Freitag
Es war Freitagmorgen, 11.15 Uhr, und Johann Mühlbauer stellte sein Fahrrad vor der kleinen Drogerie in der Innenstadt ab. Er hatte den unteren Teil seines Gesichts mit einem Schal, den oberen mit einer Sonnenbrille und einer Wollmütze bedeckt und schwitzte dermaßen, dass er einen Kreislaufkollaps befürchtete. Er schloss sein Fahrrad an, betrat den Laden und zog die Liste hervor, die er in einer schlaflosen Nacht erstellt hatte.
Johann hatte sich gefragt, was passieren würde, wenn Hauptkommissar Reichel mit einem Haftbefehl vor seiner Haustür auftauchte. Die Antwort war nicht beruhigend gewesen. Ganz im Gegenteil. Es gab nicht eine einzige Zeugenaussage, nicht ein einziges Alibi, nicht ein einziges Indiz, das für seine Unschuld sprach. Nein. Er, Johann Mühlbauer, würde Opfer eines furchtbaren Justizirrtums werden und den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Elena wäre nur noch ein Traum in weiter Ferne.
Deshalb hatte Johann einen Plan ausgeheckt. Einen Fluchtplan.
Er bezweifelte stark, dass er auf der Arbeit gebraucht würde. Harald Moschik war gestern Abend von zwei Männern eingesammelt worden. Das bedeutete, es würden sich nur zwei Lehrlinge in der Küche des Schlosshotels befinden – und voraussichtlich die eine oder andere Leiche. Johann begann mit den Vorbereitungen zu seiner Flucht.
Er legte ein Päckchen Streichhölzer, ein Taschenmesser, eine Packung Kekse, eine Wasserflasche für Sportler und Taschentücher auf das Warenband der Kasse. Das sollte reichen, um sich einige Tage im Wald zurechtzufinden. Zu Hause würde er noch Butterbrote schmieren, eine Zahnbürste und warme Kleidung einpacken. Dann war er für die Wildnis gerüstet. Zumindest soweit er das überblicken konnte. Er wollte sich durch die Tscheppaschlucht, dann über den alten Loibl schlagen, um die Grenzstation zu umgehen. Es würde anstrengend werden. Aber am Ende des Passes wartete in Slowenien ein neues Leben auf ihn, frei von Mordanklagen und Gefängnis.
Verstohlen sah Johann sich um, aber er konnte weder die Polizei noch Harald Moschik entdecken. Die Verkleidung tat offenbar ihre Wirkung.
Er verließ die Drogerie, schloss sein Rad auf und fuhr, nicht ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, nach Hause. Um etwaige Verfolger abzuschütteln, nahm er einen Umweg. Wer wusste schon, hinter welchem Busch Harald Moschik steckte oder wo die Polizei ihre Spione sitzen hatte.
»Wo warst du denn so lange?«, überfiel ihn seine Mutter im Flur. Ihre Haare waren völlig zerzaust, ihre Augen rot geweint und ihre Bluse hatte sie verkehrt herum zugeknöpft.
»Ist alles in Ordnung? Ist irgendwas passiert?«
»Nein! Ja!« Seine Mutter war komplett durcheinander. »Du kennst doch das Drama mit Martin. Und dem Studienrat.«
»Martin ist ausgerastet, weil du ihn für den Studienrat abserviert hast.«
»Genau. Also Martin ist eh schon Geschichte.«
Wie recht sie damit hatte.
»Der Studienrat?«, fragte Johann.
»Ja, der Studienrat Friedrichsen und ich, wir hatten gestern … und heute Früh …« Sie schluchzte und Johann reichte ihr ein Taschentuch.
»Weißt du, wir haben uns doch gerade erst kennengelernt, da hat man eben etwas öfter Sex.«
»Mutter, bitte!« Das wollte Johann nun wirklich nicht hören.
»Entschuldige. Aber das ist wichtig für die Geschichte. Wir haben heute Morgen miteinander geschlafen.« Sie fing wieder an zu weinen.
»Und jetzt willst du den Studienrat nicht mehr?« Johann wurde nicht schlau aus seiner Mutter. Sie schüttelte den Kopf und schnäuzte sich.
»Viel schlimmer.«
Sie ging zu ihrem Schlafzimmer und stieß die Tür auf. Ein Mann lag auf dem Bett. Sehr nackt und sehr tot. Der Studienrat, nahm Johann an.
Johann seufzte und setzte sich neben die Leiche.
Seine Mutter verkroch sich im großen Sessel neben dem Bett und schluchzte: »Ich kann nichts dafür. Ich hab überhaupt nichts gemacht!«
Johann legte einen Arm um ihre Schultern und lächelte sie schief an.
»Ich weiß, ich weiß, Mutter. So was passiert.« Dann krempelte er die Ärmel hoch. »Fass mal mit an.«
*
Amalie Bachmaier fasste sich an den schmerzenden Kopf. Benommen sah sie sich im Raum um. Sie konnte sich nicht erinnern, ihr Schlafzimmer gestrichen zu haben. Ganz in weiß, wo sie es doch erst kürzlich gelb getüncht hatte. Wie merkwürdig. Amalie legte den Kopf schräg und dachte nach. Sie erinnerte sich bruchstückhaft an Harald Moschik und eine Menge Geld. Weshalb sie in diesem Zimmer war und unerträgliche Kopfschmerzen hatte, konnte sie sich nicht erklären. Außerdem war ihr so schlecht wie nie zuvor in ihrem Leben. Selbst nach der durchzechten Nacht, in der sie Karl Bachmaiers Frau geworden war, hatte sie nicht so gelitten.
Amalie wollte sich bewegen und stellte fest, dass sie ans Bett gezurrt war. Ein Tropf hing an ihrer rechten Hand. Sie ruckelte an den Fesseln und beobachtete, wie die klare Flüssigkeit hin und her schwappte. Langsam erwachte ihr Gehirn aus seinem Dämmerzustand. Sie war im Krankenhaus. Wie um alles in der Welt war sie hierher gekommen?
»Guten Morgen, wie geht es uns denn?« Eine gutgelaunte Krankenschwester betrat das Zimmer.
»Mmpf.«
»Na, das wird schon wieder. Sie werden sehen, in ein, zwei Tagen sind Sie ganz die Alte.«
»Wann kann ich nach Hause?«, fragte Amalie. Sie dachte einen Augenblick nach. »Warum bin ich überhaupt hier?«
Die Schwester machte ein betrübtes Gesicht. »Eine starke, junge Frau wie Sie, die ihr Leben systematisch zerstört.« Sie schüttelte den Kopf. »Frau Bachmaier, das können wir nicht zulassen. Zuerst bleiben Sie ein Weilchen bei uns.«
»Ein Weilchen?«
»Nur ein paar Tage, bis wir sicher sein können, dass Ihr Kreislauf stabil ist und Ihre inneren Organe keine bleibenden Schäden davongetragen haben.«
»Bleibende Schäden?« Amalie war entsetzt.
»Sie haben Ihrem Körper einiges zugemutet.« Sie blickte Amalie ernst an. »Raubbau haben Sie an Ihrem Körper getrieben, Frau Bachmaier.«
Ach du liebe Güte. Das hatte ihr Hausarzt Dr. Petutschnig auch gesagt!
Die Schwester lächelte freundlich und legte eine Hand auf Amalies Arm. »Danach werden Sie in die Suchtabteilung verlegt. Eine Entziehungskur wird Ihnen guttun und Sie werden sich wie neugeboren fühlen.«
Suchtabteilung? Entziehungskur? Amalie hatte keine Ahnung, wovon diese Frau sprach. Sie wusste nur, dass sie dieselben Formulierungen wie Dr. Petutschnig verwendete. ›Raubbau an Ihrem Körper‹, ›Nicht ohne Folgen für Ihre Organe‹, ›Frau Bachmaier, ich empfehle Ihnen dringend, Ihren Zuckerkonsum einzuschränken‹. Deshalb hatte sie auf Süßstoff umgestellt.
Oh Gott. Der Zucker. Amalie bekam einen trockenen Mund. Das war es. Sie hatte die letzten Tage so viel Zucker in ihren Tee getan und zu allem Überfluss ihren geheimen Vorrat an Topfenstrudel gegessen. Kein Wunder, dass sich die Ärzte Sorgen machten. Ihre Zuckerwerte waren bestimmt in astronomische Höhen gestiegen.
Deshalb hatte man sie festgebunden. Deshalb wollte man sie auf Diät setzen. In eine Zuckerentzugsklinik schicken. Amalie fing an zu schluchzen.
»Na, wer wird denn gleich weinen«, versuchte die Schwester sie zu beruhigen, doch die Tränen waren nicht aufzuhalten.
Amalies Herz krampfte sich zusammen. Dann durchfuhr es sie wie ein Blitz. Die Mafiosi! Sie wollte sich aufsetzen, doch die Gurte hinderten sie daran.
»Wo sind meine Sachen?« Hatte sie das Geld etwa im Auto gelassen?
»Keine Sorge, Frau Bachmaier, Ihre Reisetasche ist hier.« Lächelnd zeigte die Schwester auf die Tasche neben dem Kopfende des Bettes.
»Außerdem haben wir etwas Geld in Ihrem BH gefunden.« Die Schwester sah Amalie missbilligend an. »Ich habe es in Ihre Hosentasche gesteckt.«
Amalie atmete auf. Immerhin war das Geld gerettet. Doch was sollte sie gegen ihre Verfolger unternehmen? Ans Bett gefesselt, hilflos und auf Zuckerdiät gesetzt, war sie leichte Beute. Es würde nicht lange dauern, bis die Verbrecher von ihrem Unfall erfahren würden. Vielleicht war der Klinikchef sogar von der Mafia geschmiert. Falls sie sterben sollte, weil ihr jemand Gift spritzte oder ein Kissen auf den Kopf drückte, würde es niemals publik werden. Aufgrund ihrer Unvorsichtigkeit würden die Ärzte es unter natürlichem Organversagen verbuchen. Warum hatte sie nur so viel Zucker in ihren Tee getan?
Amalie schluchzte noch einmal leise, dann zog sie entschlossen die Nase hoch. Sie musste hier raus. Das war ihre einzige Chance auf ein Überleben.
*
Hauptkommissar Fritz Reichel rechnete sich keine Chancen auf einen guten Tag 135 aus. Tag 135 hatte genau so schlimm begonnen, wie Tag 136 aufgehört hatte.
»Der Bauer Moser und sein Schwein Hildegard.« Warum musste Huber ihn daran erinnern? Reichel verfluchte das Pflichtbewusstsein seines Assistenten. Konnte er nicht einmal etwas vergessen?
Nachdem Reichel keine Ausrede parat hatte, musste er jetzt wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Mürrisch stieg er neben Huber ins Auto.
»Der soll das Tierheim anrufen, dieser Verrückte«, beschwerte Reichel sich. »Unser Drogenskandal weitet sich immer mehr aus, der Gammelfleisch-Bachmaier ist tot oder auf der Flucht, ganz zu schweigen von seiner zugedröhnten Dealer-Gattin, und dann kommt auch noch dieser dämliche Bauer mit seinen Schweinen an!« Reichel drückte aufs Gas. Wenn er sich schon darum kümmern musste, dann wollte er die unerfreuliche Befragung wenigstens schnell hinter sich bringen. »Er sollte überhaupt besser auf sein Viehzeug aufpassen«, meckerte er weiter. »Ist der Mann Bauer oder was? Der wird doch wohl wissen, wie man mit Tieren umgeht.« Offenbar nicht, sonst würde er die Lendnitzer Polizei nicht ständig auf Trab halten, korrigierte Reichel sich selbst.
Beim Bauernhaus angekommen, marschierte Reichel mit großen Schritten auf die Haustür zu. Huber hielt sich im Hintergrund.
Reichel lauschte einen Moment und drückte kurz darauf die Klingel. Es war nichts zu hören, weder vom Bauern noch von seiner Frau. Vor allem die Abwesenheit der lauten Frau irritierte Reichel. Er wusste nicht, ob er erleichtert aufatmen oder alarmiert nach ihrer Leiche suchen sollte. Der Streit beim letzten Mal war heftig gewesen. Er entschied sich dennoch für das Aufatmen. Einen Mord im Bauernhaus konnte er zusätzlich zu allen anderen Schwierigkeiten nicht auch noch gebrauchen.
»Ist Ihnen aufgefallen, dass hier ständig jemand verschwindet?«, bemerkte Huber unvermittelt.
»Wie bitte?« Reichel drückte erneut auf die Klingel. Der Bauer schien schwerhörig zu sein.
»Angefangen hat es mit Elfriede, dem Schwein. Dann war Karl Bachmaier nicht aufzufinden, jetzt haben wir einen verschwundenen Polizisten und ein weiteres entlaufenes Schwein. Und die Bauersfrau …« Huber blickte sich um.
»Wird in der Stadt sein, Einkäufe erledigen. Grüß Gott, Herr Moser.« Reichel wechselte schnell das Thema, als der Bauer die Tür öffnete.
»Sie vermissen ein Schwein, richtig?« Reichel war entschlossen, die Befragung kurz, knapp und sachlich zu halten.
»Hildegard«, heulte der Bauer auf. »Wos für a Unglück! Zerst Elfriede und jetzan a no de Hildegard.« Er war offenbar entschlossen, die Befragung ausgedehnt, emotional und bizarr zu halten. Reichel folgte ihm ins Wohnzimmer, wo Moser in einigen Unterlagen kramte.
»Sie brauchn doch sicha a Beschreibung.« Er holte ein Fotoalbum hervor. »Des bin i mit da Hildegard bei ihra Geburt.« Er gab das Foto an Huber, der eine Grimasse schnitt. »Des do ist de Hildegard als stolze Muata. Ihr erster Wurf.«
»Mmmhh«, brummte Reichel und nahm das Foto entgegen.
»Und do is de Hildegard letzte Wochn im Hof. Sie hot imma so viel Spaß ghobt beim Umatolln.«
»Ja, das ist hilfreich, Herr Moser.« Reichel gab dem Bauern das Foto zurück.
»Wissens, se hot sich imma vernochlässigt gfühlt.« Moser wischte sich über die Augen. »Elfriede woar mei Nummer ans, immer scho. I glaub, des hob i die Hilde amol zu oft spürn lassn.« Traurig besah Moser das Fotoalbum.
»Ich verstehe«, sagte Reichel, der überhaupt nichts verstand oder lieber nicht verstehen wollte.
»Wie ist sie denn abgehauen? Ich meine, haben Sie vielleicht irgendwelche Anhaltspunkte? Wo könnten wir zu suchen anfangen?«, griff Huber hilfreich ein.
Die Miene des Bauern verfinsterte sich. »Und ob i des hob! Des verfluchte Miststück, mit dem i verheirat bin. Sie hot scho wieder net aufpasst. Und wenn i diesen Bersch in die Finger kriag, der des Tor aufgmocht hot, dem Gnade Gott!«
»Herr Moser, Sie sollten besser keine Drohungen gegen andere Personen in Gegenwart von Polizisten aussprechen.«
»Recht hobts.« Der Bauer sackte in sich zusammen. »Oba Elfriede, mei Augenweide, und Hildegard, mei Sonnenschein. Bade fort.« Schluchzend schlug er sich die Hände vor das Gesicht.
Reichel hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und jemand hereinkam.
Der Bauer sprang auf. »Du brauchst di hier goar net mehr blickn lossn!« Er lief in den Flur, wo er von seiner Frau ebenso freundlich begrüßt wurde.
»Lass mich bloß in Ruhe, Bernhard. Ich hab keinen Bock mehr auf dich und dein Drama.«
Nun gut, so viel zu Reichels Theorie, dass der Bauer seine Frau erschlagen hatte. Eine Sorge weniger.
»Ah jo? Auf wos host denn Bock? Aufn Johann? Drauf, meine Schwein in de Wüldnis jogn?«
»Lass Johann da raus. Er hat damit überhaupt nichts zu tun.«
»Er hot des Tor offn glossen! Wegen erm is de Hildegard verschwunden! Und de Elfriede a!« Moser folgte seiner Frau die Treppe hinauf und Reichel blickte zu Huber. Das war die perfekte Gelegenheit, die Befragung zu beenden. Reichel machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür und Huber nickte. Leise standen die beiden Polizisten auf und schlichen nach draußen. Genau in dem Augenblick stürmte der Bauer wieder nach unten.
»Des hob i vergessen«, hielt er sie auf. »Dieser Johann. Ungefähr 20, groß, dünn, blonde Haare. Anzeigen mecht ich erm.« Er drehte sich zur Treppe und schrie nach oben: »Ha! Sigst? Hob i da jo gsogt! Dein Johann wird verhoftet!«
»Nun, Herr Moser, so einfach geht eine Festnahme auch wieder nicht«, sagte Reichel. »Natürlich werden wir unser Möglichstes tun«, fügte er hastig hinzu, um den Bauern zu beschwichtigen. Moser sah wütend aus und Reichel wollte verhindern, dass er wieder aufbrauste und das Gespräch künstlich in die Länge zog. »Johann, groß, blond, um die 20. Notiert.«
»Guat. Ihr kennt mi gern zu ana Gegenüberstöllung einlodn. Und Fingerabdrück sind sicha a an Haufn am Hof zu finden.«
»Ja. Danke, Herr Moser. Wir melden uns dann.« Reichel wollte nur noch weg. Zurück aufs Revier, zurück zum Drogen-Fall und der verrückten Bachmaier. »Danke, wir haben alles, was wir brauchen. Wir melden uns bei Ihnen.« Er ging zur Tür, Huber folgte ihm dicht auf den Fersen.
»Bald ist Ihre Hildegard wieder bei Ihnen«, versprach er dem Bauern. »Elfriede auch.«
»Der Typ spinnt doch total«, murmelte er draußen.
»Die Beschreibung: Johann, groß, blond, dünn. Kommt die Ihnen bekannt vor?«, fragte Reichel. Er konnte sehen, wie es bei Huber klickte.
»Der Lehrling!«
Reichel nickte. »Wir sollten ihm einen Besuch abstatten und ihn vor dem verrückten Bauern warnen. Der Junge hält sich in Zukunft besser vom Hof fern. Dieser Moser scheint gewalttätig werden zu wollen.«
»Wenn es um seine Schweine geht, macht er vor nichts halt.«
»Eben. Ich habe keine Lust, einen wirklichen Mordfall an den Hacken zu haben. Also los, Sie haben doch die Adresse, oder? Wo ist der junge Mann zu Hause?«
*
Glücklich saß Natalie zu Hause in der Küche ihrer Großmutter und schälte Kartoffeln. Draußen konnte sie die Hühner gackern, die Drau leise rauschen hören. Es war schön, wieder daheim im Rosental zu sein. Ihr Hof lag abseits und wenn Natalie aus dem Fenster blickte, konnte sie die Karawanken im gewohnten Winkel sehen. In Lendnitz hatten sie anders ausgesehen, fast fremd.
Ein Strauß gelber Tulpen stand auf dem Küchentisch. Ihre Großmutter hatte geweint, als Natalie sie ihr überreichte.
»Es ist so schön, dich wieder hier zu haben«, sagte ihre Oma und schnäuzte sich lautstark in ein blümchenbesticktes Taschentuch. »Diese großen Städte sind wie Sodom und Gomorra! Das ist kein Ort für ein anständiges junges Mädchen.«
Natalie nickte und wies ihre Oma nicht darauf hin, dass Lendnitz mit 9.000 Einwohnern kaum als große Stadt bezeichnet werden konnte. Ob sie ein anständiges Mädchen war, wollte sie auch nicht erörtern.
»Frau Stein war wirklich nett. So selbstbewusst und energisch.« Natalie stützte ihr Kinn auf die Hände. »So wäre ich auch gern.« Frau Stein hätte sich von Martin nicht herumschubsen lassen. Frau Stein hätte ihr Leben in den Griff bekommen. Nicht so wie die kleine, dumme Natalie, die vor lauter Angst nicht aus und nicht ein wusste und dann anonym bei der Polizei anrief.
»Zuerst dachte ich, die kann mir nie helfen. Aber dann, Mensch, Oma, ich sag dir, die Frau ist klasse!« Natalie lächelte bei dem Gedanken an die kleine alte Frau.
Ihre Träumereien wurden unterbrochen von einem lauten »He! Jemand zu Hause?«
»Oh nein! Das hat uns gerade noch gefehlt!« Natalies Großmutter blickte bestürzt zum Fenster. Ein großer Mann in Anzug und Lackschuhen stand im Hof.
»Wer ist denn das?«, fragte Natalie. Sie hatte jahrelang mit ihrer Großmutter auf dem Hof gelebt. Sie kannte jeden, der vorbeikam. Ihre Oma blickte verlegen zur Seite.
»Das ist Herr Weidenreich aus Ferlach.«
»Oma!«
Die Großmutter seufzte. »Er hat ziemlich viel Geld. Ihm gehören die meisten Ländereien hier in der Gegend.«
»Und was hat das mit uns zu tun?« Natalie kniff misstrauisch die Augen zusammen.
»Er hat deinem Großvater einen kleinen Kredit gewährt. Das war noch vor deiner Zeit.« Sie lächelte traurig. »Nach dem großen Sturm 1983 mussten wir das Dach neu decken und den Stall renovieren. Wir hatten kein Geld und keine Sicherheiten. Der einzige, der Mitleid mit uns hatte, war Weidenreich. Er gab uns den Kredit und um die Geschichte kurz zu machen: Jetzt will er 30.000 Euro. 20.000 davon sofort. Keine Raten, keinen Aufschub.«
»20.000?«
Die Großmutter nickte unglücklich. »Und dann will er noch weitere fünf Jahre eine Ratenzahlung auf die fehlenden 10.000. Ich weiß nicht, wie ich das aufbringen soll. Weidenreich droht, uns den Hof wegzunehmen.« Tränen glitzerten wieder in ihren Augen, doch diesmal waren es keine Freudentränen.
Natalie straffte sich und dachte an Frau Stein. Es war Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Sie war mit einem Psychopathen zurechtgekommen, sie würde sich von einem Großgrundbesitzer nicht einschüchtern lassen.
»Weißt du, Oma, lass mich das machen«, sagte sie und trocknete sich die Hände an der Schürze ab. »Geh du dich um die Hühner kümmern, ich rede mit dem Weidenreich.« Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ sie ihre verdutzte Großmutter stehen und ging nach draußen.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie den Großgrundbesitzer.
»20.000 wären einmal ein Anfang«, sagte Weidenreich und Natalies Lächeln wurde breiter.
»Kein Problem. Hätten Sie gern einen Scheck oder möchten Sie es in bar mitnehmen?«
»Was?« Der Mann sah sie verdutzt an.
»Sie müssten mir nur eine Quittung geben«, sagte Natalie.
»Ja, woher haben Sie denn so viel Geld? Ich habe doch mit Ihrer Großmutter gesprochen, sie hat mir geschworen, keine tausend Euro auf dem Konto zu haben.« Verwirrt folgte Weidenreich ihr in die Küche. Ihre Großmutter war glücklicherweise schon bei den Hühnern.
»Nehmen Sie solange einen Kaffee«, sagte Natalie liebenswürdig und ging nach oben, um ihre Handtasche zu holen. Sie zählte Weidenreich 30.000 Euro bar auf den Tisch und ihm blieb der Mund offen stehen.
»30.000 jetzt und in bar. Der Hof gehört uns, Sie haben keinerlei Ansprüche.«
»Keine Ansprüche?«
»Keine.«
Er blickte auf das Geld. Natalie konnte sehen, wie es in ihm arbeitete.
»Wissen Sie«, begann er mit einem verschlagenen Lächeln, »ich habe den Betrag ja nur deshalb so sehr heruntergesetzt, weil ich wusste, dass Ihre Großmutter kein Geld hat. Aus reiner Liebenswürdigkeit sozusagen. In Wirklichkeit schuldet sie mir natürlich viel mehr und da Sie hier offenbar im Lotto gewonnen haben …«
»Wie viel?«
»Nun ja, vier…«, setzte Weidenreich an und Natalie griff in ihre Handtasche, »…undsiebzig«, verbesserte der Großgrundbesitzer sich angesichts der weiteren Geldbündel.
Natalie sah auf. Ihr schwante etwas. »Sie denken sich das gerade aus, nicht wahr?« Ihre Augen wurden schmaler. Erst Martin, dann ihre Kunden, schließlich der Psychopath. Sie hatte genug von Männern, die sie für dumm verkaufen wollten. Ihre Stimme wurde lauter. »Sie sind geldgierig und hinterhältig und wollen meine Großmutter ruinieren, nicht wahr? Sie sind das, was man gemeinhin einen Lügner und Betrüger nennt, nicht wahr?«
»Tja, Schätzchen, die Geschäftswelt ist hart.«
Schätzchen. Das hatte Martin immer zu ihr gesagt. Schätzchen. Das hatte sie von ihren Kunden gehört.
Natalie entschied, dass sie es hasste, Schätzchen genannt zu werden. Sie dachte an Frau Stein. Manchmal musste man nachhelfen, damit Unfälle passierten. Sie schob die Hand zum Herd. Ihr Griff um die gusseiserne Bratpfanne wurde fester.
*
Amalie Bachmaiers Entschluss hatte sich gefestigt. Sie hatte die letzte Stunde genutzt, um einen Plan auszuhecken. Eine Flucht aus dem Zimmer war unmöglich. Zum einen hinderten die Gurte sie an jeder Bewegung, zum anderen waren die Fenster vergittert.
Die penetrant fröhliche Schwester schien Wache vor der Zimmertür zu stehen. Amalie brauchte nur den Klingelknopf zu drücken, der neben ihrer festgebundenen Hand auf der Bettdecke lag, und zwei Sekunden später streckte die Krankenschwester den Kopf zur Tür herein und fragte: »Was wollen wir denn?«
Also hatte Amalie nachgedacht. Das ging erstaunlich gut. Ihr Kopf schien viel klarer, die Drohung von der Entzugsklinik spornte sie zusätzlich an. Sie wusste nun, was zu tun war.
Zufrieden mit ihren Überlegungen klingelte sie nach der Schwester.
»Ich müsste mal auf die Toilette«, sagte sie und machte ein unglückliches Gesicht.
»Oh natürlich, ich bringe Ihnen sofort eine Bettpfanne.« Die fröhliche Schwester wollte wieder verschwinden.
»Nein, bitte! Ich kann nicht hier im Zimmer«, flüsterte Amalie.
»Aber Frau Bachmaier!«
»Bitte. Ich verspreche Ihnen auch hoch und heilig, ganz schnell zu machen.« Amalie blickte unglücklich zur Seite.
Die Schwester dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß nicht recht«, zögerte sie. »Eigentlich sollte ich Sie nicht unbeaufsichtigt lassen.«
»Aber ich bin doch nur auf der Toilette. Was soll dort schon passieren?«, fragte Amalie.
Die Schwester gab nach. »Ich begleite Sie. Wenn irgendetwas ist, rufen Sie und ich bin sofort bei Ihnen.« Sie löste die Gurte um Amalies Hände und erklärte dabei: »Wissen Sie, ich mache das normalerweise nicht. Wenn das Wort Entziehungskur fällt, hauen viele Patienten ab. Aber ich denke, Sie haben eingesehen, dass es der richtige Weg für Sie ist, nicht wahr?«
Amalie nickte eifrig und die Schwester half ihr beim Aufstehen.
»Könnten Sie mir vielleicht noch meine Tasche geben?«
Alarmiert sah die Schwester auf.
»Da sind meine Frauenutensilien drin«, sagte Amalie so verlegen wie möglich.
»Oh, natürlich. Aber wir haben hier im Krankenhaus auch genug Binden.« Sie lächelte liebenswürdig.
Doch Amalie hatte sich die Tasche schon geschnappt und bewegte sich Schritt für Schritt aus dem Zimmer. Den Tropfständer hinter sich herziehend und die Schwester am Arm schlurfte sie über den Flur. Die Toiletten waren ein kleines Stück den Gang hinunter und ein Blick aus dem Fenster sagte Amalie, dass sie sich im ersten Stock befand. Es durfte eigentlich nichts schiefgehen.
»Ich warte dann hier«, erklärte die Schwester lächelnd und schob Amalie und den Tropf ins WC.
Amalie lächelte zurück, schloss die Tür hinter sich und öffnete das Fenster. Sie spähte hinaus. Perfekt. Direkt unter ihr befand sich das Vordach der Eingangshalle. Sie musste sich nur ein kleines Stückchen herunterrutschen lassen, dann landete sie sanft auf dem Glasdach. Von dort aus waren es bloß zwei Meter bis zu einer Buchsbaumhecke. Amalie sah sich in Gedanken schon in Freiheit.
Beherzt zog sie die Kanüle aus der Hand und klebte schnell das Pflaster darauf. Dann warf sie die Reisetasche hinunter auf das Glasdach und stützte sich mit der rechten Hand außen auf dem Fensterbrett ab. Innen zog sie das linke Knie nach, es folgten die linke Hand am Fensterrahmen und schließlich der rechte Fuß. Die ungewohnte Anstrengung verschlug ihr den Atem und Amalie musste eine Pause einlegen. Das Fenster war klein und sie kam nur hindurch, indem sie stark ihren Bauch einzog.
»Frau Bachmaier? Alles in Ordnung bei Ihnen?«, flötete die Schwester im Flur und Amalie schaffte es gerade eben so ein Keuchen zu unterdrücken. Ihre Flucht dauerte mittlerweile doppelt so lange wie geplant!
»Kleinen Augenblick noch, bitte!«, rief sie über die Schulter. Dann zwängte sie sich weiter durch die enge Öffnung. Mit hochrotem Kopf schaffte sie es schließlich, die Schulter- und Brustpartie durchs Fenster zu quetschen. Sie entschloss sich, eine kurze Atempause einzulegen.
»Sie brauchen ziemlich lange, Frau Bachmaier!«, nörgelte die Schwester von draußen und Amalie stimmte ihr aus vollem Herzen zu. So hatte sie sich die Sache nicht gedacht. Sie hatte gehofft, innerhalb einer, vielleicht zwei Minuten vor dem Haupteingang des Krankenhauses ein Taxi heranwinken zu können.
»Frau Bachmaier, ich muss Sie bitten, sich zu beeilen. Sonst muss ich nachschauen kommen.«
»Moment! Wirklich, nur einen Augenblick!«, rief Amalie verzweifelt und atmete aus. Das müsste sie doch eigentlich schlanker machen, dachte sie und schob sich einen weiteren Zentimeter vorwärts. Der Fensterrahmen schnitt ihr in die Hüfte und sie verlor den Halt auf dem äußeren Fensterbrett. Mit dem Oberkörper in Freiheit, dem Unterkörper noch auf der Krankenhaustoilette blickte sie nach unten.
»Mami, was macht die dicke Frau da oben?«
Ach du meine Güte, das hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Mami, schau doch mal, die Dicke da oben!«
Amalie wusste, warum sie und Karl keine Kinder hatten.
»Frau Bachmaier! Was machen Sie da drin?«
Amalie stemmte ihre Hände gegen die Fensterbank und quetschte sich einen weiteren Zentimeter in Richtung Freiheit.
»Mami, Mami, sie hat sich bewegt!«
»Frau Bachmaier! Ich komme jetzt rein!«
Die Schwester öffnete die Klotür.
»Um Himmels willen!« Sie stürzte sich auf Amalie und versuchte, sie am Fuß zu packen. In Panik trat Amalie wild um sich, ruderte mit den Armen, bekam mit der rechten Hand einen kleinen Vorsprung an der Mauer zu fassen und zog mit aller Kraft.
Ein Ruck ging durch das alte Bauwerk, der Fensterrahmen gab nach und Amalie fiel kopfüber durch das Glasdach und landete bäuchlings auf einem Topf mit Margeriten, den man zur Dekoration neben die Eingangstür des Spitals gestellt hatte. Benommen blickte Amalie auf die Scherben rings um sich herum.
»Frau Bachmaier, sind Sie wahnsinnig?« Die fröhliche Schwester wirkte gar nicht mehr fröhlich, als sie durch das gesplitterte Glasdach auf Amalie herunterschaute.
»Sicherheitsdienst! Pfleger!«
»Mami, ich glaube, der dicken Frau geht’s nicht so gut.«
Amalie stand schwankend auf und hielt die linke Hand vor die Stirn. Ein Glassplitter hatte ihr einen Kratzer auf der Stirn verursacht und Blut tropfte ihr in die Augen. Amalies Knie wurden schwach und sie setzte sich wieder in den Blumentopf. Vielleicht war ihr Fluchtversuch nicht die optimale Lösung gewesen. Vielleicht sollte sie zurück ins Krankenhaus gehen und sich verarzten lassen. Ihr rechter Arm tat weh, ihr Knie ebenfalls und der linke Fuß war bestimmt verstaucht. Gerade hatte sie beschlossen, sich von den beiden stämmigen Pflegern, die auf sie zugestürmt kamen, festhalten zu lassen, da schlug das Schicksal zu. So jedenfalls sah es Amalie. Dort hinten stand blass, in einem Krankenhausnachthemd und mit dickem Kopfverband, Harald Moschik am Zeitungsstand.
»Harald!« Wie von der Tarantel gestochen sprang Amalie auf, griff sich die Reisetasche und stürmte an den verdutzten Pflegern vorbei. Sie warf den Zeitungsständer um, packte Moschik am Arm und zerrte ihn mit Bestimmtheit hinter sich her.
»Hilfe!«, quiekte der Koch, als Amalie ihn mit sich riss, einem der beiden Pfleger einen linken Haken verpasste und ins nächste wartende Taxi sprang.
»Flughafen. Schnell. Und bevor Sie sich überlegen, mich denen da drinnen auszuliefern: Ich bin im Besitz von 250.000 Euro und nicht geizig. Das könnte der schönste Tag Ihres Lebens werden.«
*
Für Bernhard Moser war es der schlimmste Tag seines Lebens. Elfriede und Hildegard waren verschwunden, seine Frau war eine dumme Gans und die Polizei bestand aus einem Haufen blöder Trotteln. Zu allem Überfluss war heute die beschissenste Arbeit dran, die ein Bauer tun musste. Im wörtlichen Sinne. Bernhard Moser liebte seinen Beruf, nur auf eines hätte er gern verzichtet: auf das Auspumpen der Jauchegrube. Aber einmal im Jahr, meist im April, musste es gemacht werden, damit er die Gülle aufs Feld bringen konnte.
Das verschlechterte seine Laune zusätzlich.
Als er seine Frau um Hilfe gebeten hatte – er fand zumindest, dass ›Hilf mir gefälligst mit der Jauchegrube und räum deinen Nagellack aus dem Kühlschrank‹ eine Bitte war –, hatte sie ihm nur einen Vogel gezeigt und sich in aller Seelenruhe die Fußnägel lackiert.
Moser schimpfte auf dem Weg zur Grube vor sich hin. »Zu schen, sich dreckig zu mochn. Zu fein, de Schwein zu furtern. Wos hot se überhaupt an Bauern geheirot?« Bei dem Wort ›Schweine‹ fielen ihm Elfriede und Hildegard wieder ein und er spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Warum nur hatten sie ihn verlassen?
Moser überprüfte den Schlauch und die Pumpe. Er hasste diese Arbeit. Umso wütender war er auf Elena, dass sie ihm nicht half.
»Wag es ja nicht, mit deinen stinkenden Klamotten ins Haus zu kommen!«, hatte sie ihm noch hinterhergeschrien. Moser stellte die Pumpe an und drehte sich zum Bauernhof um. Er musste dieses Weib loswerden. Entweder durch Scheidung oder auf andere Weise. Bei einer Scheidung würde sie wahrscheinlich auf der Hälfte des Hofes bestehen. Vielleicht sogar auf der Hälfte der Schweine. Auf Elfriede oder Hildegard! Moser griff sich wieder an die Brust. Die ganze Aufregung tat ihm nicht gut. Eine Scheidung kam also nicht infrage. Grimmig kniff er die Lippen zusammen. Unfälle auf einem Bauernhof kamen recht häufig vor.
Er stellte die Pumpe ab und drehte sich zur Jauchegrube. Glasige Schweineaugen blickten ihn an.
»Elfriede!«, heulte Moser auf. Sein Lieblingsschwein würde er überall wiedererkennen, sogar tot und in Stücken.
»Wer hot dir des angeton? Wer woar des?« Er konnte nicht fassen, dass jemand zu solch einer grausamen Tat fähig war.
»Elena!«, brüllte er. »Elena!« Elfriede sah ihn traurig an und Moser fiel auf die Knie. Ein stechender Schmerz breitete sich in seinem linken Arm aus.
»Elfriede!«, jammerte er. »Elena!« Wo blieb sie nur wieder? Der Schmerz raubte ihm den Atem. Wer hatte seine Elfriede ermordet?
Die Leichen neben Elfriedes Kopf waren das letzte, was Moser wahrnahm, bevor er das Bewusstsein verlor.
*
Leichen im Kofferraum eines Polos zu verstauen, war wesentlich leichter, wenn man dabei Hilfe hatte, stellte Johann fest.
»Ich brauch jetzt erst mal einen Kaffee«, sagte seine Mutter. »Trinkst du einen mit? Dieser unglückliche Zwischenfall. Da brauchst du doch sicher auch eine kleine Stärkung, oder?«
Eine Viertelstunde Warten mehr oder weniger würde dem Studienrat nicht schaden. Und unterzuckert fühlte sich Johann ebenfalls. Er folgte seiner Mutter ins Haus und setzte sich an den Küchentisch.
Seine Mutter war nicht ganz beieinander, so wie sie mit der Kaffeemaschine klapperte. Johann konnte es ihr nicht verdenken. Die erste Leiche war immer die schlimmste. Er sah aus dem Fenster und bemerkte gerade rechtzeitig das Auto, das vor dem Haus hielt.
»Runter!«, zischte er und kroch unter den Küchentisch.
»Was ist passiert?«, flüsterte seine Mutter und kauerte sich ängstlich neben ihn.
»Polizei.«
Der Kommissar und sein Assistent kamen persönlich. Das konnte nur bedeuten, dass sie ihn gleich mitnehmen wollten.
Es klingelte.
»Was ist denn los?«, fragte seine Mutter, doch Johann schüttelte den Kopf und legte einen Finger auf die Lippen.
Es klingelte noch einmal.
Sicher hatten sie den Haftbefehl schon in der Tasche. Es war vorbei. Alles war vorbei.
Es klingelte ein drittes Mal, dann hörte Johann, wie sich Schritte entfernten. Der Kommissar würde zurück aufs Revier fahren und von dort aus eine großräumige Fahndung einleiten. Straßensperren, Polizei auf Bahnhöfen, Flughäfen, überall in der Region und im Land.
Johann riskierte einen Blick aus dem Fenster. Der Polizeiwagen fuhr davon. Er holte tief Luft und sah seine Mutter an. »Ich werde für eine Weile untertauchen«, erklärte er.
»Du machst was?«
Er versuchte sich am Verbrecherjargon. Für seine Mutter war das ungewohnt. »Abhauen. Ich befinde mich ab sofort auf der Flucht vor der Polizei.«
»Aber warum denn? Wenn es wegen der Sache mit dem Studienrat ist: Ich bin sicher, wir können der Polizei erklären, dass es ein natürlicher Tod war. Ein sehr schöner noch dazu.«
»Mutter, bitte! Und nein, es geht nicht um die Sache mit dem Studienrat.« Er seufzte. Es war wohl Zeit auszupacken, wie man in den Kreisen zu sagen pflegte. »Ich stehe unter dringendem Tatverdacht. Karl Bachmaier, mein Chef im Schlosshotel, ist ermordet worden. Ich habe die Leiche gefunden und Harald Moschik hat daraus geschlossen, dass ich der Mörder bin. Außerdem gab es da noch eine andere Leiche.« Johann fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Es hatte wirklich eine ganze Menge Leichen gegeben. Den toten Ammerschmidt verschwieg er seiner Mutter lieber.
»Ja, aber die Polizei wird doch sicher die Wahrheit herausfinden!«
Welch Vertrauen seine Mutter in die Justiz und ihre Gerechtigkeit hatte.
»Ich fürchte nicht. Es gibt Indizien.« Drei Leichen in einer Jauchegrube, vier, wenn man Elfriede mitzählte, und ein Jagdmesser.
»Was denn für Indizien?«
»Das ist jetzt egal, Mama. Wichtig ist nur, dass ich wegmuss.«
»Aber«, protestierte seine Mutter, doch Johann schüttelte den Kopf. Merkwürdigerweise war er ganz ruhig. Das Schlimmste war eingetreten, er würde seine Mutter für Monate, wahrscheinlich sogar Jahre nicht wieder sehen. Elena ebenfalls nicht. Trotzdem wusste er, was er zu tun hatte. Er durfte auf keinen Fall zur Polizei gehen. Wenn er sich dort blicken ließe, würde er für Jahrzehnte ins Gefängnis wandern und erst wieder steinalt rauskommen. Bei der ersten heißen Nacht mit einer Frau würde er den Löffel abgeben wie der Studienrat. Nein, das durfte auf keinen Fall geschehen. Johann musste handeln.
»Tut mir wirklich leid«, sagte er und strich seiner Mutter über den Kopf. »Ich lass dir eine Nachricht zukommen, dass es mir gut geht.« Er nahm seinen Rucksack, den Autoschlüssel und lächelte seine Mutter an. »Mach dir keine Sorgen, ich komm schon klar. Den Studienrat werde ich unterwegs los.«
Seine Mutter nickte. »Sei vorsichtig«, flüsterte sie zum Abschied.
Johann wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb, bis die Straßensperren eingerichtet wurden. Er musste sich beeilen.
Mit fast 50 Stundenkilometern sauste er durch Lendnitz. So schnell fuhr er normalerweise nie und er sah immer wieder angestrengt in den Rückspiegel. Unbehelligt passierte er den Ortsausgang. Es dauerte wohl mehr als fünf Minuten, um eine groß angelegte Fahndung zu organisieren.
Neben dem Feldstück, auf dem Bauer Mosers Jauchegrube lag, hielt Johann an und stieg aus. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte ganz deutlich jemanden neben der Grube sehen. Ob die Polizei die Leichen schon gefunden hatte? Er kniff die Augen zusammen.
Elena. Das war Elena dort auf dem Feld neben der Jauchegrube. Johann zögerte einen Moment, dann setzte er sich in Bewegung.
»Johann? Du bist es! Gott sei Dank!« Elena sprang auf. »Bitte, Johann, es ist nicht meine Schuld. Du musst mir helfen, bitte«, bestürmte sie ihn. Johann blinzelte und blickte über ihren Kopf hinweg zur Jauchegrube. Bernhard Moser lag regungslos auf dem Boden. Die Grube selbst war leer gepumpt, und Johann sah sich zum zweiten Mal mit Elfriede, dem Schwein, Karl Bachmaier, dem Chefkoch, Martin, dem Zuhälter, und dem ihm unbekannten Toten konfrontiert.
»Er hat nach mir gerufen. Ganz laut«, berichtete Elena und deutete auf ihren Mann. »Aber ich dachte, es geht um die blöde Jauchegrube. Er hat mich vorher schon angeschrien, dass ich ihm helfen soll. Als ich dann endlich nachschauen gegangen bin …« Sie brach ab und sah Johann unsicher an.
»Da war er tot«, vervollständigte Johann.
»Ich war’s nicht! Wirklich! Ich hab ihn nicht umgebracht. Er war schon tot, als ich ihn gefunden habe.«
Johann nickte. Er wusste, wie häufig so etwas vorkam.
»Aber das glaubt mir doch keiner«, fuhr Elena unglücklich fort. Johann nickte wieder. Auch diesen Gedanken kannte er.
»Wir haben uns ständig gestritten. Du hast es doch mitbekommen. Zweimal war die Polizei da. Heute erst haben sie ihn wegen seinem blöden Schwein befragt. Die haben genau mitgekriegt, was da ablief zwischen mir und Bernhard. Die glauben mir kein Wort, wenn ich sage, ich bin unschuldig.«
»Ja, das ist wahrscheinlich«, gab Johann zu. In dieser Hinsicht war er übervorsichtig.
Elena nahm seine Hand. »Bitte Johann, hast du nicht irgendeine Idee? Kannst du mir nicht helfen?«
Johann seufzte. Seine Kreativität im Leichen-Wegschaffen hatte sich in den letzten Tagen erschöpft. Er sah in Elenas bittende Augen. Ihr Blick berührte ihn im Herzen und etwas tiefer und brachte Energien zum Vorschein, von denen er nicht wusste, dass er sie hatte. Männliche Energien. So musste Bruce sich ständig fühlen. Bestimmt.
»Gibt es hier irgendein Versteck?«, fragte er. Für diese Frau hätte er seine allerletzten Kräfte mobilisiert. »Wo wir die Leichen zwischenlagern könnten?«
»Leichen?«
Johann deutete in die Grube hinunter. »Auch wenn dein toter Mann weg ist, wie willst du der Polizei die da erklären?« Seine Stimme klang so abgebrüht, dass er zusammenzuckte. War tatsächlich er das gewesen, der das gesagt hatte? Elena hing an seinen Lippen. Das war ja gar nicht so schlecht. Er versuchte ein entschlossenes Nicken.
»Oh«, hauchte Elena. »Soweit habe ich noch gar nicht gedacht.« Mit einem Stirnrunzeln fügte sie hinzu: »Wie sind die überhaupt da hingekommen? Wer kommt auf die Idee, Leichen in unsere Jauchegrube zu werfen?«
»Das ist doch jetzt nicht so wichtig«, sagte Johann bestimmt. »Wir brauchen ein Versteck.« Er stemmte die Hände in die Seiten und bemühte sich, souverän zu wirken.
Elena überlegte. »Der Lkw steht schon ein paar Tage hier.« Sie zeigte auf einen großen, weißen Lastwagen, der in einiger Entfernung am Straßenrand parkte. Das Moulin Rouge lag dort und Johann war sich nicht sicher, ob sie einem Freier Leichen in sein Auto legen sollten. »Ich dachte zuerst, der gehört einem Kunden«, erklärte Elena. »Aber so lange kann man sich da gar nicht aufhalten. Den wird vielleicht jemand vergessen haben.«
»Einen Lkw vergisst man nicht einfach.« Der Realist in Johann, der in den letzten Tagen ziemlich selten zum Vorschein gekommen war, meldete sich.
Elena zuckte mit den Schultern. »Oder er ist kaputt und man hat ihn hier stehen lassen.«
Johann war zwar immer noch skeptisch, Lastwagen wurden selten vergessen oder stehen gelassen, aber inzwischen war ihm das egal. Scheißegal. Er wollte die Leichen loswerden, untertauchen und die letzten paar Tage möglichst schnell vergessen. Außerdem wollte er Elena. So bald wie möglich, und deshalb würde er auf der Stelle handeln.
Die Klagenfurter Straße, die Lendnitz mit dem Rest der Welt verband, war wenig befahren. Er selbst hatte hier schon mehrere Leichentransporte vorgenommen. Dafür war der Lkw ideal: Sie würden die Leichen unbemerkt dort hinschaffen können.
»Dann packen wir’s mal an.« Johann krempelte die Ärmel hoch. Euphorie durchströmte ihn. Es war ein herrliches Gefühl, Elenas Retter in der Not zu sein.
Auch leer gepumpt war die Jauchegrube auf dem Moser-Anwesen reichlich ekelhaft. Es stank bestialisch und überall war es glitschig von den Gülleresten. Glücklicherweise waren die Handschuhe und Gummistiefel des Bauern groß genug für Johanns Füße.
Johann zog sein T-Shirt bis zur Nase hoch und stieg hinunter in die Grube. Er verbat sich jedes Schaudern oder ein Zittern der Hände. Elena war die wunderbarste Frau der Welt und er konnte es schaffen. Zuerst hievte er die ganz gebliebenen Leichen nach oben, wo Elena sie entgegennahm und neben dem Rand der Grube ablegte.
»Was machen wir denn mit den Stückchen?«, fragte sie. Johann bewunderte ihre Fassung. Kein bisschen zimperlich, die perfekte Komplizin. Martin, der Unbekannte und Elfriedes Kopf lagen neben dem Bauern.
»Ich denke, da wäre ein Müllsack nicht verkehrt«, schlug Johann vor und Elena lief schnell zum Haus.
Sie kam nicht nur mit einer ganzen Rolle Müllbeutel zurück, sondern auch mit einem Eimer Wasser. Praktisch veranlagt war diese Traumfrau zudem. Johann konnte kaum die Augen von ihr losreißen.
»Ist ja ekelhaft, wie das stinkt«, erklärte Elena und kippte das Wasser über den Leichen aus. Sie schüttelte sich und zog anmutig die Nase kraus. Johann beobachtete, wie sich leichte Grübchen bildeten. Oh, wie er sie liebte!
»Die sind widerlich«, kommentierte Elena ihr Tun und stupste Elfriedes Kopf mit der Fußspitze an.
Sie hatte recht. Die Leichen waren durch ihre Lagerung in der Jauchegrube nicht schöner geworden. Johann versuchte, nicht hinzusehen, während er die Stücke in mehreren Müllsäcken verstaute.
Gemeinsam mit Elena machte er sich daran, die Leichen zum Lkw zu schleppen. Elfriede, Bachmaier, der Unbekannte, Martin Ammerschmidt und Bernhard Moser. Und der Studienrat wartete auch noch.
»Ich müsste kurz etwas erledigen«, sagte Johann auf dem Rückweg.
Elena sah ihn fragend an. Johann überlegte einen Moment, musste sich allerdings eingestehen, dass es inzwischen egal war. »In meinem Kofferraum wartet noch eine Leiche«, sagte er mit fester Stimme. »Der Sex mit meiner Mutter war zu viel für einen Studienrat.«
»Du hast einen toten Studienrat im Kofferraum?«, fragte Elena.
Johann hob die Arme, grinste schief und versuchte, souverän zu wirken. Bei Bruce Willis störten die Frauen sich nie an den vielen Leichen. Ihnen genügte ein umwerfendes Lächeln und sie schmolzen dahin.
»So was passiert wohl, nicht wahr?« Etwas unsicher, aber mit einen Lächeln sah Elena ihn an.
Johann nickte glücklich. »Komm, das schaffen wir auch noch«, sagte er. Elenas Lächeln wurde zu einem Strahlen und fast wäre Johann über einen Stein gestolpert. Bruce Willis, dachte er zum Glück rechtzeitig und marschierte schnellen Schrittes zum Auto.
Zusammen trugen sie den Studienrat zum Lkw, dann brachte Johann Elena zurück zum Bauernhaus. Er parkte seinen Wagen im Hof und gab Elena Gummistiefel und Handschuhe zurück. Er hatte sich lang genug aufhalten lassen, musste schleunigst los, bevor die Polizeisperren errichtet wurden.
»Ich geh dann mal«, begann er zögerlich.
»Wohin? Oh nein, Johann, du kannst nicht gehen!« Elena machte ein unglückliches Gesicht. Johann kratzte sich verlegen am Kopf. »Ich bin ganz allein auf dem Hof!«, sagte Elena eindringlich. »Wer weiß, was da passieren kann. Die Leichen sind doch nicht von allein in die Jauchegrube gefallen! Der Hof ist so weit draußen, außer dem Moulin Rouge habe ich keine Nachbarn. Niemand würde mir helfen können. Oh, Johann, kannst du heute Nacht nicht bei mir bleiben?« Sie sah ihn mit großen Augen an und Johann schluckte. Er musste weg. Untertauchen, abhauen, sich verdünnisieren.
Diese Augen. Er konnte diesen Augen nicht widerstehen. Die arme Elena, so ganz allein und ängstlich auf dem großen Hof. Auch wenn die Leichen durch Johann in die Jauchegrube gekommen waren, gab es jemand anderen, der sie vorher ermordet hatte. Johann wunderte sich, dass er selbst dieser Frage überhaupt nicht nachgegangen war. Nein, es stand außer Frage, er musste Elena beschützen. Denn wie lautete das berühmte Zitat noch? ›Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!‹
»Kein Wort zu niemandem. Ich bin nicht hier, okay? Und meinen Wagen verstecken wir in der Scheune.«
»Du wirst tatsächlich von der Polizei gesucht?« Elena sah ihn interessiert an.
»Leider.«
»Du hast gesagt, der tote Studienrat hat den Sex mit deiner Mutter nicht überlebt.«
»Ich werde wegen anderer Sachen gesucht.«
Elena zog die Augenbrauen hoch. »Andere Sachen?«
Johann zuckte mit den Schultern in einer, wie er hoffte, männlichen Geste. Elena nickte. Konnte er da etwa eine Spur von Bewunderung in ihren Augen sehen? Johanns Brust schwoll an.
»In der Scheune müsste genug Platz sein.« Sie drehte sich um und marschierte zum Bauernhaus. »Und bevor du etwas sagst: Ich will es gar nicht wissen.«
*
»Wir wissen es!«
Hauptkommissar Fritz Reichel blickte von seinem Formular auf. Ein aufgeregter Huber mit zwei verlegenen Streifenpolizisten im Schlepptau stand vor seinem Schreibtisch. Reichel zog eine Augenbraue hoch.
»Wir wissen, wo die Bachmaier steckt.« Huber grinste breit.
»Ha!« Fast hätte Reichel die geballte Faust in die Luft gestreckt. Er drehte sich zum Observationsteam um, das offenbar noch weitere Currywurstpausen eingelegt hatte. Auf beiden Uniformen waren Ketchupflecken zu sehen.
»Offenbar war alles genau geplant«, erläuterte einer der Polizisten. »Sie hat uns in die Irre geführt. Wollte uns weismachen, dass sie in Lendnitz unterwegs ist, und während wir sie gesucht haben, ist sie nach Hause gelaufen und hat ihre Flucht vorbereitet.«
»Eiskalt, diese Frau«, kommentierte Huber.
»Was ist schiefgelaufen?«, fragte Reichel.
»Drogen.« Der Streifenpolizist machte ein ernstes Gesicht. »Zum Zeitpunkt ihrer Flucht war sie total zugedröhnt. Sie hat im Drogenrausch einen Unfall gebaut und ist im Krankenhaus gelandet. Sie haben es uns gerade eben gemeldet.«
Immerhin ein Teilerfolg. Das volle Geständnis würde Reichel noch aus der Drogenbaronin herauskriegen.
»Huber, Sie beantragen den Haftbefehl bei der Staatsanwaltschaft in Klagenfurt, ich fahr ins Krankenhaus.« Reichel griff nach seinem Mantel.
»Das wird nicht nötig sein«, warf der Polizist ein. »Dort ist sie nicht mehr.«
»Ach. Und weshalb nicht?« Reichel setzte sich wieder.
»Sie ist geflohen.«
»Geflohen?« Reichel merkte, wie er müde wurde. Tag 135 und das Leben hatte kein Mitleid mit ihm.
»Sie hat sich durch ein Toilettenfenster gezwängt, ist durch ein Glasdach gefallen und hat anschließend Harald Moschik aus dem Krankenhaus entführt.«
Darauf konnte Reichel nichts erwidern. Er leckte sich über die Lippen, setzte zum Sprechen an und gab nach zwei vergeblichen Versuchen auf.
»Wir verfolgen eine heiße Spur«, sagte der Polizist.
Reichel nickte. »Ja. Verfolgen Sie«, winkte er müde ab. Vielleicht sollte er eine Kur beantragen. Oder eine vorzeitige Entlassung aus dem Dienst wegen Burn-out.
»Sie sind jetzt die SOKO Bachmaier. Merken Sie sich: keine Zurückhaltung. Die Bachmaier ist brandgefährlich«, schärfte Huber den Streifenpolizisten ein. »Seien Sie vorsichtig und machen Sie, wenn notwendig, von der Schusswaffe Gebrauch!« Vielleicht, dachte Reichel, vielleicht sollte er ihnen sagen, dass sie auf alle Fälle ihre Waffen einzusetzen hätten? Zwei Fliegen mit einer Klappe, die dicke Bachmaier und Moschik, den Mann mit der wahrscheinlich höchsten Mordmeldungsquote in der Geschichte der Lendnitzer Polizei. Ein verführerischer Gedanke, den Reichel mit einem heftigen Kopfschütteln wieder aus seinem müden Schädel vertrieb.
Die beiden Polizisten griffen inzwischen nach ihren Holstern, nickten ernst und traten auf den Flur. Reichel schloss die Tür hinter ihnen. Was hatte er nur falsch gemacht in seinem Leben, dass er so bestraft wurde?
*
Amalie Bachmaier fragte sich, was sie in ihrem Leben falsch gemacht hatte. Traurig saß sie im Café am Klagenfurter Flughafen und kaute auf einem Schokoriegel herum. Karl war weg, schon seit Tagen. Harald war weg, seit ungefähr zehn Minuten. Warum hatte er sie allein gelassen? Womit hatte sie das verdient? Sie mussten doch zusammenarbeiten. Gegen die Mafia.
Amalie knüllte das Silberpapier zusammen. Sie war ganz allein. Immerhin hatte sie 250.000 Euro, mit denen sich bestimmt so einiges anfangen ließ. Wenn man mit dem Preis von 2 Euro für ein Stück Topfenstrudel rechnete, so konnte man allein für 100 Euro 50 Stücke Topfenstrudel kaufen. Bei 1.000 Euro waren es 500 Stücke, bei 10.000 Euro 5.000, bei 100.000 Euro … Amalie schwirrte der Kopf. Sie umklammerte die Reisetasche fester und blickte sich ängstlich um. Waren hier verdächtige Männer? Die Mafiosi aus dem Ford hatte Amalie bisher nicht entdecken können. Aber vielleicht hatten sie Kollegen, die ihre Arbeit übernahmen. Oder Krankenschwestern und Ärzte, die sie überwältigen und in die Zuckerentzugsklinik schleifen wollten. Amalie wurde immer unruhiger.
Noch sah niemand so aus, als würde er sie beobachten. Außer dieser kleinen alten Dame mit den lila Haaren. Sie saß am Nebentisch, hatte eine riesige Handtasche auf ihrem Schoß und blickte seit geraumer Zeit zu ihr herüber.
Als Amalie misstrauisch in ihre Richtung schaute, stand sie auf und setzte sich neben sie.
»Na, auch auf dem Weg in den Urlaub?«, fragte sie freundlich, und Amalie beschloss, vorsichtig zu sein. Vielleicht war sie ehrenamtliche Mitarbeiterin im Krankenhaus, zuständig für flüchtige Patienten. Oder die Mutter eines Mafiabosses. Mafiabosse hatten immer treu sorgende Mütter, das hatte sie im Fernsehen gesehen.
Also antwortete sie nicht und umklammerte die Reisetasche fester.
»Wissen Sie, ich fliege heute das erste Mal«, sagte die alte Dame. »Ich bin bis jetzt nur mit dem Zug gefahren. Bis nach Italien. Auch sehr schön, aber Fliegen ist doch etwas ganz anderes, finden Sie nicht?«
Amalie nickte unsicher. »Ich will nach Venezuela.«
»Ach wirklich?« In den Augen der alten Dame glitzerte es. »Das ist auch mein Reiseziel. Soll ja ganz toll sein. Und es gibt kein Auslieferungsabkommen.«
Jetzt wurde Amalie hellhörig. »Auslieferungsabkommen?« Was sollte das denn heißen?
»Äußerst praktisch, finden Sie nicht? Mein Enkel hat mir so davon vorgeschwärmt! Er ist seit drei Jahren dort. Irgendein dummes Missverständnis hat es damals gegeben und das war die beste Lösung für ihn. Daran musste ich gerade denken. Also, nicht dass Sie meinen, ich hätte irgendein Verbrechen begangen«, die alte Dame lachte herzhaft und zwinkerte Amalie zu. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sage ich immer.«
»Das sage ich auch immer«, murmelte Amalie geistesabwesend. Was wollte diese merkwürdige alte Frau? Etwas unwohl rutschte Amalie auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ist ja kein Drama, wenn mal was schiefgeht und man deshalb nach Venezuela muss«, sagte die Dame.
Schiefgegangen war in Amalies Leben so einiges in den letzten Tagen. Allerdings machten die 250.000 Euro vieles davon wieder gut. »Ich wollte einfach nur Urlaub machen. Irgendwo. Der nächste Flug ging nach Wien und weiter nach Venezuela, deshalb habe ich mir das Ticket gekauft. Nicht wegen des Auslieferungsabkommens«, sagte Amalie.
»Nicht? Ach. Ich dachte daran, weil Sie so unruhig sind. Sie zucken zusammen, wenn jemand hinter Ihnen vorbeigeht.«
»Ich zucke nicht zusammen.« Was wusste diese Frau? Wer hatte sie geschickt?
»Nur keine Aufregung. Ist doch kein Problem. Ich meine, es ist ja nicht Pflicht, wegen des fehlenden Auslieferungsabkommens nach Venezuela zu fliegen. Sie dürfen bestimmt auch so einreisen.« Wieder lachte die alte Dame. Amalie war sich sicher, dass sie die Mutter eines Mafiabosses war. Oder die Leiterin der Zuckerentzugsklinik persönlich.
»Kann ich Sie vielleicht auf einen Kaffee einladen? Oder einen Tee? Der beruhigt so schön.«
»Beruhigt? Und dann?« Amalie war der Hysterie nahe.
Die alte Dame legte eine Hand auf Amalies Arm. Dann beugte sie sich vor und flüsterte Amalie ins Ohr: »Nun reißen Sie sich mal zusammen, meine Liebe. Ihre Nervosität lässt uns alle noch auffliegen! Was meinen Sie, wie viele Zivilbullen hier auf dem Flughafen herumlaufen. Und wenn die einmal anfangen zu kontrollieren, dann kontrollieren die jeden. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe keine Lust, die nächsten 20 Jahre im Gefängnis zu verbringen.«
»Ich … Sie … was?« Amalie war verwirrt.
»Erwin auch nicht«, fuhr die Dame fort und nickte zu einem weißhaarigen alten Herrn hinüber, der auf einer der Café-Bänke ein Nickerchen machte. »Und Heinz hat sich seinen Lebensabend ebenfalls anders vorgestellt.« Sie deutete in Richtung eines distinguierten Senioren in Lodenmantel und Filzhut, der Schopenhauer las. »Wir haben schon einen Doppelkopfpartner verloren und müssen seitdem Skat spielen.« Traurig schüttelte die alte Dame den Kopf und flüsterte: »Wissen Sie, Wilfried wollte die Konkurrenz im Drogengeschäft ausschalten. Die Kunden sind uns weggeblieben, es gab Ärger mit gepanschten Drogen, da hätte jemand durchgreifen müssen. Aber Wilfried, unser Guter, war für Gewalt einfach nicht geeignet. Ist ausgerutscht und hat sich selbst eine Kugel in den Kopf gejagt.«
»Ach?«
»Deshalb verstehen Sie sicher, wenn wir den Rest unseres Lebens in der Freiheit Venezuelas genießen wollen, nicht wahr? Also machen Sie uns das bitte nicht kaputt.«
Sprachlos sah Amalie die alte Frau an. Die lehnte sich entspannt zurück und sagte laut: »Wirklich, ein Tee wird Ihnen guttun. Kamille, die beste Medizin gegen Flugangst, vertrauen Sie mir.« Fürsorglich legte sie Amalie eine Hand auf die Schulter und blickte sich nach der Kellnerin um.
»Ich habe Sie schon länger beobachtet«, flüsterte die alte Dame, nachdem sie bestellt hatte. »Schon beim Check-in wirkten Sie so nervös, wie Sie Ihre Reisetasche umklammerten und sich umgesehen haben. Berta, habe ich mir da gesagt, Berta, da musst du etwas tun. Die Dame dort drüben braucht deine Hilfe.«
Amalie nickte stumm.
»Apropos. Mein Name ist Berta Stein, ich bin aus Lendnitz.«
Amalie nickte wieder.
»Sie sind nicht so der gesprächige Typ, stimmt’s? Aber das macht nichts, das macht gar nichts. Mein Doppelkopfclub ist auch eher schweigsam. Was haben Sie denn ausgeheckt, dass Sie auf der Flucht sind?«
Amalie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und räusperte sich. »Ich werde gesucht«, brachte sie schließlich heraus.
»Sicher werden Sie das. Die Frage ist: Weswegen werden Sie gesucht?«
»Mafia. Und Entzug. Ich soll einen Entzug machen.«
»Ach je, das ist schlimm.« Frau Stein schüttelte mitfühlend den Kopf. »Drogen bringen Geld, aber auch verdammt viel Unglück. Die Erfahrung musste Erwin schon in jungen Jahren machen.« Sie hing einen Augenblick ihren Erinnerungen nach, dann strahlte sie wieder. »Aber in Venezuela wird das sicher kein Problem sein. Dort wird Kokain angebaut, nicht wahr?« Amalie verstand nicht, wovon sie redete. Drogen? Was denn für Drogen? Wieso Kokain?
»Oh. Unser Flug!«, rief Frau Stein plötzlich und sprang auf. »Sie haben unseren Flug gerade aufgerufen. Kommen Sie!« Sie griff nach ihrer riesigen Handtasche, dann beugte sie sich noch einmal fürsorglich zu Amalie herunter. »Geht es Ihnen besser?«
Amalie nickte. Es ging ihr tatsächlich besser. Sie würde gleich mit drei kriminellen Pensionisten in ein Flugzeug steigen, aber interessanterweise löste das bei ihr nur ein Lächeln aus. Frau Stein fasste sie unter den Arm. Ja, dachte Amalie, sie war in guten Händen.
*
Erich Hirtentalers Hände waren gefesselt. Das war nichts Neues mehr. Als er zum dritten Mal innerhalb weniger Tage so verschnürt erwachte, wäre er am liebsten direkt wieder bewusstlos geworden. Ihm schmerzte nicht nur der Kopf, sondern sein gesamter Körper. Unglücklicherweise war sein Erinnerungsvermögen diesmal nicht getrübt. Er wusste genau, was passiert war, und es gefiel ihm kein bisschen. Den Zuhälter hatte er zwar erledigt, aber dann hatte ihn die Nutte fertiggemacht. Scheiße. Erich leckte sich vorsichtig über seine aufgeplatzte Oberlippe. Die kleine Rothaarige hatte er offenbar unterschätzt. Für ein hilfloses, unerfahrenes und ängstliches Ding hatte er dieses Biest gehalten, dabei war sie die Drahtzieherin, die Gefährliche gewesen. Der Lackaffe von Bordellbesitzer war nur Statist. Verdammt, da hatte Erich sich wirklich verschätzt. Während er das Paketband und die Schnur untersuchte, mit der er an das Heizungsrohr gefesselt war, überlegte er sich seine nächsten Schritte. Rache war ganz klar Nummer eins. Erich dachte nach. Ein Vorgang, der ihm zwar oft schwerfiel, in diesem Moment aber sein musste. Er konnte nach wie vor nicht genau sagen, ob die kleine alte Frau mit den lila Haaren aus seiner Erinnerung Wirklichkeit oder Fantasiegestalt war, eines wusste er jedoch genau: Den Fehler, die Nutte zu unterschätzen, würde er nicht erneut begehen. Er brauchte einen ausgefeilten Plan. Oh ja, die Rothaarige würde er aufs Kreuz legen. Und das nicht auf die nette Art.
Während Erich versuchte, sich zu befreien, malte er sich aus, was er mit dem rothaarigen Luder alles anstellen würde. Als es ihm eine Viertelstunde später gelungen war, die Knoten mit den Zähnen zu lösen, hatte er einen Plan und sieben Alternativen. Er stand auf und fiel gleich wieder hin. Unglücklicherweise hatte er nicht bedacht, dass er so schwach war. Kein Wunder! Seit wie vielen Tagen hatte er nichts mehr gegessen? Erich verschlang einen Schokoriegel von der Bar und spülte ihn mit einem Bier hinunter. Der Autoschlüssel war immer noch in seiner Tasche.
Der Lkw stand vor dem Moulin Rouge, als wäre nichts geschehen. Erich kramte im Handschuhfach nach einer Schmerztablette, nahm einen weiteren Schluck Bier und startete den Motor. Nichts würde seinen Rachefeldzug aufhalten.
Als ein Mann in einem Krankenhausnachthemd winkend am Straßenrand stand, fiel Erich die Kinnlade herunter. Er zwinkerte, doch das Bild löste sich nicht auf. Die Rothaarige musste seinem Kopf ernsthaften Schaden zugefügt haben. Entsetzt wandte Erich seine Augen wieder der Straße zu und konnte nur mühsam den Zusammenstoß mit einem Schwein vermeiden, das plötzlich über die Straße raste. Erich riss das Lenkrad herum, doch durch die heftige Bewegung schlug sein Kopf so stark gegen die Fensterscheibe, dass er bewusstlos wurde, bevor er auf die Bremse treten konnte. Als letzter Gedanke blitzte in seinem Hirn auf, dass heute wirklich nicht sein Tag war.
*
Es war ganz und gar nicht Reichels Tag. Er hatte gerade mit dem Amtsarzt telefoniert, der ihm keine Chance auf eine vorzeitige Pensionierung in Aussicht gestellt hatte. ›Bei Ihrer Konstitution, Herr Hauptkommissar‹, hatte er gesagt und von einem Burn-out-Syndrom nichts wissen wollen. Reichel seufzte. Wenn er heute Abend ohne Mantel nach Hause ging und etwas Glück hatte, zog er sich vielleicht eine Erkältung zu. Das sollte immerhin für ein zehntägiges Attest reichen.
Weshalb meldete sich die SOKO Bachmaier nicht? Reichel griff zum Telefon und ließ sich mit dem Handy der Streifenpolizisten verbinden. Er hasste Funk. Zu einem Gespräch kam Reichel jedoch nicht mehr. Huber stürmte so aufgeregt in sein Zimmer, dass er die Tür dabei an die Wand knallte. Reichel zuckte zusammen. Bis ihm dieser enthusiastische Assistent zugeteilt worden war, hatte er noch nie über einen Wandstopper nachdenken müssen.
»Wichtige Neuigkeiten, Chef«, keuchte Huber völlig außer Atem. »Anruf von der Zollbehörde.« Huber sparte an ausführlichen Erklärungen, das konnte nur heißen, dass es tatsächlich wichtig war. »Sie haben gemeldet, dass sich eine auffällige Person am Flughafen befindet. Die Verdächtige ist weiblich und mittleren Alters. Sie vermuteten Drogenschmuggel und wollten sie kontrollieren, da ist ihnen unser Fax mit der Fahndung in die Hände gefallen. Jetzt wollen sie sie uns überlassen. Sie warten mit dem Zugriff auf unser Zeichen.«
»Was?« Reichel war mit einem Mal hellwach. »Haben Sie eine Beschreibung? Ist die Frau dick und blond? Holen Sie mir jemanden von der Zollbehörde ans Telefon, aber sofort! Das ist sicher die Bachmaier. Kann gar nicht anders sein!«
Huber zückte sein Handy und suchte dann umständlich in seinem Notizblock nach einer Telefonnummer.
»Vergessen Sie’s, wir fahren direkt hin.« Reichels Jagdinstinkt war erwacht. Die Bachmaier würde er erwischen und ihr Drogenimperium zu Fall bringen. Die Festnahme Amalie Bachmaiers rückte in greifbare Nähe. »Rufen Sie trotzdem an, Huber«, kommandierte Reichel und zog sich seinen Mantel an. Die Erkältung musste bis morgen warten. »Die Zollbehörde soll unter keinen Umständen etwas ohne uns unternehmen. Die Bachmaier ist in der Tat gefährlich. Sie ist allein, verletzt und durch Drogen nicht zurechnungsfähig.«
»Wie Löwinnen. Die sind auch am gefährlichsten, wenn sie verwundet sind«, sagte Huber und tippte eine Nummer in sein Handy.
»Beeilung, Huber, das können Sie auch während der Fahrt machen«, drängte Reichel und eilte im Laufschritt zum Wagen. Sie waren so dicht dran, da konnten sie es sich nicht leisten, eine Pause einzulegen.
*
Johann Mühlbauer saß in der Küche des Moser-Anwesens und war froh, dass ihm das Schicksal eine Pause gönnte. Genüsslich aß er sein drittes Stück Kuchen. Elena wäre eine hervorragende Konditorin geworden, das musste er zugeben. Und wie sie dort neben ihm saß: süßer als alle Kuchen. Er würde zu gern einmal von ihr naschen. Johann ertappte sich dabei, wie seine Hormone mit ihm durchgingen, und wurde rot.
»Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, hier unterzutauchen«, sagte er schnell, um seine Unsicherheit zu überspielen. Bruce Willis war niemals unsicher. »Damit rechnet die Polizei nicht.«
Elena nickte. Sie sah äußerst zufrieden aus, wie sie mit angezogenen Knien auf der Küchenbank hockte, eine Tasse Tee in den Händen.
»Die suchen dich vielleicht in Klagenfurt oder am Flughafen. Aber nicht hier«, sagte sie und lächelte.
Die Welt sah gar nicht mehr so schlecht aus wie noch vor zwei Stunden. Sicher, Kontakt zu seiner Mutter durfte er vorerst nicht aufnehmen. Dafür würde er seine Tage mit Elena verbringen. Mit Elena, deren dunkle, wunderschöne Augen ihn so dankbar angestrahlt hatten. Mit Elena, deren Brüste … Johann schluckte und versuchte, nicht zu auffällig in Elenas Ausschnitt zu starren. Er war ein Mann. Ein Held! Er würde nicht die Hilflosigkeit einer jungen Frau ausnutzen, um sie ins Bett zu kriegen. Falls sie natürlich gern mit ihm … Johann wurde wieder rot und lenkte sich damit ab, aus dem Fenster zu schauen.
Ein großer weißer Lastwagen schlingerte in den Hof. Johann sprang auf. Derselbe große weiße Lastwagen, der vor dem Moulin Rouge gestanden und in dem Johann und Elena die Leichen versteckt hatten.
Ein Schwein lief quiekend im Zickzack vor dem Lastwagen her.
»Ach du meine Güte, Hildegard«, schrie Elena, während Johann versuchte, über den Schreck hinwegzukommen, dass nicht nur die Leichen, sondern auch sein Versteck aufgespürt worden war. Der Lkw raste auf das Haus zu.
»Raus hier! Schnell!« Johann griff Elena am Handgelenk und stürzte zur Tür. Er schob sie hinaus und warf ihr einen Mantel um. Ganz Bruce Willis, dachte er für einen Augenblick. In Panik kam Johann nicht in seine Jacke und verlor wertvolle Sekunden im Wettlauf gegen die Zeit. Wenigstens Elena war draußen in Sicherheit.
»Hildegard! Hildegard!«, konnte Johann sie rufen hören. Er rannte hinaus.
»Ach du Scheiße.« Mehr fiel ihm nicht ein. Hildegard sauste quiekend auf ihn zu und Johann sprang hastig einen Schritt zur Seite. Die Sau verschwand im Haus, wo sie klirrend etwas hinunterstieß, nur um kurz darauf wieder grunzend im Hof zu erscheinen.
Der Lkw holperte über einige Steine, die seine Richtung umlenkten. Statt geradeaus auf Johann zuzuhalten, fuhr er jetzt krachend in die Scheune. Dort kam er zwar zum Stehen, doch die Scheune war nicht für solche Unfälle gebaut worden. Eine Wand brach ein, Dutzende von Heuballen stürzten auf den Hof und den Lastwagen. Johanns Auto wurde unter Holz, Heu und noch mehr Holz begraben. Erstarrt sahen Elena und Johann mit offenem Mund zu, wie der Kopf des Fahrers nach vorn fiel und Hildegards aufgeregtes Gegrunze von der Hupe übertönt wurde.
»Was machen wir denn jetzt?«, flüsterte Elena und presste die Hände vor den Mund. Außer einigen Heugräsern, die langsam zu Boden segelten, und der aufgebrachten Hildegard rührte sich nichts.
»Keine Ahnung«, flüsterte Johann zurück. »Wer ist das überhaupt?«
»Woher soll ich das wissen? Anscheinend ein Kunde des Moulin Rouge, der es übertrieben hat. Ich meine, drei Tage? Kann man in so einem Schuppen drei Tage bleiben?«
Johann hatte keine Lust, über die Potenzfähigkeit irgendwelcher Freier zu diskutieren, und zog es vor, sich dem Lastwagen vorsichtig zu nähern.
»Hallo?«, fragte er zögerlich. »Hallo? Ist da jemand?«
»Johann, pass auf!«, rief Elena, allerdings hätte sie das nicht extra sagen müssen. Johann passte immer auf. Vor allem seit in den letzten Tagen überall um ihn herum Leichen auftauchten. Ohne Aufpassen funktionierte sein Leben gar nicht mehr.
Johann tastete sich voran, bis er die Fahrertür des Lkws öffnen konnte. Ein schlaffer, dicklicher Mann um die 40 fiel ihm in die Arme. Johann war alles andere als begeistert davon, diesen Kerl zu stützen, doch zumindest hatte sein Zur-Seite-Kippen den Vorteil, dass die Hupe ruhiggestellt war.
»Was ist mit ihm?«, fragte Elena, die sich nun ebenfalls herantraute.
»Keine Ahnung.« Das schien Johanns Standardantwort zu werden. »Scheint bewusstlos zu sein.« Johann ließ den Mann vorsichtig auf den Boden in den Matsch rutschen.
»Offensichtlich«, kommentierte Elena und stupste ihn an.
»Und was machen wir jetzt?«
Johann wollte gerade den Mund öffnen, um wieder ›Keine Ahnung‹ zu sagen, da fiel ihm etwas ein. »Auf keinen Fall die Polizei rufen!«
Elena legte den Kopf schräg. »Du bist paranoid, Johann«, sagte sie, griff dem Ohnmächtigen unter die Arme und fing an, ihn über den Hof zu schleifen. »Auf seiner Ladefläche liegen fünf Leichen, die wir dorthin geschleppt haben. Weshalb um alles in der Welt sollte ich die Polizei rufen wollen?«, keuchte sie.
Johann zuckte mit den Schultern und half ihr. Man musste dem Mann ja nicht unnötig die Arme ausrenken.
»Hilfe, Hilfe!«, hörte er in dem Moment Schreie von der Straße. Elena ließ den Bewusstlosen vor Schreck los, der prompt mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Johann verzog mitfühlend den Mund.
»Ich wurde entführt! Helfen Sie mir!« Die Rufe wurden lauter und ein Gespenst kam auf den Hof gelaufen. Bei näherem Hinsehen entpuppte es sich als Harald Moschik, der in einem flatternden Krankenhausnachthemd über den Matsch zu ihnen gelaufen kam.
»Mühlbauer!« Moschik riss entsetzt die Augen auf, als er erkannte, wer ihm da gegenüberstand. Er hielt schlitternd und blickte auf den ohnmächtigen Mann zu Johanns Füßen. »Du Monster!«, stieß der Souschef hervor, wendete behände und hetzte in Panik vom Hof. »Hilfe! Hilfe!«
»Herr Moschik!«, rief Johann ihm unglücklich hinterher. »Herr Moschik, ich habe doch gar nichts …« Er brach ab.
»Den müssen wir kriegen!«, rief Elena und sprintete los. »Der verpfeift uns noch!«
»Elena!«, rief Johann entsetzt. Was wollte sie denn mit Moschik machen? Ihn im Keller des Bauernhauses einsperren?
Auf Johanns Rufen hin drehte Moschik sich um und rannte auf die Straße. Autos hupten, Autoreifen quietschten, Autofahrer fluchten, aber dem Koch passierte nichts. Zitternd blieb er direkt vor einem Kleintransporter stehen und wimmerte leise: »Hilfe! Hilfe! So helft mir doch!«
Erstarrt stand Johann neben Elena am Tor zum Bauernhof und beobachtete das Geschehen mit wachsendem Entsetzen. Harald Moschik stolperte weiter mitten auf der Straße herum, um ihn herrschte ein immer größer werdendes Verkehrschaos. Vor ihm waren zwei Autos ineinander verkeilt, direkt hinter ihm war es zu mehreren Auffahrunfällen gekommen, ganz hinten hatte sich ein Stau nervöser Pendler gebildet, die ununterbrochen hupten. Wo all die Autos herkamen, war Johann ein Rätsel. Die Klagenfurter Straße kurz hinter Lendnitz war für gewöhnlich die unbefahrendste Straße der Welt.
Die rechte Fahrspur war offenbar die aggressivere, denn deren Autofahrer schrien sich wütend an, bis schließlich einer die Ärmel hochkrempelte und seinem Vordermann, dem er aufgefahren war, die Nase brach. Die linke Fahrspur unterdessen bereitete Johann größere Sorgen. Dort gab es zwei vorsichtige Männer, die Moschik in Sicherheit bringen wollten. Was, wenn er dann auspackte? Unruhig hüpfte Johann von einem Bein aufs andere und überlegte, wie er wenigstens Elena aus dem Schlamassel retten konnte.
»Ganz ruhig, ganz ruhig. Wir wollen Ihnen helfen«, redete einer der Männer mit leiser, gleichmäßiger Stimme auf den Koch ein, während er sich ihm vorsichtig näherte. Gleichzeitig kam von der rechten Seite der andere Autofahrer auf ihn zu. Das war zu viel für den verwirrten Moschik. Gleich zwei Männer sah er bedrohlich näher kommen.
»Hilfe!«, schrie er. »Hilfe! Mörder!« Dann stürmte er mit fliegendem Nachthemd davon, keine einfache Sache in Badelatschen. Die Männer drehten sich zu Johann und Elena um.
»Wir haben damit nichts zu tun«, sagte Elena schnell und wich einen Schritt zurück. Sie klammerte sich an Johanns Arm und flüsterte ängstlich: »Was machen wir denn jetzt? Du meine Güte, was machen wir denn jetzt?«
»Keine Sorge. Alles wird gut«, antwortete Johann mit einer Ruhe, die er ganz und gar nicht verspürte. Zu allem Überfluss hörte er eine Polizeisirene. Er atmete tief ein und dachte daran, was Bruce Willis in dieser Situation machen würde. »Das kriegen wir hin«, sagte er mit fester Stimme.
»Die Polizei!« Elena hatte Tränen in den Augen und Johann wurde von seinem Beschützerinstinkt übermannt. Er schnappte sich ihre Hand und stürzte zurück auf den Hof.
»Wir fliehen! Wir hauen ab! Wir tauchen unter! Du kommst mit mir! Wir nehmen deinen Wagen!« Ein kleiner Verkehrsstau konnte Bruce Willis nicht aufhalten. Sie würden in rasender Geschwindigkeit auf dem Seitenstreifen bis nach Klagenfurt fliehen. Bis nach Wien!
»Die Autoschlüssel«, rief Elena, flitzte ins Haus, holte Jacke und Schlüssel und sprang zu Johann ins Auto. »Los, komm schon!«, beschwor sie den stotternden Motor und versuchte, den Wagen zu starten. Der Käfer bockte, doch Johann wusste, was zu tun war. Er war ein Held, er musste handeln. Er öffnete die Motorhaube, sah verwirrt die vielen Kabel und Metallteile an und drosch mit der Faust auf den Vergaser. Zumindest hoffte er, dass es der Vergaser war. Durch die Heckscheibe konnte er Elenas bewundernden Blick sehen. Jawohl, Bruce Willis, jetzt sagst du nichts mehr, was?
Die Polizeisirenen wurden lauter, das Hupkonzert auf der Straße ebenfalls, und endlich sprang Elenas Wagen an. Johann stieg ein, Elena drückte das Gaspedal durch, das Auto machte einen Satz aus dem Tor auf die Straße und rammte einen herbeirasenden Polizeiwagen in die Seite.
Elena schrie auf, Johann, der in der Hektik vergessen hatte, sich anzuschnallen, knallte mit seinem Kopf gegen das Armaturenbrett.
»Verdammt nochmal, was ist denn hier los?«, donnerte die Stimme des Hauptkommissars über den Hof. »Sie da! Los! Aussteigen!«, schrie er, und Johann öffnete mit zittrigen Fingern die Wagentür. Elena fing an, zu weinen.
»Ich sagte: Aussteigen! Und schön die Hände über den Kopf!«
Resigniert stieg Johann aus dem Auto. Es war vorbei. Alles war vorbei. Sie hatten ihn geschnappt, sie hatten Elena geschnappt, er würde den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen. Die Bruce-Willis-Aura um ihn herum platzte wie eine Seifenblase.
*
Reichel platzte vor Wut. Er hatte zum Flughafen gewollt und war nur bis zum Bauernhof gekommen. Huber freute sich über die Verfolgungsjagd wie ein junger Hund, der das erste Mal im Schnee spielte. Unglaublich, wie schnell er sich mit Lendnitz angefreundet hatte. Er sprach kaum noch von Klagenfurt, nur noch vom ›mörderischen Landleben‹. Dabei lief die Bachmaier frei herum, während sie durch ein komplettes Verkehrschaos auf der Klagenfurter Straße behindert worden waren. Weiß der Himmel, warum gerade heute so viele Menschen zwischen Klagenfurt und Lendnitz unterwegs sind, dachte Reichel. Aber die Zeit – und damit auch die Bachmaier – lief ihm davon. Huber hatte die Zollbehörden noch ermahnt, auf ihre Ankunft zu warten. Wenigstens waren die Beamten am Flughafen also nicht in direkter Gefahr. Trotzdem hatte Reichel Gas gegeben und war auf dem Seitenstreifen weitergefahren. Und dann war genau in dem Augenblick, in dem er am Bauernhof vorbeiheizen wollte, ein Auto aus der Hofeinfahrt geschossen und seitlich mit seinem Dienstwagen zusammengeprallt.
Fluchend stieg Reichel aus dem Wagen und zückte seine Pistole. Er hatte wirklich die Schnauze voll.
»Meinen Sie nicht, Sie übertreiben?«, fragte Huber skeptisch, als Reichel die Insassen des anderen Wagens anschrie auszusteigen.
»Nein, das finde ich ganz und gar nicht«, gab der Kommissar zurück und drehte sich wieder zu dem kleinen Käfer um. Ein weinendes junges Mädchen und dieser dämliche Lehrling des Schlosshotels stiegen aus, und er musste zugeben, dass er vielleicht doch etwas forsch gewesen war. »Na gut«, seufzte er und steckte seine Waffe zurück ins Holster. Mit einem Blick hatte er die Lage erfasst. Die beiden jungen Leute waren vor irgendetwas geflohen und Reichel wusste sofort, wovor. Oder besser, vor wem. Ein weißer Lastwagen war in die Scheune gerast und ein untersetzter Kerl stand mitten im Hof. Er hielt die Fäuste in die Luft und schrie: »Ich bring euch alle um!«
Hier war Not am Mann.
Um die Auffahrunfälle auf der Landstraße und die Autofahrer, die sich gegenseitig an die Gurgel gingen, sollten sich die Streifenpolizisten kümmern. Das Dickerchen war wichtiger.
»Huber, sofort mitkommen!«, kommandierte Reichel und schritt zügig auf den Hof, Huber unmittelbar hinter ihm. »Wer sind Sie?«, fragte er scharf, als sie bei ihm angelangt waren. Der Mann drehte sich schwankend um, holte zu einem rechten Haken aus und traf Huber am Kinn. Reichel, geschult durch die Erfahrungen mit Amalie Bachmaier, hatte sich rechtzeitig geduckt. Bei Verdächtigen musste man neuerdings mit allem rechnen.
»Au, verdammt«, murmelte Huber und rieb sich das Kinn.
Reichel zog seine Pistole wieder aus dem Holster und richtete sie auf den Unbekannten. »Hände hoch!«
Der Mann schluckte.
»Wer sind Sie?«
Er schüttelte den Kopf.
»In Ordnung. Wir können das auch anders regeln. Huber, durchsuchen Sie seinen Lastwagen.«
Huber warf Reichel einen bösen Blick zu und knackte demonstrativ mit dem Kiefer. Reichel hatte kein Mitleid. Er hatte die Schnauze voll. Er wollte keine verschwundenen Schweine, keine Drogen, keine Bachmaier und kein Gammelfleisch mehr in Lendnitz haben. Er wollte nur noch seine Ruhe. Und die störte der dicke, kleine Mann gerade gewaltig.
»Na, was ist?«, fragte Reichel genervt, als von Huber keine Antwort mehr kam. Sein Assistent hatte die Türen zur Ladefläche geöffnet und war im Inneren verschwunden.
»Huber, was ist denn jetzt? Haben Sie was gefunden, oder nicht?«
»Chef«, kam Hubers Stimme wacklig und dünn zu ihm herüber. »Ob Sie’s glauben oder nicht, wir haben den Fall gelöst.«
»Wir haben was?« Reichel ließ den Schläger nicht aus den Augen. Was redete Huber da wieder? Von welchem Fall sprach er überhaupt?
»Die Morde an … Moment, an Karl Bachmaier, dem Chefkoch, an Robert Martin, dem Polizisten, an Bernhard Moser, dem Bauern, an einem Unbekannten, wahrscheinlich ein Zuhälter, und an einem weiteren Unbekannten, dem Aussehen nach Lehrer.«
Verblüfft drehte Reichel sich um und ließ unvorsichtigerweise die Pistole sinken. Der Schläger nutzte die Sekunde der Unaufmerksamkeit, schlug Reichel die Pistole aus der Hand und floh.
»Stehen bleiben!«, schrie Reichel. »Huber, hinterher!«, wies er seinen Assistenten an. Er selbst konnte die Verfolgung nicht aufnehmen. Der Dicke war zwar nicht sportlich, dafür ungefähr 20 Jahre jünger.
Der Unbekannte kam nicht weit. Von irgendwoher wetzte ein quiekendes Schwein heran, kollidierte mit dem Mann und brachte ihn zu Fall.
»Hildegard!«, kreischte eine Frauenstimme. Reichel schenkte ihr keine Beachtung. Er schmiss sich auf den mutmaßlichen Täter, drehte ihm die Hände auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.
»Huber«, keuchte er, »helfen Sie mir!« Er stemmte sich hoch und übergab seinem Assistenten die Aufsicht über den mutmaßlichen Mörder. Reichel wollte sich den Lastwagen genauer ansehen. Tatsächlich, da drin befand sich ein ganzes Massengrab. Fünf Leichen, eine totes Schwein und mehrere Plastikmüllsäcke. Vorsichtig stieß Reichel einen der Müllsäcke um. Schweineteile kamen zum Vorschein.
»Wie kann man nur so krank sein«, murmelte Reichel und zog sein Handy aus der Jackentasche.
»Alle Mann hierher zum Moserhof«, begrüßte er den Streifenpolizisten, der abhob. »Ausnahmezustand.«
»Aber wir haben gerade festgestellt, dass Amalie Bachmaier …«
»Lassen Sie die Bachmaier. Serienmörder haben Vorrang vor Drogen«, schnitt Reichel dem Mann das Wort ab.
»Serienmörder?«
»Ich sagte doch gerade, alle Mann hierher!«, explodierte Reichel. »Das Anwesen des Bauern Moser, aber schnell.«
»Natürlich, Herr Hauptkommissar, aber …«
»Und informieren Sie die Spurensicherung und die Forensik.«
»Aber Frau Bachmaier ist …«
»… für den Moment gut aufgehoben!«, schrie Reichel und legte den Hörer auf. Diese beiden Deppen würde er nie wieder zu einer Observierung schicken. Die sollten besser den Verkehr regeln.
»Sie haben den Unfall beobachtet?«, fragte Reichel den Lehrling und die junge Frau. Das Mädchen wirkte verstört. Es weinte und klammerte sich an den Arm des jungen Mannes. Kein Wunder, fand Reichel. Die beiden hatten in den letzten Minuten ziemlich schlimme Dinge mit ansehen müssen.
»Huber, nehmen Sie bitte die Personalien auf«, rief Reichel seinem Assistenten zu.
»Ich dachte, ich sollte den Verbrecher festhalten?«, murrte Huber, entschloss sich dann aber, den Mann in den Polizeiwagen zu setzen und ihn an die Tür zu ketten.
Reichel untersuchte indessen den Lkw. Im Führerhäuschen fand er gleich mehrere Personalausweise, alle mit demselben Passbild, jedoch mit unterschiedlichen Namen. Er pfiff durch die Zähne. Erich Hirtentaler, Walter Hinrich, Wilfried Müller, Max Schmitten. Sie hatten einen Profi am Haken.
Mit lautem Sirenengeheul trafen eine knappe halbe Stunde später die Streifenpolizisten ein, dicht gefolgt vom Forensiker aus Klagenfurt. Der offizielle Wagen der Streifenpolizisten schaffte es mit einem geschickten Brems- und Wendemanöver gerade noch, dem Auto des Hauptkommissars auszuweichen, der Zivilwagen des Forensikers raste genau hinein.
»Autsch«, sagte Huber, als der Mörder auf dem Rücksitz mit dem Kopf gegen die Scheibe knallte.
»Wir sind so schnell gekommen, wie Sie gesagt haben, aber der Flug nach Venezuela …«, sagte der Fahrer des Streifenwagens.
»Nix aber. Flüge nach Venezuela interessieren mich jetzt nicht. Los, Tatort sichern, Personalien aufnehmen, Schwein einfangen«, kommandierte Reichel und wandte sich dann an den Forensiker. Er deutete auf den Lastwagen. »Das ist der Fundort der Leichen. Ob das gleichzeitig auch der Tatort ist, müssen Sie mir sagen.«
»Sieht ja ganz schön übel aus«, bemerkte der Forensiker. »Die Kriminaltechniker müssten auch sofort da sein.«
In dem Moment quietschten ein paar Reifen und ein weiteres Auto fuhr auf den Hof.
»Wo ist der Tatort?« Zwei ältere Herren – beide mit dicker Brille – kamen geschäftig zum Lastwagen gelaufen.
Wortlos deutete Reichel auf das Durcheinander auf der Ladefläche.
»Hm, hm«, machte der Forensiker, streifte Handschuhe über und wollte auf die Rampe steigen. Die Spurensicherung hielt ihn zurück.
»Halt. Wir brauchen hier noch einen Moment. Geben Sie uns fünf Minuten.«
Der Forensiker nickte Reichel zu. »Dann kann ich Ihnen schon einmal sagen, was mir auf den ersten Blick aufgefallen ist.«
»Lassen Sie mich raten. Eine der Leichen ist zerstückelt?«, witzelte Huber, doch der Forensiker schenkte ihm keine Beachtung.
»Die Todeszeitpunkte liegen auseinander. Die Leiche ganz rechts ist noch nicht lange tot.«
»Der Bauer«, ergänzte der Kommissar.
»Der zerstückelte Mann ist schon vor ein paar Tagen ermordet worden.«
»Karl Bachmaier, der Koch«, erklärte Huber. »Dann wird das Schwein ebenfalls schon vor ein paar Tagen umgebracht worden sein.«
Reichel nickte. »Ein Serienmörder, der nach und nach die Bewohner Lendnitzens ausrottet.« Er schüttelte den Kopf. »Nur, was um alles in der Welt hat den Mann veranlasst, die Leichen in seinem eigenen Lastwagen spazieren zu fahren?«
*
»Weshalb er die Leichen in seinem eigenen Lastwagen spazieren gefahren hat? Ich hoffe, das wird die Polizei niemals erfahren«, sagte Johann. Es war Freitagabend und er konnte immer noch nicht glauben, dass seine albtraumhafte Woche vorbei war.
»Gefälschte Ausweise, gesuchter Verbrecher. Was für ein Zufall, dass wir uns das richtige Auto ausgesucht haben«, grinste Elena und fügte hinzu: »Ich wusste doch gleich, dass da was nicht stimmen kann. Drei Tage im Moulin Rouge. Drei Tage!«
Johann nickte und schob einen Heuballen vom Auto seiner Mutter. Der Wagen war zwar etwas verbeult, hatte jedoch keine ernsthaften Schäden davongetragen. Johann sollte so schnell wie möglich nach Hause fahren. Seine Mutter machte sich bestimmt Sorgen. Und er musste ihr die frohe Botschaft mitteilen, dass er kein gesuchter Schwerverbrecher auf der Flucht vor der Justiz war.
»Wenigstens kann ich jetzt ruhig schlafen. Der Mörder läuft nicht mehr frei auf meinem Anwesen herum.«
»Außerdem hast du ja Hildegard.« Ja, das war der einzige Nachteil: Elena schien niemanden mehr zu brauchen, der sie in der Nacht beschützte. Sie lachte. »Außerdem habe ich Hildegard«, bestätigte sie. »Gar kein schlechtes Polizeischwein, was meinst du? Immerhin hat sie den Verbrecher gefasst.«
»Sie hat einen Preis verdient.«
»Kommst du uns mal besuchen?«, fragte Elena und strich sich eine Locke hinter das Ohr. »Jetzt, wo du ein freier Mann bist.«
»Hier? Bei dir?«
»Auf ein Stück Kuchen vielleicht?«
Johann wurde rot. Er nickte schnell und räusperte sich. Sei männlich, ermahnte er sich. »Sicher. Ich muss jetzt aber los. Meine Mutter wartet.«
»Mach’s gut.« Elena umarmte ihn. »Danke für alles.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und trat zurück.
Ein Kuss auf die Wange.
Johanns Hand lag immer noch auf der Stelle, die Elena geküsst hatte, als er den Wagen zu Hause abstellte.
Benommen schloss er die Haustür auf. »Mama? Ich bin wieder da.«
Er erhielt keine Antwort.
»Mama?«
In der Küche fand Johann einen Zettel auf dem Tisch:
›Lieber Johann,
falls du früher als ich nach Hause kommen solltest, es ist noch etwas Kartoffelpüree im Kühlschrank. Ich bin bei Christian. Er ist Staubsauger-Vertreter und wir haben uns gestern im Supermarkt kennengelernt. Du kannst dir nicht vorstellen …‹
Johann knüllte den Brief zusammen und schlurfte in sein Zimmer. Bruce Willis sah ihn vorwurfsvoll an. »Hast ja recht«, sagte Johann zu ihm und ließ sich aufs Bett fallen. Seine Mutter hatte mehr Sex als er. Seine Mutter!
Wütend schlug er mit der Hand auf das Kopfkissen.
Bruce Willis sah ihn weiterhin vorwurfsvoll an und Johann dachte an ›Color of Night‹. Vielleicht sollte er sich den erotischen Verführer Bruce zum Vorbild nehmen statt den Terroristenjäger? Schließlich hatte Johann auch ›The Sixth Sense‹ aus seinem persönlichen Filmkatalog gestrichen. Tote Menschen sehen, herzlichen Dank, die Fähigkeit hatte er selbst.
Johann sah Bruce in die Augen.
Elena hatte ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. Bruce Willis schien zu grinsen und Johanns Mundwinkel zuckten. Elena hatte ihn geküsst. Das bedeutete etwas. Oder etwa nicht?
Bruce Willis nickte. Ganz bestimmt hatte er genickt.
Ja, es bedeutete etwas. Die Frage war nur, ob Johann es tatsächlich wagen sollte.
Er biss sich auf die Unterlippe und schielte zu Bruce. ›No risk, no fun‹ war das Motto eines Helden.
Johann zwinkerte dem Poster zu, nahm seine Jacke und lief zum Auto. Elena hatte ihn bewundernd angesehen. Und sie hatte ihn auf ein Stück Kuchen eingeladen. Jetzt war Johann am Zug. Er würde männlich sein, er würde aufregend sein und dann, ja dann würde er nicht mehr eifersüchtig auf die Abenteuer seiner Mutter sein müssen. Entschlossen trat Johann aufs Gaspedal und freute sich auf die kommende Nacht.
*
Hauptkommissar Fritz Reichel freute sich zumindest über eines: Die verbleibenden 134 Tage würden wie im Flug vergehen.
Gut gelaunt saß er im Anmeldezimmer des Polizeireviers und füllte Formulare aus. Besser hatte es gar nicht laufen können. Der Fall war gelöst, vom Bauern würde es keine weiteren Vermisstenmeldungen geben und Amalie Bachmaier war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Es war Ruhe eingekehrt in Lendnitz.
»Ich möchte mich stellen.« Zitternd und nur mit einem Nachthemd bekleidet kam Harald Moschik durch die Tür des Präsidiums.
Reichel sah auf. »Herr Moschik?« Der arme Mann schien völlig durcheinander.
»Ich gestehe alles. Morde. So viele Morde.« Seine Augen zuckten von links nach rechts und er knabberte nervös an seinem Daumen.
»Herr Moschik«, wiederholte Reichel in beruhigendem Tonfall. »Nehmen Sie doch Platz.«
Der Koch sah sich um, setzte sich, stand wieder auf. »Ich … ich habe … habe jemanden umgebracht? Ich habe jemanden ermordet? Ja, ganz sicher habe ich jemanden ermordet. Karl Bachmaier zum Beispiel!« Harald Moschik war sichtlich verwirrt. »Ich möchte gestehen, jawohl, um meine Schuld zu büßen. Schwere Verbrechen habe ich begangen. Ja. Sehr schwere. Deshalb müssen Sie mich festnehmen. Ins Gefängnis stecken. Nie wieder herauslassen.«
»Herr Moschik.« Kommissar Reichel versuchte es erneut mit dem beruhigenden Tonfall. »Ich weiß, dass Sie niemanden umgebracht haben.«
»Aber Sie müssen mich festnehmen. Wegsperren. Einschließen.« Immer eindringlicher redete Moschik auf Reichel ein, bis er sich schließlich quer über den Schreibtisch warf.
»Bitte, stecken Sie mich ins Gefängnis! Sperren Sie mich ein. Bitte, geben Sie dieser Amalie Bachmaier nicht die Chance, mich noch einmal in die Finger zu kriegen.« Aus Moschiks Stimme sprach inzwischen die nackte Panik und er war den Tränen nahe. »Diese Frau, diese Furie! Herr Kommissar, haben Sie Erbarmen, nehmen Sie mich in Zeugenverwahrung, in Untersuchungshaft, tun Sie mit mir, was Sie wollen, nur schließen Sie mich zur Sicherheit ein.«
»Frau Bachmaier?« Reichel horchte auf.
»Ja«, heulte Moschik. »Amalie, diese wild gewordene, sexsüchtige Amazone. Sie haben doch keine Vorstellungen, was ich mitgemacht habe. Entführt hat sie mich, zum Flughafen geschleift. Sie wollte, dass ich sie nach Venezuela begleite. Lebenslänglich, Herr Kommissar. Bitte, ich gestehe alles. Aber Sie dürfen mich nicht dieser Irren ausliefern.«
Daher wehte also der Wind. Reichel wusste nicht, ob er lachen oder Mitleid mit dem Koch haben sollte.
»Gerade eben so konnte ich noch fliehen. Ich will nicht zurück! Ich kann nicht.« Bei seinen letzten Worten sank der Koch in seinem Stuhl zusammen und fing an, zu schluchzen.
»Wie konnten Sie denn fliehen?«, fragte Reichel neugierig. Das interessierte ihn jetzt doch. Er hatte Amalie Bachmaiers Pfunde am eigenen Leib erfahren und war ihnen knapp entkommen. Und er war dienstältester Polizist in Lendnitz. Moschik war nur Koch.
»Ich habe ihr einen Marsriegel gekauft.« Moschik wischte sich die Tränen ab. »Daraufhin war sie für einen kurzen Augenblick unaufmerksam und ich konnte fliehen.«
Reichel nickte anerkennend und beschloss, den armen Mann von seinen Qualen zu erlösen. Er griff zum Telefon. »Bin ich mit dem Stationszimmer verbunden? Hauptkommissar Reichel am Apparat, bitte richten Sie Herrn Dr. Weisshaupt aus, ich habe seinen Flüchtling wieder. Nein, er weiß dann schon Bescheid. Ich werde den Kranken persönlich zurückbringen. Auf Wiederhören.« Reichel fasste Moschik an der Schulter. »Herr Moschik, ich sage es nur ungern. Aber Sie leiden an traumabedingter Paranoia und höchstwahrscheinlich Schizophrenie. Herr Dr. Weisshaupt ist ein sehr fähiger Psychiater, der sich gut um Sie kümmern wird.« Unbeholfen tätschelte er Moschik den Arm. »Alles, was Sie mir da gerade erzählt haben, sind Halluzinationen. Fantasiebilder.« Er hatte Mitleid mit dem Koch. »Auch Amalie Bachmaier, Herr Moschik. Es gibt keine Amalie Bachmaier. Alles war nur ein böser Traum.«
Moschik sackte in sich zusammen.
»Ja«, schluchzte er. »Halluzinationen. Fantasiebilder. Alles nur ein böser Traum.«
»Genau«, bestätigte Reichel. »Alles ist nur in Ihrer Fantasie passiert. Und jetzt gehen Sie sich schön ausruhen.« Er führte Moschik aus seinem Dienstzimmer. »Huber! Wir müssen jemanden ins Krankenhaus bringen!«