Donnerstag

 

Johann war etwas unbehaglich zumute, als er am Donnerstag um 11.15 Uhr sein Fahrrad am Hintereingang des Schlosshotels abstellte. Er wusste nicht, was ihn heute erwartete. Ein tobender Koch? Ein toter Koch?

Im Flur traf Johann wie gewöhnlich auf Harald Moschik, doch statt der üblichen Vorwürfe verschwand der Souschef wortlos in der Küche. Das war eine angenehme Abwechslung. Der Tag sah gleich besser aus, fand Johann. Er zog sich im Umkleideraum seine Kochjacke an und warf einen Blick zu Bruce Willis. Er schien ihm von seinem Poster aus ermunternd zuzunicken und Johann schlenderte in die Küche.

Dort traf er Karotte, den Lehrling im dritten Lehrjahr, dem sein Spitzname gegeben worden war, weil er einmal ein Bund Möhren schneller klein gehackt hatte als Harald Moschik. Das war ihm zum Verhängnis geworden. Seitdem hasste Moschik Karotte mehr als alle anderen. Es war eine regelrechte Obsession. Obwohl Johann zugeben musste, dass er derzeit einen guten zweiten Platz belegte und aufholte.

Karotte war damit beschäftigt, die Spülmaschine einzuräumen. »Da habe ich mir ja genau die falsche Zeit für meinen Urlaub ausgesucht«, sagte er statt einer Begrüßung. »Die Gäste müssen furchtbar wütend sein.«

»Ach, die bleiben schon nicht aus.« Johann war entschlossen, heute nur die positiven Seiten des Lebens zu sehen. Bisher gab es keine Leichen, noch nicht einmal einen Souschef, der ihm an den Karren fahren wollte. Als Karotte sich verabschiedete, um das Lager aufzuräumen, machte Johann sich grinsend ans Kartoffelschälen. So arbeitete er am liebsten: allein und ungestört. Er wollte gerade anfangen, vor sich hin zu summen, da hörte er ein Räuspern hinter sich. Johann drehte sich um und erstarrte. Harald Moschik stand mit einem Messer in der Hand vor ihm und wirkte nervös.

»Ich weiß genau, was du getan hast«, sagte er. Seine Augen flitzten hin und her. »Die Ärzte wollen mir weismachen, ich hätte Halluzinationen. Die Kopfverletzungen hätten mich verrückt werden lassen.« Sein Kopf zuckte nach rechts und gleich wieder zurück.

»Herr Moschik, bitte«, versuchte Johann es in einem beruhigenden Tonfall. Er hatte gehört, dass so etwas helfen sollte. Auf Moschik hatte es den gegenteiligen Effekt. Er riss die Augen auf und streckte das Messer in Johanns Richtung.

»Ich weiß, was ich gesehen habe!«, rief er. »Ich weiß es. Ich habe dich gesehen. Dich, wie du Bachmaier ermordet hast!«

Johann wollte seinen Chef darauf hinweisen, dass er rein technisch betrachtet nur beobachtet hatte, wie er neben dem toten Bachmaier gestanden hatte. Ein Mord war da überhaupt nicht passiert. Aber dann fürchtete Johann, dass ihm das als Eingeständnis seiner Tat ausgelegt werden könnte, und er hielt lieber den Mund.

»Ich werde dich überführen«, kündigte Moschik daraufhin an. Seine Augen wanderten immerzu unruhig im Raum hin und her und seine Lippen bewegten sich weiter, obwohl er schon fertig gesprochen hatte. »Ich werde beweisen, dass du es getan hast. Da kannst du Gift drauf nehmen.«

»Alles in Ordnung?«, fragte in dem Moment Marko, der aus dem Restaurant gekommen war.

Moschik lachte gekünstelt auf und drehte sich zur Arbeitsfläche um. »Kartoffelschälen!«, sagte er und fuchtelte mit dem Messer herum. »Wir schälen Kartoffeln.«

Marko nickte langsam und ungläubig. Als Moschik vor sich hinbrabbelnd auf die Kartoffeln einzuhacken begann, stieß Marko Johann mit dem Ellenbogen an.

»Total plemplem«, flüsterte er. »Das war zu viel gestern.«

Moschik wirbelte herum. »Was gibt es da zu reden?«

»Nichts«, seufzte Johann. Was diesen Tag anging, hatte er sich zu früh gefreut. »Ich bring mal den Müll raus.« Er sammelte die Kartoffelschalen ein, nahm die große Plastiktüte aus dem Eimer und klemmte sich ein paar Flaschen unter den Arm. Draußen atmete er tief durch. Da war sie dahin, seine Hoffnung auf einen besseren Tag. Irgendwie konnte er es Moschik noch nicht einmal verdenken.

»Warte mal!« Karotte kam mit einigen leeren Kartons den Flur hinuntergerannt. »Hier. Die kannst du gleich mitnehmen.«

Johann nickte, balancierte die Kartons mit einer Hand und ging auf den Verschlag mit den Mülltonnen zu.

»Was ist das denn?«, fragte Karotte, der im Eingang stehen geblieben war.

»Was?« Alarmiert blickte Johann auf. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Egal, was dort war, er wollte es nicht wissen.

»Na, wieso ist der Müll so durcheinander? Da liegen doch Glasflaschen im Plastikmüll!«

Seufzend, aber nur halb erleichtert drehte Johann sich um. Müll war besser als Leichen.

»Mann, Mann, Mann. Kaum bin ich eine Woche im Urlaub, geht hier alles drunter und drüber«, meckerte Karotte.

»Kein Problem, ich schaff hier Ordnung«, sagte Johann. Müll war nicht nur besser als Leichen, sondern auch besser als Harald Moschik, der ihm einen Mord anhängen wollte.

Karotte verschwand wieder in der Küche, und Johann machte sich auf den Weg in den Umkleideraum, um sich Plastikhandschuhe zu holen. Restaurantabfälle konnten ganz schön eklig sein.

Als er zurückkehrte und gerade dabei war, die Kartons platt zu treten, fiel sein Blick auf etwas Rotes hinter den Mülltonnen. War das ein Schuh? Johann wurde schlecht.

Er blickte starr woanders hin, während er weiter die Pappe zertrat. Am Hintereingang bewegte sich etwas. Erstaunt beobachtete Johann, wie Harald Moschik in gebückter Haltung über den Hof lief und sich den Mülltonnen näherte. Als Johann ihn ansah, sprang er hinter einen Busch.

»Ach du meine Güte«, murmelte Johann. Der war wirklich total hinüber. Was wollte er? Ihn observieren? Johann tat so, als bemerkte er Moschiks Gegenwart nicht und warf die Glasflaschen in den Container.

Moschik wagte sich hinter seinem Busch vor, sprang schnell hinter den nächsten Baum, lugte mit einem Auge hervor und rannte dann in langen Sätzen hinter die Mülltonnen. Dort gab er einen erstickten Aufschrei von sich, vergaß seine Deckung und taumelte zurück. »Himmel hilf!«, krächzte er.

Johann hörte auf, so zu tun, als hätte er Moschiks Anwesenheit nicht bemerkt. »Was ist denn?«, fragte er und drehte sich um. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Moschik auf die Mülltonnen, hinter denen sich offenbar etwas verbarg. Allem Anschein nach etwas Grausliches. Johann seufzte.

»Du Mörder!« Alle Farbe war aus Moschiks Gesicht gewichen. Er stolperte Richtung Restaurant. »Du bist doch verrückt«, flüsterte er. »Du bist irre. Ein irrer Serienmörder!« Moschik lachte hysterisch, drehte sich abrupt um und floh zurück in die Küche.

»Herr Moschik!«, schrie Johann ihm hinterher, bevor er die Verfolgung aufnahm. Was hatte der Mann denn jetzt schon wieder? In Panik beschleunigte Johann seine Schritte, um Moschik zu erwischen. Doch der stürmte voran in die Küche, schrie: »Telefon! Polizei!«, und fiel über den Servierwagen, den Marko gerade in die Küche schob. Es schepperte, Teller und Gläser zerbrachen, Karotte schrie auf und Moschik lag mit merkwürdig verdrehter Schulter auf dem Boden.

»Herr Moschik?«, fragte Marko und beugte sich nach vorn.

Johann lehnte sich an die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Er brauchte Urlaub. Dann drückte er sich von der Wand ab und verkündete mit gespielter Entschlossenheit: »Ich ruf die Rettung.«

»Was auch sonst?«, kicherte Marko.

»Herr Moschik?«, hörte Johann Karotte vorsichtig fragen. »Herr Moschik, wachen Sie auf. Was sollen die Gäste denken?«

Aber es half nichts. Moschik blieb bewusstlos.

 

Die Sanitäter kamen gleich in die Küche und grüßten Johann mit Handschlag.

»Heute keinen Todesfall?«, grinste der eine. »Wird ja langsam langweilig.«

»Eben«, pflichtete ihm der andere bei. »Wenn wir schon Dauergäste bei euch sind, solltet ihr uns auch was bieten. Moschik, Kopfverletzung. Das dritte Mal in drei Tagen. Der Mann sollte sich eine Auszeit gönnen, so etwas sollte nicht zur Gewohnheit werden.« Er zwinkerte seinem Kollegen zu, der dröhnend lachte.

Sie bugsierten Moschik auf ihre Trage und verschwanden mit Sirene und Blaulicht ins Krankenhaus.

Es blieb nichts mehr zu tun, als das Restaurant zu schließen.

»Wir könnten den Laden auch allein schmeißen«, meckerte Karotte, während er seine Kochjacke auszog. Er war schon immer ein Streber gewesen. Das große Vorbild, das Karl Bachmaier Johann ständig vorgehalten hatte.

Johann nickte abwesend und verstaute seine Jacke im Spind. Bruce Willis blickte ihn eindringlich an. Seine Aufgabe für heute war noch nicht erledigt. Es blieb die Frage, was Moschik so aus der Fassung gebracht hatte. Was war da hinter den Mülltonnen?

Johann trödelte beim Umziehen und Aufschließen seines Fahrrads so lange, bis er schließlich allein auf dem Parkplatz stand.

Vorsichtig ging Johann zu dem kleinen Verschlag, nahm all seinen Mut zusammen und schaute hinter die Tonnen.

»Das darf nicht wahr sein!«, entfuhr es ihm laut. Da lag eindeutig ein toter Mann. Noch einer! Diesmal hatte Johann keine Ahnung, wer die Leiche war. Er kniete sich neben den Toten und sah sich das Gesicht näher an. Doch irgendwie kam ihm der Kerl bekannt vor. Er kramte in seinem Gedächtnis, fand nichts und entschied, dass es im Grunde egal war. Die Leiche musste verschwinden. Nach den erneuten Anschuldigungen durch Harald Moschik stand er im Fadenkreuz der Ermittlungen. Warum hatte es das Schicksal nur so auf ihn abgesehen? Womit hatte er das verdient?

 

*

 

Womit hatte sie das verdient? Unglücklich holte Natalie eine Packung Eis aus dem Gefrierschrank. Heute Morgen war Martin ziemlich mitgenommen und schlecht gelaunt ins Moulin Rouge gehumpelt, seitdem lag er im Bett, sah fern und verlangte von ihr, sich um ihn zu kümmern.

»Wo bleibt mein Eis?«

Im einen Zimmer ein bewusstloser Psychopath, im anderen ein nörgelnder Zuhälter.

»Martin, wir müssen was ändern.« Sie legte ihm das Eis aufs Bein.

»Bring mir lieber was zu trinken.« Martin hatte sichtlich keine Lust, mit ihr zu sprechen.

»Ich mein’s ernst«, versuchte Natalie es ein weiteres Mal. »Du bist verletzt, du kannst kaum laufen. Was, wenn der Verrückte aufwacht?«

»Dann verabreichst du ihm eine hübsche Ladung seines Drogencocktails.«

War Martin komplett übergeschnappt?

»Das werde ich ganz sicher nicht tun«, begehrte Natalie auf. Sie fühlte sich um einiges sicherer, seit sie wusste, dass Martin nicht laufen konnte.

»Was soll das denn jetzt?« Martin stützte sich auf seinen Ellenbogen. »Hör zu, wir sind so dicht dran.« Er zeigte ihr mit Daumen und Zeigefinger, wie dicht genau. »Um ein Haar hätte es gestern Nacht geklappt und ich wär im Drogengeschäft.«

»Und dann?« Natalie merkte, wie ihr schon wieder die Tränen kamen. »Dann wird alles nur noch illegaler.«

»Ich hab’s dir schon mal gesagt. Wenn du nicht die Klappe hältst, verpfeif ich dich an die Bullen.« Martin machte eine Drohbewegung mit der Hand. »Oder noch Schlimmeres«, herrschte er sie an. Dann nahm er das Spritzbesteck und das Tütchen mit dem weißen Pulver vom Nachttisch und hielt es Natalie hin.

Ängstlich schüttelte sie den Kopf. Sie machte zwei Schritte rückwärts, bis sie im Türrahmen stand.

»Hey!« Martins Stimme wurde scharf und Natalie zuckte zusammen. Sie war mit den Nerven am Ende.

»Du kommst jetzt auf der Stelle her«, zischte er und Natalie gab nach. Im Augenblick wirkte ein humpelnder Martin bedrohlicher als ein bewusstloser Psychopath. Sie fuhr sich mit zitternden Händen durch die Haare und nahm Martin das Spritzbesteck ab.

Leise und auf Zehenspitzen betrat sie das Zimmer des Kunden und schlich sich an ihn heran. Wie sollte sie ihm die Spritze überhaupt verabreichen? Sie nestelte den Kolben aus der Spritze und versuchte herauszufinden, wie sich das Pulver verflüssigen ließ. Hatte Martin es erhitzt?

»Was dauert das denn so lange?«, schrie Martin aus seinem Zimmer.

Das weckte den Psychopathen auf. Der Mann grunzte, drehte sich um und Natalie ließ vor Schreck das Pulvertütchen fallen. Der Inhalt verteilte sich auf dem Fußboden. Mit aufgerissenen Augen blieb sie wie erstarrt stehen. Der Verrückte gab einen weiteren Laut von sich und Natalie machte auf dem Absatz kehrt. Sie hetzte durch den Flur ins allerletzte Zimmer am Ende des Ganges. Den Schlüssel drehte sie zweimal um. Dann ließ sie sich erleichtert an der Tür zu Boden sinken.

 

*

 

Kriminalkommissar Reichel ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Noch 136 Steine, dann hätte er seine Karriere in Ruhe ausklingen lassen können. Und jetzt das. Ein verschwundenes Schwein, ein verschwundener Koch. Natürlich, es gab die Verdächtige Amalie Bachmaier. Die hatte ganz klar was ausgefressen. Aber ob sie auch ihren Mann ermordet hatte? Ob Karl Bachmaier überhaupt ermordet worden war?

»Herr Kommissar?« Huber war beim Eintreten ungewöhnlich zurückhaltend. »Die Laborergebnisse sind da. Von dem im Schlosshotel konfiszierten Fleisch hat 70 Prozent das Verfallsdatum schon lange überschritten.« Er schüttelte den Kopf. »Und das soll die gute alte Kärntner Küche sein.«

»Lassen Sie mich raten: In Klagenfurt hätte es das nicht gegeben?«

Huber schüttelte traurig den Kopf, dann hellte sich seine Miene auf. »Was für ein heißes Pflaster wir hier haben, Chef! Das Verbrechen lauert hinter jeder Tür.«

Reichel schob den Enthusiasmus seines Assistenten beiseite. Verbrechen hinter jeder Tür, vielleicht sollte der junge Mann einfach nach Wien wechseln. Obwohl er sich da vermutlich rein aus Prinzip weigern würde.

»Die Alte hatte also recht mit ihrem Gammelfleisch.« Auch auf Reichels Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Wissen Sie, was das bedeutet, Huber?«

Sein Assistent schüttelte den Kopf.

»Das bedeutet, dass Bachmaier wahrscheinlich getürmt ist. Dieser Seligmann hat Wind von der Sache gekriegt, Bachmaier wusste, dass wir ihm früher oder später auf die Schliche kommen würden, und ist abgehauen. Wir könnten eine Fahndung rausgeben.« Reichel gratulierte sich selbst. So elegant wie er löste nur selten jemand Fälle.

»Sollten wir nicht die übrigen Angestellten des Schlosshotels noch einmal vernehmen?« Huber, das jugendliche Gewissen. Huber, die Nervensäge.

»Meinetwegen«, stimmte Reichel schließlich zu. »Rufen Sie diesen Kochlehrling und die Kellner an und bestellen Sie sie für heute Nachmittag aufs Revier.«

Ein, zwei Vernehmungen mehr oder weniger konnten ihm seinen Tag auch nicht mehr versauen. Er holte die nötigen Formulare aus der Schreibtischschublade und sah zu seiner Steinsammlung. Gestern hatte er in all der Aufregung glatt vergessen, Nummer 137 aus dem Fenster zu werfen.

»Da wäre noch etwas«, druckste Huber herum. »Wir haben …« Er zog eine Grimasse. »Wir haben einen Mord gemeldet bekommen.«

Reichel fielen die Dokumente aus der Hand.

»Nicht schon wieder!«

»Doch, schon wieder.« Huber kratzte sich verlegen am Kopf. »Harald Moschik hat angerufen. Aus dem Krankenhaus.«

Reichel stöhnte. Seine Laune verschlechterte sich schlagartig. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Dieser bescheuerte Koch!

»Na, es hilft nichts, Huber. Da müssen wir jetzt durch. Dann lassen Sie uns ins Krankenhaus fahren.« Hoffentlich behielt Dr. Weisshaupt den Irren diesmal endgültig dort.

»Wir müssen ihn nach dem Ergebnis der CT fragen«, bemerkte Huber auf dem Weg zum Dienstwagen.

»Wie bitte?«

»Computertomografie. Wird eingesetzt, um Kopfverletzungen zu bestimmen.«

»Aha.« Reichel hatte keine Ahnung, woher Huber auf einmal medizinisches Wissen besaß. Er schloss den Dienstwagen auf und sein Assistent zückte wieder einmal seinen Notizblock.

»Dr. Weisshaupt hat mir erklärt, dass schwere Schäden oft nicht von außen erkennbar sind.«

Reichel schnaubte. Schwere Schäden waren bei Moschik ganz deutlich erkennbar!

Den Rest der Fahrt verbrachte Huber damit zu erklären, was Gehirnerschütterungen waren und wie sogar unentdeckte Kopfverletzungen Wahrnehmungsstörungen hervorrufen konnten.

Wahrscheinlich besuchte Huber abends Kurse an der Volkshochschule. Oder er studierte nebenbei an der Fernuni.

Schließlich fing Huber auch noch an, über Traumaforschung zu dozieren, und Reichel stieß einen erleichterten Seufzer aus, als er in die Krankenhauseinfahrt einbog.

»Zurück zur Polizeiarbeit.«

Huber sprang aus dem Wagen und eilte Reichel voraus zum Empfang, wo er nach Moschiks Zimmernummer fragte.

Als Reichel vorsichtig die Tür 214 öffnete, wurde Harald Moschik gerade von zwei Pflegern festgehalten, während ein dritter ihm eine Spritze verpasste.

»Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich in Ruhe!«, schrie der Koch und versuchte, die Pfleger abzuschütteln.

Reichel drehte sich zu seinem Assistenten um. Hinter ihm erschien Dr. Weisshaupt.

»Was machen Sie denn schon wieder hier?«, fragte er mit einem Stirnrunzeln.

Reichel verzog den Mund. Als ob er freiwillig hergekommen wäre! Der Arzt zuckte mit den Schultern, gab den Pflegern kurze Anweisungen und keine Minute später lag Moschik ruhig in seinem Bett.

»Ist der Mann vernehmungsfähig?«, fragte Reichel misstrauisch. Dem Koch lief Speichel aus dem linken Mundwinkel.

»Ach? Heute fragen Sie mich das?«, gab der Doktor zurück und fügte hinzu: »Wenn Sie unter vernehmungsfähig ungefähr den gestrigen Zustand meinen, dann ja. Ich weiß nicht, ob Sie viel aus ihm herausbekommen werden. Er redet ziemlich wirres Zeug.«

»Wirrer als gestern?«, mischte sich Huber ein.

Dr. Weisshaupt wiegte den Kopf hin und her. »Versuchen Sie einfach Ihr Glück.«

Das hatte Reichel ja geahnt. »Großartig«, grummelte er und schob sich einen Stuhl neben dem Bett zurecht. »Herr Moschik«, fing er an.

»Blut«, sagte Moschik. »Mord. Sie!« Er stieß einen zittrigen Zeigefinger in Reichels Richtung. »Blut. Sie!«

»Ich?«, fragte Reichel verwirrt.

Moschik bäumte sich auf. »Blut!«

Huber wich erschrocken einen Schritt zurück. Der Hauptkommissar kniff die Augen zusammen. »Herr Moschik«, versuchte er es in festem Tonfall. »Sie haben heute bei der Polizei angerufen und einen Mord gemeldet. Wieder einmal. Ist das korrekt?« Er holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Jackentasche.

»Mord!«, brüllte Moschik.

Reichel lächelte gequält. »Das wissen wir, Herr Moschik. Wir würden jetzt aber gern von Ihnen erfahren, wo und wann. Ganz zu schweigen von: wer!«

Huber hüstelte nervös in seiner Ecke neben der Tür und hielt sicheren Abstand zum kranken Koch.

»Mord!«

»So kommen wir nicht weiter, Herr Moschik. Sie müssen mir schon erzählen, was passiert ist«, sagte Reichel etwas entnervt.

»Blut«, stieß Moschik ein weiteres Mal hervor. Daraufhin verdrehten sich seine Augen und er schlief ein.

»Fantastisch«, kommentierte Reichel. »Blut und Mord. Damit kann ich ja ungeheuer viel anfangen.« Verärgert steckte er den Notizblock ein. Der Arzt stand grinsend neben der Tür.

»Ich weiß, ich weiß. Sie haben es ja gesagt«, winkte Reichel ab und ging an ihm vorbei auf den Flur.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Huber hinter ihm.

Reichel fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Gar nichts. Unser einziger Zeuge ist verrückt. Abgesehen davon, dass er völlig unglaubwürdig ist. Schon gestern hat er uns eine haarsträubende Lügengeschichte verkaufen wollen. Wenn Sie mich fragen …« Reichel machte eine vielsagende Geste.

»Das Dorfleben.« Huber nickte. »Kein Kino, keine Schwimmhalle, nur Bingo-Abende und eine Bibliothek.«

»Was hat das jetzt mit Moschik zu tun?«

»Chef, wir haben Abwechslung! Wir haben Morde und Entführungsfälle und Drogen. Aber die normalen Lendnitzer?« Huber schüttelte mitleidig den Kopf.

Reichel wies ihn nicht darauf hin, dass Klagenfurt kaum eine halbe Stunde entfernt lag. Der Postbus fuhr zweimal am Tag. »Der Mann hat einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen. Das würde Sie auch von den Socken hauen.« Huber zuckte mit den Schultern. »Wir konzentrieren unsere Ermittlungen jetzt auf Frau Bachmaier und diese Sache mit den Drogen, von der die Alte gesprochen hat«, wechselte Reichel das Thema. »Das vermisste Schwein wartet auch noch auf uns. Und was ist mit den anderen Angestellten?« Huber zog fragend die Augenbrauen hoch. »Die wollten Sie doch wegen der Gammelfleisch-Sache ins Revier holen. Rufen Sie da mal an, Huber.« Sein Assistent nickte und griff zu seinem Handy.

»Mörder!« Harald Moschik riss die Tür zu Zimmer 214 auf. Blass stand der Koch in seinem Krankenhausnachthemd auf zittrigen Beinen im Flur.

»Mörder! Mörder!« Im nächsten Augenblick nahm er Anlauf, flitzte an Reichel und Huber vorbei, ließ Dr. Weisshaupt und zwei verdutzte Krankenpfleger hinter sich und raste dem Ausgang zu. Die Krankenschwester an der Aufnahme versuchte halbherzig, ihm den Weg zu versperren, doch Moschik schlug zwei Haken, rannte eine alte Frau mit Krückstock, einen Mann mit Tropfständer und die Putzfrau mitsamt ihrem Wagen um, dann war er draußen.

»Ähm.« Huber leckte sich nervös über die Lippen. Reichel winkte ab.

»136«, flüsterte er und setzte laut hinzu: »Lassen Sie’s gut sein. Das hier fällt glücklicherweise nicht in unsere Zuständigkeit.« Er lächelte Dr. Weisshaupt, der hinter Moschik her an ihm vorbeischoss, freundlich an. »Der taucht schon irgendwo wieder auf. Und wenn nicht …« Reichel zuckte mit den Achseln.

 

*

 

Resigniert zuckte Johann die Achseln. Woher die vielen Leichen kamen, die überall im Schlosshotel auftauchten, wollte er gar nicht wissen. Es reichte ihm, dass er bei jedem der Todesfälle unter dringendem Tatverdacht stand. Er parkte direkt vor dem Müllverschlag. Johann hatte seine Mutter nach dem Auto gefragt, worauf sie abwesend genickt hatte. Sie war weiterhin in ihre Gedanken verstrickt, ob sie Rache an Martin Ammerschmidt nehmen oder sich einfach mit dem Studienrat vergnügen sollte.

»So langsam will ich sie aber wirklich kennenlernen«, hatte sie gesagt. Daraufhin hatte Johann verlegen gegrinst und nicht geantwortet. Es war wohl besser, seine Mutter in dem Glauben zu lassen, er hätte eine Freundin. Johann hatte keine Lust, sie darüber aufzuklären, dass er das Auto mal wieder für einen Leichentransport benötigte.

Der Tote befand sich noch immer genau da, wo er vorher gelegen hatte. Johann zog die mitgebrachten Gummihandschuhe an und machte sich an die Arbeit. Es dauerte seine Zeit, bis er die Leiche im Kofferraum verstaut hatte. Der Mann war zwar nicht so dick wie Bachmaier, aber größer – und vor allem war er noch nicht zerlegt. Die kleinen Stücke, in die Bachmaier zerteilt gewesen war, hatte er stapeln können.

Der Tote war schwer und Johann kam ins Schwitzen. Es war nicht einfach, ihn in den Kofferraum zu hieven, die Beine zu knicken und den Deckel zuzuschlagen. Die Leiche ließ sich einfach nicht zusammenklappen, ständig schaute eines der Gliedmaßen über den Rand.

Verärgert bog Johann schließlich die widerspenstige rechte Hand hinter den Rücken des Mannes. Es gab ein Knirschen, bei dem Johann zusammenzuckte, aber endlich blieb der gesamte Tote im Kofferraum. Erleichtert knallte Johann die Heckklappe zu.

Auf dem Weg zum Anwesen des Bauern fragte Johann sich, wie tief so eine Jauchegrube eigentlich war und wie viele Leichen sich da noch verstecken ließen, bis sie überlief.

Er stellte das Auto kurz hinter dem Moser-Hof am Straßenrand ab und blickte sich um. Glücklicherweise war wieder weit und breit niemand zu sehen. Aufgrund des Geschreis, das aus dem Bauernhaus zu hören war, nahm Johann an, dass Elena und ihr Mann für den Moment beschäftigt waren. Das Moulin Rouge wirkte so tot wie immer, nur die Lämpchen blinkten stumm vor sich hin. Johann öffnete vorsichtig den Kofferraum und wiederholte die ihm schon fast vertraute Prozedur: Leiche über den Zaun werfen und hinterherspringen. Zur Jauchegrube zerren, Luft anhalten, Leiche über den Rand schubsen. Wie schon Bachmaier und das Schwein verschwand sie blubbernd und ohne Spuren zu hinterlassen in der stinkenden Gülle.

Erleichtert atmete Johann auf und machte sich auf den Weg zurück zum Auto. In einiger Entfernung sah er Elena auf sich zukommen. Sie ruderte wild mit den Armen. Hatte sie ihn diesmal dabei gesehen, wie er die Leiche entsorgte? Würde er jetzt auffliegen?

»Johann!«, rief sie. »Hilfe!«

Hilfe? Johann begann, wieder zu atmen. Langsam und unregelmäßig, aber immerhin. ›Hilfe‹ bedeutete, sie hatte nicht gesehen, was er gerade gemacht hatte. Sie würde ihn sicherlich nicht um Hilfe bitten, wenn sie bemerkt hätte, dass er gerade eine Leiche in ihrer Jauchegrube versenkt hatte. Außer natürlich … Johann kratzte sich am Kopf. Elenas Streiterei mit dem Bauern über die entlaufene Sau war sehr heftig gewesen, und der Lärm, den er gerade eben gehört hatte, ließ auf eine größere Meinungsverschiedenheit schließen.

»Bitte, Johann! Du musst mir helfen«, stieß Elena außer Atem hervor. Sie war inzwischen bis auf ein paar Meter herangekommen. Sie sah wunderschön aus mit ihren geröteten Wangen und den zerzausten Locken. Johann musste lächeln. Ein toter Bauer mehr oder weniger, was würde das schon ausmachen? Er hatte in den letzten Tagen genug Leichen gesehen. Elena wäre es wert.

»Mein Wagen springt nicht an«, sagte Elena. Johann blinzelte. Der Wagen?

»Der Wagen.« Er nickte eifrig.

»Ich hab’s immer noch nicht geschafft, ihn in die Werkstatt zu bringen. Bernhard hat ihn nur notdürftig zusammengeflickt. Kannst du mir Starthilfe geben?«

»Klar«, sagte Johann. »Kein Problem.« Für Elena würde er alles tun. Unauffällig besah er seine Hände und Kleidung. Keine Blutspuren zu sehen – es war also alles in Ordnung.

»Weißt du, was ich an Lendnitz so hasse?«, fragte Elena, als sie gemeinsam über das Feld zum Bauernhaus stapften. »Dass hier nie etwas passiert. Bernhards entlaufene Sau muss für die Polizei der Höhepunkt des Jahres sein.«

Wenn sie nur recht hätte, dachte Johann sehnsüchtig. Wenn die Leichen doch bloß Harald Moschiks übergeschnappter Fantasie entsprungen wären.

»Und dann Bernhard. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich diesen Idioten geheiratet habe. Kümmert sich den ganzen Tag nur um seine blöden Schweine, aber wenn ich mal in Urlaub fahren will, passiert nichts. ›Wer sorgt für Elfriede und Hildegard?‹ ist jedes Mal seine Ausrede.«

»Elfriede seid ihr ja jetzt los.«

»So viel Glück hab ich nicht. Das verdammte Vieh taucht bestimmt bald irgendwo auf.«

Das wollte Johann nicht hoffen. Er konnte gut auf ein Wiedersehen mit Elfriedes abgetrenntem Kopf verzichten.

»Aber damals habe ich gedacht … nein, gar nichts gedacht habe ich.« Elena seufzte. »Ich wollte einfach nur von zu Hause weg. Da kam Bernhard, ich habe mich schnell entschlossen, ihn zu heiraten, und jetzt werde ich es für den Rest meines Lebens bereuen.« Verärgert kickte sie mit ihrem Fuß einen Stein zur Seite.

»Ihr könnt euch scheiden lassen«, schlug Johann zaghaft vor. Ein Silberstreifen am Horizont! Frei von ihrem widerlichen Ehemann würde Elena in Johanns starke Arme sinken. Er spannte seinen Bizeps vorsichtig an.

»Scheidung geht nicht«, zerstörte Elena seine aufkeimende Hoffnung. »Der Hof, die Felder, die Tiere, alles gehört Bernhard. Einen Beruf habe ich nicht, wovon soll ich leben?«

Sie sah ihn an und Johann meinte, in ihren dunklen Augen Tränen schwimmen zu sehen. Das Mitleid übermannte ihn und fast hätte er Elena in seine Arme gezogen, wenn sie in diesem Augenblick nicht am Bauernhaus angekommen wären. Johanns Blick blieb an der Scheibe zur Wohnungstür hängen. Sie war eingeschlagen.

»Ach das«, lachte Elena künstlich. »Mach dir keine Sorgen. Bernhard und ich hatten einen kleinen Streit.« Einen kleinen Streit. Johann schluckte. Elena hasste ihren Mann. Elena wollte sich nicht scheiden lassen. Das ergab keine gute Gleichung. Vielleicht war er durch die Geschehnisse der letzten Tage etwas überreizt. Er erwartete, den toten Bauern zu sehen, wenn er durch das Loch in der gläsernen Wohnungstür hindurchblickte. Deshalb sah er lieber in die andere Richtung. Überall auf Leichen zu treffen war das eine, aber suchen würde er sie nicht.

Johann straffte sich, lächelte etwas gezwungen und fragte: »Soll ich schieben?«

»Ach danke, das ist wirklich lieb von dir.« Elena sah schon viel fröhlicher aus und Johanns Herz machte einen Sprung. Er stellte sich hinter ihren Käfer, während sie erst das Hoftor öffnete und sich dann hinter das Steuer setzte.

Der Motor ratterte und stotterte, Elena trat das Gas durch und Johann schob. Es tat sich nicht viel, außer dass die Tür zum Bauernhaus aufgerissen wurde und der Bauer höchstpersönlich auf den Hof stapfte. Er sah wütend aus. Eigentlich eher fuchsteufelswild.

»Du Hund, bleder!«, schrie er und schwang ein Nudelholz. Die Theorie, dass der Bauer erschlagen im Flur liegen könnte, hatte sich eindeutig erledigt, und Johann atmete auf, bis er erkannte, dass Moser ihn mit dem Hund gemeint hatte und immer schneller auf ihn zukam.

»Was? Herr Moser, ich hab doch überhaupt nichts gemacht!« Verwirrt sah Johann vom Bauern zu Elena. Die funkelte ihren Ehemann wütend an und drehte am Zündschlüssel. Der Motor sprang an, sie trat das Gaspedal durch und schrie: »Lass mich in Ruhe, Bernhard!« Dann fuhr sie mit Vollgas vom Hof.

»I waß genau, wos du geton host!«, brüllte Moser und stürmte weiter auf Johann zu, der einen Schritt zur Seite machte, sodass der Bauer bäuchlings im Matsch landete.

»Bitte, Herr Moser, ich habe nichts getan«, verteidigte Johann sich, doch Moser hörte nicht zu. Er rappelte sich mühsam hoch und ging erneut zum Angriff über.

»Du host Elfriede auf dem Gwissen! Du host des Tor offn glossen!« Er wurde durch das Quieken eines Schweins unterbrochen, das hinter dem Stall hervorraste. Der Schlamm spritzte nur so durch die Gegend.

Nicht schon wieder! Johann flüchtete über den Zaun des Anwesens in den Straßengraben und hielt schützend die Hände über den Kopf.

»Hildegard!«, schrie der Bauer verzweifelt, doch das wild gewordene Tier flitzte geradewegs durch das Gartentor in die Freiheit.

»Du … Du …!« Moser schäumte vor Wut und Johann fand den Zeitpunkt für eine Flucht ungemein günstig. Er sprang aus dem Graben und lief die Landstraße hinunter nach Lendnitz. In seiner Panik vergaß er, dass das Auto seiner Mutter in der anderen Richtung stand.

Glücklicherweise war der Bauer mit seinen dicken Gummistiefeln gehandicapt und konnte die Verfolgung nicht aufnehmen. Johann sprintete ihm in den nahe gelegenen Wald davon. Nach einigen hundert Metern blickte er sich um und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Du meine Güte, was für ein Nachmittag. Er konnte ja nur mehr besser werden.

 

*

 

Es wurde immer schlimmer. Verwirrt legte Amalie Bachmaier den Hörer auf. Sie hatte gerade den Bestattungsunternehmer angerufen, der daraufhin nach der Leiche gefragt hatte. Wo sollte er die Leiche abholen? Amalie hatte keine Leiche. Sie setzte sich erst einmal an den Küchentisch und überlegte.

Karl war tot, ermordet. Er hatte Geld auf dem Speicher gehortet, weshalb die Mafia hinter ihm her war, ihn wahrscheinlich umgebracht hatte. Lag Karl mit Betonfüßen versehen im Wörthersee? Gab es deshalb keine Leiche? Warum war ihr Gedächtnis auch nur so schlecht? Sie seufzte, setzte den Teekessel auf den Herd und versuchte es noch einmal ganz von Anfang an. Die Polizei war gestern bei ihr gewesen, daran konnte sie sich noch erinnern. Die Polizei musste Bescheid wissen. Mord war schließlich ihr Metier.

Sie suchte im Telefonbuch nach dem Lendnitzer Revier und wählte die Nummer.

»Grüß Gott, Amalie Bachmaier mein Name. Sagen Sie, der Leichnam meines Mannes, wann kann der Bestattungsunternehmer ihn abholen? Und wo?«

»Leiche? Ich weiß von keiner Leiche«, lautete die gelangweilte Antwort.

»Mein Mann, Karl Bachmaier, Chefkoch des Schlosshotels. Ein Mord.«

»Tatsächlich? Da muss ich nachfragen.«

Einige Minuten kleine Nachtmusik später hörte Amalie den Polizisten hüsteln. »Frau Bachmaier? Sind Sie sicher, dass Ihr Mann tot ist?«

Amalie runzelte die Stirn. War sie das?

»Wir haben hier nämlich keine Leiche. Ich habe sogar in der Gerichtsmedizin in Klagenfurt nachgefragt.«

»Ach.«

»Tut mir leid, Ihnen da keine positive Antwort geben zu können, Frau Bachmaier. Aber vielleicht ist Ihr Mann nur unterwegs? Es gibt da so einen neuen Puff am Stadtrand, wo jetzt sehr viele Männer …«

Amalie knallte den Hörer auf. Was jetzt? Wo war Karl? Und warum wusste die Polizei nichts davon? Schließlich war ein Kriminalkommissar bei ihr gewesen. Amalie war so durcheinander. In ihrem Kopf pochte es wieder. Der Teekessel gab einen schrillen Pfeifton von sich. Sie konnte nicht länger über dieses Mysterium nachdenken. Zuerst brauchte sie Tee. Sie überlegte, den labbrigen Diät-Pflaumenkuchen aus der Tiefkühltruhe aufzutauen, da klingelte es an der Tür. Amalie öffnete und sah sich einem blassen Mann im Nachthemd gegenüber.

»Schnell, lassen Sie mich herein«, flüsterte der Mann und Amalie wollte ihm schon die Tür vor der Nase zuwerfen, da setzte er hinzu: »Ich bin Harald Moschik. Es geht um Ihren Mann!«

Der kam ja genau richtig.

»Sie wissen, wo er ist?«

Harald Moschik drehte schnell den Kopf nach rechts, dann nach links. »Tot. Ermordet.« Er sah sich noch einmal um und flüsterte: »Ich habe alles gesehen.«

»Du liebe Zeit.« Ein Augenzeuge! Amalie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Moschik. Kommen Sie doch herein.« Amalie ließ wie selbstverständlich den halb nackten Mann in ihr Haus. Sie ging voraus in die Küche und erzählte ihm währenddessen von ihrem Anruf bei der Polizei.

Moschik nickte aufmerksam.

»Äußerst merkwürdig, nicht wahr?«, fragte Amalie. »Aber darf ich Ihnen vielleicht erst einen Tee anbieten? Oder einen Kaffee?«

»Kaffee wäre fantastisch. Vielen Dank«, nahm Moschik das Angebot an. »Im Krankenhaus gab es nur Kamillentee.« Er schüttelte sich und Amalie tätschelte seinen Arm. Der arme Mann hatte offenbar viel gelitten. Sie brühte extra starken Kaffee, während Harald Moschik am Küchentisch Platz nahm.

»Es ist nämlich so.« Er leckte sich über die Lippen. »Ihr Mann, das sagte ich Ihnen schon, Ihr Mann …«

»Ist ermordet worden.«

»Genau.« Moschik schaute nervös aus dem Fenster, Amalies Blick folgte seinem. Die beiden Männer von der Mafia saßen immer noch im Auto. »Die Polizei will die ganze Sache offenbar vertuschen.«

Vertuschen? Amalie fiel fast die Tasse aus der Hand. Na, nun wusste sie den Grund, weshalb sie ihr die Leiche vorenthielten.

»Ich bin aus dem Krankenhaus geflohen. Dort hat man mich gegen meinen Willen festgehalten. Ich habe alles gesehen, habe den Mord beobachtet und jetzt …« Moschik beugte sich nach vorn und sah Amalie verschwörerisch an. »Dieser Mühlbauer, der ist gemeingefährlich. Das ist ein irrer Serienmörder.«

»Du lieber Himmel!« Amalie schlug die Hand vor den Mund. Sie hörte Harald Moschik längst nicht mehr zu. Ihre Gedanken rasten. Das Geld auf dem Dachboden, schlussfolgerte sie, hatte Karl irgendwie von der Mafia bekommen. Die Mafia, die, wie Amalie aus ihren Fernsehsendungen wusste, sämtliche hochrangigen Beamten der Polizei bestach, wollte das Geld zurück. Sie hatte erst Karl ermordet und suchte jetzt nach den Schuhkartons. Nach den Schuhkartons, die in Amalies Besitz waren. Sie musste sich setzen.

»Bitte. Nehmen Sie einen Kaffee.« Zitternd stellte Amalie die Kanne und ihre eigene Teetasse auf den Tisch. Weil sie korrupt war, wollte die Polizei die Angelegenheit vertuschen. Der Kommissar hatte gestern also die Lage peilen wollen, wie Verbrecher in ihrem Jargon sagten. Amalie schaufelte Zucker in ihren Tee.

»Nehmen Sie reichlich von dem Zucker, Herr Moschik. Der süßt nur ganz schwach«, sagte sie geistesabwesend.

Karl tot, die Mafia vor dem Haus, die Polizei korrupt. Gab es überhaupt noch jemanden, dem sie trauen konnte?

»Keine Sorge, Frau Bachmaier«, lächelte der Mann im Nachthemd. »Ich werde dem Mörder, dem Lehrling Johann Mühlbauer folgen, um mehr Informationen zu bekommen. Wir werden die Wahrheit herausfinden.«

Amalie nahm noch einen großen Schluck Tee. Harald Moschik, ja, ihm konnte sie vertrauen. Er sah irgendwie niedlich aus in seinem Nachthemd, ging ihr durch den Kopf. Sie legte den Kopf schräg. »Ja«, seufzte sie. »Wir werden die Wahrheit herausfinden.«

 

*

 

Ob er jemals die Wahrheit herausfinden würde, da war sich Hauptkommissar Reichel ganz und gar nicht sicher.

»Wir haben Harald Moschik gefunden.« Huber trat ins Dienstzimmer. »Die beiden Polizisten, die Amalie Bachmaier beobachten, haben sich gerade gemeldet. Harald Moschik befindet sich bei ihr.«

»Na, sehen Sie? Ich wusste doch, dass er wieder auftaucht.« Aber musste das ausgerechnet bei dieser Bachmaier sein? Reichel schauderte bei dem Gedanken, der wuchtigen Dame wieder begegnen zu müssen. Er hatte gehofft, dass die Observierung Ergebnisse brachte und er die Frau erst wieder bei ihrer Verhaftung sehen würde. »Immerhin könnte es eine Spur sein«, gab Reichel widerwillig zu. »Welche Verbindung gibt es zwischen Harald Moschik und Amalie Bachmaier?«

»Herr Kommissar, auch auf die Gefahr hin, wie Sie zu klingen: Der Moschik ist ein Arbeitskollege ihres Mannes. Da werden sich die beiden wohl kennen.«

»Wenn Sie mit einer schweren Kopfverletzung aus dem Krankenhaus fliehen, laufen Sie dann auch direkt zu meiner Frau?«, fragte Reichel trocken und Huber verzog den Mund. »Na bitte. So wie ich die Sache sehe, haben Sie Ihren verdammten Fall. Und zwar bei der Bachmaier. Lassen Sie uns die Frau endlich einmal vernünftig vernehmen.«

Reichel legte sein Holster um und steckte seine Pistole griffbereit ein. Hubers Mundwinkel zuckten verdächtig.

»Vorsicht ist besser als Nachsicht und Amalie Bachmaier ist nachweislich gefährlich«, verteidigte Reichel die Waffe. »Wischen Sie sich das Grinsen aus dem Gesicht, Huber, sonst dürfen Sie die Suche nach dem entlaufenen Schwein leiten.« Sofort nahm Huber Haltung an und öffnete die Tür.

»Wissen Sie, Chef, ich hätte nie gedacht, dass es in einem Dorf so spannend zugehen kann.«

»Fast 10.000 Einwohner, Huber, Lendnitz ist kein Dorf.«

Huber machte eine wegwerfende Handbewegung. »Im Vergleich zu Klagenfurt? Ich bitte Sie.«

Reichel presste die Lippen aufeinander. Jetzt nur nichts sagen, Huber nicht auch noch anstacheln.

»Trotzdem«, fuhr sein Assistent fort. »Als Sie mir meinen Dienstort mitgeteilt haben, war ich …« Er brach ab und wurde rot. »Ich hatte als Priorität Klagenfurt angegeben.«

»Natürlich.«

»Ich bin kein Naturmensch.« Huber sah fast verschämt aus, wie er auf seine Finger blickte. »Ich fahre nicht mal gern Ski.«

»Was für ein Kärntner sind Sie eigentlich?«, entfuhr es Reichel.

»Eben.« Huber nickte. »Der Wörthersee ist super, aber glauben Sie, ich würde auf den Pyramidenkogel steigen? Oder auf dem Weißensee Schlittschuh laufen? Nein, ich bin durch und durch Großstadtkind.«

»Großstadt?« Reichel zog die Augenbrauen hoch.

Huber machte eine wegwerfende Handbewegung. »So langsam freunde ich mich mit Lendnitz an«, erklärte er. »Wer braucht ein Theater, wenn es Sie und die Bachmaier gibt?«

»Was?« Reichel hätte schwören können, Huber machte sich über ihn lustig. Aber sein Assistent sah ihn nur unschuldig an.

»Mistkerl«, brummte Reichel leise.

Huber ignorierte seine Beleidigung. Glücklicherweise enthielt er sich den Rest der Fahrt über jeglicher klugen Kommentare. Reichel überlegte sich eine Strategie für die Bachmaier. Die Frau war durchtrieben, er konnte sich keine Fehler leisten, musste knallhart auftreten, all seine Macht und Kompetenz deutlich machen.

Reichel parkte den Wagen direkt vor dem Haus, nickte den beiden observierenden Spezialisten in ihrem dunklen Ford kurz zu und stapfte mit festen Schritten zur Eingangstür. Diesmal musste er nicht lange warten. Reichel hatte gerade den Finger auf die Klingel gelegt, da wurde die Tür schon aufgerissen.

»Frau Bachmaier, wir sind …« Weiter kam Reichel nicht. Die Tür war zwar geöffnet worden, jedoch nicht von Amalie Bachmaier, sondern von Harald Moschik. Immer noch blass, immer noch im Nachthemd und immer noch durcheinander sprintete er an den beiden Polizisten vorbei, durch den Vorgarten, über den Zaun und auf die Straße.

»Herr Moschik! Wo wollen Sie denn so schnell hin? Herr Moschik!« Amalie Bachmaier, mit aufgeknöpfter Bluse, folgte ihm.

Huber sprang in Deckung, Reichel reagierte nicht schnell genug. Einige Sekunden später rappelte er sich fluchend aus dem Buchsbaum neben der Eingangstür hoch. Diese Bachmaier hatte die Durchschlagskraft eines Panzers, so viel war sicher.

Schreiend und mit den Armen wedelnd lief sie hinter dem fliehenden Harald Moschik her.

Huber grinste.

»Halten Sie die Klappe«, warnte Reichel. »Ich will nichts von Ihnen hören. Kein Wort!« Er zupfte etwas Grünzeug von seinem Ärmel und stapfte zum Wagen der observierenden Polizisten.

»Wie lange war dieser Moschik bei ihr?«

»Halbe Stunde, vielleicht etwas länger. Wir haben Sie fast umgehend informiert, als er aufgetaucht ist.«

»Fast?« Reichel zog die Augenbrauen hoch.

»Hannes musste mal pinkeln und ich hab mir um die Ecke eine Käsekrainer geholt.«

»Das ist kein Schulausflug, Sie dürfen die Tatverdächtige nicht aus den Augen lassen! Und jetzt los, hinterher da!«

Hannes zuckte entschuldigend die Schultern und murmelte: »Ich hatte Hunger.« Dann schlenderte er der Bachmaier hinterher.

Reichel seufzte und atmete tief durch. »Sonst noch was Ungewöhnliches passiert?« Der andere Polizist kratzte sich am Kopf und wich seinem Blick aus. »Raus mit der Sprache!«

»Wir haben merkwürdige Geräusche gehört. Als ob jemand etwas zerschlägt. Mit einer Axt oder so. Etwas Großes auf jeden Fall. Hörte sich an, als ob das Haus abgerissen würde.«

»Was kann die Bachmaier denn mit einer Axt zerschlagen haben?«, fragte Huber verwirrt. »Beweisstücke zerstört?«

»Huber, es geht hier um Drogen. Wie wollen Sie die mit einer Axt zerschlagen?«

»Was weiß ich. Wahrscheinlich hat sie nichts zerschlagen, sondern sich den Moschik geschnappt und es mit ihm den ganzen Nachmittag getrieben. Bei dem Gewicht müsste sich das so anhören, als ob ein Haus abgerissen wird.«

Der Streifenpolizist kicherte. Reichel war nicht ganz so begeistert von Hubers Theorie. »Der Moschik kann es nicht gewesen sein, wenn er nur eine halbe Stunde bei ihr war«, wies er seinen Assistenten zurecht.

»Außerdem haben wir die komischen Geräusche schon gestern gehört«, warf der Streifenpolizist zögerlich ein.

»Und das sagen Sie mir jetzt?« Diese Trottel waren wirklich zu nichts zu gebrauchen! Reichel zählte in Gedanken bis zehn. In irgendeiner Jackentasche musste doch ein Aspirin stecken. »Jetzt folgen Sie Ihrem Kollegen mit dem Wagen. Finden Sie die Bachmaier wieder!«

Schulterzuckend machte sich der Streifenpolizist auf den Weg.

»Seltsame Geräusche, Harald Moschik«, brummte Reichel. Wo war der Anhaltspunkt? Er runzelte die Stirn. Es musste einen geben.

»Vielleicht hat Harald Moschik tatsächlich einen Mord beobachtet.« Reichel dachte nur laut, aber bei dem Wort Mord horchte Huber auf.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine gar nichts.« Der Kommissar tippte sich mit dem Finger an den Mund. »Karl Bachmaier ist weiterhin verschwunden, richtig? Klar, er könnte getürmt sein, weil ihm jemand auf die Schliche gekommen ist. Drogen sind kein Pappenstil, auch wenn er nur der Handlager seiner Frau war.«

Huber nickte.

»Aber was, wenn Harald Moschik ebenfalls in das Drogenimperium der Bachmaier verwickelt ist? Er ist ein Arbeitskollege ihres Mannes, leicht minderbemittelt, was läge näher, als ihn einzuspannen? Als Laufburschen zu missbrauchen. Als Drogenkurier.«

»Wieso minderbemittelt? Ich denke, sein Verstand hat erst durch die Kopfverletzungen gelitten?« Huber hielt einen Augenblick inne. »Dass das Dorfleben verrückt macht, war nur ein Scherz«, sagte er dann.

»Fanden Sie den Mann am Dienstag normal? Was wir hier haben, ist ein klassischer Fall von Übertragung. Müssen wir mal Dr. Weisshaupt fragen, der wird das wissen.« Reichel kratzte sich am Kopf und fuhr fort: »Amalie Bachmaier, Drogenbaronin und Patin Lendnitzens, ermordet ihren Mann Karl Bachmaier, Chefkoch des Schlosshotels. Harald Moschik, Angestellter des Schlosshotels und Laufbursche der Patin, beobachtet diesen Mord. Er fällt in einen Schockzustand. Als einziger Zeuge schwebt er zudem in Gefahr, ebenfalls Opfer der Drogenbaronin zu werden. Einige Zeit später stößt Moschik sich den Kopf, verwechselt die Tatsachen und schiebt dem Lehrling Johann Mühlbauer den Mord in die Schuhe.«

»Wir finden keine Leiche, halten den Lehrling logischerweise für unschuldig, Moschik für verrückt und die Bachmaier kommt davon«, ergänzte Huber begeistert. »Was für ein ausgefeilter Plan!«

»Exakt.« Reichel rieb sich in Gedanken die Hände. Der Alten würde er was auf den Deckel geben. Die würde schon noch sehen, was es hieß, sich mit Fritz Reichel, Hauptkommissar der Polizei Lendnitz, anzulegen.

»Damit wird sie nicht durchkommen. Ich kümmere mich um einen Durchsuchungsbefehl.«

»Erstmal müssen wir uns um die Gammelfleisch-Männer kümmern. Die hatten Sie doch für heute Nachmittag angesetzt«, warf Huber ein.

Reichel stöhnte. Sein kurzer Anflug von Enthusiasmus war so schnell verflogen, wie er gekommen war. »Nützt ja nichts«, nickte er Huber zu. »Ich hoffe, die Entflohenen werden schnell eingesammelt. Ich glaube, Dr. Weisshaupt vermisst seinen Patienten. Was die Bachmaier angeht, die will ich so bald wie möglich auf dem Revier sehen. Wenn nötig in Handschellen.«

 

*

 

In Handschellen fand sich auch Erich Hirtentaler wieder. Es war das zweite Mal, dass er so erwachte und es ging ihm nicht besser. Irgendetwas Großes, Gummiartiges befand sich in seinem Mund. Als er versuchte, die Augen zu öffnen, bemerkte er Finsternis um sich herum. Jemand hatte ihm einen Knebel in den Mund gesteckt. Eine Augenbinde verpasst. Und Hände und Füße gefesselt. Langsam fing sein Gehirn an zu arbeiten. Einige Erinnerungen des gestrigen Abends – war es überhaupt der gestrige Abend? – kehrten zurück. Bilder vom Treffen mit Karl Bachmaier blitzten auf. Bilder von irgendeinem Schwein. Wie der Chefkoch sich geweigert hatte, die Lieferung zu zahlen. Wie er Bachmaier im Kühlraum die Kehle durchgeschnitten hatte. Wieder dieses verdammte Schwein. Das blinkende Schild ›Moulin Rouge‹ und eine nackte Frau. Das letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er eine rothaarige Nutte für zwei Stunden gekauft hatte. Und war da nicht noch ein Kerl gewesen? Ihr Zuhälter?

Wer auch immer ihn gefesselt und geknebelt hatte, würde das bitter bereuen. Das stand fest. Außer sich vor Wut zerrte Erich an den Fesseln.

Trotz seines kleinen Wuchses war Erich kein Schwächling. Er hielt zwar nichts von Sport und Fitnessstudios, allerdings viel vom Essen. Sein Motto war: Die Masse macht’s. Seine 90 Kilo, die voll hinter jedem Schlag standen, hatten schon so manche selbsternannte Kiezgröße auf die Matte geschickt. Jeder 1,80 Meter große Kriminelle lachte nur, wenn ihm der 1,65 Meter große Erich entgegentrat. Zwei Minuten später war das Lachen verschwunden und Erichs Gegner hielt sich die gebrochene Nase.

So riss Erich jetzt mit all seinem Gewicht an den Fesseln, doch die Handschellen waren offenbar Qualitätsware. Sie gaben keinen Millimeter nach. Dafür war bei der Einrichtung des Bordells gespart worden. Es dauerte keine drei Minuten und Erich war frei. Die billigen Sperrholz-Bettpfosten hatte er aus dem Bettgestell gerissen.

»Na, warte, Freundchen, dich krieg ich«, murmelte er grimmig, nachdem er sich den Knebel aus dem Mund gefriemelt hatte. Er rieb sich die Gelenke, an denen die Handschellen baumelten. Darum würde er sich später kümmern. Zuerst kam die Rache.

Erich hatte bereits ganz andere Leute fertiggemacht. Erich Hirtentaler, der acht Jahre im Bau gesessen und mindestens ebenso viele Menschen ins Jenseits befördert hatte, würde sich nicht von einem Dorfzuhälter und dessen dämlicher Nutte verarschen lassen. Wütend stapfte er aus dem Zimmer, einen der Bettpfosten fest in den Händen. Im Flur war es dunkel und er wäre beinahe gegen die Holzstatue einer dicken, nackten Frau gelaufen. Den kleinen Zeh schlug er sich trotzdem an und heulte laut auf.

»Hey, du Feigling! Wo bist du? Komm raus!« Erich brauchte dringend jemanden, an dem er sich abreagieren konnte. Aber alles blieb still. Er stürmte den Flur einmal hinauf, dann hinunter, trat wahllos Zimmertüren ein und kam schließlich wieder zu dem Zimmer, aus dem er geflohen war. Gegenüber war ein Vorhang und Erich konnte sich dunkel daran erinnern, der Rothaarigen aus der Bar durch diesen Vorhang gefolgt zu sein.

»Ich komm dich jetzt holen!«, brüllte Erich, riss den Vorhang herunter, verwickelte sich mit Handschellen und Bettpfosten darin und fiel der Länge nach hin. Er schmeckte Blut, sonst geschah nichts. Offenbar war er doch nicht so fit, wie er gedacht hatte. Mühsam stand Erich auf und fuhr sich mit der Zunge über die aufgeplatzte Lippe. Niemand war zu sehen. Weder die Nutte noch ihr verblödeter Macker. Dafür gab es eine Bar mit verdammt viel Alkohol. Erich benutzte seine im Vorhang eingewickelte rechte Hand dazu, den Glasschrank hinter der Bar einzuschlagen und eine Flasche Averna herauszuholen. Nach ein paar Schlucken ging es ihm besser. Er löste den Vorhang von seinen Händen und machte sich auf den Weg nach draußen. Doch auch auf dem Parkplatz war niemand zu sehen. Neben seinem Lastwagen stand nur ein Auto, ein hässliches, rotes Cabrio. Eine typische Zuhälterkarre. Also musste der Mistkerl noch im Haus sein.

Wutschnaubend stürmte Erich zurück ins Moulin Rouge und warf auf seinem Weg sämtliche Barhocker um. Dann fegte er die Dekoration von der Theke und rannte zurück in den hinteren Bereich. Systematisch ging er alle Zimmer durch.

Bingo! Im dritten Zimmer auf der linken Seite lag der Schweinehund im Bett und schnarchte.

Erich schrie auf und stürmte auf den Zuhälter los. Der Überraschungseffekt war auf seiner Seite. Sein Gegner konnte lediglich erschreckt die Augen aufreißen, da hatten sich auch schon Erichs riesige Hände um seinen Hals gelegt. Erich brüllte seine ganze Wut hinaus, während er immer fester zudrückte.

Als Antwort bekam er nur ein Röcheln und einige kurze Minuten später hing der schlaffe Körper des Luden in seinen Armen.

Erich zischte eine letzte Beleidigung, bevor er sich den Toten über die Schulter warf. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er ein paar hundert Meter die Straße hinauf einen verlassenen VW Polo gesehen, den er mitsamt der Leiche anzünden konnte. Und danach musste er sich um diese hinterhältige Nutte kümmern. Wo steckte die eigentlich?

 

*

 

Natalie steckte mit ihrem Absatz in einem von Lendnitzens Gullis fest. Dass in Lendnitz aber auch nie ein Parkplatz im Zentrum zu finden war! Sie hatte ihren Jetta am Villacher Ring abstellen müssen. Darüber hinaus war ihre dämliche Arbeitskleidung außerhalb des Moulin Rouge nicht zu gebrauchen. Sie fror in ihrem Minirock und der dünnen Bluse. Sie riss ihren Fuß hoch und hastete weiter. Ihr Entschluss stand fest: Die Sache mit dem Serienmörder und den Drogen musste ein Ende haben. Ihre Arbeit für Martin auch, aber darüber würde sie später nachdenken.

Ein anonymer Anruf bei der Polizei war die Lösung. Doch Martin hatte ihr das Handy abgenommen. Seit dem Streit um den Psychopathen verdächtigte er sie, ihn hintergehen zu wollen, und hatte ihr eine ganze Menge unflätiger Ausdrücke an den Kopf geworfen.

Also brauchte sie eine funktionsfähige Telefonzelle. Und das war gar nicht so einfach. In der ersten fehlte der Hörer, bei der zweiten hatte jemand in die Ecke gekotzt, die dritte ließ sich auch nach gutem Zureden nicht zu einem Freizeichen überreden und bei der vierten lag das gesamte Telefon zerschmettert am Boden. Natalie stand kurz davor, sich in ihr Auto zu setzen, bis nach Klagenfurt zu fahren und nie mehr zurückzukommen, da fand sie eine fünfte, glücklicherweise intakte, Telefonzelle.

Es war zwar erstaunlich, dass Lendnitz bei knapp über 9.000 Einwohnern überhaupt fünf Telefonzellen besaß, aber vielleicht wurde eine grundsätzliche Beschädigungsquote von 80 Prozent von Anfang an mit eingerechnet. Glücklich, nur einen Kaugummi aus der Hörmuschel pulen zu müssen, atmete Natalie tief durch und wählte den Notruf.

»Grüß Gott«, begann sie zögerlich. »Ich möchte einen anonymen Anruf tätigen.«

»Oh, tatsächlich?«, fragte die Telefonistin interessiert. »Wie heißen Sie bitte?«

»Entschuldigung?«, stammelte Natalie verwirrt. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie solche Anrufe im Allgemeinen abliefen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie für einen anonymen Anruf ihren Namen nicht nennen musste. Martin durfte die Spur nicht zu ihr zurückverfolgen können! »Anonym«, erklärte sie also. »Ich möchte Ihnen anonym etwas mitteilen. Ohne Namen.«

»Ach so, anonym. Natürlich. Entschuldigen Sie bitte. Aber es ist das erste Mal, dass ich einen anonymen Anruf bekomme. Das ist ein bisschen aufregend, finden Sie nicht?«

Das konnte Natalie eigentlich nicht behaupten. Psychopathen in ihrem Bett und zugekokste Zuhälter, das war aufregend, ja. Obwohl Natalie auch dafür ein anderes Wort gewählt hätte. Beängstigend vielleicht.

»Wie ist denn die Adresse?«, fragte die Telefonisten weiter.

»Also, die würde ich lieber auch nicht sagen.«

»Ach so. Ja, natürlich. Anonym. Klar. Schon verstanden. Entschuldigung. Wie soll ich Sie denn nennen? Kann ich Ihnen einen Codenamen geben? So wie Kobra?«

Natalie schluckte. »Könnte ich vielleicht einfach nur meine Mitteilung machen? Ohne Codenamen?«

»Natürlich, ja klar. Das geht auch. Ich warte. Was wollen Sie denn mitteilen? Ein Verbrechen?«

»Genau genommen ist es ein bisschen komplizierter.« Nervös wickelte Natalie das Telefonkabel um ihre Finger. Was, wenn Martin doch herausbekam, dass sie bei der Polizei angerufen hatte? Was, wenn er sie dabei erwischte? Die Panik kam wieder in ihr hoch. Was, wenn Martin gerade in der Stadt war?

»Kompliziert. Okay, kein Problem. Das krieg ich schon hin.« Die Telefonistin schlürfte geräuschvoll an etwas. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich nebenbei Kaffee trinke? Ich hatte heute Morgen keine Zeit fürs Frühstück.«

Nahm diese Frau das Ganze überhaupt ernst? Natalie seufzte unglücklich und versuchte, ihre Gedanken in Ordnung zu bringen.

»Es geht um einen Mann. Psychopath ist er. Und um Drogen.« Sie brach ab. Hatte sie da gerade Martin um die Ecke biegen gesehen?

»Um einen Psychopathen! Und Drogen! Mann, oh Mann! Seit zwei Jahren arbeite ich jetzt hier und wissen Sie, was das Spannendste war, das ich jemals gehört habe? ›Ich glaube, ich hab mich verwählt.‹ In diesem Kaff passiert überhaupt nichts.« Die Telefonistin nahm wieder einen Schluck Kaffee und schmatzte in den Hörer. »Toll, dass Sie anrufen. Echt. Wie geht’s denn weiter?«, fragte sie nach einer Weile, in der Natalie nicht geantwortet hatte.

Aber Natalies Augen waren auf die Straßenkreuzung gerichtet. Das war doch eindeutig ein Ledermantel gewesen. »Martin!«, rutschte es ihr heraus.

»Wer ist denn Martin?«, fragte die Telefonistin interessiert. »Der Psychopath? Der Drogendealer? Vielleicht Ihr Freund? Oh, ich wette Sie haben einen ganz tollen Freund! Mit Ledermantel und Cabrio und so.«

»Cabrio?« Natalie wurde schwindelig. Woher wusste die Telefonistin das? Wurde sie überwacht? Wusste man, wer sie war? Natalie blickte wieder nach draußen. Ein blasser Mann in einem Krankenhausnachthemd hetzte an der Telefonzelle vorbei. Das war das Zeichen. Sie halluzinierte, sie war eindeutig paranoid. »Ich muss gehen«, rief sie abrupt und hastete aus der Telefonzelle. Sie hörte noch ein enttäuschtes »Oh« aus dem Hörer, der am Kabel hin und her baumelte, dann war sie draußen und bei ihrem Jetta.

Sie stieg ein und trat das Gaspedal durch. Sie musste auf dem schnellsten Weg ins Moulin Rouge und alles abstreiten. Wenn Martin sie fragte, was sie gemacht hatte, würde sie ihm sagen, sie habe mit ihrer Großmutter telefoniert. Genau. Das war ein guter Plan.

Die Schwierigkeit bestand nur darin, dass Natalie nicht lügen konnte. Als ihre Großmutter gefragt hatte, was sie denn in der Stadt wolle, hatte sie geantwortet: »Martin Ammerschmidt sucht eine Prostituierte.« Die Reaktion ihrer Großmutter war genauso ausgefallen, wie man es von einer 84-jährigen strengen Katholikin erwartete.

Hektisch blickte Natalie in den Rückspiegel. War da ein Cabrio hinter ihr? Viel zu schnell bog sie auf die Klagenfurter Straße ein. Sie kam am Bauernhof Moser vorbei und gab noch einmal Gas.

Mit Schwung fuhr sie auf den Parkplatz des Moulin Rouge, direkt vor die Eingangstür, wo sie mit Schrecken feststellen musste, dass diese weit offen stand. Im nächsten Augenblick sprang ihr der bewusstlos und gefesselt geglaubte Kunde von vorletzter Nacht entgegen. In der hocherhobenen rechten Hand hielt er einen abgebrochenen Bettpfosten. Ohne nachzudenken drückte Natalie aufs Gaspedal. Mit einem dumpfen Knall schlug der tobende Mann auf ihrer Kühlerhaube auf.

 

*

 

Johann Mühlbauer schlug die Augen auf. In völliger Verzweiflung hatte er sie geschlossen. Eine Veränderung der Situation brachte das nicht mit sich. Nach dem unfreiwilligen Sprint und einem etwas längeren Aufenthalt im Wald, weil er in seiner Aufregung den Rückweg nicht gefunden hatte, war er zum Polo seiner Mutter zurückgekehrt. Und ungläubig stehen geblieben. Das hatte er jetzt von seinem ›Es kann nur besser werden‹. Es wurde immer schlimmer.

Johann roch Alkohol, eine ganze Schachtel abgebrochener Streichhölzer lag vor der Fahrertür und auf dem Beifahrersitz saß ein ziemlich tot aussehender Mann.

Es war das vierte Mal in drei Tagen, dass eine Leiche in seiner unmittelbaren Nähe auftauchte und Johann wurde die Sache langsam unheimlich. Als er den Toten näher betrachtete, musste er zu seinem Schrecken feststellen, dass er ihn kannte. Martin Ammerschmidt, der Ex-Liebhaber seiner Mutter.

Johann schlich um das Auto herum. Nichts Verdächtiges war zu sehen, keine Nachricht. Weder an ihn, noch an Martin, an die Polizei oder an sonst irgendjemanden. Auch die Umgebung war komplett leergefegt. Alles war so, wie Johann es vor einer guten halben Stunde verlassen hatte. Bis auf die Leiche.

Johann ging noch einmal um das Auto herum. Er musste nachdenken. Die Polizei hatte ihn im Visier, da bestand kein Zweifel. Der Kommissar glaubte, dass er Bachmaier umgebracht hatte, und sobald Moschik aufwachte, war er Tatverdächtiger Nummer eins im Mordfall des Unbekannten hinter der Mülltonne.

Und zu allem Übel kam noch Martin. Martin, der Liebhaber seiner Mutter, den er nicht leiden konnte. Zu Martin gab es eine direkte Verbindung und ein Motiv. In Johanns Kopf drehte sich alles. Verbrechen, Leichen, Hauptverdächtige. Das war zu viel für ihn. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und sah Martin an.

Die Leiche musste verschwinden. Wieder einmal. Zumindest aus dem Auto seiner Mutter. Johann blickte sich erneut um, konnte niemanden entdecken und begann, Martin nach draußen zu zerren. Er warf sich den Zuhälter über die Schulter und machte sich auf den kurzen Fußmarsch zu Bauer Mosers Jauchegrube.

Er hoffte, dass der verrückt gewordene Moser inzwischen die Jagd nach ihm aufgegeben und sich eine anderweitige Beschäftigung gesucht hatte. Als sein Handy klingelte, wäre Johann fast gestolpert und mitsamt der Leiche in die Jauchegrube gefallen. Er ließ den Toten von seiner Schulter gleiten und trat schnell ein paar Schritte zurück.

»Ja, bitte?«, meldete er sich und bekam den zweiten Schreck innerhalb von zehn Minuten.

»Huber hier. Sie erinnern sich? Kriminalpolizei Lendnitz. Wir würden Sie gern heute Nachmittag auf dem Revier sehen. 17 Uhr, seien Sie bitte pünktlich. Der Herr Hauptkommissar hasst es zu warten.«

Johann musste sich setzen. Eins, zwei, einatmen. Drei, vier, ausatmen. Tapfer kämpfte er mit den Tränen. Hatte er es doch gewusst. Er war Tatverdächtiger Nummer eins. Und jetzt hatten sie ihn auf dem Kieker und er hatte kein Alibi. Dafür hatte die Polizei Indizien, die ihn überführen könnten. Johann fächelte sich Luft zu. Eins, zwei, einatmen. Nur die Panik nicht anmerken lassen. Ihr nur nicht nachgeben. Drei, vier, ausatmen. Johann legte den Kopf auf seine Arme und versuchte, an schöne Dinge zu denken. An die Südsee, an Elena, an eine Woche voller absolut ereignisloser Tage.

 

*

 

Eine Woche voller absolut ereignisloser Tage erschien Hauptkommissar Fritz Reichel momentan wie das Paradies. Seine Steinsammlung auf dem Fensterbrett konnte er mittlerweile nur noch hasserfüllt ansehen. Was nützte es ihm, dass sie weniger wurden, wenn ein Tag schlimmer war als der vorige?

»Wir haben einen anonymen Anruf!« Huber hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere. Reichel seufzte nur. Huber war jung. Er fand anonyme Anrufe noch spannend. Reichel selbst konnte ihnen nichts abgewinnen. Es meldete sich jemand, ohne seinen Namen zu nennen, faselte wirres Zeug von einem Verbrechen, und dann hatte Reichel die ganze Arbeit. Nein, anonyme Anrufe waren wenig erfreulich.

»Worum geht es denn?«

»So eindeutig kann ich das nicht sagen.«

Reichel stöhnte. Er hatte es geahnt. »Ist doch immer dasselbe mit diesen verdammten anonymen Anrufern«, murrte er.

Huber ignorierte ihn und fuhr fort: »Der anonyme Anrufer war offenbar eine Frau. Sie hat von Drogen berichtet und einen Mord erwähnt. Außerdem ist der Name Martin gefallen.«

»Eine Frau? Drogen? Mord?« In Reichels Gehirn arbeitete es. »Das muss die Bachmaier sein. Sie hat angerufen, um zu gestehen. Im letzten Moment hat sie dann doch gekniffen.«

»Die beiden Streifenpolizisten haben ihr wohl Angst gemacht«, ergänzte Huber.

Reichel nickte. »Obwohl es mich wundert, dass so eine harte Nuss wie sie von selbst einknickt.«

»Das schlechte Gewissen soll schon vielen Leuten das Genick gebrochen haben.«

Reichel verdrehte die Augen. Zu allem Überfluss wurde Huber philosophisch.

»Wie auch immer«, beendete Reichel die Diskussion. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Jetzt müssen wir nur noch warten, bis sie sich stellt.« Er griff zum Telefon. »Oder die faulen Säcke von der Streife auf Trab bringen«, fügte er hinzu und ließ sich verbinden. »Frentzen? Haben Sie die beiden Flüchtigen schon gefunden?«

Die Antwort gefiel ihm gar nicht.

»Was soll das heißen ›Noch keinen der beiden, und jetzt machen wir erst mal Pause‹? Ich geb Ihnen gleich Pause!« Dieser unverschämte mittlere Dienst. Reichel knallte den Hörer auf und blickte Huber ungläubig an. »Ein Irrer und eine unter dringendem Tatverdacht stehende Person befinden sich auf der Flucht, und die lehnen an der Imbissbude. Ich fass es nicht.« Schlecht gelaunt wandte Reichel sich wieder dem aktuellen Problem zu. »Ein Mord wurde erwähnt, sagten Sie, und ein Martin. Martin … Martin … Wird irgendein Martin vermisst?«

»Ein Karl wird vermisst und eine Elfriede.«

»Das weiß ich selbst.« Reichel verkniff sich das ›Klugscheißer‹ und überlegte weiter.

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kommissar«, trat ein Streifenpolizist ins Zimmer und unterbrach Reichels Gedankengang. »Ich wollte nur fragen, ob Sie Robert gesehen haben?«

Der Mann war jung, wahrscheinlich keine 25, und er kam Reichel bekannt vor. »Waren Sie nicht mit uns im Schlosshotel?«

Der Polizist nickte.

»Wer ist denn Robert?«, hakte Reichel nach.

»Mein Kollege. Bisschen alt, bisschen dick, bisschen korrekt.«

Reichel fragte sich, ob sein Assistent nicht genau dieselbe Vermisstenanzeige auch für ihn aufgeben würde.

»Nein, nicht gesehen«, antwortete er.

Der junge Polizist trat von einem Bein aufs andere. »Wissen Sie, er ist nämlich heute nicht zur Arbeit gekommen«, erklärte er. »Und zu Hause ist er auch nicht, da bin ich schon vorbeigefahren.«

»Noch ein Vermisster?« Hubers Enthusiasmus regte sich anscheinend wieder und er machte sich eifrig Notizen. »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen? Was für Kleidung hat er getragen? Hat er gesagt, wo er hinwollte?«

»Haben Sie vielleicht erst mal seinen vollständigen Namen?«, griff Reichel ein.

»Robert Martin. Wohnt in der Mariengasse 35. 52 Jahre alt und geschieden.«

Huber blickte den jungen Mann mit offenem Mund an.

»Sagten Sie gerade Martin?«, wollte Reichel wissen. »Robert Martin?«

Der Streifenpolizist nickte.

»Ach du Scheiße«, flüsterte Huber.

»Danke. Wir kümmern uns um den Fall«, komplimentierte Reichel den verblüfften jungen Mann hinaus.

Ein Polizist verwickelt in Lendnitzens Drogenskandal, das hatte gerade noch gefehlt.

»Die Bachmaier hatte also Kontakte direkt zur Polizei.« Reichel massierte sich die Schläfen und versuchte, nicht an die katastrophalen Ausmaße zu denken, die dieser Fall mit sich brachte. »Ich brauch ein Aspirin.«

Huber reichte ihm eine Tablette und Reichel spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter.

»Allerdings ergibt jetzt der anonyme Anruf einen Sinn«, sagte Huber. »Sie haben es selbst gesagt, Herr Kommissar. Warum sollte die Bachmaier einknicken? Unsere Observierung hat ihr Angst gemacht und jetzt bietet sie uns einen Deal an.«

Reichel nickte.

»Um ihn uns schmackhaft zu machen, gibt sie uns einen ersten Namen. Wenn wir anbeißen, folgen … Oh Gott, Huber, es sind noch mehr.« Reichel blickte auf seine Fensterbank. 136 Steine. Hätte diese Sache nicht noch 136 Tage Zeit gehabt, um ans Licht zu kommen?

»Hier geht es nicht mehr um Drogen oder einen ermordeten Ehemann. Wir haben einen Korruptionsskandal am Hals. Verdammt, Huber, ich seh schon die Schlagzeile vor mir: ›Dorfpolizei als Drogenkartell‹.«

»Was machen wir jetzt? Das LKA informieren?«

Reichel schüttelte müde den Kopf. »Nein, die werden wir nie wieder los. Lassen Sie es uns zuerst auf unsere Art regeln. Auf Lendnitzer Art.«

Huber nickte und rieb sich die Hände. »Alles klar, Chef. Wir kriegen das besser hin als die Schnösel von oben.« Offenbar fing er damit an, sich mit Lendnitz zu identifizieren. Reichel wusste nur nicht, ob das ein gutes Zeichen oder der Beginn einer Katastrophe war.

»Wir hätten da auch noch die Angestellten vom Schlosshotel«, sagte Huber dann. »Die müssten in ein paar Minuten hier sein.«

Das hatte er ganz vergessen. Das Gammelfleisch. »Das ist doch im Moment völlig egal«, stöhnte er. Wer dachte schon an Gammelfleisch, wenn Drogen, Mord und korrupte Polizisten im Spiel waren?

»Ich habe die Angestellten schon hierher bestellt«, sagte Huber.

»Herrgott noch mal, dann befragen wir Sie eben. Sie übernehmen die Kellner, ich die Köche. Sind das überhaupt mehr als zwei?«

»Es gibt noch diesen Lehrling, der bis heute im Urlaub war.« Huber befeuchtete seinen Zeigefinger mit der Zungenspitze und blätterte eine Seite in seinem Notizbuch um.

»Gut. Bringen wir die Sache hinter uns.«

Das Telefon klingelte.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, meldete Reichel sich und bereute bereits im nächsten Augenblick, abgehoben zu haben. Seufzend hörte er dem Polizisten an der Anmeldung zu, dann legte er auf.

»136«, sagte er leise. »136.« Damals auf der Polizeischule hatte es geheißen: »Geh in eine Kleinstadt.« Kleinstadt hatte für Ruhe und Frieden gestanden. Für einen lauen Lenz und wenig Nachtschichten. Und wie sah die Wirklichkeit aus?

»Huber? Wir haben eine neuerliche Vermisstenanzeige. Hildegard ist verschwunden.«

 

*

 

Am liebsten wäre es Natalie gewesen, wenn der Mann auf ihrer Kühlerhaube einfach von selbst verschwände. Was sie jetzt tun sollte, wusste der Himmel. Zunächst einmal presste sie die Augen fest zusammen und zählte bis fünf. Dann zog sie mit zittrigen Händen den Schlüssel ab und öffnete vorsichtig die Autotür. So gut es ging, ignorierte sie den Mann und schlich ins Moulin Rouge.

Dort herrschte völlige Verwüstung. Die Lampe und die Box mit den Kondomen waren von der Bar gefegt worden. Auf dem roten Teppich lagen bunte Pariser verstreut zwischen Glassplittern. Natalie stieg über die umgeworfenen Barhocker. Unter ihren Füßen knirschte es.

»Martin?«, flüsterte sie.

Als sich nichts rührte, trat sie über den heruntergerissenen Vorhang in den hinteren Bereich des Bordells. Hier sah es nicht besser aus. Die Tür des ersten Zimmers, in dem sie den Psychopathen gefesselt hatten, stand weit offen, sodass sie das auseinandergerissene Bett sehen konnte. Du liebe Zeit, der Mann war ein Berserker.

»Martin? Wo bist du?« Sie öffnete die nächste Zimmertür.

Nichts.

»Der Irre ist frei! Martin, bitte, du musst mir helfen!« Im Flur stolperte sie und hielt inne. Ein Stiefel. Martins Stiefel. Sie prallte zurück. Nie und nimmer würde Martin freiwillig seinen geliebten Cowboystiefel zurücklassen. Ihm war sicher etwas Furchtbares passiert.

Natalie musste sich setzen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und begann, hemmungslos zu weinen. Nach all der Aufregung der letzten Tage hatte sie nicht gedacht, dass sie noch etwas umhauen konnte. Aber nun war sie fest davon überzeugt, dass Martin tot war. Martin, der einzige, der ihr in dieser Situation mit dem losgelassenen Irren helfen konnte. Martin, umgebracht vom Psychopathen da draußen. Bei diesem Gedanken stockte Natalie der Atem. Der Psychopath lag ja immer noch auf ihrer Kühlerhaube!

Leise schlich sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Vom Parkplatz hörte Natalie ein Stöhnen und sie griff nach dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hände fiel. Das Telefon, das für Notfälle neben der Kondombox auf der Theke des Empfangsraums gestanden hatte und auf den Boden gefegt worden war.

Natalie dachte an ihre Großmutter, die gerade Hühner fütterte oder Erbsen sammelte. Die ein gemütliches und zufriedenes Leben führte, während sie selbst hinter der Eingangstür zu einem Puff stand, bewaffnet mit einem rosaroten Telefon, sehr wenig Mut und viel zerflossener Wimperntusche.

»Ich werde sterben.« Natalie schauderte bei dem Gedanken an den fürchterlichen Mann, der gleich durch diese Tür kommen würde.

»Ich werde sterben.«

Doch zunächst einmal passierte gar nichts.

Nach langen quälenden Minuten des Wartens wagte Natalie es, einen Blick nach draußen zu werfen. Gerade rechtzeitig. Der Mann bewegte sich. Mühsam erhob er sich und mit einem mörderischen Ausdruck in den Augen kam er auf das Haus zu. Zu Tode erschrocken wich Natalie zurück und ließ das Telefon fallen. Sie wollte sich hinter die Bar retten, ihr rechter Fuß verhedderte sich jedoch im Kabel. Sie schlug der Länge nach hin und brauchte in ihrem aufgelösten Zustand einen Moment zu lange, um ihren Fuß zu befreien und wieder aufzustehen.

Der Irre war plötzlich über ihr und Natalie blieb die Luft weg. Keinen Finger konnte sie rühren, sich keinen Millimeter bewegen. Ihr Mund stand vor Schreck weit offen, ihr ganzer Körper war wie erstarrt. Er beugte sich über sie, sein Gesicht kaum zehn Zentimeter von ihrem entfernt. Seine blutunterlaufenen Augen starrten sie voller Hass an. Ein kleiner Speichelfaden hing an seiner Unterlippe.

Dann brüllte der Mann los. »Du Miststück!«

Schon wieder beleidigte er sie. Das löste den Bann. Die Erstarrung verschwand und Leben kehrte in sie zurück. Der Killer konnte nur noch wütend aufschreien. Dann schlug sie ihm das Telefon mit aller Kraft gegen die Schläfe. Er fiel um wie ein nasser Sack. Genau auf Natalie.

Was genug war, war genug. Schluchzend kroch sie unter ihm hervor und zog sich zitternd in die gegenüberliegende Zimmerecke zurück. Sie hatte gegen einen Psychopathen gekämpft, ihr Arbeitsplatz war völlig verwüstet, Martin war wahrscheinlich tot und Natalie wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause gehen zu dürfen.

Ein Glassplitter hatte ihr beim Sturz die Oberlippe aufgeschrammt und sie schmeckte Blut. Vorsichtig suchte sie nach einem Taschentuch. Der Mann bewegte sich nicht. Er schien für den Augenblick keine Gefahr darzustellen. Nachdem sie den Kratzer an ihrem Mund versorgt hatte, rappelte sie sich auf und krabbelte zum Telefon, das neben dem Bewusstlosen auf dem Teppich lag. Sie zog es hinter die Theke und wählte die einzige Nummer, die sie auswendig konnte.

»Oma«, schluchzte sie ins Telefon. Mehr brachte sie in ihrem derzeitigen Zustand nicht heraus, bevor sie wieder von Tränen überwältigt wurde.

»Schätzchen? Schätzchen, was ist denn passiert?« Ihre Großmutter, mit der sie sich so gestritten hatte, hörte sich überhaupt nicht böse an. Nur sehr, sehr besorgt.

»Ich will nach Hause!«

»Geht es dir gut? Was ist denn los? Hast du Schmerzen? Ist was passiert? Schätzchen, so red doch mit mir!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Natalie sich beruhigt hatte, doch dann sprudelte es nur so aus ihr heraus. Sie erzählte von dem Kunden, der ihr solche Angst gemacht hatte. Sie erzählte, dass sie ihn niedergeschlagen hatte. Dass Martin ihm Drogen gespritzt hatte. Dass er wieder aufgewacht war und Martin umgebracht hatte. Dass sie ihn angefahren und noch einmal niedergeschlagen hatte.

»Ach, Natalie. Wo bist du denn da hineingeraten?« Ihre Oma war völlig aufgelöst.

»Ich weiß es doch selbst nicht, Oma. Aber jetzt liegt dieser Mann hier. Bewusstlos. Und ich weiß nicht, wann er wieder aufwacht. Die Polizei kann ich nicht rufen, die werden mich festnehmen! Vielleicht habe ich ihn umgebracht! Und hier ist alles verwüstet und Martin ist tot und … ich weiß nicht mehr weiter.«

»Ach herrje, Natalie, das ist tatsächlich ein ganz schöner Schlamassel.« Sie schwieg für eine Weile und Natalie weinte leise vor sich hin.

»Ich glaube, ich habe eine Idee«, sagte ihre Großmutter schließlich. »Ich kenn mich mit solchen Sachen nicht aus, das ist mehr für Menschen aus der Großstadt. Wir beide, Schätzchen, wir sind vom Land, aber ich habe eine Freundin aus der Schule. Sie ist damals in die große Stadt gegangen. Sie wird dir helfen können. Hör zu, ich gebe dir die Telefonnummer und dann rufst du Berta an, ja? Berta Stein aus Lendnitz. Sie wird wissen, was zu tun ist.«

 

*

 

Johann wusste nur eins: Er wurde eines Verbrechens verdächtigt. Nicht nur von Harald Moschik, sondern auch von der Polizei. Weshalb sonst sollten sie ihn ins Revier beordern? Unglücklich schob er sein Fahrrad durchs Gartentor und stutzte. War da vorn nicht etwas hinter dem Busch? Er kniff die Augen zusammen und schloss sie gleich wieder. Oh nein, Harald Moschik. Der Koch trug ein seltsames Nachthemd und sein Benehmen war noch seltsamer. Mit eingezogenem Kopf saß er hinter Frau Steins Thujenhecke. Johann kam es so vor, als beobachtete er ihn.

Johann war sich nicht sicher, ob er ihn ansprechen sollte. Gehörte der Mann nicht ins Krankenhaus? Er sah genauer hin, woraufhin Moschik weiter in Frau Steins Gemüsebeet hineinkroch.

»Dann eben nicht«, murmelte Johann und schwang sich aufs Fahrrad. Es gab genügend Dinge, über die er sich Sorgen machen musste. Um Moschik sollten sich andere kümmern. Johann trat in die Pedale, musste an der nächsten Straßenkreuzung jedoch absteigen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung hinter seiner rechten Schulter. Er drehte sich um und konnte Moschiks hageren Körper hinter einem der Bäume erkennen, die die Straße säumten. Ja, war der Kerl jetzt komplett durchgedreht?

Die Kreuzung war frei, Johann stieg aufs Rad und Moschik sprang aus seiner Deckung hervor. Johann drehte seinen Kopf ein wenig und beobachtete ungläubig, wie Moschik in seinem Nachthemd zum nächsten Baum hüpfte.

Die Sache wurde Johann unheimlich und er trat schneller. Mit einem Auge am Straßenrand sah er, wie Moschik ebenfalls schneller lief. Der Koch ließ inzwischen jeden zweiten Baum aus und versteckte sich nur hin und wieder.

Nervös bog Johann in die Pfauenstraße ein, die zum Polizeirevier führte.

War Moschik einfach nur übergeschnappt? Oder war das tatsächlich eine Observierung? Aber warum trug er ein Nachthemd? Und was sollte er gleich der Polizei erzählen, wenn ein offensichtlich völlig verrückter Kerl in die Wachstube sprang und sich hinter einem Mülleimer versteckte?

»Herr Moschik?«, fragte Johann zögerlich und stieg vor der Polizei vom Fahrrad ab. Doch statt einer Antwort hörte Johann nur Blättergeraschel und schnelle Schritte. Er drehte sich um und konnte gerade noch sehen, wie Moschik mit flatterndem Nachthemd um die Ecke einer Seitengasse bog. Johann kratzte sich am Kopf. Was war das denn jetzt?

Ein Streifenwagen fuhr langsam die Straße hinunter und Johann entschloss sich, in die Höhle des Löwen zu marschieren. Nicht rechtzeitig zum Termin zu erscheinen, würde ihn sicher noch verdächtiger wirken lassen, als er ohnehin schon war. Der Streifenwagen bog in dieselbe Seitenstraße ein, in die Moschik verschwunden war. Gut, vielleicht würden die Polizisten dem Mann Hilfe holen.

 

*

 

Amalie brauchte Hilfe, vor allem aber brauchte sie ein Versteck. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ihr die Luft ausging. Schwer atmend hastete sie die Straße hinunter, während sie sich gleichzeitig ängstlich umschaute. Als sie die Scheinwerfer eines Autos um die Ecke biegen sah, sprang sie beherzt hinter eine kleine Gartenmauer. Sie machte sich so klein wie möglich und wischte sich keuchend den Schweiß von der Stirn.

Sie beobachtete, wie die Mafiosi in ihrem dunklen Auto langsam die Straße hinunterfuhren. Sie suchten sie. Offenbar hatten sie ihre Taktik geändert. Zuerst hatten sie Amalie bloß observiert, mittlerweile jagten sie ihr nach.

Die Flucht hatte ihr nicht gut getan. Zuerst Karls Tod und jetzt die Mafia. Wie Aufregung anderen Menschen auf den Magen schlug, schlug sie Amalie aufs Gedächtnis. Das war die einzige Erklärung, die sie dafür hatte, dass ihre Erinnerung an die letzten Tage lückenhaft war. Sie wusste nur noch, dass sie mit dem netten Herrn Moschik einen kleinen Spaziergang gemacht hatte und plötzlich aus heiterem Himmel verfolgt wurde. Da Amalie oft genug Teil I bis III von ›Der Pate‹ gesehen und keine Lust hatte, mit Beton an den Füßen im Wörthersee oder mit einer Drahtschlinge um den Hals in einem einsamen Waldstück im Rosental gefunden zu werden, hatte sie die Beine in die Hand genommen. Glücklicherweise schienen die beiden Mafiosi nur Helfershelfer und nicht besonders clever zu sein. Sonst hätte sie sie wohl kaum mit dem alten ›Der Held versteckt sich und sein Verfolger läuft unwissend an ihm vorbei‹-Trick abschütteln können. Vorsichtig lugte Amalie hinter der Mauer hervor. Tatsächlich, weit und breit war nichts von den Verbrechern zu sehen. Amalie holte tief Luft und begann, die Straße hinunterzulaufen. Dabei blieb sie, wie sie es aus diversen Filmen gelernt hatte, immer im Schutz der Hecken.

Es war ein weiter Weg bis zu ihrem Haus und Amalie beschloss, den Hintereingang zu benutzen. Falls die Mafiosi sich vorn auf die Lauer gelegt hatten, konnte sie ihnen so ein Schnippchen schlagen. Amalie quetschte sich durch die hohe Hecke, schlich durch den Garten und fischte den Kellerschlüssel aus einem Blumentopf. Sie schloss die Tür auf und zuckte beim Quietschen der Angel zusammen. Hatte sie jemanden auf sich aufmerksam gemacht? Nichts rührte sich und sie machte erleichtert einen Schritt nach vorn. Sie suchte nach dem Lichtschalter, doch da fiel ihr ein, dass sie die Neonröhre schon seit Monaten austauschen wollte. Sie atmete einmal tief durch, hielt die Hände ausgestreckt vor dem Körper und tastete sich voran. Spinnweben verfingen sich in ihren Haaren, sie stolperte mehrmals über Gartengeräte und hätte schwören können, eine Maus fiepsen zu hören. Ein Schauer überlief ihren Rücken, doch der Gedanke an die Mafia half ihr, sich zusammenzureißen. Eine Maus war besser als gefoltert oder ermordet zu werden.

Endlich hatte sie es geschafft. Sie war am anderen Ende des Raums angelangt, öffnete die Tür und vor ihr lag die Treppe, die zum Haus hinaufführte. Ein fahler Lichtschein durch eine kleine Luke am oberen Ende war genug, um ihr den Weg zu weisen. Sie zog die Schuhe aus, um auf den Holzbohlen der Treppe keinen Krach zu machen, und schlich nach oben zur Haustür. Ein Blick durch den Spion bestätigte ihre Befürchtungen: Die Verbrecher waren wieder da. Sie saßen in ihrem Ford, als ob nichts geschehen wäre.

Mit den Schuhen weiterhin in der Hand stieg Amalie in den ersten Stock, wo sie einige Unterhosen, zwei Blusen und ein Nachthemd in eine Reisetasche warf. Sie schnappte sich noch schnell ihre Zahnbürste und einen Lippenstift, dann holte sie die Umschläge mit dem Geld aus der Küchenschublade.

Sie zögerte. Alles sprach für eine schnelle Flucht. Andererseits wähnten die Mafiosi sie in der Stadt und hatten keine Ahnung, dass Amalie längst zu Hause war. Da ihr eine Verfolgungsjagd auf leeren Magen nicht ideal erschien, setzte sie Wasser auf. So unauffällig wie möglich kochte sie einen Tee und schmierte zwei Butterbrote. Langsam kaute sie ein Stück Salami und dachte an Harald Moschik. In ihrem Bauch rumorte es, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihre Emotionen verrückt spielten. Dieser Moschik hatte etwas an sich gehabt, etwas Wildes, Ungehemmtes, das Amalies Blut in Wallung brachte. Nein, das Nachthemd war es nicht gewesen. Aber ein Mann, der in so kurzer Zeit ein so starkes Feuer in ihr entfachen konnte, musste etwas ganz Besonderes sein.

Sie sah nach draußen. Die Mafiosi saßen unverändert in ihrem Auto.

Amalie wollte zum Flughafen Klagenfurt. Von dort boten sich die meisten Fluchtgelegenheiten. Ob sie Harald Moschik mitnehmen sollte? Sie nahm einen weiteren Schluck Tee und wägte ab. Dafür sprach, dass sie in Harald einen Verbündeten hätte. Einen, der über die Mafia Bescheid wusste und über den vertuschten Mord an Karl. Dagegen sprach, dass sie nicht wusste, wo er wohnte. Traurig spülte Amalie ihre Teetasse. Sie musste fliehen und würde Harald nie wieder sehen. Es würde keine große Liebesgeschichte geben, kein Happy End.

 

*

 

Johann bezweifelte stark, dass es für ihn und Elena ein Happy End geben würde. Nein, die Polizei würde ihn festnehmen, ins Gefängnis stecken und Elena bei ihrem Mann bleiben oder sich scheiden lassen und einen anderen heiraten. Sein rechtes Bein wippte auf und ab, ab und auf, immer schneller. Er saß im Flur des Kommissariats und versuchte, sich vor Aufregung nicht die Fingernägel abzukauen. Diese Warterei war Folter. Johann hatte von den Psychotricks der Polizei gehört. Erst wollten sie ihn mürbe machen, dann in Verwirrung stürzen. Wahrscheinlich würden sie ihm sagen, dass es außer Harald Moschik noch einen Zeugen gab. Marko oder Karotte. Dann würden sie ihm sagen, dass sich ein Geständnis strafmildernd auswirken könnte. Und dann hatten sie ihn.

Johanns linkes Bein begann ebenfalls zu wippen. Seit einer Viertelstunde saß er in dem schmalen Polizeiflur. Es gab nur zwei unbequeme Stühle, was Johann ebenfalls unter Folter einstufte. Wann wurde er endlich befragt? Diese Warterei machte ihn ganz fertig.

Nur gut, dass Elena ihn hier nicht sah. Sie wäre sicher nicht beeindruckt von seinen wippenden Beinen und den verkrampften Kiefern. Ein echter Mann blieb auch im Angesicht einer Vernehmung eiskalt und abgebrüht. Johann flehte innerlich Bruce herbei. Wie würde er sich verhalten? Johann zog die Augenbrauen zusammen. Erst einmal gerade hinsetzen. Und die Muskeln demonstrieren. Johann spannte seinen Bizeps an. Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken. Hatte ihn jemand gesehen? Nicht, dass die Polizei ihn für gewalttätig hielt, wenn er hier die Fäuste ballte! Also doch besser keine Muskeln. Gerade sitzen und überlegen lächeln. So wie es Bruce an seiner Stelle machen würde. Er dachte an Elena und sein Lächeln wurde breiter. Elena, du süßeste aller Frauen, dachte er und träumte sich mit ihr auf eine einsame Insel.

»Herr Mühlbauer«, rief ihn der Kommissar. Johann stand auf und folgte dem Polizisten. Er lächelte immer noch. Er würde einfach alle Fragen weglächeln. Die Psychotricks würden ihn nicht aus der Fassung bringen.

Johann wurde in ein karges Dienstzimmer geführt. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein Telefon und ein kleiner Schrank, das war die ganze Einrichtung. Der Kommissar nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und sah Johann streng an. Er fand das Lächeln wohl nicht so passend. Johann wurde ernst und setzte sich auf den freien Stuhl.

»Was können Sie mir über abgelaufenes Fleisch in der Küche des Schlosshotels erzählen?«, eröffnete der Kommissar das Gespräch.

»Abgelaufenes Fleisch?«

Misstrauisch blickte Johann sich um. Er hatte es doch geahnt, Psychotricks. Der Kommissar fing mit etwas ganz anderem an, er wollte ihn aus der Reserve locken. Später würde er ihn mit den Leichen überraschen, um in einem Moment der Unachtsamkeit ein Geständnis zu bekommen. Dieser Reichel war offenbar ein ganz Gerissener. Johann musste auf der Hut sein. Sein Bein begann wieder zu wippen. Wenn er nur nicht so nervös wäre. Das Polizeirevier, das Befragungszimmer und der Kommissar ihm gegenüber raubten ihm seine Konzentration. Er konnte nicht klar denken.

»Gammelfleisch, Herr Mühlbauer. Im Tiefkühlraum des Schlosshotels. Und da Sie dort arbeiten, kann ich nur annehmen, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben. Also?«

»Äh …« Johann hatte sich auf jede Frage vorbereitet. Auf: Haben Sie Karl Bachmaier ermordet? Auf: Haben Sie Martin Ammerschmidt ermordet? Auf: Haben Sie Alibis? Mit einer Frage nach Gammelfleisch hätte er nie und nimmer gerechnet. Johann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte gezwungen. Diese Psychotricks taten ihre Wirkung, das merkte er bereits. Sein Magen krampfte sich zusammen.

»Keine Ahnung«, sagte er schließlich.

Der Kommissar seufzte und rieb sich mit der Hand über die Schläfen. »Okay, versuchen wir es anders«, begann er. »Ist Ihnen am Fleisch etwas aufgefallen? Sie sind doch Koch. Hatte das Fleisch vielleicht eine ungewöhnliche Farbe? Eine ungesunde? Einen anderen Geruch? Was weiß ich, Sie müssen das doch in der Berufsschule gelernt haben. Wie erkennen Sie Fleisch, das über das Verfallsdatum hinaus ist?«

Johann zuckte mit den Schultern. Er versuchte es wieder mit: »Keine Ahnung.«

»Wie lange arbeiten Sie schon im Schlosshotel?«

»Sieben Monate. Letzten September habe ich mit der Ausbildung angefangen.«

»Das heißt, Sie haben in sieben Monaten keine einzige Beschwerde bekommen? Kein Gast hat je gesagt, dass ihm das Fleisch nicht schmeckt?«

Johann schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich vage an eine Bemerkung Bachmaiers, dass er das Fleisch gut durchbraten müsse. ›So lieben es die Gäste.‹ Johann traute sich nicht, dem Kommissar von Bachmaiers Verhalten zu erzählen. Einmal Verbrecher, immer Verbrecher, so hieß es doch. Reichel würde sich auf die Bemerkung stürzen und ihm daraus einen Strick drehen. Er würde solange auf Johann einreden, bis er den Mord an Bachmaier, an Ammerschmidt und an diesem Unbekannten gestand. Ängstlich versuchte Johann seine Finger unter Kontrolle zu bekommen, die wie von selbst an seiner Hose herumzupften. Er musste den Kommissar ablenken.

Es klopfte an der Tür und der Assistent, Huber, streckte seinen Kopf herein. »Entschuldigen Sie, dass ich einfach so hereinplatze, aber es gibt neue Ergebnisse bezüglich Robert.«

Wer war Robert? Johann blickte den Assistenten aufmerksam an. Nur nicht nervös wirken, sagte er sich. Noch war alles unter Kontrolle.

Der Kommissar winkte seinen Assistenten herein und der junge Mann stellte sich neben den Kommissar und somit Johann gegenüber. Zwei Polizisten auf der einen Seite des Schreibtisches, Johann auf der anderen. Jetzt fingen die Psychotricks richtig an.

»Roberts Auto ist auf dem Parkplatz des Schlosshotels entdeckt worden.«

»Wieder das Schlosshotel«, stöhnte der Kommissar und Johanns Nervosität wuchs. Natürlich das Schlosshotel. Das Ganze war doch ein Komplott, um ihn hereinzulegen.

»Am Hintereingang. Ich habe mir erlaubt, Herbert hineinzuschicken«, fuhr der Assistent fort. »Und sehen Sie mal, was er gefunden hat.« Er legte eine Plastiktüte auf den Tisch, in der sich ein Messer befand. Es war ein großes Messer mit gezackter Klinge und dunkelgrünem Griff.

Johann wurde schlecht. Das war nicht irgendein Messer, das war Großvaters Jagdmesser. Wie zum Teufel war das in die Küche des Schlosshotels gekommen?

»Danke, Huber, Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen«, sagte Reichel und schubste die Plastiktüte mit seinem Kugelschreiber an. »Aber bevor ich es vergesse: Rufen Sie diesen dämlichen Bauern an. Sagen Sie ihm, wir kümmern uns morgen um Hildegard. Finden Sie eine Ausrede, warum wir heute keine Zeit haben. Wir verfolgen eine heiße Spur, was Elfriede angeht.«

Der Assistent nickte, zog die Tür hinter sich zu und Johann war wieder allein mit dem Kommissar. Er hatte eine dunkle Ahnung, wer mit Elfriede und Hildegard gemeint sein könnte.

Das Jagdmesser seines Großvaters starrte ihn vorwurfsvoll an. »Ich hab das Messer noch nie zuvor gesehen«, rutschte ihm heraus und er verfluchte seine Aufregung. Moschiks Aussage stand nicht mehr allein, die Polizei hatte jetzt ein Indiz. Dass Johann keine Ahnung hatte, wie das Indiz in die Küche gekommen war, würde ihm wohl kaum zu seinen Gunsten ausgelegt werden. Johann dachte an Gefängnisse und was er über sie im Fernsehen gelernt hatte. Er schluckte ein paar Mal gegen den Kloß im Hals an.

Der Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete ihn aufmerksam. Nach einigen Minuten begann er, mit seinem Kugelschreiber zu klicken. Johann hatte das Gefühl, dass er irgendetwas von ihm erwartete. Nur hatte er keine Ahnung, was er sagen sollte. Das Jagdmesser gehört meiner Mutter, schien ihm ungeeignet.

Schließlich räusperte er sich, begann mit »Nun ja …«, brach ab und verstummte mit einem entschuldigenden Schulterzucken wieder.

Der Kommissar atmete sehr langsam und sehr laut aus. »Ich denke, Sie sollten jetzt nach Hause gehen, Herr Mühlbauer«, sagte er nach einer Pause. »Ruhen Sie sich aus. Denken Sie gut nach. Vielleicht fällt Ihnen über Nacht oder morgen etwas ein. Dann rufen Sie mich an.«

Noch nie war Johann so schnell von einem Stuhl aufgesprungen wie in diesem Moment.

»Wir sprechen uns wieder«, verabschiedete sich der Kommissar und Johann rutschte das Herz in die Hose.

»Schönen Tag noch«, brachte er heraus und lief, nein, rannte den Flur hinunter zum Ausgang. Der letzte Satz des Hauptkommissars war eine unverhohlene Drohung gewesen, so viel war klar. Johann befand sich auf der Verdächtigenliste der Polizei ganz weit oben. Mit ziemlicher Sicherheit war er Nummer eins. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn festnehmen würden.

 

*

 

Es war nur eine Frage der Zeit, bis für Natalie endgültig alles schiefging. Eine alte Frau mit merkwürdig lila gefärbten Haaren und einer viel zu großen Handtasche betrat das Moulin Rouge. Die kleine Dame wirkte überhaupt nicht wie jemand, der wusste, was zu tun war.

»Grüß Gott«, sagte sie und blickte sich im Raum um. »Ist da wer?«

»Ja, hier.« Natalie kam hinter der Bar hervor, wo sie sich die letzte halbe Stunde verkrochen hatte.

»Ich habe Sie angerufen. Meine Großmutter hat mir Ihre Nummer gegeben. Sie wissen schon.« Natalie hatte Frau Stein am Telefon schon alles erzählt, wenn man abwechselnd weinen und schnäuzen so nennen konnte.

Kurzsichtig blinzelte Frau Stein Natalie an. Dann schob sie ihre Brille die Nase hoch, stellte die riesige Handtasche auf einen Barhocker und legte ihren Mantel ab.

»Natalie. Das bist du, ja? Was für ein großes Mädchen du geworden bist.« Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, da warst du noch so winzig.« Sie machte eine Bewegung mit ihrer Hand ungefähr auf Kniehöhe.

Natalie versuchte, tapfer zu lächeln. Innerlich fürchtete sie, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Wie sollte Frau Stein ihr helfen? Diese nette alte Dame hatte doch keine Ahnung von der großen weiten Welt. Von Drogen, Prostitution, Martin Ammerschmidt, Natalie und einem Psychopathen. Am liebsten hätte Natalie sich wieder hinter die Bar verkrochen und weiter geheult. Stattdessen beobachtete sie resigniert Frau Stein, die zu dem bewusstlosen Psychopathen hinüberging und seinen Puls fühlte.

»Der lebt noch. Hm. Da müssen wir natürlich etwas machen.« Die Alte sah sich im Raum um, prüfte die Stärke des Heizungsrohrs und nickte zufrieden. »Das sollte es tun. Sei doch so nett und gib mir etwas zum Fesseln, Kindchen. Ein Seil oder ein Kabel. Wir müssen den Scheißkerl zur Sicherheit festbinden. Beim Ausräumen der Bude hier werden wir bestimmt etwas Krach machen, da besteht die Gefahr, dass er aufwacht.« Sie lächelte wieder und Natalie war sich plötzlich sicher, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Alles würde viel schlimmer werden. Diese nette alte Dame war nicht wie andere nette alte Damen. Diese hier benutzte Wörter wie ›Scheißkerl‹ und ›Bude ausräumen und fesselte Psychopathen an Heizungsrohre.

»Weißt du, deine Großmutter hat immer so von dir geschwärmt. Was für ein hübsches, kluges und liebes Mädchen du doch bist. Ich muss sagen, da kann ich ihr nur zustimmen.«

»Frau Stein, ich bin Prostituierte.«

Die alte Dame strahlte Natalie an, während sie den Bewusstlosen fesselte. »Ja und? Beruf ist Beruf. Einer wie der andere. Es ist wichtig, dass du auf eigenen Beinen stehst und von keinem Mann abhängig bist.«

Natalie dachte an Martin und wollte etwas einwenden, aber Frau Stein forderte sie auf, mit anzufassen: »Der Kerl ist ganz schön widerspenstig.«

Gemeinsam banden sie dem Ohnmächtigen die Hände mit dem Telefonkabel zusammen. Madame Jacquelines Handschellen hatten so einiges ausgehalten. Sie baumelten immer noch an seinem Handgelenk. Natalie hatte jedoch keine Ahnung, wo der Schlüssel war, und so begnügte sich Frau Stein damit, die Hände des Mannes mit Paketband aus ihrer riesigen Handtasche zusammenzuschnüren und Teppichklebeband aus der Schublade hinter der Bar um ihn und das Heizungsrohr zu wickeln.

»Na, das haben wir doch wunderbar hingekriegt«, kommentierte sie ihr Flickwerk.

»Wenn wir ihn damit nicht ganz erledigt haben.« Natalie war unwohl bei der Sache, der Kopf des Irren baumelte so merkwürdig herum.

»Ach Quatsch, der hält was aus. So einer ist nicht totzukriegen. Ich weiß Bescheid. Er erinnert mich an meinen Neffen. Unkraut vergeht nicht. Irgendwann haben sie meinen Tobi allerdings doch gefasst und in den Knast gesteckt.«

Da war es wieder. Dieses schlimme Wort. Knast. Natalie schauderte. Was für Verbrechen sie in den letzten Tagen begangen hatte! Die Polizei würde sie sicher nicht so einfach laufen lassen.

»Was sagen wir denn der Polizei? Sind wir nicht auch mitschuldig? Ich meine, haben wir nicht falsche Dinge getan?«, fragte sie.

»Die Polizei?« Frau Stein sah sie erstaunt an. »Ich habe nicht vor, die Polizei zu rufen! Wir räumen hier jetzt erst einmal auf und dann sehen wir weiter.« Auf Natalies besorgten Blick hin, strich sie ihr über das Haar und fügte hinzu: »Alles wird gut, Kindchen. Du willst doch nach Hause zu deiner Großmutter, nicht wahr?«

Natalie nickte. Das wollte sie allerdings. Am besten heute noch, so schnell es ging. Nie wieder würde sie von dort weggehen. Bis vor einer Woche hatte sie nicht geahnt, wie glücklich sie gewesen war. All ihre Schulfreundinnen hatten immer von der großen, weiten Welt gesprochen, da hatte Natalie gedacht, es ihnen gleichtun zu müssen. Inzwischen wusste sie mehr über die große, weite Welt – und sie gefiel ihr nicht.

Resolut machte Frau Stein sich ans Aufräumen. In der Schublade hinter der Bar fand sie die Kasse mit dem Geld. Etwas angewidert nahm sie die Scheine heraus. »30 Kröten? Mehr macht ihr hier nicht? Du bist doch ein hübsches Ding, da hättest du ruhig mehr verlangen können!«

»Oh, nein. Das ist nur das Geld von der Bar. Wenn die Kunden etwas trinken.«

»Ah.« Frau Stein nickte verständnisvoll. »Und wo ist das restliche Geld?«

»Im Tresor. Martin hat einen Tresor in die Wand eingebaut. Direkt unter dem Bild hinter Ihnen.«

Frau Stein grinste und hängte summend das Bild ab. »Du hast nicht zufällig einen Schlüssel?«, fragte sie und tastete vorsichtig die Wand um das Schloss herum ab.

»Was? Wieso?« Wozu brauchte die alte Dame den Schlüssel? Sie wollte doch nicht etwa an den Tresor? Oh doch, sie wollte, korrigierte Natalie sich sofort. Frau Stein wollte definitiv.

»Hör zu, Kindchen. Dein Zuhälter, dieser Martin, ja? Der hat dich angelogen und betrogen und hierher verfrachtet. Wie viel Geld hast du behalten von dem, was die Kunden dir gezahlt haben?«

Natalie zog eine Grimasse.

»Eben«, sagte Frau Stein nachdrücklich. »Meinst du nicht, das Mindeste, was er dir schuldig ist, ist das Geld für die Fahrkarte nach Hause? Zu deiner Großmutter?«

Natalie zögerte, dann nickte sie langsam. Martin war wirklich ein Arschloch gewesen. Zuerst mit diesem ganzen Drogenplan und dann hatte er sich auch noch umbringen lassen, sodass Natalie mit dem Verbrecher allein gewesen war. Frau Stein hatte vollkommen recht. Natalie nickte grimmig und kramte den Schlüssel aus der Schublade hervor.

»Dann wollen wir doch mal sehen, wie viel Kohle der gute Mann hier gehortet hat.«

Natalie blickte über Frau Steins Kopf in den Tresor.

»Um Himmels willen!«, hauchte sie. »Das ist ja unglaublich! Du meine Güte!«

Geldbündel um Geldbündel stapelten sich dort und Frau Stein grinste zufrieden. »Wie schön!«, sagte sie verträumt. Die alte Dame griff nach einem Bündel, ließ die Scheine durch ihre Finger sausen, zählte die übrigen Bündel und rechnete. »Verdammt, der hat euch echt ackern lassen, was?«

»Lady Jacqueline war nicht billig.«

»Das sind knapp 100.000 Euro. Da würde ich sagen, haben wir einen Jackpot geknackt. Du kriegst keine Fahrkarte nach Hause, du kannst dir ein Auto leisten.«

»Ich habe einen grünen Jetta.«

»Du kriegst einen Mercedes. Deiner Großmutter bringst du einen großen Blumenstrauß mit. Als Entschuldigung dafür, was du hier alles angestellt hast. Und dann versprichst du ihr hoch und heilig, nie wieder abzuhauen. Schon gar nicht, um so einem depperten Idioten in ein Bordell zu folgen.«

Frau Stein sah sie streng an und Natalie nickte gehorsam.

»Ganz bestimmt nicht, Frau Stein.«

»Braves Mädchen.« Die alte Dame nahm die Hälfte der Geldbündel und steckte sie in eine Plastiktüte. Die gab sie Natalie zusammen mit letzten Instruktionen in die Hand.

»So, Kindchen. Den Rest regle ich. Du musst dir keine Sorgen machen. Weder um den Geisteskranken am Heizungsrohr noch um Martin, um diesen Puff oder die Polizei. Alles wird gut. Du fährst jetzt direkt zu deiner Oma und richtest ihr herzliche Grüße von mir aus.«

»Das werd ich, Frau Stein. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Hab ich doch gern gemacht.« Die alte Frau strahlte. »Ich wünschte, ich hätte eine Enkelin wie dich! Du bist ein liebes Mädchen.«

Natalie lächelte verlegen und machte sich auf den Weg nach draußen. Alles würde wieder gut werden, da glaubte sie fest dran. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Es war wirklich alles nur ein Unfall.«

Die alte Dame nickte. »Unfälle passieren.« Sie legte den Kopf schräg, zwinkerte Natalie zu und sagte: »Und manchmal muss man nachhelfen, damit sie passieren.«

Das letzte, was Natalie beim Hinausgehen von ihr sah, war, wie sie die restlichen Geldbündel in ihre riesige Handtasche stopfte.

 

*

 

Amalie stopfte zwei Geldbündel in ihren BH, den Rest ließ sie in den Briefumschlägen. Sie legte sie auf ihr Nachthemd und die Socken und verschloss die Reisetasche. Die Mafiosi vor der Haustür hatten gerade ihren Wagen in Bewegung gesetzt. Kein Zweifel, sie wollten ihre Suche nach Amalie wieder aufnehmen.

Amalie witterte ihre Chance. Durch die Butterbrote und ein Stück Topfenstrudel gestärkt, war sie bestens gerüstet für ihre Flucht. Zählte man noch das Geld dazu, konnte nichts schiefgehen.

Leicht schwankend stand Amalie auf. Ihre ständigen Schwächeanfälle in der letzten Zeit bereiteten ihr etwas Sorge. Wenn sie erst einmal weit weg und in Sicherheit war, musste sie dringend einen Arzt aufsuchen.

Draußen war es bereits dunkel und Amalie torkelte zur Garage. Es dauerte einen Moment, bis sie das Schloss geöffnet hatte. Aus irgendeinem Grund befanden sich mehrere Schlösser am Auto. Genauso wie Tore an der Garagenwand. Amalie ließ die Reisetasche auf den Rücksitz und sich selbst auf den Fahrersitz fallen, legte den Gurt um und startete den Motor. Da waren tatsächlich viele Garagentore. Mindestens vier. Sie schüttelte den Kopf, blinzelte ein paar Mal und kniff die Augen zusammen. Für einen Augenblick sah sie klar, gab Gas und schoss auf die Straße. Sie schlug das Lenkrad ein, erwischte die Mülltonne des Nachbarn und befand sich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig.

»Huh«, rief sie und wischte sich über die Augen. Sie schwitzte und kleine Schweißperlen rannen ihr die Schläfen hinunter. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich beirren zu lassen. Der Flughafen in Annabichl war nicht weit und Lendnitz nicht groß. Klagenfurter Straße, das musste doch richtig sein. Entschlossen trat sie das Gaspedal durch und fuhr mit quietschenden Reifen um die Kurve. Großzügig interpretierte sie den Mittelstreifen als Orientierungsmerkmal. Zwischendurch wich sie immer mal wieder rechts und links von ihm ab, vorzugsweise nach links, wenn ihr Autos entgegenkamen. Den Kreisverkehr in der Stadtmitte Lendnitzens umrundete sie dreimal, weil sie sich nicht mehr an die richtige Ausfahrt erinnern konnte. Villacher Ring, Klagenfurter Straße, nein, umgekehrt? Als sie am Villacher Ring abbog, der seinen Standort seit gestern geändert hatte, musste sie zunächst anhalten und ihren Magen unter Kontrolle bringen. Mit 110 Sachen durch den Ortskern zu fahren, bekam ihr nicht gut.

Nachdem sie durchgeatmet hatte, gab Amalie wieder Gas und versuchte, sich zu erinnern, wo die Klagenfurter Straße lag. Da gab es doch diesen großen Bauernhof, der bis vor ein paar Jahren noch einen Buschenschank-Betrieb aufrecht erhalten hatte. An die Jause erinnerte sich Amalie immer noch gern zurück. Sie riss am Lenkrad und nahm die nächste Ausfahrt. Klagenfurter Straße, Volltreffer. Jetzt nur noch Annabichl finden. Spätestens morgen Früh würde ein Flieger nach Wien gehen und von da konnte sie überall hin. Glücklicherweise war es mitten in der Nacht und die meisten Menschen Lendnitzens schliefen, sonst hätte sie wahrscheinlich einige größere Unfälle auf ihrem Weg verursacht. So musste nur ein Auto in den Straßengraben und ein anderes auf den Bürgersteig ausweichen.

Amalie selbst ging es immer schlechter. Ihr Magen rebellierte und auf dem Lenkrad tanzten schwarze Punkte. Die Straße flackerte auf, dann wurde sie zu einer fauchenden Schlange.

Sie war eine knappe halbe Stunde unterwegs, als sie wieder in den Kreisverkehr Lendnitzens einbog. Irgendeine Kurve musste ihrem Orientierungssinn ein Schnippchen geschlagen haben. Um Haaresbreite entging ein Frühaufsteher ihrer Stoßstange durch einen beherzten Sprung in den Straßengraben. Amalie hatte die Scheinwerfer nicht angeschaltet, um die Mafiosi nicht auf sich aufmerksam zu machen. Aber offenbar verursachte das fehlende Licht Probleme bei den wenigen anderen Verkehrsteilnehmern, die unterwegs waren. Also beugte Amalie sich hinunter, um den Schalter zu suchen. Ihr Wagen kreuzte den Kreisverkehr quer und zerstörte das Blumenherz, das die Stadtverwaltung in der Mittelinsel arrangiert hatte.

Amalie bog noch einmal falsch ab und fuhr rechts ran. Die Straßenführung war tückisch an dieser Stelle. Gleich vier Straßen führten vom Kreisverkehr ab. In ihrem benebelten Zustand fand Amalie auch bei einem weiteren Versuch nicht die richtige Ausfahrt zur Klagenfurter Straße. Stattdessen gelangte sie über den Villacher Ring zum Krankenhaus. Ein Krankenpfleger, der zur Raucherpause vor dem Noteingang stand, sah den schlingernden Wagen kommen, brachte zuerst die alte Dame im Rollstuhl, die sich ebenfalls zum Rauchen draußen aufhielt, in Sicherheit und sprang dann selbst in die Büsche. Amalie schätzte die Nähe des Hydranten vor dem Krankenhaus falsch ein und ihre Fahrt wurde abrupt gestoppt. Der Wagen knautschte sich vorn, der Airbag öffnete sich und Amalies Kreislauf gab nach. Sie konnte gerade noch: »Hallo, schöner Mann« hauchen, dann fiel sie in Ohnmacht und dem Pfleger, der die Fahrertür öffnete, entgegen.