Musikstunden
Come face the music
Come taste the wine
Hear them preach
Then everything is fine
Mrs. Sigg war ebenso wie ihr Mann Hans eine ausgezeichnete Musikerin. Sie war eine begabte Cellistin, aber ich glaube, sie konnte fast jedes Instrument spielen. Sie gab Blockflötenstunden in ihrem Haus, und da sie eine gute Freundin der Familie war, wurde ich zu wöchentlichen Musikstunden zu ihr geschickt. Meist waren noch zwei oder drei andere Schüler da. Sie zeigte uns, wie wir die Instrumente halten mussten, wie wir unseren Atem einsetzen sollten und dass die richtige Körperhaltung „gerade und leicht vorgebeugt“ war. Am besten gefiel mir an Mrs. Sigg die Art, wie sie meinen Namen aussprach: „Gwooophrie!“, sagte sie mit einem Augenzwinkern und ihrem schweren Schweizer Akzent. Ich lernte, dass ich die Bässe durch die Vibrationen des Fußbodens fühlen konnte, und so war es einfach, den Takt zu halten. Die Schwierigkeit für mich war, dass ich nicht die Feinheiten eines Tons hören, daher nie ein Instrument stimmen oder meine eigene Lautstärke erkennen konnte. Ich spielte zwar Musik, aber sehr schlecht.
Mrs. Sigg wusste von meinem Gehörschaden, sprach immer laut mit mir und hielt Augenkontakt. Sie war auch nicht zögerlich im Umgang mit mir und schrie mir oft Anweisungen ins Ohr. Irgendwie schaffte ich es, geradeso die Töne des Instruments zu hören oder eigentlich die Schwingungen durch meine Zähne zu fühlen. Es machte mir Spaß, und anders als die meisten Kinder übte ich auch genug, um ein bisschen besser zu werden, obwohl ich es natürlich aufgrund meines Gehörs nie zu besonderer Meisterschaft brachte. Zusammen mit einem anderen Mädchen aus Mrs. Siggs Klasse musste ich sogar vor der versammelten Gemeinde bei dem Weihnachtsspiel in der St. Luke’s Lutheran Church spielen. Wir spielten „Stille Nacht“, nach den Anfangszeilen setzte die Orgel in voller Lautstärke ein.
Später spielte ich in der Schulband Saxophon, was nicht schwer war, weil ich die Fingersätze schon von der Blockflöte her kannte. Während der gesamten High School spielte ich Sax und war sogar in der Homestead High School Marching Band, der „flottesten Band im Westen“. Ich glaube, meine Rettung war, dass ich durch meinen Hörschaden ein gutes Gefühl für Takt und Rhythmus entwickelt hatte, denn ich konnte den Beat durch den Boden spüren. Immer wenn Mrs. Siggs leicht auf den Boden klopfte, konnte ich die Vibrationen fühlen. Abgesehen von diesem Talent spielte ich sicher ziemlich schlecht, aber vielleicht hatten die Leute auch mehr Geduld mit mir. „Schau, das taube Kind spielt was“, konnte ich von den Lippen einer Person einmal ablesen. Ich hatte meine Mutter und Mrs. Siggs in Verdacht, in dieser Hinsicht konspirativ tätig gewesen zu sein. Um das Argument zu unterstützen, dass ich durchaus an einer normalen Schule bleiben könnte, ließen sie mich Musik spielen. Das Tolle an Musikstunden ist, dass dort wenig gesprochen wird, außerdem sind Musiklehrer meist sehr laute und lebhafte Personen, die gern quer durch den Raum ihre Schützlinge anschreien. Das war eine große Erleichterung für mich, denn in den anderen Stunden musste ich meist ganz vorne sitzen, wo sich dann die Lehrer vor mir aufpflanzten und laut sprachen. Die meisten schrien dauernd aus nächster Nähe. Ich schätze durchaus die gute Absicht und bedaure die Stimmbeschwerden, die das verursacht haben muss, aber eigentlich hätte es mir mehr geholfen, ihre Lippen zu sehen. Wann immer sie sich zur Tafel drehten, war es unmöglich für mich mitzukommen, egal wie laut sie sprachen. Oft gab ich die perfekte Antwort auf eine ganz andere Frage als die gestellte. In den Musikstunden hingegen kam es selten zu dieser Frage-Antwort-Situation.
Meine Eltern meldeten mich auch für den Kinderchor der St. Luke’s Lutheran Church an. In einem Chor zu singen und Musikstunden zu haben, half mir zwar, die Welt der Töne bewusster zu erleben, gleichzeitig wurde mir aber auch stärker bewusst, wie viel mir fehlte.
Unsere Familie besuchte die St. Luke’s Lutheran Church, seit wir in Sunnyvale angekommen waren. Dann kam es zur großen Spaltung der Lutheran Church, und wir mussten die Gemeinde verlassen und zu einer anderen Lutheran Church in Los Altos wechseln. Wenn Sie jemals von offizieller Religion desillusioniert werden wollen, schlage ich Ihnen vor, sich mit der Spaltung zu befassen, die in den 1970ern in der Lutheran Church stattfand und die Missouri-Synod-Lutheraner betraf. Da wurde aufgebauscht, hinterhältig gedacht, kleinlich, rachsüchtig, politisch intrigiert und alles Mögliche getan, was nicht der christlichen Lehre entspricht.
In St. Luke’s wurden wir jeden Sonntag mit der außergewöhnlichen Sangeskraft der Familie von Pastor Mitchell überschwemmt. Die Tochter Claudia dröhnte auf der Orgel, während der Pastor vorne die Luft mit seiner großen, kräftigen Tenorstimme erfüllte. Sein Sohn Paul bearbeitete inzwischen den Synthesizer, dazu kam noch ein Chor mit Jugendlichen, einer mit Erwachsenen, ein Glockenchor und verschiedene andere Instrumentalisten. Das war ein wöchentliches musikalisches Großereignis, so als ob jede Woche eine Live-Performance von Sonny und Cher in der Kirche stattfinden würde. Wenn die Mitchells einen wirklich guten Tag hatten, konnte der Gottesdienst auch schon mal zwei Stunden dauern.
Während meiner Junior-High-School-Zeit verbrachte ich viel zu viele Stunden in der Kirche. Zwei Jahre lang ging ich montags und mittwochs zum Konfirmationsunterricht. Am Dienstag war Chorprobe, am Sonntag Sonntagsschule und anschließend Gottesdienst. Ich hasste das, dieselben alten Geschichten, wieder und wieder. Viele der Kirchenlieder und -texte schienen geschraubt und unklar, aber was sollte ich tun?
Ich glaube nicht, dass ich Pastor Mitchell je besonders aufgefallen bin – bis zu dem Zeitpunkt nach meiner Konfirmation, als ich zu ihm ins Büro ging: „Pastor Mitchell, letzte Woche wurde ich konfirmiert, ich bin jetzt ein erwachsenes Mitglied der Gemeinde. Heißt das, dass ich mit allen Rechten eines Erwachsenen an der Kirche teilnehmen kann?“
„Ja, natürlich“, sagte er, „du bist jetzt in Gottes Augen ein Erwachsener.“
„Okay, also will ich als erwachsenes Mitglied dieser Kirche das Evangelium vorlesen, so wie die anderen erwachsenen Mitglieder.“
Er sah mich fassungslos an. Die Lesungen aus dem Evangelium waren die Domäne der älteren Gemeindemitglieder und eine Ehre. Meine Motivation war allerdings weniger die Ehre, sondern eher die Hoffnung, die endlos langen Gottesdienste etwas weniger langweiliger für mich zu machen. Nach ein paar Wochen erhielt ich eine Robe und schritt in der Eingangsprozession neben Pastor Mitchell, setzte mich in eine Bank rechts (was ironischerweise fast identisch mit meiner Position in der Grundschule war). Im entscheidenden Moment des Gottesdienstes gab mir der Pastor ein Zeichen, ich stieg auf die Kanzel und schmetterte der erstaunten Gemeinde die Lesung entgegen. Ich konnte nicht einmal über die Kanzel schauen, so wurde ich auch nicht gesehen. Es war meine erste öffentliche Rede, und der Gottesdienst verging schneller. Fast ein Jahr lang hielt ich die Lesungen, dann wollten auch andere Eltern ihre Kinder lesen lassen. Ich lernte, dass ein öffentlicher Auftritt Selbstvertrauen und eine klare Aussprache braucht, und es machte mir Spaß.
Gehörgeschädigt oder taub und gleichzeitig schüchtern zu sein, schließt einander fast aus. Um in der Welt der Hörenden Erfolg zu haben, braucht man Mut und aktives Handeln. Wenn man schüchtern ist und sich nicht traut, jemanden zu bitten, lauter zu sprechen, hat man es schwer. Ich erfasste auch rasch, dass es besser war, ein Gespräch anzufangen, denn dann konnte ich es kontrollieren, wusste, worum es ging und konnte leichter folgen. Wenn ein Gespräch jedoch eine unerwartete Wendung nahm, konnte ich den anderen nicht folgen und war verloren. Je mehr ich sprach, umso mehr verstand ich. Ich hatte auch bald die Technik heraus, einen Satz mit einer Frage zu beenden und dann die Antwort von den Lippen zu lesen, was leichter ist, besonders, wenn es eine Ja/Nein-Frage ist. Der Schlüssel zu gutem Lippenlesen ist es, immer vorherzusehen, was der andere wahrscheinlich als Nächstes sagen wird. Das konnte man erleichtern, indem man an gewissen Punkten zu sprechen aufhörte. Ich erriet auch oft, was jemand vermutlich nicht sagen würde. Wenn aber etwas völlig Unerwartetes auftaucht, dann bin ich verloren. Also, um es kurz zu machen: Ich spreche zu viel. Das wird jeder bestätigen.
In der St. Luke’s Lutheran Church unternahm Pastor Mitchell große persönliche Anstrengungen, die Lehre auch den tauben Gemeindemitgliedern nahezubringen. Er stellte einen tauben Seelsorger an, er begann, eine taube Gemeinde zu versammeln, und bald führte er auch Kurse für Gebärdensprache für die anderen Mitglieder ein. Eine Teletype-Maschine wurde installiert, und bald gab es fünf bis zehn Leute, die oft von weit her zu unseren schrecklich langen und langweiligen Gottesdiensten fuhren, die jetzt für Gehörlose in Gebärdensprache übersetzt wurden. Der Übersetzer stand links von der Kanzel und übersetzte alles, sogar die Musik. Ich kann mich erinnern, wie alle Mädchen herumgerannt sind und „I love you“ und „Jesus is Lord“ gesungen und dabei die Handzeichen für die einzelnen Buchstaben geübt haben. Gebärdensprache war en vogue in St. Luke’s. Aber der taube Hilfspastor konnte Lippenlesen, und zwar extrem gut. Er hatte aber auch gelernt, auf sehr gutem Niveau zu sprechen. Die Gebärdensprache war mir unheimlich, und ich wollte sie nicht lernen, weil ich dachte, ich müsste sie dann auch verwenden. Ich gab es nach den ersten Versuchen auch bald auf.
Dr. Mansfield Smith war absolut dagegen, dass ich die Gebärdensprache lernte.
Er erklärte meiner Mutter einmal: „Mrs. Ball, wenn Sie zulassen, dass Geoffrey Gebärdensprache lernt, kann er nur mit Leuten kommunizieren, die ebenfalls die Gebärdensprache verwenden. Und das ist eine sehr, sehr kleine Gruppe. Außerdem braucht er das nicht.“
Seine Überlegungen waren nicht nur richtig, sondern sogar zutreffender, als er damals wissen konnte.
Mit dreizehn Jahren hatte ich ein Problem. Bei einem der unzähligen Hörtests, die ich machen musste, oder vielleicht auch bei irgendeiner Untersuchung stimmte etwas nicht. Um ernstere Probleme auszuschließen, wurde ich zu einer genaueren Überprüfung bestellt. Ich erhielt die volle Testbatterie, zusätzlich zu den üblichen audiometrischen Untersuchungen wurden Elektroden an meinem Kopf befestigt, und ich musste einige Stunden ruhig sitzen bleiben. Ich war wirklich auf einem Brett fixiert und angeschnallt, während ich gescannt wurde. Nach drei Monaten musste ich das Ganze nochmals durchlaufen.
„Mom“, sagte ich, „sie untersuchen mich auf Krebs, nicht wahr? Irgendwas Schlimmes.“
Meine Mom antwortete: „Man will nur sicher sein ...“
„Haben sie schon was gefunden?“
„Nein, bis jetzt ist alles okay.“
„Sag mir halt, wenn sich das ändert.“
Nach ein paar Monaten erhielt meine Mutter einen Anruf von einem der Ärzte, und ich fragte sie, ob ich Krebs hätte. Ich wusste zwar nicht genau, was das war, außer dass es sehr schlimm für mich wäre.
Aber sie sagte: „Nein, alles ist in Ordnung.“
Also schnappte ich mein Rad und fuhr in den Serra Park auf den hohen Hügel beim künstlichen Teich und schaute mich um. Es war ein unglaubliches Gefühl. Ich sagte mir, ich könnte nicht glücklicher sein, hier im Serra Park, lebendig und ohne Krebs. Ich kletterte meinen Lieblingsredwoodbaum so hoch hinauf, wie ich konnte. Ich war wirklich „On top of the world“ und so hoch, wie ich in Sunnyvale überhaupt kommen konnte.
Später nahm ich am Bell Choir der St. Luke’s Lutheran Church teil. Nach ein paar Wochen im Chor erhielt ich das beste Glockenset, obwohl es andere mit mehr Erfahrung gab. Das Tolle bei den Glocken war, dass es vor allem auf Rhythmus und Takt ankam. Sonst waren sie leicht zu spielen, denn ich musste mich nicht um die Lautstärke oder Atemtechnik kümmern, und stimmen brauchte ich sie auch nicht. Einfach den Takt halten und an der richtigen Stelle auf die Glocken schlagen, das war einfach. Jeden Monat fuhren wir zu Aufführungen in Spitälern, Einkaufszentren, Seniorenresidenzen oder anderen Kirchen. Wir hatten sogar zur Weihnachtszeit, als die Glocken sehr gefragt waren, einen zweitägigen Auftritt an der Stanford-Universität. Am Heiligen Abend waren wir auf Channel 7. Ich denke, zumindest sieben Leute haben auch zugeschaut.
Das Verständnis für Musik muss mir geholfen haben, die Wichtigkeit von besseren Verstärkern für Gehörgeschädigte zu erkennen. Heute spiele ich leidlich gut Gitarre, Saxophon, Blockflöte und Harmonika sowie noch einige andere Instrumente, die aber wirklich schlecht. Aber wenn ich singe, behauptet meine Frau, das sollte ich wirklich niemals tun, nie.
Als ich nach unserer Show in Stanford durch die sonnige, kalte Dezemberluft über den Campus ging, um meinen Glockenkasten zum Parkplatz zu tragen, fasste ich den Entschluss, dass ich eines Tages auch in Stanford studieren würde.