Dienstag, 1. Oktober

 

Und so traten wir in die drückende, feuchte Morgenhitze Mombasas und freuten uns, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein Wagen unseres Hotels, der uns die Küste hinauf nach Malindi bringen sollte, wartete schon auf uns. Unsere Tagesaufgabe erschöpfte sich eigentlich in der Vorbereitung unseres Fluges am nächsten Tag nach Dadaab zu einem großen CARE-Flüchtlingslager, aber wir hatten doch auch noch einiges andere zu erledigen.

Als Erstes brachten wir David Sanderson zu einem Strandhotel nördlich von Mombasa, in dem CARE-Leute aus ganz Afrika zu einer Konferenz versammelt waren, um die Vorhaben der nächsten fünf Jahre zu diskutieren. David sollte dort eine Rede halten und dann nach London zurückfliegen. Außerdem holten wir Nick Southern ab, den Regionalkoordinator für Ostafrika, den ich, wie Sie sich erinnern werden, in London kennen gelernt hatte. Für die nächsten fünf Tage war er unser Gastgeber und Beschützer. Nick ist ein alter Afrikakenner, die meiste Zeit in den letzten fünfzehn Jahren in Kenia gewesen und kennt das Land in- und auswendig.

Mit ihm zusammen fuhren wir also die Küste entlang durch eine üppige tropische Landschaft mit Palmenhainen und endlosen Sisalplantagen (aus Sisal macht man Seil, erfuhr ich) zu dem kleinen Ferienort Watamu.

Watamu war friedlich bis apathisch. Es gab einige ansehnliche Hotels und dazugehörige Geschäfte – Taucherläden und dergleichen –, aber einen eindeutigen Mangel an Feriengästen. »Der Tourismus hat hier wirklich einen herben Rückschlag erlitten«, sagte Nick. »Besonders die Ferienorte an der Küste. Wenn die Leute Löwen und Giraffen sehen wollen, müssen sie immer noch nach Kenia kommen, aber wenn sie nur Strandurlaub machen wollen, dann können sie in Dutzende anderer Länder fahren.«

Bis Mitte der Neunziger war Kenia zehn Jahre lang ein begehrtes Reiseziel und die Zahl der ausländischen Besucher stieg 1995 bis auf 850.000. Doch schon 1997 war sie nach einer Flut schlechter Nachrichten unter 500.000 gesunken. Alle Welt erzählt einem Gruselgeschichten über das unselige Ende von Keniabesuchern. Schon bevor ich überhaupt dorthin flog, hatte ich drei verschiedene Versionen des Abenteuers eines deutschen Touristen gehört, der entweder am Strand spazieren ging, draußen vor einem Café saß oder in einem Auto an einer Ampel anhielt und den Arm aus dem Fenster hängen ließ. Jedenfalls hackte ihm jemand mit der Machete den Arm ab und rannte mit der Rolex daran weg. Die Geschichte stimmt nicht, aber das ist einerlei. Was zählt, ist, dass die Menschen sie glauben.

»Wenn die Leute so was hören und dann noch jemand sagt: ›Ach und übrigens, ihr müsst auch Malariatabletten mitnehmen‹, entscheiden sich viele, nach Spanien zu fahren«, sagte Nick. »Eine Schande, denn es spricht so vieles für Kenia: wunderschöne Landschaften, nette Menschen, irrsinnige Flora und Fauna, hervorragendes Klima, tolle Strande. Schauen Sie sich doch das nur an!« Mit weit ausholender Geste deutete er auf eine Szene unvergleichlicher Herrlichkeit: weiter Strand, wippende Palmen, strahlende Sonne, glitzerndes Meer.

Auf einem knarzenden, von zwei eifrigen jungen Männern gesteuerten Boot mit Glasboden fuhren wir hinaus zu dem Riff etwa eine Viertelmeile vor der Küste und bewunderten eine Stunde lang die großen, bunten Fischschwärme.

»Praktisch die ganze Küste besteht aus einem Riff wie diesem hier«, sagte Nick. »Und die Kenianer kümmern sich richtig gewissenhaft darum. Sie mögen ja vieles falsch machen, aber ihre Tier- und Pflanzenwelt hegen und pflegen sie.« Er zuckte ein wenig bedauernd mit den Achseln. »Diese Woche werden Sie viel Schlimmes sehen. Deshalb dachte ich, es wäre gut, wenn wir auch was Schönes anschauen.«

»Danke«, sagte ich.

»Und was jetzt kommt«, fuhr Nick fort, »ist wirklich schön. Haben Sie schon mal von den Ruinen von Gedi gehört?«

»Nein«, sagte ich und musste nicht einmal nachdenken.

»Da sind Sie nicht der einzige. Ich glaube, Sie werden sehr beeindruckt sein.«

Die Ruinenstadt Gedi befindet sich von Watamu aus im Landesinneren, am Ende eines kurvenreichen Wegs durch dichtes Gestrüpp. Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert war Gedi eine blühende, aber seltsam geheimnisvolle Stadt, versteckt in einer dschungelüberwucherten Umgebung in einem damals vollkommen abgelegenen Niemandsland an der Küste zwischen Malindi und Mombasa. Die Bewohner waren Muslims und trieben Handel mit aller Welt. Archäologen fanden außer vielem anderen Perlen aus Venedig, Münzen aus China, eine eiserne Lampe aus Indien und eine Schere aus Spanien. Aber nirgendwo, in keinem schriftlichen Bericht, in keiner Sprache, tauchen Gedi oder seine fleißigen Menschen auf. Aus irgendeinem Grunde verkehrten sie 400 Jahre lang mit der Welt, ohne bemerkt zu werden, und keiner weiß, warum es ihnen gelang, sich der Aufmerksamkeit zu entziehen, oder warum sie es überhaupt wollten.

Erst in den zwanziger Jahren wurde die Stadt wiederentdeckt. Da war sie vollkommen überwachsen, doch mittlerweile hat man auf einer Fläche von 45 Morgen bei Ausgrabungen Moscheen, Grabstätten, Häuser und einen prächtigen Palast freigelegt. Auf den Mauerruinen laufen Affen herum und behalten die Besucher diskret im Auge. Immer noch scheint die Stätte halb dem Dschungel zu gehören, mächtige Affenbrotbäume recken sich dort empor, wo sich einmal eine belebte Straße oder jemandes Wohnzimmer befand. Als abends lange Sonnenstrahlen durch den Wald fielen, war es unbeschreiblich schön. Wir wurden vom Kurator Ali Abdala Alausy herumgeführt, einem witzigen, fröhlichen Mann, der sich so sehr über unseren Besuch freute, dass er uns auf eine – im wahrsten Sinne des Wortes – erschöpfende Tour mitnahm. Kein Alkoven oder Giebeldreieck, dessen Geschichte wir nicht lückenlos vernahmen, keine Grube und keine Behausung, deren ausgegrabenen Inhalt er uns nicht in aller Ausführlichkeit schilderte. Voll neuen Wissens und Bewunderung waren wir beim Abschied fällig für ein sehr großes Glas.

Wir übernachteten im Driftwood Beachclub Hotel, einem schicken, aber unübersehbar zu wenig ausgelasteten Etablissement direkt am Indischen Ozean in Malindi. Außer uns saß nur eine vierköpfige Familie an einem entfernten Tisch in dem großen Speisesaal – weiße Kenianer auf Urlaub, meinte Nick.

Wir waren zwar von der schlaflosen Nacht im Zug alle müde, doch trotzdem ungewöhnlich gedämpfter Stimmung. Da begriff ich es noch nicht, aber mit Ausnahme Jennys, die vor nichts Angst hat, waren wir insgeheim davon überzeugt, dass wir am nächsten Morgen sterben müssten.