Mittwoch

 

Es war wie immer Viertel nach elf, als Johann Mühlbauer am Mittwochvormittag sein Fahrrad abstellte. Wie immer fing Harald Moschik ihn noch im Flur ab. Er trug eine Bandage um den Kopf.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, begann er seine Tirade und Johann schaltete ab. Er zog seine Kochjacke an und drehte sich erst von seinem Spind um, als Moschik lautstark die Tür vom Umkleideraum zuschlug.

»Eine Unverschämtheit ist das! Eine bodenlose Unverschämtheit!«, hörte Johann, wie Moschik seine Schimpferei im Flur fortsetzte. Entschuldigend blickte Johann zu Bruce Willis. Der Held schien missbilligend den Kopf zu schütteln und Johann fühlte sich schlecht.

»Bald«, versprach er Bruce. »Bald sag ich ihm, was ich von ihm halte. Ehrenwort.«

Für den Moment war Johann jedoch froh, dass alles seinen normalen Lauf nahm. Er lächelte, setzte sich die Kochmütze auf und schlurfte in die Küche. Der Chefkoch war nirgends zu sehen. Offenbar hatte seine Verletzung ihn gezwungen zu Hause zu bleiben. Dafür wirbelte Moschik für zwei.

»Schneller, schneller, schneller!«, herrschte er Johann an und befahl ihm, die Schweinelendchen aus dem Tiefkühlraum zu holen.

Johann lavierte sich vorsichtig zwischen den immer noch auf dem Boden herumliegenden Töpfen und Tellern hindurch zum Lager. Dieser Seligmann hatte wirklich gewütet. Überall waren seine Spuren zu sehen. Johann öffnete die Tür zum Tiefkühlraum und blieb stehen. Er blinzelte einmal, zweimal, dann schlug er hastig die Tür zu.

Alles wie immer, Johann, alles wie immer, redete er sich ein. Er war in Lendnitz, dem friedlichsten Ort der Welt. Es war alles in Ordnung: Er war eine Viertelstunde zu spät zur Arbeit gekommen, Moschik hatte ihn angeschrien. Johann atmete tief durch, drehte sich um und öffnete die Tür zum zweiten Mal.

Aber auch beim zweiten Hinsehen lagen ein Schweinekopf und der Chefkopf Karl Bachmaier in einer riesigen Blutlache auf den Fliesen.

»Ganz ruhig, Johann, ganz ruhig«, beschwichtigte sich Johann, während er Schritt für Schritt in den Kühlraum trat. »Eine Halluzination, weiter nichts. Eine Halluzination. Alles ist wie immer.« Der Chefkoch hatte das Schwein ausgeweidet. Dann hatte er sich wohl entschlossen, ein Nickerchen zu halten. So musste es gewesen sein.

Johann tastete sich weiter vor. Er kniete sich neben Bachmaier und überlegte, ob er nach dessen Puls suchen sollte. Allerdings war Bachmaiers Hals fast komplett vom Rumpf getrennt, sodass Johann die Idee schnell wieder verwarf. Auch seine Gliedmaßen waren nicht mehr fest mit dem Körper verankert. Der Mann war tot, da gab es keinen Zweifel. Stellte sich nur die Frage, ob das hier die Wirklichkeit war oder ob die gestrigen Erlebnisse zu viel für Johanns Gehirn gewesen waren.

»Oh mein Gott!«, schrie in diesem Moment Harald Moschik hinter ihm und trat in den Raum. Damit war die Frage nach Realität oder Fantasie also geklärt.

»Ich wusste es doch! Ich wusste es doch!«

»Was?« Johann sah verwirrt auf.

»Du Mörder!«

»Ich … was?« Jetzt sprang Johann auf die Füße. »Ich hab überhaupt nichts gemacht. Ich wollte nur die Schweinelendchen holen.«

Aber Moschik hörte nicht zu. »Du hast Bachmaier auf dem Gewissen«, rief er. »Und Seligmann dazu. Du hast ihn angestachelt, Bachmaier umzubringen. Er hat es gestern vermasselt und deshalb hast du die Sache heute zu Ende gebracht.«

Panik breitete sich in Johann aus.

»Anzeigen werde ich dich, ich habe alles gesehen. Polizei! Polizei!«, schrie Moschik und wollte aus dem Kühlraum stürmen. Er kam nicht weit. Er stolperte über eine herumliegende Schweinshaxe, fiel und krachte mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Reglos und verdreht blieb er liegen.

»Ach du meine Güte«, murmelte Johann und setzte sich erst einmal neben Moschik auf den Boden.

»Herr Moschik? Herr Moschik?«, fragte er vorsichtig, bekam aber keine Antwort. Johann atmete tief durch. Dann riss er die Augen auf. Was, wenn Moschik auch starb? Was, wenn er nicht starb? Und vor allem die alles entscheidende Frage: Was würde die Polizei glauben? Hauptkommissar Reichel hatte ihn gestern schon auf dem Kieker gehabt. Moschiks Anschuldigung, die Andeutungen des Kommissars und jetzt das.

Rationales Denken gehörte nicht zu Johanns Stärken, seine Gedanken drehten sich panisch im Kreis: Die Polizei durfte Bachmaier nicht finden. Sie durfte Johann nicht finden. Sie durfte Johann nicht mit dem toten Bachmaier finden. Sie würden ihn verhaften, verurteilen und ins Gefängnis stecken. Er würde Elena nie wieder begegnen. Er würde keine Chance bekommen, ihr seine Liebe zu gestehen.

Die glasigen Augen des Schweins starrten ihn vorwurfsvoll an, aber Johann hatte seine Entscheidung schon getroffen. Er konnte nicht ohne Elena leben. Und deshalb musste Bachmaiers Leiche weg. Das Schwein auch. Die Küche des Schlosshotels bestellte niemals ganze Schweine, das Fleisch wurde abgepackt geliefert. Ein Schweinekopf fiel auf. Um das Problem mit Harald Moschik würde sich Johann später kümmern. Vielleicht würde er sich auch gar nicht mehr daran erinnern, was passiert war. Plötzlicher Gedächtnisverlust nach einem schweren Schlag auf den Kopf. So etwas geschah häufig in den Büchern seiner Mutter: Jemand verlor sein Gedächtnis und fand es durch die Liebe wieder.

Johann straffte seine Schultern. Der Chefkoch wog zwar ungefähr doppelt so viel wie er, aber da Bachmaier handlich zerlegt worden war, würde er das schon schaffen. Konnte auch nicht schwieriger sein, als einen Asteroiden in die Luft zu sprengen, um die Welt zu retten. Bruce machte so was ständig.

Das Problem waren die vielen Schweineteile, die überall herumlagen. Das waren weit mehr als die sechs Stücke, in die Bachmaier geteilt worden war. Johann zog die Schweinshaxe unter Moschik hervor und schauderte. Es würde ewig dauern, die einzelnen Teile einzusammeln.

Johann entschied sich, mit seinem Chef anzufangen. Er holte einen großen, schwarzen Müllsack und zog Handschuhe an. Dann kniff er die Augen zusammen und tastete nach Bachmaiers rechtem Bein. Wer auch immer Bachmaier und das Schwein zerlegt hatte, war nicht besonders gründlich vorgegangen. Johann musste etwas ziehen, bis sich das Bein mit einem unangenehmen Knirschen löste. Das linke Bein und die Arme stellten kein Problem dar, und Johann band den ersten Sack zu. Er hievte den Torso in einen zweiten Müllsack, dann holte er eine dritte Tüte. Der Kopf glitschte ihm einige Male aus den Händen. Es war schwierig, mit den dicken Handschuhen die Haare zu fassen. Schließlich war es jedoch geschafft und er hatte den kompletten Chefkoch in drei Plastiktüten verstaut. Johann zog sich den rechten Handschuh aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Besorgt sah er nach Moschik.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er leise. Der Mann war nach wie vor bewusstlos und langsam bekam Johann ein schlechtes Gewissen. Vielleicht lag er ja im Koma und brauchte dringend ärztliche Hilfe?

Schnell sammelte Johann die kleineren Schweineteile in einem Müllbeutel und legte den neben Bachmaier in der hintersten Ecke des Kühlraums ab. Er war hier wirklich in eine dumme Situation geraten. Vorsichtig, um nur ja nicht auf ein vergessenes Kleinteil zu treten, kehrte Johann zu den beiden großen Rumpfhälften des Schweines zurück. Mit einer letzten Kraftanstrengung wickelte er die Hälften jeweils in zwei Müllsäcke ein und zerrte sie ebenfalls hinter einen großen Schrank im Kühlraum.

Schwer atmend rollte Johann den Schlauch aus, der in der hinteren Ecke des Kühlraums angeschlossen war und spritzte den Boden gründlich ab. Mit einem Schrubber half er letzten Blutresten nach und spülte alles in den im Boden installierten Abfluss. Die Handschuhe steckte er in den Beutel mit den Schweinekleinteilen und öffnete endlich wieder die Tür zum Lager.

»Notarzt! Notarzt!«, rief er aufgeregt, während er in die Küche rannte. Marko, der Kellner, kam gerade hereingeschlendert und band sich im Gehen die Schürze um.

»Was? Warum?«, fragte er und blickte auf.

»Bin grad in den Tiefkühlraum gekommen«, sagte Johann rasch. »Der Moschik liegt da und rührt sich nicht. Bewusstlos, vielleicht sogar tot.«

Marko ließ die Schürze fallen und lief zum Tiefkühlraum, um sich von Moschiks Zustand selbst zu überzeugen. Nachdem Johann zum zweiten Mal in zwei Tagen den Notruf gewählt hatte, tigerte er in der Küche auf und ab und kaute auf seinen Fingernägeln.

Marko kam kopfschüttelnd zurück in die Küche, während draußen die Sirenen der Ambulanz heulten.

»Platz da, Platz da«, riefen die Sanitäter und stürmten mit einer Trage herein. Der Notarzt folgte ihnen in gemäßigtem Tempo. Wortlos wies Johann ihnen den Weg zum Tiefkühlraum.

»Gewalteinwirkung?«, fragte einer der beiden. Johann schüttelte den Kopf. »Fremdverschulden? Verbrechen?« Der Sanitäter ließ nicht locker. »Bei euch scheint das ja an der Tagesordnung zu sein.« Er brach in schallendes Gelächter aus.

»Haha«, sagte Johann.

»Was ist mit der Polizei?«, fragte einer der beiden. »Kommt die auch?«

Johann versuchte, so desinteressiert wie möglich mit den Schultern zu zucken. »Ist ja bloß ein Unfall gewesen«, sagte er.

Der Notarzt fühlte Moschiks Puls, zog seine Lider hoch und leuchtete ihm mit einer kleinen Lampe in die Augen. Dann nickte er den Sanitätern knapp zu.

Die beiden hoben Moschik auf eine Trage und brachten ihn zum Hinterausgang, der Notarzt trottete hinterher. Johann folgte ihnen und sah, wie sie mit Blaulicht davonfuhren.

»Mann, ist das spannend«, kommentierte Marko, der hinter Johann nach draußen kam.

»Geht so«, murmelte Johann und lächelte schwach. Er dachte an die zwei Leichen im hintersten Teil des Tiefkühlraumes.

 

*

 

Amalie Bachmaier dachte an den Tod. Sie saß auf einem winzigen Stuhl vor dem Schreibtisch, an dem Dr. Petutschnig mit sorgenvoll zusammengezogenen Augenbrauen ihre Testergebnisse studierte. Die ganze letzte Woche hatte Amalie auf Schokolade verzichtet, den Zucker hatte sie schon vor über einem Monat aus ihrem Haushalt verbannt. Trotzdem saß ihr Hausarzt jetzt dort und schüttelte den Kopf.

»Sie treiben Raubbau an Ihrem Körper, Frau Bachmaier«, seufzte er. »Wenn Sie nicht bald etwas an Ihrem Lebensstil ändern, wird das schlimme Folgen haben.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah sie über die Ränder seiner Brille an.

»Statt Butter esse ich jetzt Margarine«, sagte Amalie.

Dr. Petutschnig zog diesmal die Augenbrauen hoch. »Was ist mit Schokoladentorte?«, fragte er.

»Vom Speiseplan gestrichen.«

»Topfenstrudel?«

Amalie ließ den Kopf hängen. Sie fühlte sich wie damals, als sie in der Schule beim Schummeln erwischt worden war. Sie hatte sich für die Mathearbeit einen Spickzettel angefertigt. Der Direktor hatte einen ähnlich strengen Blick wie der Doktor jetzt.

»Ich war beim Yoga«, versuchte sie sich zu verteidigen. Sie blickte zur Tür, wo unter einem kleinen Garderobenständer ihre Sporttasche stand. »Gleich nach der Sprechstunde gehe ich zum Aerobic«, fügte sie hinzu. So viel Sport wie in den letzten drei Wochen hatte sie in ihrem ganzen Leben nicht gemacht. »Ich bin auf dem besten Weg, eine Sportskanone zu werden«, lächelte Amalie schwach.

Ihr Hausarzt faltete seine Hände vor dem Bauch, erwiderte das Lächeln aber nicht. »Das ist ein Anfang, Frau Bachmaier«, sagte er. Er beugte sich vor und zog erneut die Augenbrauen zusammen. »Trinken Sie Alkohol?«

»Höchstens einmal in der Woche.«

»Das sollte so bleiben. Und mit dem Rauchen werden Sie mir nicht anfangen.« Er drohte ihr mit dem Finger. Amalie nickte gehorsam. Ein erster freundlicher Ausdruck stahl sich auf das Gesicht des Doktors und er schrieb etwas auf einen Rezeptblock. »Davon nehmen Sie täglich zwei«, fügte er an und reichte ihr den Zettel. »In einem Monat sehen wir uns wieder.«

Amalie atmete auf und verließ schleunigst das Sprechzimmer. Im Laufschritt ging sie nach draußen und machte erst wieder Halt, nachdem sie in sicherer Entfernung von der Praxis an der nächsten Straßenecke stand. Die Termine bei Dr. Petutschnig waren schlimmer als eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Unter Umständen waren sie sogar schlimmer als ihre Ehe. Apropos, fiel ihr ein, wo steckte eigentlich Karl? Nicht, dass er jede Nacht nach Hause kommen würde, aber meist hörte sie ihn spätestens ab acht Uhr morgens auf dem Sofa schnarchen. Überhaupt war Karl gestern Abend so komisch gewesen. Stellte erst den Fernseher an, nur um keine fünf Minuten später zu verschwinden. Sie zog die Mundwinkel nach unten. Dafür würde sie zum Abendessen gedünstete Karotten servieren, das hatte er davon.

Amalie überquerte den Kreisverkehr in der Ortsmitte und marschierte zu ihrem Fitnessstudio. Am Anfang der Villacher Straße, noch in Lendnitz selbst, befand sich das ›Fit 4 You‹, das seit der Schließung der Schwimmhalle die einzige Möglichkeit zum Sporttreiben anbot.

»Bereit für intensives Konditionstraining?«, begrüßte die Trainerin sie. Amalie seufzte und schlich zur Umkleidekabine. Heute war nicht ihr Tag. Erst Doktor Petutschnig, jetzt Aerobic, alle hatten es auf sie abgesehen. Und wie sie Karl kannte, hatte der sicher auch eine unangenehme Überraschung auf Lager.

 

*

 

Natalie Anzengruber versuchte, ihrem Boss Martin Ammerschmidt die unangenehme Überraschung schonend beizubringen. Seinem roten Gesicht nach zu urteilen, war sie dabei nicht besonders erfolgreich.

»Du hast was getan?«, schrie er.

»Der Typ war ein Psychopath!«, verteidigte sie sich. »Er hatte Blutflecke auf dem Ärmel. Und er hat mich dumme Sau genannt. Ich hab Angst bekommen.«

»Und deshalb hast du ihm die Nachttischlampe über den Schädel gezogen? Dreimal?« Er war wirklich wütend. Eine fette Ader pulsierte blau auf seiner Schläfe und Natalie kratzte nervös den Lack von ihren Nägeln. Seitdem sie ihren Kunden in Panik niedergeschlagen hatte, lag der Mann ohne eine Regung auf den Plüschkissen.

»Er ist nicht tot«, sagte Natalie kläglich. »Ich hab seinen Puls gefühlt. Und vor einer Stunde oder so hat er angefangen zu schnarchen. Ich glaube, er schläft einfach nur.« Hoffnungsvoll sah sie Martin an. Der stieß einen Fluch aus, ließ seinen Kopf in die Hände sinken und zuckte dann resigniert mit den Schultern.

»Na gut. Ändern können wir jetzt ohnehin nichts mehr. In welchem Zimmer ist er?«

Zögerlich zeigte Natalie ihm, wo die Ereignisse der Nacht stattgefunden hatten. Martin öffnete die Tür und betrat vorsichtig den Raum. Natalie blickte über seine Schulter. Der Mann auf dem Bett bewegte sich nicht und Martin schlich näher. Er kniete sich neben das Bett und zog dem Mann die Augenlider hoch. Nicht das kleinste Lebenszeichen.

»Ziemlich fester Schlaf«, kommentierte Martin und sah Natalie an.

»Meinst du, wir sollten einen Krankenwagen rufen? Oder die Polizei?« Natalie kaute auf ihrer Unterlippe. In einem Zimmer mit dem Irren zu sein, jagte ihr Angst ein.

»Nix da. Keine Bullen in meinem Etablissement.« Martin hatte in der Hinsicht feste Grundsätze. »Was macht das für einen Eindruck? Da kommt doch kein Kunde mehr hierher. Nein, keine Polizei.«

»Was machen wir denn dann?«, fragte Natalie ängstlich. Sie konnten den Mann schließlich nicht einfach so liegen lassen.

»Vielleicht haben wir Glück und er erinnert sich an nichts mehr, wenn er aufwacht. So fest, wie du zugeschlagen hast, ist das sogar ziemlich wahrscheinlich.« Martin fühlte den Puls des Bewusstlosen. »Oder er wacht gar nicht mehr auf«, bemerkte er und ließ die Hand fallen.

»Du meinst, ich habe ihn umgebracht?« Natalie schluckte.

Statt einer Antwort durchwühlte Martin die Taschen des Mannes. Er holte ein paar Geldscheine aus der rechten Hosentasche, einen Autoschlüssel aus der linken und schließlich pfiff er leise durch die Zähne. Er hielt eine Plastiktüte mit weißem Pulver in die Höhe und grinste Natalie an. »Jackpot.«

»Drogen?« Nervös trat Natalie von einem Fuß auf den anderen. Martin grinste.

»Ganz genau. Drogen. Koks, so wie es aussieht. Kokain, Schätzchen. Das Zeug ist verdammt teuer.«

»Du meine Güte. Kokain. Ich ruf die Polizei. Wer weiß, wen wir hier am Hals haben!«

»Ach, halt die Klappe mit deiner Polizei. Willst du im Knast landen? Wer hat das Arschloch hier denn umgebracht?«

»Aber er lebt doch noch«, stammelte Natalie. Sie wollte nicht ins Gefängnis. Sie hatte schlimme Dinge darüber gehört. Ihre Großmutter hatte einmal jemanden gekannt, der im Gefängnis gewesen war. Natalie bekam noch mehr Angst. Wo war sie nur hineingeraten?

»Martin, ich weiß nicht, ob …«, begann sie, doch dieser unterbrach sie grob.

»Du weißt nie was«, sagte er. »Deshalb bist du jetzt auch schön still, setzt dich dahin und machst mir keinen Ärger mehr.« Er hielt das Päckchen mit dem weißen Pulver gegen das Licht. »Wo das herkommt, ist bestimmt noch mehr. Wir müssen nur suchen.« Er kniff die Augen zusammen und betrachtete den Mann. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und verließ den Raum.

»Martin! Lass mich nicht allein mit dem Irren«, schrie Natalie auf. Der Kerl war nicht tot, zumindest noch nicht. Was, wenn er plötzlich aufwachte?

»Bin doch gleich wieder da«, grummelte Martin aus dem Flur und kam keine Minute später zurück ins Zimmer. Er hielt Handschellen, eine Augenbinde und einen Knebel in der Hand. Lady Jacqueline, die Domina, die Bibliothekarin geworden war, hatte ihre Sachen offensichtlich zurückgelassen.

»Warum können wir nicht die Polizei holen?«, versuchte Natalie es ein letztes Mal. Martin ignorierte sie und machte sich an dem Unbekannten zu schaffen. Natalie betrachtete ihre Fingernägel und stellte fest, dass sie diese komplett neu lackieren musste. Es konnte einfach keine gute Idee sein, einen Psychopathen ans Bett zu fesseln.

 

*

 

Hauptkommissar Reichel fand, dass es eine hervorragende Idee gewesen war, diesen Streifenpolizisten vom Empfang zu Bachmaier zu schicken. Er gratulierte sich zu seiner Cleverness. Der Streifenpolizist hatte ihm vor einer halben Stunde gemeldet, dass bei Bachmaiers immer noch keiner zu Hause war. Reichel konnte also in aller Ruhe Tag 137 verbringen. Ohne Schweine. Ohne Huber.

Leise pfeifend holte er sich einen Kaffee und balancierte die bis zum Rand gefüllte Tasse vorsichtig zu seinem Schreibtisch. Gerade als er die Tasse abstellen wollte, wurde die Tür aufgerissen.

»Wir haben einen Mord!« Huber stürmte ins Zimmer, woraufhin Reichel seinen Kaffee verschüttete. Er hätte sich nicht zu früh freuen dürfen, dachte er grimmig und blies auf seine verbrühte Hand.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar«, sagte Huber, doch sein Enthusiasmus war nicht zu bremsen. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd und Reichel konnte sehen, dass er vor Mitteilungsbedürfnis fast platzte.

Reichel sah ihn finster an und wischte sich mit einem Taschentuch den Hemdsärmel ab. Schließlich gab er nach. »Was ist denn jetzt mit Ihrem Mord?«, fragte er.

Sofort sprudelte Huber los. »Sie werden es nicht glauben. Harald Moschik hat gerade angerufen. Sie wissen schon, der Koch im Schlosshotel.«

Reichel erinnerte sich. Der Mann war fast ebenso nervtötend wie sein Chef, dieser Karl Bachmaier.

»Er sagt, Karl Bachmaier lag heute Morgen tot im Tiefkühlraum des Schlosshotels. Der Lehrling Johann Mühlbauer stand mit einem blutigen Fleischermesser daneben.« Triumphierend strahlte Huber ihn an.

Reichel blinzelte. Das hatte er nicht erwartet. »Der Lehrling?«

»Der Lehrling«, bestätigte Huber. »Hinter der Fassade dieses Einfaltspinsels steckt wirklich ein Mörder. Wer weiß, vielleicht sogar tatsächlich ein serienmordender Soziopath.«

»Ich fass es nicht. Der Lehrling.«

»Wir werden Schlagzeilen machen, ganz Österreich wird auf uns schauen. Lendnitz, das gefährlichste Pflaster südlich von Wien. Chef, wir übertrumpfen sogar Klagenfurt!«

Reichel schloss die Augen. »Ist die Leiche schon der Spurensicherung übergeben worden?«, fragte er schließlich.

Huber schüttelte den Kopf.

»Dann sollten wir das veranlassen.« Der Hauptkommissar griff zu seinem Diensttelefon und rief in der Zentrale an. Die Observierung des Hauses Bachmaier wurde nicht mehr benötigt. »Im Tiefkühlraum des Schlosshotels liegt eine Leiche. Geben Sie der Spurensicherung Bescheid«, informierte Reichel den diensthabenden Polizisten und griff nach seinem Autoschlüssel. »Na, dann mal los«, nickte er Huber zu. »Gehen wir einen Mordfall aufklären.« Er konnte nicht behaupten, dass er sich darauf freute.

 

In der Küche des Schlosshotels war alles blitzblank und ordentlich. Niemand war zu sehen. »Wo ist der Tiefkühlraum mit der Leiche?«, wandte Reichel sich an Huber, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. Der Kommissar rollte mit den Augen und wandte sich an die beiden Streifenpolizisten, die sich hinter ihm hilflos umsahen.

»Los, suchen Sie die Leiche!«

Die Tür zum Restaurant wurde aufgestoßen und ein Kellner kam herein. Er kam Reichel bekannt vor. Marko irgendwas.

»Was machen Sie denn hier? Wir haben geschlossen«, sagte der junge Mann.

»Wir sind von der Polizei, falls Sie sich erinnern können«, erwiderte Huber.

»Ja, natürlich. Wir haben trotzdem geschlossen.« Der Kellner steckte sich die Daumen in seinen Gürtel und wippte von den Fußballen auf die Zehenspitzen. Reichel fand, dass er nicht den nötigen Respekt zeigte. Aber so war es doch immer mit der Jugend heutzutage, nicht wahr?

»Wir suchen die Leiche«, sagte er ungehalten. Das Wippen hörte auf.

»Die was?« Dem Kellner blieb der Mund offen stehen.

»Ein Mord ist gemeldet worden«, griff Huber ein.

»Karl Bachmaier, der Chefkoch, soll ermordet worden sein«, präzisierte Reichel. Wusste denn niemand in diesem Saftladen, was hier passiert war?

»Ach.«

»Deshalb suchen wir jetzt nach der Leiche.«

»Also im Restaurant ist sie nicht«, antwortete Marko und sah sich misstrauisch um. »In der Küche auch nicht«, fügte er überflüssigerweise hinzu.

»Im Lager und im Tiefkühlraum ist auch nix«, meldete einer der beiden Streifenpolizisten.

»Wo ist dieser verdammte Moschik?«, fragte Reichel seinen Assistenten. »Ich denke, der hat den Mord gemeldet?«

»Moschik?« Der Kellner fing an zu lachen. »Moschik hat einen Mord gemeldet?« Amüsiert zwinkerte er Reichel an und legte den Kopf schräg. Er wartete offensichtlich auf eine weitere Erklärung. Reichel war nicht gewillt, sie ihm zu liefern. Er starrte den jungen Mann wortlos an.

Schließlich sagte Marko: »Moschik ist im Krankenhaus. Der lag vor einer Stunde bewusstlos im Tiefkühlraum. Hat sich den Kopf angeschlagen.« Er machte eine vielsagende Geste mit der Hand.

Irritiert blickte Reichel ihn an. »Soll das ein schlechter Scherz sein?«, fragte er wütend.

Der Kellner zuckte mit den Schultern.

Reichel stöhnte. Er merkte, wie er wieder Kopfschmerzen bekam. Dabei hatte der Tag doch so gut angefangen. »Irgendetwas Ungewöhnliches beobachtet?«, fragte er Marko ungehalten.

Schulterzucken.

»Irgendjemand Ungewöhnlichen gesehen?«

Wieder ein Schulterzucken.

»Was ist denn hier los, verdammt noch mal?«, explodierte Reichel auf einmal. »Da meldet jemand einen Mord und dann gibt es keine Leiche. Der einzige Zeuge liegt im Krankenhaus und niemand hat auch nur eine Sekunde lang etwas Außergewöhnliches bemerkt.« Verärgert marschierte Reichel durch die Küche zum Hinterausgang. »Ich seh schon die Schlagzeilen vor mir: ›Phantom-Mord im Schlosshotel‹, ›Polizei verfolgt unsichtbaren Mörder‹. Verdammt Huber, ich hab’s doch von Anfang an gesagt: Hier gibt es einfach keinen Fall. Wie stehen wir denn jetzt da?« Wütend stapfte er zum Wagen. Huber folgte ihm mit zwei Metern Abstand.

»Vielleicht sollten wir diesen Bachmaier besuchen? Beziehungsweise seine Frau? Es könnte ja sein, dass sie etwas weiß«, schlug der Assistent vor und stieg ins Auto. »Wenn niemand von dem Mord weiß, ist vielleicht keiner geschehen.«

»Ach«, ätzte Reichel. »Damit kommen Sie jetzt. Dann hätten wir uns den ganzen Quatsch hier ja sparen können.« Wahrscheinlich öffnete ihnen dieser Bachmaier persönlich die Tür. Reichel hätte Tag 137 wirklich angenehmer verbringen können.

»Da wäre noch die Sache mit den Drogen«, gab Huber zu Bedenken. »Allein deshalb sollten wir zu Bachmaier. Er hat uns noch ein paar offene Fragen zu beantworten. Falls er nicht tot ist.« Huber war schon wieder obenauf. Gab ein Fall nichts her, stürzte er sich sofort auf die nächste Spur.

»Und wenn alles nichts bringt, haben Sie ja auch noch den Fall mit dem vermissten Schwein, nicht wahr?«, fragte Reichel bissig. Er versuchte, Hubers Laune wieder herunterzuziehen. Aber es gelang ihm nicht. Huber war heute besonders störrisch.

»Ich weiß, dass hier irgendwo ein Fall steckt. Ein richtig großer«, beharrte er.

»Wie wäre es mit einem Auftritt bei Aktenzeichen XY ungelöst?«, gab Reichel zurück. »Die Polizeidirektion Lendnitz bittet um Mithilfe: Sie sucht ein Verbrechen.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie manchmal richtig witzig sein können«, sagte Huber trocken. »Fahren wir jetzt zu Bachmaier oder nicht?«

»Was anderes wird uns wohl kaum übrig bleiben«, grummelte Reichel und ließ den Motor an. »Hätten Sie vielleicht eine Kopfschmerztablette? Ich brauch dringend ein Aspirin.«

 

*

 

»Ich brauch dringend Zucker«, stöhnte Amalie Bachmaier und hielt sich keuchend am Türrahmen fest. Der Aerobic-Kurs war furchtbar anstrengend gewesen, die Trainerin hatte nicht gelogen. Zuerst hatten sie eine halbe Stunde ohne Pause herumlaufen und -hüpfen müssen, dann hatten sie eine komplizierte Choreografie mit Drehungen und Verrenkungen eingeübt, dass Amalie schwindlig geworden war. Seit Dr. Petutschnig ihr Zucker und Fett verboten hatte, verließen ihre Kräfte sie schnell.

»Karl? Ich bin zu Hause«, schrie Amalie mit letzter Kraft und schleppte sich in die Küche.

»Karl?«, rief sie noch einmal und stellte ihre Sporttasche auf den Küchenstuhl. Sie setzte Teewasser auf. Karl war offenbar immer noch nicht nach Hause gekommen. Nicht, dass es Amalie gestört hätte, aber normalerweise blieb er nicht so lange weg. Anderthalb Tage waren ungewöhnlich. Sie goss den Tee auf und suchte im Schrank nach Süßstoff.

Als das Telefon klingelte, verdrehte sie die Augen. Das war garantiert Karl, der ihr die kleine Teepause vermiesen wollte.

»Frau Bachmaier?«, fragte jedoch eine unbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Hier spricht Harald Moschik, ein Arbeitskollege ihres Mannes.«

Von dem hatte Karl ihr erzählt. Er hatte von ihm nur als ›ungeheures Arschloch‹ gesprochen. Amalie dagegen fand diesen Moschik auf Anhieb sympathisch.

»Mein Mann ist gerade nicht da«, erklärte sie und versuchte, aus dem Süßstoffspender eine Tablette zu drücken. Das widerspenstige Ding weigerte sich, seinen Inhalt freizugeben. Amalie klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und zog am Deckel. Irgendwie musste sie an das Zeug kommen.

Herr Moschik gestand ihr derweil umständlich, dass er tatsächlich mit ihr sprechen wollte und nicht mit Karl. »Wissen Sie, es ist nämlich so«, begann er, nur um ganz anders fortzufahren. »Also, ich weiß gar nicht genau, wie ich das erklären soll«, stotterte er schließlich und Amalie schaltete ab. Dieses Süßstoffding musste doch aufzukriegen sein!

»Kurz und gut: Ihr Mann ist ermordet worden.«

Vor Schreck entglitten Amalie Telefonhörer und Süßstoffspender. Scheppernd landete beides auf dem Boden. Der Deckel sprang auf, die kleinen Tabletten kullerten durch die Küche.

»Oh.« Amalie musste sich erst einmal setzen. Langsam hob sie den Hörer auf und hielt ihn wieder ans Ohr. »Sind Sie sich da sicher?«, fragte sie zögerlich.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, lautete die Antwort. Amalie musste schlucken. Sie brauchte dringend Zucker – nicht diesen Süßstoffkram. Sie merkte, dass sie anfing zu zittern.

»Ich … also … danke für die Information«, sagte sie. Sie legte den Hörer auf, dann sah sie die gegenüberliegende Wand an. Dort hing das gerahmte Hochzeitsfoto ihrer kirchlichen Trauung. Eine der Süßstofftabletten rollte um Amalies großen Zeh.

»Es hilft ja nichts«, sagte sie. Sie stellte die Teekanne auf den Küchentisch, um an den Schrank zu gehen. Irgendwo musste eine Notration Zucker sein. Sie runzelte die Stirn. In der Zuckerdose war weißes Zeug. Hatte sie die nicht geleert? Und wieso war der Zucker in einem Plastikbeutel? Wahrscheinlich war das eine Sparpackung, die Karl aus dem Restaurant mitgebracht hatte, weil er keinen Süßstoff mochte. Amalie schaufelte sich vier Löffel davon in ihre Tasse, bevor sie sich an den Küchentisch setzte. Vorsichtig schlürfte sie den heißen Tee und verzog angewidert den Mund. Bei diesen Billigprodukten wurde offenbar nicht nur an der Packung gespart. Der Zucker süßte überhaupt nicht.

Was hatte sich Karl da wieder andrehen lassen? Bei dem Gedanken an Karl fiel ihr das Telefongespräch mit Harald Moschik wieder ein und sie schaufelte sich noch zwei Löffel Zucker in den Tee.

Karl war tot. Ermordet. Amalie war davon überzeugt, dass sie sich in einem Schockzustand befand. Kleine schwarze Punkte bildeten sich vor ihren Augen. Sie nahm einen weiteren Schluck Tee, der zwar nach wie vor nicht süß schmeckte, aber hoffentlich gegen den Schwindel half. Und warum war ihr plötzlich so heiß?

 

*

 

Johann Mühlbauer war furchtbar heiß. Er brauchte dringend das Auto seiner Mutter. Aber sie wollte immer die genauen Gründe, wenn sie ihm den Wagen lieh. Deshalb fragte er normalerweise nicht. Um eine Leiche im Schlosshotel abzuholen, schien ihm auch kein geeignetes Argument zu sein. Mit fehlenden Transportmitteln musste Bruce Willis sich nie herumschlagen. Er zückte in der ›Stirb langsam‹-Reihe einfach seine Polizeimarke und alles war in Butter.

Johann kratzte sich am Kopf und fragte so beiläufig wie möglich: »Kann ich vielleicht dein Auto bekommen?«

»Wofür brauchst du es denn?«, wollte seine Mutter dann auch prompt wissen, während sie vor dem Spiegel einen neuen Blazer anprobierte.

»Für … also …«, stammelte Johann. Er wurde rot und fügte schnell hinzu: »Siehst super aus. Sehr intellektuell. Und zuverlässig.« Seit seine Mutter diesen neuen Job in der Bibliothek angenommen hatte, war ihr seriöses Auftreten wichtig geworden.

»Nicht wahr?« Sie drehte sich einmal um sich selbst und tätschelte Johann die Wange.

»Natürlich kriegst du das Auto«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Du kannst sie aber auch gern mal mitbringen.«

Johann blinzelte und öffnete den Mund, um zu protestieren, da fiel ihm ein, dass das nicht die schlechteste Lösung war.

»Aber bleib nicht zu lange weg. Ich hab später noch ein Date, da brauch ich den Wagen!«

Was auch sonst. Das Liebesleben seiner Mutter war bisher interessanter gewesen als sein eigenes. Johann seufzte und schnappte sich den Autoschlüssel.

Der rote Polo parkte direkt vor der Haustür und Johann wendete ihn sorgfältig in drei Zügen, wie er es in der Fahrschule gelernt hatte.

Auch mit 30 Stundenkilometern brauchte er kaum mehr als fünf Minuten bis zum Schlosshotel. Die Sonne fiel schräg über dem Dach ein und Johann musste die Augen zusammenkneifen, so hässlich war das Gebäude. Der Architekt hatte sich an Wörthersee-Architektur versucht, vermutlich um Lendnitz ein klein wenig Glanz zu geben und das Schlosshotel noch näher an sein großes Vorbild heranzurücken. Was jedoch in Velden, Pörtschach oder auch Krumpendorf von Fachleuten gebaut in Eleganz erstrahlte, war in Lendnitz durch einen unfähigen Menschen zu überbordendem Kitsch geworden. Türmchen links und rechts, oben und unten, hinten und vorn, der unbekannte Architekt hatte sie alle übertrumpfen wollen. Johann verzog den Mund und war froh, auf den prunklosen Parkplatz des Hintereingangs einzubiegen.

Niemand zu sehen. Johann öffnete die Tür und schlich durch den Flur zum Kühlraum. Wie Bruce, als er sich allein durch ein Hochhaus voller Terroristen bewegen musste. Oder ein Raumschiff voller angriffslustiger Außerirdischer. Sein Anflug von Heroismus hielt so lange, bis er im Tiefkühlraum stand. Wenn jemand ihn entdeckte, hatte er kein Maschinengewehr zur Abwehr, er konnte höchstens mit Schweinefüßen werfen.

Seine Hände begannen zu schwitzen, und der Plastiksack, in dem sich ein Teil Bachmaiers befand, entglitt seinen Fingern. Johann zog sich seinen Pullover aus, den er um die Hüften band. Glücklicherweise war das Schlosshotel immer noch wie ausgestorben. Das war gut, denn er brauchte eine ganze Weile, um den Kadaver und die Leiche im Kofferraum des Polos zu verstauen. Auch stückchenweise wogen ein ausgewachsenes Schwein und ein übergewichtiger Koch eine Menge.

Er warf die Heckklappe zu und wischte sich mit dem Ärmel seines T-Shirts über die Stirn. Dann setzte er sich hinters Steuer. Sein Hals war wie zugeschnürt. Die kurzen Haare im Nacken, in denen der Schweiß hängenblieb, juckten.

Während er im Schneckentempo durch Lendnitz kurvte, blickte er alle fünf Sekunden in den Rückspiegel. Nur nicht auffallen. Nur nicht von der Polizei angehalten werden. Johann bog auf die Klagenfurter Straße ein. Jeden Augenblick konnten Sirenen und Blaulicht auftauchen. Die gefürchteten Worte: Könnten Sie bitte den Kofferraum aufmachen?

Die nervliche Anspannung zerriss ihn. Was hatte er sich bei dieser unsinnigen Aktion gedacht? Wie war er überhaupt auf so eine verrückte Idee gekommen? Dafür war er nicht der Richtige. Mochte er noch so oft von Bruce Willis träumen, er war Johann Mühlbauer. Und für Johann Mühlbauer war klar, dass er Leichen, Blut und Mord liebend gern gegen Ruhe, Frieden und Langeweile getauscht hätte.

Mit beiden Händen umklammerte er jetzt das Lenkrad. Aber weder ein Polizeiauto noch Harald Moschik, der ihn anzeigen wollte, tauchten auf. Unbehelligt parkte er das Auto seiner Mutter am Straßenrand, etwa 200 Meter hinter dem Moserhof. Er stellte den Motor ab und verharrte für einige Minuten regungslos hinter dem Steuer, bis er sicher sein konnte, dass ihm niemand gefolgt war. Dann erst löste er langsam die verkrampften Hände vom Lenkrad und öffnete vorsichtig die Tür.

Er erinnerte sich an jedes Wort, das Elena gestern zu ihm gesagt hatte. Wie könnte er ihre wunderbare Stimme vergessen? Für Elena war er ein Mann. Für sie wollte er einer sein. Johann atmete tief durch und stieg aus dem Auto. Es roch nach Wald, Heu und Gülle.

Was hatte Elena gestern nicht über diese Jauchegrube, die nur einmal im Jahr geleert wurde, geflucht. Die Entfernung zum Haus und der Gestank würden dafür sorgen, dass sich nicht einmal der hartnäckigste Polizist in ihre Nähe trauen würde. Zumindest nicht ohne Gasmaske.

Es war das perfekte Versteck für zwei Leichen. Das Schwein gehörte ohnehin dem Bauern, nahm Johann an. Sonst besaß niemand Schweine in Lendnitz und Johann hatte den Verdacht, dass die kleinen schwarzen Augen dieselben waren, die ihn tags zuvor so heimtückisch angefunkelt hatten.

Glücklicherweise kamen auf der Klagenfurter Straße nicht viele Autos vorbei. Der einzige Nachbar war das Moulin Rouge, dessen Neonreklame erst einige hundert Meter weiter blinkte. Er war ungestört.

Als erstes wollte Johann seinen Chef entsorgen. Mit toten Schweinen hatte er als angehender Koch berufsmäßig zu tun, mit toten Vorgesetzten weniger. Die Bachmaier-Leiche machte ihm Angst. Er schnappte sich nacheinander die drei Plastiktüten, in denen der Chefkoch verstaut war, und warf sie über den Holzzaun. Anschließend sprang er selbst hinüber und schleifte Bachmaier hinter sich her zur Jauchegrube. Der Güllegestank wurde immer unerträglicher, sodass Johann nur noch durch den Mund atmete. An der Grube angekommen, beeilte er sich, die Säcke hineinzuwerfen, und trat hastig den Rückzug an. Während er zum Auto zurückjoggte, zog er sein T-Shirt hoch, bis es ihm über die Nase reichte.

Als Nächstes kam das Schwein an die Reihe. Es war schwerer als Bachmaier und Johann taten bald die Arme weh. Es war anstrengend, die Plastiksäcke über das Feld zu schleifen. Gleichzeitig raubte ihm das T-Shirt vor seiner Nase die Luft. Es hielt zwar den Gestank teilweise fern, ließ ihn aber auch schlechter atmen. Johanns Augen begannen zu tränen und er kam ins Straucheln. Warum mussten ausgerechnet ihm diese Sachen passieren? Das Schicksal war nicht fair! Knapp vor der Jauchegrube entglitt ihm einer der Beutel. Der Schweinekopf kullerte heraus, die kleinen Äuglein starrten ihn vorwurfsvoll an. »’tschuldigung«, flüsterte Johann, legte kurz die Hand über seine Augen, um nicht hinsehen zu müssen, und gab dem Schweinekopf einen Tritt, sodass er in die Jauchegrube geschleudert wurde. Endlich war er die Sau los. Die übrigen Säcke warf er hinterher und lief schwer atmend zurück zum Auto.

»Johann? Hallo«, hörte er in diesem Moment jemanden rufen und bekam fast einen Herzinfarkt.

Er drehte sich um und wäre am liebsten im Boden versunken. Elena. Nicht nur eine potenzielle Zeugin, nein, die schönste Frau der Welt. Wieder ein gemeiner Schachzug des Schicksals, dass er sie ausgerechnet jetzt treffen musste. Es war mehr als ungerecht. Gerade nachdem er seinen Chef und ein Schwein sozusagen beerdigt hatte. Fröhlich kam Elena auf ihn zugesprungen.

»Servas«, stammelte Johann. Sein ohnehin schon vor Anstrengung roter Kopf wurde eine Spur dunkler. »Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.« Er hätte sich ohrfeigen können. Natürlich war sie hier. Im Gegensatz zu ihm hatte sie jedes Recht, sich auf dem Grund und Boden des Bauernhofs aufzuhalten.

»Hi«, sagte Elena zur Begrüßung und reichte ihm die Hand. Verstohlen wischte Johann seine feuchten Handflächen an der Hose ab. Oh Gott, was, wenn er Blut an den Händen hatte? Ihm wurde schlecht. Zaghaft drückte er ihre Hand und zog seine schnell wieder weg. Elena schien sein Verhalten nicht ungewöhnlich zu finden.

»Was machst du hier?«, fragte sie und strahlte ihn aus ihren dunklen Augen an, dass ihm gleich noch schwummriger zumute wurde.

Johann versuchte, seine Kleidung unauffällig auf verräterische Spuren zu untersuchen und gleichzeitig so natürlich wie möglich auszusehen. Das endete damit, dass er höllisch beschäftigt war und ihre Fragen nicht mitbekam.

»Ich, äh … Ich. Nach Hause«, antwortete er auf gut Glück.

»Oh. Kommst du von der Arbeit?« Elena verhielt sich ganz entspannt. Sie warf ihre dicken Locken zurück, sodass Johann sehen konnte, wie die Sonne sich in ihnen verfing und einen goldbraunen Schimmer auf sie legte. Sehnsüchtig dachte er daran, wie gern er mit seiner Hand durch diese Haarpracht fahren würde. Gedanklich rief er sich zur Ordnung und blickte auf den Boden. Entsetzen machte sich in ihm breit. Da war ein Blutspritzer auf seinem Schuh! Er erinnerte sich daran, dass Elena ihn etwas gefragt hatte.

»Ja, ja, genau«, sagte er. »Muss ich nicht.« Elena blinzelte verwirrt und öffnete leicht ihren Mund. Oh, wie gern würde Johann … Er schloss die Augen. Irgendwie musste er Elenas Aufmerksamkeit ablenken, um den Blutspritzer zu entfernen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. Ihre großen Augen sahen ihn besorgt an.

Johann nickte heftig, während er die Schuhspitze am Hosenbein rieb und alle Gedanken an Elenas Augen, ihre Locken oder ihren Mund aus seinem Kopf verbannte. »Klar. Keine Arbeit heute, sozusagen frei. Alles prima. Toll.«

Der Blutspritzer auf seinem Schuh wurde immer größer. Johann hatte das Gefühl, er würde sich riesig aufblähen und Elena im nächsten Augenblick ins Gesicht springen. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis sie ihn entdeckte. Es half nichts. Auch wenn er am liebsten noch stundenlang mit ihr geplaudert hätte, die Gefahr war zu groß.

Abrupt drehte er sich zur Seite. »Ich muss los«, sagte er und hastete davon.

»Hey!«, rief Elena ihm hinterher, aber darauf konnte er nicht mehr antworten. Er musste weg, bevor Elena ihn als Verbrecher entlarvte und nie wieder ein Wort mit ihm sprach. Elena, die schönste Frau der Welt, die Frau seiner Träume, die Liebe seines Lebens.

Johann lief schneller und schneller. Er sprang ins Auto, ließ den Motor an und gab Gas. Im Wegfahren winkte er Elena zu und betete, dass sie ihm seine Flucht nicht übel nahm. Aber was hätte er sonst tun können?

Sie küssen, schlug eine innere Stimme vor, die Bruce Willis überraschend ähnlich klang. Vor Schreck verriss Johann beinahe das Steuer. Sie küssen! Das hätte einiges an Mut abverlangt. Andererseits hätte es sie sicherlich fantastisch von dem Blutfleck abgelenkt.

»Mist!« Johann schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Zu dumm, dass ihm das erst jetzt einfiel. Er fuhr in Lendnitz in den Kreisverkehr ein und hoffte, dass dieser Unglückstag bald vorbei war.

 

*

 

Hoffentlich ist Tag 137 bald vorbei, dachte Hauptkommissar Reichel. Tag 137 hatte gute Chancen, noch schlimmer zu werden als Tag 138. Er stand zusammen mit Huber vor Bachmeiers Haus und bereitete sich innerlich auf die Befragung vor.

»Was macht seine Frau eigentlich? Diese Amalie Bachmaier?«, fragte er seinen Assistenten, während er zum dritten Mal auf die Klingel drückte. »Arbeitet sie?«

»Soweit ich weiß, ist sie Hausfrau«, erklärte Huber. »Aber sie engagiert sich in allen möglichen Klubs und sozialen Vereinen.«

»Hm.« Inspektor Reichel wusste nicht, was er von solchen Frauen halten sollte. Seine erste Frau war ein äußerst beliebtes Mitglied im Rotary Club gewesen. Nach zwei Jahren Ehe hatte sie Reichel wegen des Präsidenten verlassen. Nein, diese Sache mit Amalie Bachmaier lief gar nicht gut an.

»Dann ist sie wahrscheinlich nicht zu Hause.« Der Kommissar wollte schon wieder gehen, da wurde die Tür von der dicksten Frau, die er je im Leben gesehen hatte, geöffnet. Allein ihre Brüste, die den knappen Turnanzug zu sprengen drohten, mussten 20 Kilo wiegen, schoss es Reichel durch den Kopf. Die Frau taumelte leicht und Reichel wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Frau Bachmaier?«, fragte er vorsichtig.

Sie schaute ihn mit glasigen Augen an und fiel gegen den Türrahmen.

»Hallo, schöner Mann«, säuselte sie.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Frau Bachmaier kicherte und trat schwankend zurück. »Kommen Sie doch herein«, hauchte sie und wickelte sich die Krawatte des Kommissars um den Finger. Reichel schluckte. Ihm behagte die Situation ganz und gar nicht. Aber Ermittlungen waren Ermittlungen, und Huber würde sich die nächsten 137 Tage über ihn lustig machen, wenn er sich von einer dicken Frau in Turnanzug und dauergewellten Haaren in die Flucht schlagen ließ.

Er folgte Amalie Bachmaier in die Wohnung und nahm ihr gegenüber am Küchentisch Platz.

»Es geht um Ihren Mann«, eröffnete er das Gespräch.

Frau Bachmaier lächelte ihn an. »Sie sind wirklich ein hübscher Kerl«, sagte sie mit schwerer Zunge und legte ihre Hand auf Reichels Arm.

Huber schlug die Hand vor den Mund. Der Hauptkommissar hatte das Kichern trotzdem deutlich hören können. Er räusperte sich. »Ihr Mann, Frau Bachmaier«, begann er von Neuem.

Frau Bachmaier beugte sich soweit vor, dass Reichel mehr von ihrem Ausschnitt sah, als ihm lieb war.

»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«, fragte Huber.

»Ging mir noch nie besser«, war die inbrünstige Antwort, und mit einem resoluten Ruck zog sie den Hauptkommissar von seinem Stuhl.

Reichel konnte nur noch recht unmännlich »Hilfe« quietschen, bevor er den Boden unter den Füßen verlor und sich 160 Kilo geballte Weiblichkeit auf ihm wälzten.

»Ich brauche Sex«, schrie die Dicke.

»Hilfe«, schrie der Kommissar.

»Ach du meine Güte«, schrie Huber.

»Hil…«, Frau Bachmaiers Gewicht auf dem Brustkorb raubte Reichel die Luft.

Komplett bewegungsunfähig konnte er nur noch zusehen, wie Frau Bachmaier an ihrem Turnanzug riss und sich ihre riesigen Brüste gefährlich seinem Gesicht näherten.

»Soll ich vielleicht die Kollegen holen?« Hilflos sah Huber zu, während der Kommissar ihm am liebsten in den Hintern getreten hätte. Dieser nichtsnutzige Assistent konnte nur klugscheißen, aber wenn sein Chef in Gefahr war, tat er nichts!

Reichel schnappte nach Luft, ihm wurde langsam schwarz vor Augen. Die fette Frau würde ihn noch ersticken!

»Hhh! Hhhh!«, keuchte er und strampelte mit den Beinen. »Hhh! Hhhh!«

»Frau Bachmaier. Bitte, wären Sie so nett und könnten Sie vielleicht aufstehen?« Zögernd fasste Huber die Dicke am Arm. Sie wandte den Kopf und ihre glasigen Augen richteten sich auf Huber. Der zuckte zurück, doch Reichel nutzte den Moment der Ablenkung. Fest entschlossen zog er sein Knie zum Körper und rammte es mit aller Kraft nach oben. Frau Bachmaier gab einen erstickten Schrei von sich und fiel zur Seite.

»Raus hier, Huber!«, rief Reichel atemlos, sprang auf die Beine und hastete zur Tür. Huber schlug einen rechten und einen linken Haken und sprintete ihm nach. Als die Wohnungstür hinter ihnen zuschlug und sie sicher im Dienstwagen saßen, gönnten sie sich eine Minute, um Luft zu holen.

»Kein Wort, Huber. Kein Wort«, keuchte der Kommissar. Huber nickte wortlos.

Reichel startete den Wagen und reichte Huber sein Handy. »Sagen Sie im Revier Bescheid, dass zwei Streifenpolizisten diese Wahnsinnige bewachen sollen. Rund um die Uhr. Die Frau hat Dreck am Stecken, da können Sie Gift drauf nehmen.« Huber nickte wieder. »Und wir fahren jetzt ins Krankenhaus, den Zeugen befragen. Ich hoffe sehr für ihn, dass er brauchbare Informationen hat.«

 

*

 

Ängstlich hatte Natalie Anzengruber ihren Zuhälter von brauchbaren Informationen reden hören. Sie verstand nicht ganz, was er damit meinte, war sich aber sicher, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.

»Martin, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte sie und sah zu, wie er eine Spritze aufzog. Der neue Nagellack, den sie aufgetragen hatte, litt schon wieder unter ihrer Nervosität. Sicherheitshalber war sie in der Tür stehen geblieben, jederzeit bereit zur Flucht.

»Und ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, das ständig zu wiederholen«, fuhr Martin sie an. Er band einen Gürtel um den Oberarm des bewusstlosen Psychopathen auf dem Bett und suchte nach einer Vene.

»Der Mann hat Blut an seinem Ärmel. Und auf seiner Hose. Der ist gemeingefährlich! Martin, wir handeln uns hier echt Ärger ein. Die Polizei könnte …«

»Bist du so blöd oder tust du nur so? Ich hab gesagt, keine Polizei, verdammt noch mal! Ich weiß genau, was ich hier tue. Wir schicken unseren dicken Freund ins Reich der Träume und dann unterhalten wir uns ein bisschen.«

»Unser dicker Freund ist schon seit einem halben Tag im Reich der Träume. Der liegt wahrscheinlich im Koma.« Natalie warf die Hände in die Luft. Sah Martin denn nicht, dass ihnen die Situation längst über den Kopf gewachsen war? Er konnte doch nicht einfach einen kriminellen Verrückten an einem Bett festzurren und unter Drogen setzen.

Martin hingegen grinste sie nur unfreundlich an und antwortete: »Ganz genau. Und wenn die Polizei hier auftaucht, werden sie von mir erfahren, wer ihn dorthin geschickt hat.«

»Aber ich wollte das alles nicht! Er hat mich angegriffen!«, jammerte Natalie.

Martin beachtete sie nicht mehr. Er stach die Nadel in eine Vene des Kriminellen. Natalie sah ängstlich hinüber, wie er zudrückte und den Kolben leicht wieder nach oben zog. Dadurch kam Blut in die Spritze und Natalie wurde schlecht. Kleine Blutfäden vermischten sich mit der Flüssigkeit, die Martin aus dem Kokain des Mannes gebraut hatte.

»Du weißt nicht einmal, was das für ein Zeug ist«, flüsterte Natalie. »Ist das wirklich Kokain? Wer weiß, ob der Kerl davon stirbt!« Nicht, dass sie besonders großes Mitleid mit dem Irren hatte. Nicht, nachdem er sie vergangene Nacht beinahe ermordet hatte. Aber sie war fest davon überzeugt, dass Martin sich mit seiner Aktion in Teufels Küche brachte. Wenn der Mann Drogenkurier war, hatte er Verbindungsleute, die ihn vermissen würden. Und die Spur führte direkt … Natalie schluckte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Die werden ihn suchen!«

Martin blickte auf. »Wer? Mädel, du redest manchmal einen Scheiß, das ist echt nicht zu glauben!«

»Na, seine Komplizen. Der hat doch bestimmt welche. Und die suchen ihn und finden uns. Was meinst du, was diese Kriminellen mit uns anstellen werden? Die bringen uns um!«

»Zum zehnten Mal: Halt den Mund!« Wütend drehte er sich zu ihr um und Natalie wurde still. Angespannt rieb sie ihre Hände aneinander und wünschte sich, ihre Großmutter nie verlassen zu haben.

»Außerdem suchen diese Komplizen nicht uns, sondern wir sie. Genau deshalb habe ich unserem Freund hier das Zeug gespritzt.« Er nahm dem Bewusstlosen Augenbinde und Knebel ab und tätschelte leicht seine Wange. »Aufwachen, Kumpel. Ich interessier mich für ein paar Details aus deinem Drogenhändlerleben.«

Der Mann gab einen brummenden Laut von sich, und Natalie trat einen Schritt zurück. Sie stand in der Tür zum Flur und machte sich bereit, bei Gefahr loszusprinten.

Martin grinste. »Na, das sieht doch schon ganz gut aus«, sagte er leise.

»Eeey«, nuschelte der Mann auf dem Bett und öffnete die Augen. Seine Pupillen waren stark erweitert und sein Blick rutschte an allem ab. Trotzdem fühlte Natalie sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass der Psychopath sie ansehen könnte.

»So, mein Freund. Wie war das mit den Drogen? Woher hast du sie? Wo kommst du überhaupt her?«

»Saaau«, gab der Mann noch etwas unartikuliert von sich. »Schschschweeiiiiiinn.«

»Ja, genau, so wird das was. Sprich mit mir. Drogen, Kumpel. Drogen«, flüsterte Martin.

»Schloss«, kam die Antwort. »Scheißschloss.«

Natalie musste sich anstrengen, um etwas verstehen zu können, aber Martin schien hochzufrieden zu sein.

»Das Schloss, was? Du meinst bestimmt das Schlosshotel. Das ist ja interessant.« Er konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen und beugte sich noch weiter zu dem Psychopathen hinunter.

»Hast du da einen Verbindungsmann? Jemanden, der dich mit Drogen versorgt? Im Schlosshotel? Komm schon, red mit mir.«

»Nnnngggh. Scheiße.«

Martin tätschelte dem Mann noch einmal die Wange und horchte auf etwas, das Natalie von ihrer Position im Flur nicht verstehen konnte.

Martin hatte doch nicht ernsthaft vor, sich mit Drogendealern anzulegen?

 

*

 

»Sie haben doch nicht ernsthaft vor, sich mit mir anzulegen?«, grummelte Hauptkommissar Reichel. Vor Harald Moschiks Krankenzimmer stellte sich ihm ein hagerer Arzt mit Goldbrille in den Weg.

»Entschuldigen Sie, aber Besuch ist momentan nicht gestattet.«

»Polizei, verdammt noch mal«, erwiderte der Kommissar und zückte seinen Dienstausweis. Er war gerade um ein Haar dem weiblichen Tod entronnen und hatte einen Mord aufzuklären. Möglicherweise zumindest. Jedenfalls würde ihn so ein dämlicher Weißkittel nicht aufhalten.

»Mein Patient braucht absolute Ruhe.«

»Ihr Patient hat in unserer Dienststelle angerufen.«

»Ja, nun. Ich kann nicht jeden der Schritte meiner Patienten überwachen.« Der Arzt wirkte etwas verschnupft.

»Dann schlage ich vor, Sie gehen sich jetzt einen Kaffee holen und überwachen auch unsere Schritte nicht.«

»Hören Sie mal!«, begann der Mann, doch Reichel schob sich einfach an ihm vorbei ins Zimmer.

»Entschuldigung«, flüsterte Huber dem Arzt zu und drängte sich hinter Reichel her.

»Ich muss doch sehr bitten!«, mischte sich der Weißkittel weiter ein, aber Reichel schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Sein Tag war ohne diesen Trottel schlimm genug.

»Herr Moschik«, begrüßte Reichel den im Bett Liegenden. Man hatte seinen Kopf verbunden und ihn an einen Tropf angeschlossen. Der Mann sah reichlich unglücklich aus.

»Ach, Herr Kommissar. Gut, dass Sie da sind«, rief er, als er die beiden Polizisten sah, und versuchte sich aufzusetzen.

»Sie haben einen Mord gemeldet?«

»Ganz genau. Einen Mord. Unser Küchenchef Karl Bachmaier ist tot. Umgebracht von diesem widerwärtigen Lehrling Johann Mühlbauer.«

»Und das haben Sie gesehen?«

»Mit meinen eigenen Augen!«

Reichel fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Sehen Sie, Herr Moschik, es ist so, dass … Nun ja, wir konnten keine Leiche finden.«

»Was?« Der Kranke bäumte sich auf, nur um im nächsten Augenblick stöhnend in die Kissen zurückzufallen.

»Im Schlosshotel gibt es keine Leiche. Nicht einmal die kleinste Blutspur.«

»Nein, nein, nein, das kann nicht sein! Ich habe es doch gesehen. Im Tiefkühlraum. Da lagen die blutigen Leichenteile.«

»Im Tiefkühlraum sagen Sie?«, mischte Huber sich ein. »Herr Moschik, Sie wurden bewusstlos aus dem Tiefkühlraum getragen. Blutige Leichenteile hätten den Sanitätern doch auffallen müssen.«

»Er muss sie weggeschafft haben. Ganz sicher. Er hat sie weggeschafft!« Moschik drehte sich unruhig hin und her.

»Er ist ein Mörder«, schrie er und dem Kommissar wurde die Sache langsam unheimlich.

»Danke, Herr Moschik«, sagte er betont ruhig. »Sie haben uns sehr geholfen.« Er trat einen Schritt zurück Richtung Tür, während der Kranke auf dem Bett anfing, wild um sich zu schlagen.

»Ein Mörder! Sie müssen mir glauben. Er ist ein Mörder! Er hat Karl auf dem Gewissen! Und ich bin der Nächste! Er will uns alle umbringen, alle!«

»Natürlich, Herr Moschik, natürlich«, sagte Reichel sanft.

»Sprechen Sie nicht so mit mir!« Moschiks Stimme überschlug sich fast. Er stemmte sich hoch und zerrte an seiner Decke. »Sie glauben mir nicht? Sie werden schon sehen, was Sie davon haben!«

Noch während Reichel mit sich selbst debattierte, ob er den aufgeblasenen Arzt rufen oder versuchen sollte, Moschik selbst zu beruhigen, hatte der sich in seiner Aufregung so weit vorgebeugt, dass er aus dem Bett fiel. Dumpf schlug er mit dem Kopf auf dem Linoleumboden des Krankenhauses auf.

»Autsch«, machte Huber, zog eine Grimasse und setzte schnell hinzu: »Ich hole einen Arzt.« Dann flüchtete er auf den Flur.

Reichel versuchte, den Mann wieder ins Bett zu verfrachten, doch einerseits war Moschik schwerer, als er aussah, und andererseits hatte Reichel Angst, die Kopfverletzung des Mannes zu verschlimmern.

Nach drei Versuchen, in denen Moschik ihm jedes Mal wieder entglitten war, kam endlich Huber mit dem Arzt zurück. Ausgerechnet mit dem dämlichen Weißkittel von vorher. Er hielt seinen Kaffeebecher in der Hand und grinste über Reichels Bemühungen.

»Na, das haben Sie ja sehr gut hingekriegt, Herr Kommissar, das muss ich Ihnen lassen«, bemerkte er arrogant. »Enden Ihre Zeugenbefragungen immer so?«

»Haben Sie nicht irgendeinen Eid geleistet, Menschen in Not zu helfen?«, grunzte Reichel. »Also los, machen Sie schon. Hier sind gleich zwei Menschen in Not.«

»Natürlich helfe ich Ihnen, wenn Sie so nett fragen«, bemerkte der Arzt spitz. Keine Minute später hatte er Moschik wieder ins Bett verfrachtet.

»Was haben Sie denn mit dem armen Mann gemacht?«, fragte er kopfschüttelnd und fühlte den Puls des Kranken.

»Der arme Mann ist nicht mehr ganz dicht«, grummelte Reichel. Erstaunt sah der Arzt auf.

»Ja, was dachten Sie denn? Der Mensch hat zwei Kopfverletzungen, so wie es aussieht gerade eben die dritte, innerhalb von zwei Tagen erlitten. Natürlich ist er ›nicht mehr ganz dicht‹, wie Sie es ausdrücken. Glauben Sie, so etwas geht spurlos an jemandem vorüber?«

»Und das sagen Sie mir jetzt? Die Befragung hätte ich mir sparen können.«

»Oh, ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie meine Meinung besonders interessieren würde, als Sie mich im Flur überrannt haben«, lächelte der Arzt selbstzufrieden. Der Hampelmann schien sich in seiner Rolle zu gefallen und Reichel musste widerstrebend zugeben, dass er es ihm nicht verübeln konnte.

»Jaja, schon gut«, brummte er. »Tut mir leid, dass ich Sie vorhin so angefahren habe.« Niemand sollte von Reichel behaupten, dass er nicht zugeben konnte, wenn er einen Fehler gemacht hatte. »Sie glauben also, es kann sein, dass er Wahnvorstellungen hat?«, fragte er dann.

»Das glaube ich sogar ziemlich sicher. Was meinen Sie, weshalb ich ihn nur ungern aus den Augen lasse? Der Mann hat eine Gehirnerschütterung erlitten und offenbar ein Trauma, wodurch er Halluzinationen entwickelt. Sein Erinnerungsvermögen ist mit ziemlicher Sicherheit beeinträchtigt. Er hat bei dem Sturz ganz schön was abgekriegt, der arme Kerl.«

»Halluzinationen, Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens. Aha.« Reichel runzelte die Stirn. »Das kann nicht zufällig soweit gehen, dass man sich an einen Mord erinnert, der nicht stattgefunden hat? Sich einen Mord einbildet?«

»So etwas ist generell schwer zu sagen. Beeinträchtigungen des Sprachzentrums sind wesentlich leichter zu bestimmen. Das Gedächtnis ist ein sehr komplexer Teil des Gehirns. Auszuschließen ist das nie.« Er überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: »Was diesen Kerl hier angeht«, er deutete mit dem Finger auf Moschik und schüttelte traurig den Kopf. »Ihm geht es nicht gut. Völliger Realitätsverlust. Mit ziemlicher Sicherheit entspringt alles, was er Ihnen erzählt hat, seiner Fantasie.«

Kommissar Reichel war für den Augenblick sprachlos.

»Außerdem scheint er eine Paranoia zu entwickeln, das gefällt mir gar nicht.«

»Paranoia?«

»Er sieht überall Leichen und Mörder. Er ist fest davon überzeugt, dass er der Nächste ist.« Der Arzt schüttelte mitleidig den Kopf.

»Danke für die Information, Doktor …«

»Weisshaupt. Facharzt für Neurologie.«

»Ja. Vielen Dank für die Information, Dr. Weisshaupt. Einen schönen Tag noch«, verabschiedete Reichel sich schließlich unzufrieden und scheuchte Huber aus dem Krankenzimmer.

»Das hat uns ja gerade noch gefehlt. Ein halluzinierender Zeuge«, meckerte Reichel auf dem Flur los.

»Trotzdem würde mich interessieren, wo sich dieser Bachmaier eigentlich aufhält«, antwortete Huber.

Schaudernd dachte Reichel an die wogenden Fleischmassen von Bachmaiers Frau.

»Bei der Frau? Würde mich gar nicht wundern, wenn er abgehauen ist. Vielleicht nach Wien.«

Huber verzog den Mund. »Was soll er denn in Wien, wenn Klagenfurt vor der Haustür liegt?«

»Ihnen ist Lendnitz doch auch zu klein.«

»Lendnitz! Lendnitz ist auch ein Dorf. Wir sprechen hier von der Landeshauptstadt, Chef.«

Reichel rollte mit den Augen und wechselte das Thema. »Wir fahren jetzt zurück ins Revier und machen ein Flip-Flop-Ding, das Sie so lieben.«

»Flip-Chart.«

»Was auch immer, Huber. Wir brauchen eine Vorgehensweise. Wir sollten das Schlosshotel noch einmal gründlich von der Spurensicherung inspizieren lassen, vor allem den Tiefkühlraum.«

Hubers Augen leuchteten auf.

»Nur um zu beweisen, dass dieser Moschik spinnt, Huber. Kein Grund zur Aufregung«, dämpfte Reichel den aufkeimenden Enthusiasmus seines Kollegen.

»Aber bei einer Sache bin ich mir sicher: Hinter den Drogen, von denen die lila Alte uns erzählt hat, steckt die fette Bachmaier. Ich sag Ihnen Huber, die hat einen Plan.«

 

*

 

Vor allem hatte Amalie Bachmaier Durst. Noch nie im Leben hatte sie solch einen Durst gehabt. Schlecht war ihr außerdem und in ihrem Kopf pochte es, als wäre ein Presslufthammer eingezogen. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Amalie war überzeugt, ihr Elend kam von ihrer Trauer um Karl. Immerhin waren sie verheiratet gewesen und Amalie hatte gelesen, dass jeder Mensch auf andere Art trauerte. Amalie vermisste Karl nicht. Kein bisschen. Es gab keinen Kummer und keine Leere in ihrem Herzen. Dafür war ihre Erinnerung verschwommen, seit sie die Todesnachricht erhalten hatte. Körperliche Reaktionen und Gedächtnislücken, das war wohl ihre Art zu trauern.

An einen Polizisten konnte sie sich erinnern, einen Kriminalkommissar. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, was in den letzten Stunden geschehen war. Seltsam.

Und diese furchtbaren Kopfschmerzen! Amalie nahm zwei Aspirin und eine Vitamintablette. Danach begann sie aufzuräumen. Sie putzte das Bad, saugte das Wohnzimmer, wischte den Flur und machte sich auf den Weg zum Dachboden. Es war schon viel zu lange her, dass sie die Fotoalben sortiert und den Staub von ihrem Kinderspielzeug gefegt hatte. Die Schmerztablette hatte ihr gutgetan. Sie fühlte sich deutlich besser.

»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, sagte Amalie, schnappte sich einen Staubwedel und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Es war keine leichte Aufgabe, die schmale Holzleiter, die zum Dachboden führte, aus der Luke zu ziehen. Als sie die Stufen hinaufkletterte, erinnerte sie sich, warum sie den Speicher so selten putzte. Es gab ein technisches Problem. Ab der elften Stufe steckte Amalies Hintern fest.

»Nicht den Mut verlieren, Amalie«, sagte sie sich. »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, alles eine Sache der Übung.«

Sie atmete tief ein, dann in drei kurzen Stößen aus. Mit einem Ruck presste sie ihren ganzen Körper nach unten und landete mit lautem Gepolter am Fuß der Treppe.

Sie rieb sich den Nacken und funkelte die Luke wütend an.

»Das wär doch gelacht«, murmelte sie, stand auf und ging entschlossen auf die Leiter zu.

Nachdem sie zum dritten Mal in der engen Luke stecken geblieben war, entwickelte sich für Amalie die Besteigung des Dachstuhls zu einer Frage der Ehre.

›Jetzt erst recht‹ war immer schon ihr Motto und so machte sich Amalie endlich auf die Suche nach einem geeigneten Hilfsmittel. Die Axt, die sie in der Garage fand, war genau das Richtige.

Eine halbe Stunde schweißtreibende Arbeit und mindestens ein Kilo Holzspäne später hatte Amalie die Luke soweit vergrößert, dass sie bequem hindurchschlüpfen konnte. Sie schnappte sich Eimer und Staubwedel und zwei Minuten danach schwang sie hektisch den Putzlappen. Sie war beschwingt wie schon lange nicht mehr. Die Aerobic-Stunden hatten sich offenbar ausgezahlt und ihr eine übernatürliche Energie beschert.

Es dauerte nicht lange und der Dachboden blitzte und blinkte. Amalie wandte sich ihren Fotoalben zu. Sie liebte es, in alten Erinnerungen zu stöbern. Doch irgendetwas stimmte nicht. Weshalb standen da Schuhkartons?

Neugierig öffnete sie den ersten der drei Kartons und prallte zurück.

Geld.

Hektisch öffnete Amalie auch die anderen. Alle drei Schuhkartons waren randvoll mit Geldscheinen gefüllt.

»Um Himmels willen«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll. Was war das denn? Karls ganz persönliche Rentenversicherung? Wo kam das Geld her? Konnte er es sich leisten, so viel zur Seite zu legen? Und warum hatte er das Geld auf dem Dachboden gelagert und nicht zur Bank gebracht, wo er Zinsen bekommen hätte?

Fragen über Fragen stürmten auf Amalie ein und ihr wurde schwindelig. Sie klemmte sich die Kartons unter den Arm, stieg die Treppe hinunter und beschloss erst einmal Tee zu trinken. Mit viel Zucker, damit ihre Knie aufhörten zu zittern.

Draußen war es schon dunkel und während das Teewasser kochte, zog Amalie die Gardinen zu.

Sie stockte.

Zwei Männer saßen in einem Auto. Genau vor ihrem Haus. Sie schaltete das Licht aus, ging zum Fenster und kniff die Augen zusammen. Sie hatte richtig gesehen. Der eine hielt eine Zigarette aus dem Fenster, der andere schlürfte einen Kaffee.

Amalie dachte an alle Gangsterfilme, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte, und wusste sofort, dass sie observiert wurde. Woher nur hatte Karl das viele Geld? Diese Frage zumindest konnte sie beantworten: aus Verbrecherkreisen. Sonst würde die Mafia sie schließlich nicht beobachten. Auf einmal ergab auch alles andere einen Sinn. Karls Verletzung, seine ausweichenden Antworten am Abend zuvor, sein abrupter Aufbruch. Er war in Todesgefahr gewesen! Auf der Flucht vor der Mafia hatte er einen Streifschuss abbekommen und danach versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Und natürlich hatte er nicht daran gedacht, dass Amalie durch ihre Ehe mit Karl genauso in Gefahr war. Das sah ihm ähnlich.

Sie schaltete eine kleine Stehlampe ein, die nur wenig Licht gab, um die Mafiosi nicht aufmerksam zu machen. Was sollte sie mit dem Geld tun? Sie überlegte, es zur Bank zu bringen oder in einem Schließfach aufzubewahren. Dafür war es heute jedoch zu spät. Sie holte drei große Briefumschläge und stapelte die Scheine vorsichtig darin. Die Umschläge verstaute sie bis auf Weiteres im Küchenschrank. Sie goss den Tee auf und spähte vorsichtig durch einen Gardinenspalt aus dem Fenster. Ganz klar: die Mafia. Ihre nächsten Schritte mussten exakt geplant werden. Vor allem musste sie dafür sorgen, so unsichtbar wie möglich zu bleiben.

 

*

 

Johann Mühlbauer wäre am liebsten unsichtbar gewesen. Nach dem abenteuerlichen Leichentransport bog er mit dem Auto seiner Mutter zu Hause in die Einfahrt und sah schon von Weitem, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Blumen im Vorgarten waren zertrampelt, die Mülltonne umgestoßen. Johann schloss das Auto ab und wollte sich der Haustür nähern. Der Weg wurde ihm jedoch von einer aufgeregten Nachbarin versperrt.

»Wag es ja nicht«, schrie die alte Frau ihn an und schwang einen Baseballschläger über dem Kopf.

»Frau Stein?«, fragte Johann unsicher. »Alles in Ordnung?«

»Ach Johann, du bist es.« Die alte Dame mit dem lila Haar ließ den Baseballschläger sinken und strahlte ihn an. »Entschuldige, ich habe in der Aufregung meine Brille nicht gefunden und dich für den Flegel gehalten, der das da angerichtet hat.« Sie deutete auf das Mühlbauer’sche Blumenbeet und ihr eigenes. Frau Steins Pflanzen sahen ebenfalls ramponiert aus.

»Oh.«

»Eine Unverschämtheit! Ich konnte nicht schnell genug reagieren, weil ich in der Eile erst meine Pantoffeln verkehrt herum angezogen habe. Aber ich hätte diesem Rüpel eins übergebraten, das kannst du mir glauben.« Frau Stein stemmte wütend die linke Hand in die Hüfte. Mit der rechten hob sie den Baseballschläger. »Der würde sich das nie wieder trauen, das kannst du mir glauben.«

Johann glaubte es ihr. Die alte Dame wirkte ziemlich Furcht einflößend.

»Ich sollte besser nach meiner Mutter sehen.«

»Tu das Junge, tu das. Die Arme hat einen ganz schlechten Tag hinter sich.« Frau Stein verschwand in ihrem Häuschen und Johann straffte die Schultern. Er fand seine Mutter in der Küche inmitten eines riesigen Scherbenhaufens. Teller, Gläser, ein paar Tassen und ein Aschenbecher lagen zertrümmert auf den Fliesen.

»Dieser Mistkerl«, setzte sie Johann ins Bild. Er nickte und holte einen Besen. Offenbar war sein Unglückstag längst nicht zu Ende.

»Weißt du, was er getan hat?«, fuhr seine Mutter fort. »Sieh dir die Küche an! Wer soll das denn alles aufräumen?«

Johann blickte auf den Besen in seiner rechten, die Plastiktüte in der linken Hand. Aber seine Mutter war in ihrer Wut nicht so leicht zu unterbrechen.

»Hast du den Vorgarten gesehen? Der soll mir noch einmal unter die Augen treten! Dem schneid ich die Eier ab!«

Johann zuckte zusammen. Mit seiner Mutter war nicht zu spaßen. Es war ihr durchaus zuzutrauen, dass sie ihre Drohung in die Tat umsetzte.

»Wem denn überhaupt?«, fragte er von plötzlichem Mitleid mit dem Objekt ihrer Hasstirade übermannt.

»Na, Martin!«

»Welcher Martin?« Seit dem Tod seines Vaters vor ein paar Jahren begegnete Johann morgens auf dem Weg ins Bad regelmäßig wechselnden Männern. Es war schon schlimm genug, dass das Sexualleben seiner Mutter sein eigenes nichtvorhandenes um Längen schlug. Sich die Namen ihrer Eroberungen zu merken, war zu viel verlangt.

»Ammerschmidt. Du weißt schon, der mit dem Goldkettchen.«

Und wie Johann das wusste. Einer der unangenehmsten Liebhaber seiner Mutter. Nicht nur, dass er immer mit gegelten Haaren, Goldkettchen und Ledermantel herumlief, er verabschiedete sich, indem er in die Knie ging und mit den Fingern Pistolen nachmachte. Er sah aus wie der letzte Zuhälter, fand Johann. Er hatte kein Mitleid mehr. Dem konnte seine Mutter getrost die Eier abschneiden. »Wieso hat er denn unser Haus so verwüstet?«

»Ha! Warum? Ich habe ganz ordentlich und anständig einen Schlussstrich gezogen und was tut er? Flippt völlig aus!«

Immerhin schienen sie Martin Ammerschmidt damit für immer los zu sein. Johann atmete auf.

»Was kann ich denn dafür, dass ich letzte Woche Studienrat Friedrichsen kennengelernt habe? Der Mann hat einfach mehr Stil als Martin.« Seine Mutter verzog verächtlich den Mund. »Hast du mal gesehen, wie er immer aussieht? Ledermantel und Goldkettchen. Herrgott, nur weil man Zuhälter ist, muss man sich noch lange nicht wie einer anziehen!«

»Der Typ ist tatsächlich Zuhälter?« Irritiert stellte Johann den Besen weg.

»Lenk nicht vom Thema ab. Er ist ein Hohlkopf, der es nicht verkraften kann, wenn man ihn abserviert. Frau Stein hat mir in allen Punkten zugestimmt. Sie meinte, ich solle ihn anzeigen oder das gleich selbst in die Hand nehmen.«

»Selbst in die Hand nehmen?« Johann holte ein Kehrblech und fegte die Scherben darauf.

»Na, sein Auto zerkratzen.«

»Was?« Jetzt ging sie vielleicht doch zu weit. Und Johann hatte Frau Stein immer für eine liebenswerte alte Dame gehalten.

»Mutter, bitte. Damit machst du dich strafbar!« Ausgerechnet, wo die Polizei Johann ohnehin schon auf dem Kieker hatte. Es würde sich gar nicht gut machen, wenn sich der Rest der Familie Mühlbauer ebenfalls auf der Lendnitzer Verbrecherliste tummelte.

»Na und? Martin hat sich strafbar gemacht, indem er meine Küche und meinen Vorgarten verwüstet hat.«

»Ich glaube nicht, dass du ihm dafür das Auto zerkratzen darfst. So läuft das mit den Gesetzen nicht.«

»Also, Frau Stein hat …«

»Frau Stein hat mich mit einem Baseballschläger bedroht.« Jetzt wurde es Johann zu viel.

»Ach wirklich? Weshalb das denn?«

Johann seufzte und rieb sich über die Augen.

»Ich geh jetzt jedenfalls den Studienrat anrufen. Wenn mir mein eigener Sohn schon so in den Rücken fällt.« Wütend stand seine Mutter auf und stapfte aus der Küche.

»Mutter! Nur, weil ich dir nicht dabei helfen will, ein Verbrechen zu begehen?« Johann ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. Waren denn alle verrückt geworden?

 

*

 

Dr. Weisshaupt war klar, dass sein Patient verrückt war. Aber was war jetzt in ihn gefahren?

Harald Moschik stand in der Mitte seines Krankenzimmers, klammerte sich an seinen Tropf und hielt der Schwester eine Standpauke. Die warf Weisshaupt einen verzweifelten Blick zu und trat einen Schritt zurück.

Weisshaupt klemmte seine Akte unter den Arm und setzte sein professionellstes Lächeln auf. »Herr Moschik«, begann er, doch die Tirade seines Patienten war nicht zu unterbrechen.

»Freiheitsentzug nennt man das«, rief er und streckte den Zeigefinger in die Höhe. »Ich werde Sie alle anzeigen!«

»Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal.« Er legte sanft eine Hand auf Moschiks Schulter. Seine Kollegen beneideten ihn um seine Fähigkeit, auch mit dem schwierigsten Patienten umgehen zu können. »Legen Sie sich hin und wir können alles in Ruhe besprechen.«

»Ich werde mich nicht hinlegen. Ich werde nach Hause gehen. Und Sie«, Moschik stach ihm seinen Zeigefinger fast ins Auge, »werden mich nicht daran hindern!«

»Sie sind krank«, sagte Weisshaupt.

»Ich entlasse mich selbst!« Hoch erhobenen Hauptes schob Moschik seinen Tropf zur Zimmertür.

Dr. Weisshaupt hielt ihn am Arm fest. »Sie haben innerhalb von zwei Tagen zwei Kopfverletzungen erlitten. Die organischen Schäden, von den psychischen gar nicht zu sprechen, können zu bleibenden Schäden führen.« Weisshaupt sprach schnell. Er musste diesen Moschik wieder unter Kontrolle bringen. »Ich weiß, dass Sie dringend wieder zur Arbeit möchten. Ich weiß, wie wichtig Ihnen das ist. Aber was wird schon passieren, wenn Sie sich einen Tag länger ausruhen?« Er nickte aufmunternd. Aber Moschik presste die Lippen aufeinander und zog die Augenbrauen zusammen.

»Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden«, zischte er. »Ein einziger Tag reicht für so viele Morde!«

Weisshaupt seufzte. Dieser Typ war ein Kandidat für die Irrenanstalt. Vielleicht sollte er ihn einfach zwangseinweisen. »Herr Moschick«, begann er von Neuem begütigend, doch auch diesmal kam er nicht weit.

»Sprechen Sie nicht in diesem Ton mit mir!« Moschiks Stimme schrillte in seinen Ohren. »Es ist von absoluter, oberster Priorität, dass ich morgen wieder im Schlosshotel erscheine! Wenn Sie mich nicht freiwillig gehen lassen, dann rufe ich die Polizei!«

Dr. Weisshaupt dachte an Reichel und seinen jungen Assistenten. Er zögerte.

»Sie dürfen mich auch vorher noch untersuchen«, lenkte Moschik ein. »Aber sonst wende ich mich an den Hauptkommissar persönlich.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Dr. Weisshaupt schnell. »Es gibt keinen Grund, die Pferde scheu zu machen.« Er holte eine kleine Stabtaschenlampe aus seinem Kittel und leuchtete Moschik zunächst ins rechte, dann ins linke Auge. »Gucken Sie bitte mal nach oben.« Der Mann konnte auch nach unten, nach rechts und nach links sehen. Dr. Weisshaupt stellte nichts Ungewöhnliches fest. »Ihre CT war unauffällig, ein Röntgenbild hat keine Schäden an Ihrer Halswirbelsäule gezeigt«, murmelte Dr. Weisshaupt, während er den Blick der Schwester suchte, die weiterhin leicht verängstigt im Zimmer stand. »Die Blutprobe ist im Labor?«

Die junge Frau nickte.

»Dann steht Ihrer Entlassung wohl nichts mehr im Weg.« Dr. Weisshaupt sah Moschik eindringlich ein. »Auch wenn ich Ihnen dringend zurate, noch mindestens eine Nacht hier zu bleiben.«

»Jaja.« Moschik machte eine ungeduldige Handbewegung und hob dann den Arm, in dem die Kanüle steckte. »Wenn Sie die Güte hätten, mir den Tropf zu entfernen?«

Dr. Weisshaupt nickte der Schwester kurz zu und stand auf. »Sie haben den Mann gehört«, sagte er knapp, setzte seine Unterschrift unter die Krankenakte und verließ den Raum. Mit der Hand an der Türklinke sah er, wie Moschik der Schwester zuflüsterte: »Wenn die Polizei schon nichts tut, dann muss ich es übernehmen. Morde verhindern, Johann Mühlbauer überführen.« Dr. Weisshaupt schloss die Augen und die Tür zum Krankenzimmer. Er hatte sich verhört. Er wusste von nichts.

 

*

 

Erich Hirtentaler wusste nicht, was geschehen war. Er erwachte stöhnend mit einem brummenden Schädel und einem flauen Gefühl im Magen. Außerdem konnte er weder Arme noch Beine bewegen. Er versuchte, seine Augen zu öffnen, aber auch das gelang ihm nicht. Wo war er überhaupt? Wie war er hierher gelangt? Er war nicht in der Lage sich zu erinnern.

»Ach du meine Güte, ich glaube, er ist aufgewacht«, hörte er plötzlich eine ängstliche Stimme flüstern.

Ein Mann fluchte daraufhin laut, es wurde hektisch hantiert und bevor er sich versah, versank Erich wieder in tiefem Schlaf.

 

*

 

Statt friedlich zu schlafen, war Robert Martin auf dem Weg ins Schlosshotel. Er war nicht nur schlecht gelaunt, er war stinkwütend. Es war fast Mitternacht und nur wegen seines beschissenen Polizeijobs kurvte er in Lendnitz herum.

Seit 23 Jahren war er bei der Polizei und immer noch versah er Streifendienst. Die einzige Abwechslung war die Drecksarbeit für die feinen Herren der Kriminalpolizei: Tatortsicherung und Observierung. Bei Notrufen musste natürlich Robert zuerst raus. Klar, die Kommissare brauchten ihren Kaffee.

Grimmig verzog Robert den Mund. Wenigstens hin und wieder hätte er gern ein Dankeschön gehört. Ein: Das haben Sie gut gemacht, Herr Martin.

Wenn er ehrlich war, mochte das hauptsächlich daran liegen, dass er nie etwas gut machte. Sein Partner Herbert schon gar nicht. Der Junge hatte im Schlosshotel nur Chaos angerichtet. Trotzdem gingen die arroganten Kriminalkommissare Robert gegen den Strich. Arbeiten mussten die so gut wie nie, während er, Robert, ständig rausmusste. Ein Nachtdienst nach dem anderen, für Notfälle parat stehen und jetzt mitten in der Nacht zum Schlosshotel fahren.

Wenn er auch hier ehrlich war, lag das an seiner eigenen Dummheit. Er war ziemlich sicher, seine Uhr bei der Durchsuchung des Schlosshotels verloren zu haben, und für Morgen hatte sich seine Mutter angekündigt. Da sie ihm die Uhr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, würde sich Robert lieber die Hand abhacken, als von ihr ohne Uhr erwischt zu werden.

Er bog auf den hinteren Parkplatz des Schlosshotels ein. Vorsichtig blickte er sich um, aber es war niemand zu sehen. So ganz legal war es nicht, was er vorhatte. Es war sogar schlichtweg illegal. Wenngleich seine Vorgesetzten ständig meinten, er wüsste nicht, wie man einen Tatort anständig sicherte oder jemanden vernünftig observierte, mit einem Dietrich machte ihm so schnell keiner was vor. Das lag daran, dass er vor seiner Zeit bei der Polizei seine Brötchen als Kleinkrimineller in Klagenfurt verdient hatte. Einen kurzen Ausflug nach Wien hatte er sich gestattet, aber da gab es so viel Konkurrenz, dass er schnell wieder nach Kärnten zurückgekommen war. Ein Zugticket nach Villach, auf dem Rückweg einen Abstecher nach Krumpendorf und Pörtschach und die Miete für den Monat war gerettet. Wie gut, dass der Wörthersee die Schönen und vor allem Reichen Europas anlockte. Er war ein großer Verfechter der Tourismuspolitik Kärntens gewesen. Je mehr, desto besser.

Dummerweise hatte er dann den Fehler begangen, sich an Einbrüchen zu beteiligen. Das war der Polizei zu viel gewesen und da in Klagenfurt nicht nur Dorfpolizisten herumliefen wie in Lendnitz, waren die Ermittlungen bald in die richtige Richtung gegangen. Robert hatte es für besser gehalten, seinen Wirkungskreis zu verlagern. In Lendnitz war er schließlich hängen geblieben und da die einzige freie Stelle zu dem Zeitpunkt bei der Polizei gewesen war, hatte er achselzuckend die Seiten gewechselt. Es gab ja keine Akte über ihn.

Natürlich, den nächtlichen Einbruch ins Schlosshotel hätte er sich sparen können, wenn er nicht so schusselig gewesen wäre. Aber jetzt lag die Sache eben so. Wie hätte er auch besser aufpassen sollen? Er wurde ja ständig nur herumgeschubst. Der Kommissar hatte den ganzen Tag gerufen: »Suchen Sie die Leiche!« Der Assistent hatte geschrien: »Beeilen Sie sich!« Die Angestellten hatten gefragt: »Was ist denn jetzt?«

Nein, es war ganz und gar nicht seine Schuld.

Ruckartig stellte Robert den Motor aus und zog den Schlüssel ab. Glücklicherweise wurde der Mond von Wolken verdeckt. Die Dunkelheit kam ihm gelegen. Robert hatte an unauffällige Kleidung gedacht. Er schlich zum Hintereingang und prüfte die Tür. Ein bisschen hier geruckelt, ein bisschen dort und Robert wusste, wie er seinen Dietrich ansetzen musste. In weniger als zwei Minuten hatte er das Schloss geknackt.

Verstohlen blickte er sich um und schlüpfte durch die Tür. Spätestens in fünf Minuten könnte er wieder auf dem Heimweg sein, ohne dass jemand seinen kleinen Einbruch bemerkt haben würde.

 

*

 

Niemand würde seinen Einbruch bemerken, da war sich Martin Ammerschmidt sicher. Der Kerl, den Natalie niedergeschlagen hatte, war eine brauchbare Informationsquelle gewesen.

Wer hätte gedacht, dass das piekfeine Schlosshotel der Drogenumschlagplatz Nummer eins war? Martin sicherlich nicht. Aber Martin hatte auch nicht gewusst, dass seine ängstliche, weinerliche und absolut nervtötende Nutte fähig war, einen gestandenen Mann niederzuschlagen. Um Natalie musste er sich kümmern, wenn er wieder im Moulin Rouge war. Die durfte keine Zicken machen. Sie war gefährlich. In ihrer momentanen Panik war ihr zuzutrauen, zur Polizei zu gehen.

Martin stellte sein rotes Cabrio vor dem Hintereingang des Schlosshotels ab.

Mist. Der Verbindungsmann war offenbar schon da. Jedenfalls stand ein weiteres Auto auf dem Parkplatz und die Tür zur Küche stand einen Spalt offen. Nervös tastete Martin nach seiner Taschenlampe. Den Trick hatte ihm jemand nach einer Kneipenschlägerei verraten. Die Taschenlampe gab nicht nur Licht, sie knockte einen Gegner außerdem zuverlässiger aus als ein Schlagring.

Das war genau das, was Martin brauchte. Der Verbindungsmann des Typen im Moulin Rouge war mit ziemlicher Sicherheit ein Profi. Aber er rechnete nicht mit Martin Ammerschmidt. Leise schlich er durch den Flur in Richtung Restaurantküche, aus der er Geräusche hören konnte. Jemand schien recht ziellos hin und her zu laufen. Offenbar vermisste der Drogenhändler seinen Kontaktmann.

Auf Zehenspitzen stellte Martin sich hinter die Küchentür und versuchte, flach zu atmen. Der Mann musste zurückkommen. Wenn Martin sich nicht durch ein Geräusch verriet, hatte er den Überraschungseffekt auf seiner Seite. Nach dem heutigen Tag konnte er ein Erfolgserlebnis gebrauchen. Die Mühlbauer hatte ihn abserviert. Zuerst hatte sie gesagt: ›Tut mir leid, ich hab einen anderen Job gefunden‹, und Lady Jacqueline wurde zu Michaela Mühlbauer, Bibliothekarin. Dann kam ›Tut mir leid, ich hab jemanden anders kennengelernt‹ und er hatte als Liebhaber ausgedient. Er war Martin Ammerschmidt. Martin Ammerschmidt wurde nicht abserviert, Martin Ammerschmidt servierte ab. Mit dem Gedanken hatte er ohnehin gespielt. Jacqueline, oder Michaela, wie sie sich jetzt nannte, war nicht einfach gewesen. Aber wie kam diese Kuh dazu, ihm die Tür zu weisen? Für einen Studienrat, zum Teufel noch mal! Das hatte an seiner Ehre gekratzt.

Im ersten Affekt hatte er im Moulin Rouge all ihre Sachen verbrennen wollen. Andererseits waren sehr brauchbare Dinge darunter. Die Handschellen erwiesen gerade ihren Nutzen und das Jagdmesser, das sie ihm geliehen hatte, war ebenfalls gut zu gebrauchen. Es hatte Martin schon einige Dienste in der Halbwelt Klagenfurts geleistet. Das Messer unterstützte die Wirkung der Taschenlampe und so hatte Martin es eingesteckt, bevor er zum Schlosshotel gefahren war.

Er konnte hören, wie Schritte in seine Richtung gelenkt wurden. Es dauerte kaum 30 Sekunden, bis der Drogenhändler dicht vor ihm stand. Martin spannte seine Muskeln an, zählte bis drei und sprang hinter seiner Deckung hervor.

Ein Schlag, ein dumpfes Stöhnen, dann lag der Mann vor ihm auf dem Boden. Martin stürzte sich auf ihn und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Was dieses Landei Natalie konnte, das konnte er besser. Mit der freien Hand setzte er dem Dealer das Jagdmesser an den Hals.

»So, Freundchen, und jetzt sagst du mir ganz genau, wo du die Drogen versteckt hast.«

Er bekam keine Antwort.

»Wenn du nicht auspackst, kann ich noch ganz anders. Das war nur eine kleine Warnung. Also spuck’s aus. Wo ist das Zeug?«

Der Kerl war hartnäckig. Er sagte immer noch nichts.

»Hey!« Martin gab ihm einen Stoß in die Rippen. Nichts. Kein Stöhnen, keine Reaktion.

»Ach du Scheiße. Du wirst ja wohl nicht …« Eine dunkle Ahnung beschlich Martin. Er hatte den Idioten doch nicht etwa bewusstlos geschlagen? Vorsichtig lockerte er seinen Griff und legte das Jagdmesser beiseite. Der Mann rührte sich nicht.

Martin rüttelte an seiner Schulter. Er legte seine Fingerspitzen an den Hals des Bewusstlosen. Wo war denn dieser blöde Puls eigentlich? Martin betastete erst die rechte, anschließend die linke Hand des Mannes. Er versuchte es erneut am Hals, schließlich direkt am Herzen. Nichts. Kein Puls, kein Herzschlag. Stattdessen fühlte er eine warme Flüssigkeit vom Hinterkopf des Kerls herabtropfen.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Er hatte den Typen umgebracht. Natalie hatte dreimal mit einer Lampe zugeschlagen und ihr Kunde hatte noch geredet. Martin nahm eine Taschenlampe, schlug einmal zu und schickte jemanden über den Jordan. Das war doch wirklich ein schlechter Scherz!

»Steh auf, du dummer Hund!«, brüllte Martin, während er den reglosen Körper schüttelte. »Mach keine Mätzchen! Steh auf, verdammt noch mal!«

Letztlich gab er es auf und setzte sich neben den Toten auf den Boden. Ein Plan musste her und zwar schnell. Verschwinden wäre eine gute Sache. Aber was, wenn die Polizei den Toten fand? Die dumme Kuh Natalie würde bestimmt eins und eins zusammenzählen und wissen, dass er es gewesen war, der den Drogenkurier niedergeschlagen hatte. Und dann wäre es nicht mehr so leicht, sie mit Drohungen davon abzuhalten, ihn zu verraten.

»So eine Scheiße!« Voller Wut trat Martin gegen die Wand, nur um im nächsten Augenblick laut aufzustöhnen. Er war mit seinem Fuß abgerutscht und hatte im Dunkeln den Wasseranschluss nicht gesehen, der nahe dem Boden neben der Tür angebracht war. Vorsichtig zog Martin seinen Fuß wieder heran. Wahrscheinlich war er verstaucht, vielleicht sogar schlimmer. Immer noch fluchend zog Martin sich an einem Regal hoch und versuchte, behutsam aufzutreten.

Das war keine gute Idee. Er heulte vor Schmerzen auf. Am liebsten hätte er dem Toten in den Arsch getreten, im Endeffekt war der Mistkerl an allem Schuld. Aber das ließ er dann doch besser bleiben. Sein Fuß hatte genug gelitten.

Was sollte er in diesem Zustand mit der Leiche machen? Als erstes musste er sie verstecken, so viel war klar. Martin zog und zerrte, humpelte und kroch, bis er schließlich den Toten am Hinterausgang hatte. Er öffnete die Tür und ein fahler Lichtstrahl beleuchtete die Blutspur im Flur.

Martin schloss für einen Augenblick die Augen und zählte bis zehn. Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag.

»Okay, an die Arbeit alter Junge, an die Arbeit. Das kriegen wir schon hin.« Er platzierte den toten Körper zwischen Tür und Rahmen, damit ihm der Weg nicht versperrt wurde, und humpelte den Flur zurück. Zum Glück hatte er noch seine Taschenlampe. Die gab genügend Licht, sodass er die Blutspur gut sehen konnte, um sie wegzuwischen.

Die Frage war jetzt: Wohin mit der Leiche? Martin entschied sich vorerst dafür, sie hinter dem Müll zu verstecken. Die Tonnen befanden sich abseits in einem Verschlag. Niemand, der seinen Abfall wegwarf, hielt sich eine Sekunde länger als nötig in der stinkenden Hütte auf. Ja, das war ein guter Plan. Morgen, wenn sein Fuß verarztet war, würde er sich um einen Endlagerplatz kümmern.

Martin nahm angeekelt den Kopf der Leiche in die Hand und zog sie an den Haaren die paar Meter zu den Mülltonnen.

Als er sich sicher war, dass man bei einem flüchtigen Blick weder den Toten noch die Blutspuren sehen konnte, verschnaufte er kurz, bevor er zurück zu seinem Cabrio ging. Er ließ den Motor aufheulen, schaltete das Licht an und machte sich auf den Weg ins Moulin Rouge. Er brauchte erst einmal eine heiße Dusche, einen Verband und ganz viel Schlaf.