendphase war dann erreicht, wenn zentrale Entwicklungsaufgaben, wie eine gelungene berufliche Integration, die Erreichung der finanziellen und organisatorischen Unabhängigkeit vom Elternhaus, die erfolgreiche Familiengründung etc., gelöst waren. Bald stellte sich aber heraus, dass sich die Lösung von Entwicklungsaufgaben und die Gestaltung von Übergängen von der Kindheits- und Jugendphase zu entkoppeln begannen.

Übergangsphasen gelten heute als biographisch querverteilt, „begegnen den Menschen episodenhaft auf verschiedene Lebensabschnitte verteilt“ (vgl. Thole 2010: 727). So erfolgt die Familiengründung oft verspätet, wird in die mittlere biographische Lebensphase abgedrängt, oder sind Fünfzigjährige in Zeiten des lebenslangen Lernens plötzlich gefordert, sich in ein völlig neues Berufsfeld zu integrieren. Es gibt keine Garantie mehr dafür, dass Entwicklungsaufgaben ein für alle Mal gelöst und abgehakt werden können. So manche als gelöst betrachtete Aufgabe stellt sich plötzlich wieder in neuer Gestalt und unter neuen Rahmenbedingungen.

So wie die Jugendphase mit ihren Entwicklungsaufgaben nicht mehr eindeutig von einer Erwachsenenphase abzugrenzen ist, so gibt es auch keine jugendtypische Art und Weise mehr, seine Freizeit zu verbringen, die sich mit phänomenologischer Schärfe vom erwachsenen Freizeitverhalten abgrenzen ließe. Man trifft heute Fünfzigjährige auf einem Rockkonzert und die 45-jährige Mutter fährt mit ihrem zwanzigjährigen Sohn zum Snowboarden in die Alpen. Umgekehrt gehen Sechzehnjährige auch einmal gern in eine klassische Theateraufführung und der Vater ist vielleicht verwundert, wenn plötzlich aus dem Zimmer seiner jugendlichen Tochter Mahlers 8. Symphonie erklingt. Die Konturen zwischen den Generationen verschwimmen, werden undeutlich, vor allem, wenn es um kulturelles Verhalten und lebensstilistische, alltagsästhetische Praxen geht. Alles scheint sich beliebig zu vermischen, früher streng Getrenntes wird neu, oft auf eigenartige, ja skurrile Weise miteinander verbunden und alte Verbindungen lösen sich oder werden gelöst.

Freizeit – eine Erfindung der Moderne

Freizeit in der heutigen Form ist eine Erfindung der Moderne, „setzt sie doch die Trennung von verpflichtenden, zumeist durch abhängige, produktionsfunktionale Erwerbsarbeit angefüllte oder schulisch gebundene Zeitkontingente sowie frei gestaltbaren Zeiteinheiten voraus“ (ebd.: 738). Was sich in den letzten 150 Jahren verändert hat, betrachtet man die quantitative Entwicklung der Kontingente an frei verfügbarer Zeit, sollen einige Beispiele verdeutlichen:

  • ƒ In den letzten 150 Jahren hat sich die jährliche Lohnerwerbsarbeitszeit der berufstätigen Jugendlichen von 3.929 Stunden im Jahr 1850 auf 1.600 Stunden in den 2000er Jahren mehr als halbiert.
  • ƒ Verfügten Jugendliche in den 1930er Jahren über 6 bis 10 Urlaubstage pro Jahr, so stehen ihnen in unserer Zeit mehr als dreimal so viele Urlaubstage zu.
  • ƒ Und SchülerInnen können gegenwärtig mit ca. 90 schulfreien Tagen planen. (Sämtliche Beispiele ebd.)

Seit drei Jahrzehnten weist die frei gestaltbare Zeit für Jugendliche ein konstantes Niveau auf. Im Durchschnitt können Jugendliche an Werktagen über vier bis acht Stunden Freizeit verfügen, an Samstagen über 8 und an Sonntagen über 10 Stunden. Es zeigt sich aber auch, dass die Jugend an der Verkürzung der wöchentlichen und jährlichen Arbeitszeit der zurückliegenden 20 Jahre nicht mehr partizipieren konnte (vgl. ebd.).

Freizeit als Zeit der Selbstbestimmung

Freizeit ist für Jugendliche eine Zeitspanne, in der sie die Chance zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung haben (vgl. Ferchhoff 2007: 326ff). Freizeit ist damit vor allem eine Zeit, in der relativ uneingeschränkt erlebt und gelebt werden kann. Durch ihre relative Freiheit grenzt sich die Freizeit von der meist fremdbestimmten Berufs- und Lernzeit ab. Freizeit wird von vielen Jugendlichen vor allem dazu genutzt, um sich der Kontrolle durch Eltern und pädagogische Institutionen zu entziehen (Schäfers/Scherr 2005: 142). Im Vergleich zur Berufs- und Lernzeit sind die sozialen Zwänge und die normativen Erwartungen in der Freizeitsphäre bei weitem nicht so groß (Hurrelmann 2005: 135ff). In der Freizeit können sich Jugendliche frei fühlen. Sie ist ein Zeitraum, in dem autonom und selbstbestimmt gehandelt werden kann, in dem experimentelles Handeln bis hin zum Normen- und Tabubruch möglich ist. Obwohl es in der auf Sensationen gerichteten Medienberichterstattung häufig anders erscheint, gehören aber Tabubruch und Subversion nicht mehr zu den wichtigsten Handlungsmotiven und Zielen der postmodernen Jugendkulturen. Die Jugend der Gegenwart erscheint im Vergleich mit ihren AltersgenossInnen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre stiller, unauffälliger und angepasster, und die Folge ist, dass auch ihr Freizeitstil weniger aufbegehrend, widerständig und herausfordernd ist (Großegger/Heinzlmaier 2007: 28).

Jugendliches Freizeitverhalten unter marktgesellschaftlichen Bedingungen

Die fortschreitende Unterordnung der Gesellschaft unter den Markt und seine Gesetzmäßigkeiten hat tiefe und weitreichende Auswirkungen auf die moralischen und kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen das Alltagshandeln junger Menschen stattfindet. So werden auch in den Peergroups und den juvenilen Szenen ökonomische Erfolgskriterien zur Grundlage des Erwerbs von sozialen Positionen und dem Aufbau von Prestige. Damit wird der Freizeit der kulturelle Stempel der Leistungsgesellschaft aufgedrückt. Nunmehr hat auch das Handeln der jungen Menschen in der Freizeit der ökonomischen Logik des kapitalistischen Steigerungsspiels zu folgen. Immer weiter, immer größer, immer höher ist das Grundprinzip der marktwirtschaftlichen Freizeit- und Erlebnisgesellschaft (vgl. Schulze 2004).

Wer ist der „Styler“, der am besten performt? Wer hat das schnellste Auto? Wer kann die besten Tricks auf dem Snowboard? Wer hat die meisten Freunde auf facebook? Wie in der Konkurrenzkultur der Arbeitswelt muss es nun auch in der Freizeitwelt ein Oben und ein Unten, ein Drinnen und ein Draußen, GewinnerInnen und VerliererInnen geben. Und genau so wenig wie in der Arbeitswelt wird damit in der Freizeit solidarisches und gemeinschaftsorientiertes Handeln positiv sanktioniert. Im Gegenteil, wer den anderen übertrumpft, aus dem Feld schlägt, wer ein Gewinner ist, der ist der Gute. Und der einfühlsame, empathische, uneigennützige, egalitäre Menschenfreund gibt die Vorlage für den ewigen Loser ab. In der hochgradig wettbewerbsorientierten Freizeitsphäre geht es in erster Linie um die perfekte Self-Performance und außergewöhnliche, einzigartige Erlebnisse von hoher Intensität. Der Wert dessen, was man erwirbt und erlebt, sei es noch so intensiv und außergewöhnlich, verfällt aber in dem Augenblick, in dem man es in Händen hält oder in dem es geschieht. Die Fähigkeit zum Ankommen, zur Zufriedenheit mit dem Erreichten, ist der Jugend verloren gegangen. Die Verantwortung dafür tragen die Erwachsenen. Eltern haben es ihren Kindern, LehrerInnen ihren SchülerInnen und PolitikerInnen ihren WählerInnen beigebracht, förmlich eingehämmert: In der Leistungs-, Konkurrenz- und Erlebnisgesellschaft darf man sich niemals mit dem zufrieden geben, was man gerade erreicht hat. Nach vorne schauen, Grenzen nicht akzeptieren, sie, wenn es geht, überschreiten, ständig auf der Suche nach dem Neuen sein und das Alte so schnell wie nur möglich vergessen, das ist die Grundhaltung, die in einer Marktgesellschaft belohnt wird.

Die Jugend kopiert und perfektioniert lediglich das Freizeitverhalten der Erwachsenen oder vollzieht praktisch die Ideen und Werte, die sie im Zuge ihrer Sozialisation internalisieren musste, wenn sie ihr Heil in ständiger Innovation durch Konsum und Erfüllung durch emotionale Grenzüberschreitungen sucht. Und dazu kommt der tägliche Druck aus der Gleichaltrigengruppe und den Medien. Wer nicht Aufsehen erregend performt, wer nicht ständig neue Statussymbole vorweisen und mit außergewöhnlichen Erlebnissen, die sonst keiner hat, protzen kann, dessen Leben verläuft in unserer Gesellschaft unterhalb der Wahrnehmungssphäre der Anerkannten und Erfolgreichen. Und wen es einmal in die sozialen Regionen der Looser verschlagen hat, der ist voraussichtlich dauerhaft dazu verurteilt, ein Leben im Kreise der unnützen und bedeutungslosen Outcasts zu führen.

Georg Simmel hat als tiefstes Problem des modernen Lebens den Anspruch des Individuums gesehen, „die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des gesellschaftlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren“ (Simmel 2010: 241). Die Jugend unserer Zeit versucht, die Selbständigkeit und Eigenart ihres Daseins, d. h. ihre Individualität und Unabhängigkeit gegenüber einem immer über- und eingriffiger werdenden gesellschaftspolitischen Ordnungsregime, durch Rückgriff auf das Angebot der kommerziellen Mode zu verteidigen. Sie folgt den immer schneller und nervöser verlaufenden modischen Strömungen mit zunehmender Rastlosigkeit und Unruhe. Werner Sombart hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass der ständige Wechsel der kommerziellen Moden einen am Dauerhaften, Festen und Soliden desinteressierten Menschen geschaffen hat. Im Gegensatz dazu ist ein Menschentypus entstanden, der von einem fast grenzenlosen Abwechslungsbedürfnis geprägt ist und dem darüber der Respekt und die Achtung vor allem Alten und Ererbten verloren gegangen zu sein scheint. „Wir wollen den Wechsel unserer Gebrauchsgegenstände. Es macht uns nervös, wenn wir ewig ein und dasselbe Kleidungsstück an uns oder unserer Umgebung sehen sollen. Ein Abwechslungsbedürfnis beherrscht die Menschen, das oft geradezu zur Rohheit in der Behandlung alter Gebrauchsgegenstände ausartet.“ (Sombart, zitiert nach Bosch 2010: 114) Dieser Wertewandel, der im Kern in der Entwertung von Tradition und Kontinuität und in der Aufwertung von Diskontinuität und permanentem Wandel besteht, ist ein Grundprinzip der modernen Mode. Dieses Grundprinzip ist die treibende Kraft im kapitalistischen Konsumgütermarkt, der davon lebt, dass er die Konsumenten in ein „wahres Neuerungsfieber“ (ebd.: 115) stürzt.

Die rasenden Modewechsel, denen die Jugendlichen förmlich gezwungen sind zu folgen, weil die Aneignung der Artefakte der Modeindustrie ihnen als die wichtigste Möglichkeit erscheinen, ihre Individualität gegenüber den Zumutungen eines ordoliberalen Staates und seiner Ideologie zu verteidigen, hält sie in dauerhafter Abhängigkeit zu den Konsumgütermärkten und ist damit die Grundlage für die Herstellung von stabilen Bindungen der jungen Konsumenten an Konsumentenmarken, die ihnen nicht nur ein distinktives Image, sondern auch Lebenssinn, Glück und Zufriedenheit versprechen.

Freizeit als Artikulationsraum ästhetisch geprägter Jugendkulturen

Während die personelle Basis der Jugendkultur die Peergroup darstellt, ist die Freizeit deren zeitliche Grundlage (vgl. Schäfers/Scherr 2005: 142). In der Freizeit sollte es, aus der Perspektive der Jugendlichen betrachtet, in erster Linie um „Sozialintegration“ gehen, um individuelle Präferenzen und Zwecke, um Autonomie und Selbstbestimmung, in Differenz zur primär fremdbestimmten Zeit der „funktionalen Integration“ (vgl. Gorz 2010: 109), die in Bildungsinstitutionen und in der Arbeitswelt verausgabt werden muss. In Abwandlung eines Satzes von Andre Gorz könnte man sagen, dass das Freizeitleben zur Negation des Lebens außerhalb der Freizeitwelt geworden ist und umgekehrt (vgl. ebd.: 107). Wesentlich ist insbesondere der expressive Charakter der Freizeit. Die Freizeit ist für Jugendliche der bevorzugte Artikulationsraum für ihre kulturellen Ambitionen, es ist jener in der Regel öffentliche Raum, in der sich die Kultur der Jugendlichen am deutlichsten zeigt (vgl. Silbereisen u. a. 1996: 261).

 

Die Jugendkulturen, die sich in der Freizeit manifestieren, sind ästhetisch geprägte Kulturen, d. h. Kulturen, die das sinnlich Wahrnehmbare in den Mittelpunkt stellen. Diese Jugendkulturen sind jedoch mehrheitlich nicht grob sinnlich. Es sind Kulturen, die das Sinnliche kultivieren, denen eine Tendenz zu Überformung, Überhöhung und Veredelung des Sinnlichen innewohnt (vgl. Welsch 1996: 25). Jugendkulturelle Gemeinschaften wie Styler, Skateboarder, HipHopper, Gothics, Punks etc. investieren viel Zeit und Energie in die Umsetzung eines genau festgelegten, nach teilweise komplexen Regeln definierten körperlichen und modischen Erscheinungsbildes.

Dieser starke Bezug vieler Jugendkulturen zur Ästhetik des eigenen Selbst ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Jugendkulturen zum großen Teil Empfindungs- und Wahrnehmungskulturen sind. Ihre TeilnehmerInnen versuchen, einander über Strategien des Einfühlens und Verstehens nahe zu kommen. Über Körperbild und modische Inszenierungen werden Werte, Weltanschauungen und Lebensphilosophien symbolisch zum Ausdruck gebracht. Es geht dabei darum, sich der jugendkulturellen und der Gesamtöffentlichkeit mitzuteilen, indem man Bilder und ästhetische Gestaltungen anbietet, die zum Verstehen von persönlichen Identitäten und Images über die visuelle Wahrnehmung einladen.

Freizeit und posttraditionelle Gemeinschaftsformen

Die Freizeit vieler Jugendlicher spielt sich zunehmend außerhalb von traditionellen Institutionen ab. Wenn sie im Entwicklungsverlauf vom Kind zum Jugendlichen die erste Möglichkeit sehen, brechen sie häufig aus traditionellen Strukturen aus und wenden sich informellen, posttraditionalen Gemeinschaftsformen zu (vgl. Hitzler u. a. 2005). Posttraditionale Gemeinschaftsformen nehmen mehr Rücksicht auf die Freiheits- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse des Individuums. „Der entscheidende Unterschied dieser (…) Vergemeinschaftungsangebote gegenüber herkömmlichen Gesellungsformen besteht im Wesentlichen darin, dass die Teilhabe an ihnen nicht mit den in traditionalen und traditionellen Gemeinschaften üblichen Bindungen und Verpflichtungen einhergeht.“ (Hitzler u. a. 2008: 55)

Schon seit den 1960er Jahren wissen wir, dass sich die Freizeit der Jugendlichen verstärkt aus der institutionellen Gebundenheit heraus und in informelle, offen strukturierte Gruppenkontexte hinein verlagert. Entscheidende Auslöser für diesen Prozess sind die Erhöhung des Lebensstandards, die Zunahme der arbeitsfreien Zeit, die Angebotsexplosion am Konsumgütermarkt und das Entstehen eines Erlebnismarktes gewesen (vgl. Schulze 2005). Genau in dem Zeitraum, als sich diese grundlegenden sozioökonomischen Veränderungen zum ersten Mal stark manifestierten, also zwischen den 1960er und den 1980er Jahren, zeigt sich ein deutlicher Anstieg der Integration von Jugendlichen in informelle Netzwerke. Gaben im Jahr 1964 50 Prozent der deutschen Jugendlichen an, ihre freie Zeit regelmäßig oder öfter in informellen Freundesgruppen zu verbringen, so waren es im Jahr 1984 bereits 75 Prozent (Krüger 1993: 461f).

 

Die Freizeit ist für Jugendliche auch eine Zeit, in der sie sich der Kontrolle durch Erwachsene und pädagogische Institutionen entziehen wollen (Schäfers/Scherr 2005: 146). Die fernab der Erwachsenenkontrolle stattfindenden posttraditionalen Formen der Vergemeinschaftung, für die sich im jugendsoziologischen Kontext die Bezeichnung „Szene“ eingebürgert hat, bieten eine gute Möglichkeit, das eigene Leben unabhängig von Erwachsenen aktiv zu gestalten, emotional befriedigende Erlebnisse zu haben und sich kreativ unter Verwendung jugendkultureller Symboliken selbst zu inszenieren. Dementsprechend kann es kaum verwundern, dass die Mehrheit der Jugendlichen den Wunsch hat, dort möglichst viel Zeit verbringen zu können (vgl. Schäfers/Scherr 2005).

Die Jugendszenelandschaft heute

Die Szenelandschaft stellt sich heute vielfältig und breit ausdifferenziert dar. Die gesamte Szenewelt ist ständigen Wechseln und permanenten Wandlungen unterworfen, wobei man aber sagen kann, dass vor allem quantitativ bedeutende Szenen oft über lange Zeiträume hinweg in ihren organisatorischen Grundstrukturen und ästhetischen Basismustern stabil bleiben. Dies hängt nicht zuletzt mit den wirtschaftlichen Interessen großer Consumer-Marken zusammen, die aufgrund ihrer quantitativen Marktbedeutung diese Szenen mit gewaltigem PR- und Werbeaufwand so lange am Leben halten, so lange man mit ihrer Hilfe gute Profite erzielen kann.

In Österreich und in Deutschland fühlen sich mehr als drei Viertel der 11-29-Jährigen einer informellen jugendkulturellen Gemeinschaft oder Szene zugehörig (vgl. tfactory 2008a u. 2008b, Institut für Jugendkulturforschung 2007, Großegger/Heinzlmaier 2002 u. 2007, Silbereisen u. a. 1996). In beiden Ländern ist die Fitness-Szene die weitaus bedeutendste. In ihr vergemeinschaften sich junge Menschen, denen es primär um ein jugendkulturell adäquates Körpererscheinen geht. Gemeinschaftsstiftendes Thema ist also das Interesse an der Gestaltung des eigenen Körperbildes, die Sorge um das körperliche Selbst.

Die Snowboardszene ist die bedeutendste Wintersportszene im Alpenland Österreich. Es ist die am stärksten mit jugendkultureller Stilistik aufgeladene Jugendszene. (vgl. Großegger/Heinzlmaier 2007) Mindestens genauso wichtig wie das Beherrschen der sportlichen Technik ist hier die Fähigkeit, richtig mit stylischen Modeartikeln und angesagten Marken umgehen zu können. Darüber hinaus stehen die Snowboarder für den typischen jugendkulturell „coolen“ Habitus, dem das individuelle Spaß-Haben über gesellschaftliche Anerkennung geht. Snowboarder definieren sich über ihre Rolle als Rebellen des Alltags. Ihr Rebellentum bleibt aber in der Regel dem Terrain des Stilistischen verhaftet.

Die Fußballfans stellen eine männlich dominierte Fankultur dar. Ihre Angehörigen definieren sich über die Begeisterung für einen ganz bestimmten Verein, die Beziehungskultur weist viele traditionelle, an männerbündischen Kulturformen orientierte Elemente auf. Die Gruppe hat ihre größte quantitative Verbreitung unter den 16-19-Jährigen (vgl. tfactory 2008a u. 2009). Mit höherem Alter nimmt die Affinität zur Fußballfankultur deutlich ab.

Eine medial besonders auffällige Untergruppe der Fußballfans sind die „Ultras“ oder „Hooligans“. Für sie ist der Fußball nicht nur Sport, vielmehr ist er die Leitkultur ihres gesamten Lebens. Sämtliche andere Lebensbereiche wie Arbeit, Beziehung, Freundschaft werden von den Werten, Idealen und Ästhetiken der Fußballkultur durchdrungen. Mario Perniola stellt jedoch in dieser Subgruppe der Fußballfankultur einige überraschende Veränderungen fest, die auch in diesem Milieu auf eine Posttraditionalisierung der Vergemeinschaftung (vgl. Hitzler u. a. 2008) hinweisen, die im Kern in einer Abschwächung und Reduzierung der Bindungen und Verpflichtungen gegenüber der Gruppe besteht, wie sie Ronald Hitzler für die Jugendszenen generell konstatiert und beschreibt. Die neuen Fußball-Fans unterscheiden sich insofern von denen der 1960er und 1970er Jahre, die noch von einer Art Solidarität längerfristig zusammengehalten wurden, dass sie nur mehr eine vorübergehende Zusammenrottung sind. Sie schließen sich nur mehr deshalb in der Gruppe zusammen, weil die Gruppe funktional für die Realisierung ihrer Absichten ist oder, wie Perniola es formuliert, „sie verklumpen nicht zu einer gestaltlosen gefährlichen Masse, sondern bekunden einen Willen, nur sich selbst sichtbar zu machen“ (Perniola 2005: 21). Wir sehen also, dass selbst die traditionellen Strukturen männerbündischer Gruppe von der „Säure des Individualismus“ (Alasdair MacIntyre in: Horster 2012: 16) zerfressen werden. Selbst die Ultras instrumentalisieren die Gemeinschaft nur mehr dazu, um ihre narzisstischen Selbstdarstellungs- und Selbstverwirklichungsinteressen realisieren zu können. Also auch hier sind sie vorbei, die Zeiten des einer für alle und alle für einen.

 

Insgesamt betrachtet ist die szenische Verankerung bei den 16-19-Jährigen und bei den männlichen Jugendlichen am stärksten ausgeprägt. Mit zunehmendem Alter wird die Szenebindung loser, um bei einem Großteil der Jugendlichen zwischen dem 25. und dem 29. Lebensjahr gänzlich zu verschwinden oder lediglich in Form einer nostalgischen Erinnerungskultur zurückzubleiben (vgl. tfactory 2009).

 

Eine wichtige Eigenheit, die den postmodernen jugendkulturellen Gruppen anhaftet, ist, wie schon anhand der Fußballszene gezeigt, ihr weitgehend auf eigene Bedürfnisse bezogener Zugang zur Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist für Jugendliche kein Selbstzweck, nichts Höheres, „das über den Individuen steht, sondern das Mittel dieser Individuen, eben solche Individuen vollständig sein zu können“ (Scholz 2008: 28). Posttraditionale Gemeinschaften sind als lose geflochtene Netzwerke in erster Linie dazu da, die Interessen des Einzelnen zu befördern, und haben dementsprechend einen relativ geringen Verpflichtungscharakter. Der Einzelne bleibt innerhalb solcher Netzwerke relativ ungebunden und damit handlungsfähig in Bezug auf die vielfältigen anderen Optionen, die das Leben in einer postmodernen Gesellschaft bietet.

Freizeitinteressen von Jugendlichen

Neben den gemeinsamen Unternehmungen mit FreundInnen in informellen szenischen Netzwerken dominieren in der Jugendkultur Freizeitformen, die mit der Nutzung von Medien zusammenhängen. Es sind diese das Hören von Musik und die Nutzung von Fernsehen, Videos und DVDs, Kino und Internet, die die Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 18 Jahren am meisten interessieren und fesseln. Aufgrund der Medienpalette, die den Alltag der Jugendlichen dominierend beeinflusst, muss die These „Freizeit von Jugendlichen ist Medienzeit“ aber modifiziert werden. Genauer gesagt ist Jugendfreizeit Bildmedienzeit. In unseren von Bildmedien bestimmten Jugendkulturen ist alles Ästhetische, alles sinnlich Unmittelbare von dominanter Bedeutung für das Denken und Handeln. In einer Welt, die vom Bild beherrscht wird, werden insbesondere die jungen Menschen mehr und mehr zu ästhetischen Wesen. Manch einer behauptet sogar, dass Jugendliche mit den Augen denken. Alles Sichtbare hat für sie bei Entscheidungen und Wahlakten des Alltags größte Relevanz. Nicht Diskurse und Argumentationen stehen im Mittelpunkt, sondern die Art und Weise, wie die Dinge arrangiert, verpackt, in Bilder übersetzt sind. Außerhalb der Arbeitswelt und der Bildungsinstitutionen möchte die Mehrheit der Jugendlichen nicht als rationales Wesen angesprochen werden, sondern unmittelbare ästhetische Lust erleben.

 

Die Musik ist ein Schlüsselbereich des jugendlichen Freizeiterlebens. Große Teile der Freizeitaktivitäten von Jugendlichen sind rund um musikalische Erfahrungen gruppiert. Musik ist für Jugendliche ein relevantes Verständigungs- und Ausdrucksmedium (vgl. Müller-Bachmann 2002: 121). Mit Hilfe der Musik können nicht nur eigene Gefühle und Befindlichkeiten reguliert werden, sie eröffnet auch die Möglichkeit zu demonstrieren, wie man sich fühlt, wer man ist und zu welchen lebensstilistischen Strömungen und Gruppen man sich zugehörig fühlt. Wesentlich für die Bedeutung der Musik in der jugendlichen Freizeitkultur ist ihre Beschaffenheit als weitgehend nicht-diskursives, ästhetisches Medium. Musik erzeugt Stimmungen, richtet sich unmittelbar an die Sinne. Musik wird gefühlt und verstanden. Musik versucht nicht zu erklären. Gerade dadurch weist Musik eine hohe Kompatibilität zu den postmodernen Jugendkulturen auf, die sinnliche Kulturen des Empfindens und des Verstehens sind. Wie die Musik argumentieren sie nicht, sondern sie beschränken sich darauf, Stimmungen zu erzeugen und in Umlauf zu bringen.

Musik ist ein flüchtiges, ereignishaftes und zudem emotionales, ja irrationales Medium. Sie begünstigt emotionale Begegnungen, schafft Anschlussfähigkeiten über reale und rationale gesellschaftliche, politische, soziale etc. Grenzen hinweg. „Die durch Musik transportierte Emotionalität, die gleichzeitig ggf. die individuellen Gefühle der einzelnen Jugendlichen verstärkt oder sie kanalisiert, und die Einstellungsmuster zu ganz unterschiedlichen Themenkreisen, befähigen den einzelnen Jugendlichen, einen Anschluss an die Gefühle und Einstellungen anderer Jugendlicher zu finden.“ (Ebd.: 126)

Man kann sagen, dass die Musik das emotionale – und damit ein äußerst relevantes und wirksames – Bindungsmittel der Jugendkulturen ist. Der Musiknutzung liegen sowohl soziale als auch individuelle Motive zugrunde. Auf der individuellen Ebene benutzen Jugendliche Musik zur Modulation und Kontrolle ihrer Gefühle, auf der sozialen Ebene wird Musik verwendet, um sich jugendkulturell zu positionieren, um sich in bestehende Lebensstilgruppen zu inkludieren oder sich von diesen abzugrenzen.

Perspektive – die Zukunft der Jugendfreizeit

Denkt man über die Zukunft der Freizeit von jungen Menschen nach, so kommt uns als Erstes die zunehmende Bedeutung des kompensatorischen Charakters des Freizeitlebens in den Sinn. Mehr denn je wird, bei gleichbleibend steigendem Druck in den Bildungsinstitutionen und in der Arbeitswelt, der Freizeitgestaltung die Aufgabe zukommen, für den notwendigen Druckausgleich zu sorgen. Die Freizeit wird damit für die Reparatur der in den Bildungsinstitutionen und der Arbeitswelt erzeugten Schäden funktionalisiert. Wie die Öko-Industrie wandelt sich auch die Freizeitindustrie mehr und mehr zu einem Wirtschaftszweig, in dem mit der Behebung von Schäden Profit gemacht wird, die unmittelbare Folgen des marktwirtschaftlichen Konkurrenz- und Leistungssystems sind. Nachdem in Bildungseinrichtungen und in der Arbeitswelt die Menschen in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtig werden, werden sie im Anschluss daran von der Wellness-, Therapie- und Pharma-Industrie in Empfang genommen, um wieder auf Vordermann gebracht zu werden. So gelingt es dem marktgesellschaftlichen System sogar, mit Hilfe seiner Destruktivkräfte Profit zu machen.

 

Die Kolonialisierung der Zivilgesellschaft und der lebensweltnahen Non-Profit-Strukturen, und damit auch weiter Teile der Freizeit der Menschen, durch die Ökonomie wird weitergehen, ganz in dem Sinne, wie Heitmeyer diesen Prozess mit dem Begriff der „Ökonomisierung des Sozialen“ (vgl. Heitmeyer 2007) zu fassen versucht. Nur wird es nicht bei der Infizierung und Modifizierung der Kultur der sozialstaatlichen Institutionen durch Werte der Ökonomie wie Nützlichkeit, Verwertbarkeit etc. bleiben Die Tendenz geht in die Richtung, dass Non-Profit-Strukturen durch Profit-Strukturen ersetzt werden.

Ein Beleg dafür ist, dass sich im Bereich der Markenkommunikation und Markenführung so etwas wie eine „kommerzielle Diakonie“ herauszubilden beginnt. Kommerzielle Diakonie bedeutet, dass Marken durch die Verwendung einer „spezifischen Semantik der Seelsorge“ suggerieren, dass sie nicht nur postmoderne Sinnquelle sind, sondern sich nun darüber hinausgehend auch als aktive Dienstleister der Seelsorge und der gemeinschaftlichen Betreuung zu positionieren beginnen (vgl. Hellmann 2011: 137f.). Ein Beispiel für eine solche Markeninszenierung ist die Marke „Weleda“. Weleda inszeniert sich als anthroposophisch geprägtes Unternehmen, „das zahlreiche naturnahe, tierversuchsfreie Produkte für Körperpflege und Selbstmedikation anbietet und seine Selbstdarstellung mit einer gehörigen Portion Spiritualität unterlegt“ (vgl. ebd.: 139).

In unmittelbarer Konkurrenz zu traditionellen Formen der Jugendarbeit werden in Zukunft verstärkt die so genannten „brand communitys“ treten. Diese stellen mehr oder weniger aufwändig gepflegte Beziehungsnetzwerke zwischen Intensivverwendern spezifischer Markenprodukte dar (vgl. ebd.: 159). Insbesondere Marken, die wichtige Player auf den Jugendmärkten sind, arbeiten bereits jetzt mit solchen Community-Konzepten und investieren viel Geld in sie. Um nur einige zu nennen: Apple, Red Bull, Vesper, Saturn.

Eine „brand community“ hat den Zweck, besonders treue Kunden mit einer starken emotionalen Bindung an die Marke in ein Netzwerk einzuschließen. Zusammengehalten wird die Community durch die kollektive Identität der Markenuser, spezifische Rituale und Traditionen sowie durch eine spezielle Form gelebter Gruppensolidarität. Die Gruppensolidarität zeigt sich praktisch vor allem dann, wenn es um das „assisting in the use of the brand“ geht, d. h. wenn sich die Mitglieder bei der Verwendung der Produkte einer bestimmten Marke gegenseitig unterstützen, bei Betriebsproblemen, Pannen und anderen Schwierigkeiten, bei denen das Verfügen über spezifisches Fachwissen notwendig ist (vgl. ebd.). Nicht unwichtig dabei ist, dass sich die Kunden der Marken in ihren Community-Netzwerken unentgeltlich gegenseitig helfen, d. h. dass Teile des Kundenservice von den Marken an die User ausgelagert werden. Von den dadurch sinkenden Support-Kosten profitiert die Marke.

Walter Benjamin hat einmal den Kapitalismus mit einer Religion verglichen. Er formulierte: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“ (zitiert nach ebd.: 141) Ganz offensichtlich zeigen sich diese Parallelen zwischen Religion und Kapitalismus exemplarisch am Phänomen der „brand communitys“. Sie sind als Formen einer postmodernen kommerziellen Diakonie erfolgreich, indem sie über Netzwerkstrukturen Hilfsdienste vermitteln, die früher einmal von religiösen Gemeinschaften gegenüber der Gesellschaft erbracht wurden: soziale Dienste, Seelsorge und das Organisieren von Gemeinschaft. Wohl ein durchaus bemerkenswerter Beweis für das Marxsche Wort von der Gier des Marktes, die nicht einmal vor dem Heiligsten zurückschreckt, wenn es um den Profit geht. Und so wird sich auch die Jugendfreizeit immer mehr in den Einflussbereich der Ökonomie verlagern, dorthin, wohin sich gegenwärtig alles zu verlagern scheint. Posttraditionelle Formen der Vergemeinschaftung und Netzwerke mit großer Offenheit und geringem Verbindlichkeitsgrad, die unter der Kontrolle von kommerziellen Marken stehen, werden wohl die Dominanten der zukünftigen Freizeit der Jugend sein.