XII

Streik: 175 Tote – Zwangsarbeit oder Untertauchen – Radio-Verbot – Die letzten Razzien – Keine Sperren mehr – Neuer Fluchtweg aus der Crèche – 600 Kinder gerettet – Bomben aus der Luft – Die Revue geht weiter

April bis Dezember 1943

Am 27. April schreibt Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch, dass die Menschen mutlos und verzweifelt sind, weil der Krieg so lange dauert und es keine Aussicht auf Veränderung gibt. Trotz vieler guter Nachrichten von der Front gelingt es den Alliierten nicht, die deutsche Militärmacht entscheidend zu schwächen. Und es passiert mit »den eigenen Menschen um uns herum« zuviel: »Noch täglich werden hunderte Juden abgeführt … Aber auch in nichtjüdischen Kreisen regnet es Verhaftungen und man bekommt fast ein Minderwertigkeitsgefühl, wenn man noch nicht verhaftet ist.« Dann kann der Chronist doch eine kleine »Kriegssensation« vermelden: »Sonntag waren viele Flugzeuge über der Stadt, und eins davon ist abgeschossen worden und über dem Carlton Hotel abgestürzt.« Wie nach dem Brandanschlag aufs Einwohnermeldeamt einen Monat zuvor strömten die Amsterdamer herbei, und es herrschte eine »vergnügte Stimmung wie am Königinnen-Tag«.

Die Vijzelstraat, wo das Luxus-Hotel lag, in dem sich die deutsche Wehrmacht einquartiert hatte, war zwischen Keizers- und Herengracht abgesperrt, und Polizisten hielten die Menschen zurück. Die brennende Militärmaschine war beim Absturz explodiert und hatte mehrere Häuser zerstört. Auch Tote gab es. Aber die Amsterdamer, die fast auf den Monat genau seit drei Jahren unter der Gewalt der Besatzer lebten, wussten: Für die Alliierten lag ihre Stadt im Feindesland, und nur eine Zerstörung der deutschen Stellungen und Machtzentralen würde Amsterdam aus dem Elend erlösen.

Zwei Tage später schlug wieder eine Bombe ein – im übertragenen Sinn, aber die Wirkung war durchdringend. Der »Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden« gab am 29. April 1943 bekannt, dass er hiermit »die sofortige Rückführung der Angehörigen der ehemaligen niederländischen Wehrmacht in die Kriegsgefangenschaft« anordnet. Kurz nach der Kapitulation im Mai 1940 hatte Hitler die knapp 300000 gefangenen niederländischen Soldaten nach Hause geschickt. Sein Kalkül: dass die »großzügige« Geste mithelfen würde, die besiegten Niederländer der nationalsozialistischen Bewegung gewogen zu machen. Ein Trugschluss.

Auslöser für den »Rückruf« war die katastrophale Situation der deutschen Kriegswirtschaft. Die Millionen von Zwangsarbeitern, die man bisher aus den besetzten Gebieten, vor allem aus dem Osten, nach Deutschland verschleppt hatte, reichten nicht aus, die Zahl deutscher Arbeiter zu ersetzen, die in immer kürzeren Abständen als Soldaten eingezogen und an den wankenden Fronten geopfert wurden. Die Niederländer hatte man schon 1942 zum Arbeitsdienst in Deutschland aufgefordert, aber nur eine Minderheit war diesem Aufruf gefolgt. Jetzt sollten die ehemaligen Soldaten zwangsweise die Lücken füllen.

Kaum hatte sich am 29. April mittags die Bekanntmachung der Wehrmacht verbreitet, legten in Trente Arbeiter in großer Zahl die Arbeit nieder. Telefonaufrufe gingen quer durchs Land: Streik hieß die Parole. Am 30. April streikten rund eine Million Niederländer – Arbeiter, Beamte und Angestellte in Verwaltungen und Betrieben; die Bauern lieferten ihre Milch nicht ab. Innerhalb von 24 Stunden war Aufruhr im bisher ruhigen Land, von Nord-Holland über Groningen und Geldern bis ins südliche Limburg – nur in den großen Städten im Westen rührte sich niemand. In Amsterdam, der Hauptstadt, gingen die Menschen ihrer Arbeit nach, stellten sich brav in langen Schlangen beim Gemüsehändler an. Die Straßenbahnen fuhren, der Zugverkehr am Hauptbahnhof war pünktlich.

Der SS- und Polizeiführer Hanns Albin Rauter hatte umgehend in den Unruhe-Provinzen das Polizeistandrecht ausgerufen: »Die mir unterstehenden SS- und Polizeiverbände schießen ohne Warnung unverzüglich, wenn Zusammenrottungen irgendwelcher Art erfolgen…« Die Ausgangssperre wurde auf 20 Uhr vorverlegt.

3. Mai, Montag – Es herrschen wieder Ruhe und Ordnung in den besetzten Niederlanden. Die deutsche Polizei und die deutsche Waffen-SS haben tatsächlich ohne Warnung geschossen: an den Brennpunkten der Streiks auf Menschengruppen, die sich voller Empörung zusammenfanden und mit bloßen Fäusten gegen die Besatzer vorgingen. 95 Menschen wurden erschossen, rund 400 verwundet. SS-Standgerichte erließen bis zum 7. Mai 116 Todesurteile, 80 davon wurden vollstreckt und sofort öffentlich gemacht. Hunderte Niederländer verschwanden in den Gefängnissen. Die Amsterdamer lasen die ersten 26 Namen von standrechtlich Erschossenen schon in den Montagszeitungen. Sie sahen keinen Sinn darin, angesichts der Gewalt der Besatzer die Fackel des Streiks aufzunehmen.

Gegen 17 Uhr heulten an diesem Montag die Sirenen: Luftalarm, bald dröhnte das Abwehrfeuer der deutschen Geschütze über der Stadt. Bei dem folgenden Luftgefecht wurden vier Maschinen der englischen Luftwaffe über Amsterdam angeschossen. Es gab neun Tote, darunter drei englische Flieger. Eine Woche später wieder schweres nächtliches Abwehrfeuer, Flugzeuge stürzen in die Zuidersee, aus der die Leichen von sechs englischen Fliegern geborgen werden. Bei Tage beginnen die Besatzer, sich auf alles vorzubereiten und bauen einen Betonwall um den Museumsplein, wo Wehrmacht und deutsche Verwaltung nach der Kapitulation im Mai 1940 in die schönsten Villen eingezogen waren.

Der Streik war erfolgreich niedergeschlagen. Für die Deutschen kein Grund lockerzulassen, im Gegenteil: Nur keine Schwäche zeigen. Am 5. Mai kam eine neue Anordnung von Rauter: Niederländische Studenten, die nicht die geforderte Loyalitätserklärung gegenüber den Besatzern unterschrieben haben, mussten zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. Und mit den Studenten war es nicht getan. Einen Tag später stand in den Zeitungen: »Verpflichtende Anmeldungen zum Arbeitseinsatz: Aufgerufen werden Männer zwischen 18 und 35 Jahren.« Sie sollen beim »deutschen Fachberater« in den Arbeitsämtern vorsprechen, der ihnen eine Arbeitsstelle in Deutschland zuweisen wird. Zielvorgabe der Besatzer: Von jedem Jahrgang sollen rund 10000 niederländische Männer nach Deutschland gehen, pro Monat 30000, und das mindestens sechs Monate lang.

Im vierten Kriegsjahr ist der Krieg angekommen in den Niederlanden, in den guten Stuben von Arbeitern, Beamten und Unternehmern, kleinen Leuten und Gutsituierten. So sehr die meisten Amsterdamer die Verfolgung der Juden verurteilten, so ehrlich ihre ohnmächtige Wut war – das Schreckliche führte nicht zum Widerstand gegen die Besatzer, ließ die Menschen am Ende sich abwenden. Die Deportationen betrafen eben nur rund zehn Prozent in der Hauptstadt, und gerade mal ein Prozent der Bevölkerung insgesamt. Doch mit den Erlassen Anfang Mai gegen Studenten und männliche Arbeitskräfte ist fast jede Familie im Land betroffen. Wegsehen geht nicht mehr. Die Alternative heißt: mitmachen oder untertauchen und mit schwerer Bestrafung rechnen.

16. Mai – In den Kirchen der Niederlande wird ein flammender Protest gegen den geforderten Arbeitsdienst verlesen. Es sei »ungeheuerlich«, dass ein Volk, das den Krieg nicht gewollt habe, gezwungen werde, für den Feind zu arbeiten, »um Deutschland den Sieg zu sichern«. Auch der Kampf gegen den Bolschewismus sei keine Rechtfertigung für diese Zwangsmaßnahme.

Flugblätter erscheinen in Amsterdams Straßen: »Mitbürger! Der Standpunkt der zusammen arbeitenden illegalen Gruppen ist Euch bekannt: NICHT MELDEN!« Niemand solle sich von der deutschen Propaganda verführen lassen: in Deutschland warte ein erbärmliches Leben in Arbeitslagern. Es ist ein Aufruf zum Widerstand, der jedoch keine falschen Hoffnungen wecken will: »Verliert den Mut nicht. Haltet zusammen! Die schwersten Monate stehen uns noch bevor. Aber es wird ein Ende geben. Bleibt hier!« Und am Rand des Flugblattes: »WIDERSTAND. WIDERSTAND. WIDERSTAND

Die Studenten: Von den 9000, die bisher nicht unterzeichnet haben, melden sich rund 3000 zum Arbeitseinsatz in Deutschland.

Die Berufstätigen: Von den angepeilten 170000 Männern sind gerade einmal 54000 bereit, in Deutschland zu arbeiten. Tausende tauchen unter. Ärzte stellen falsche Krankmeldungen aus, Mitarbeiter in den Arbeitsämtern fälschen Unterlagen. Polizisten sabotieren unauffällig die Befehle, Männer für den Arbeitsdienst aufzuspüren.

Die ehemaligen Soldaten: Exakte Zahlen gibt es nicht, aber auch von ihnen versuchen Tausende, sich dem Arbeitsdienst zu entziehen. Sie tauchen unter, verschaffen sich gefälschte Unterlagen oder Ausweise.

Mitte Juni 1943 sind in den Niederlanden rund 60000 Menschen untergetaucht – auf dem Land vor allem, aber auch in den Städten. Um sie alle heimlich zu versorgen, aber auch ihre Familien, bei denen sie als Ernährer ausfallen, müssen in kürzester Zeit die kleinen, schon bestehenden illegalen Netzwerke ausgebaut werden. Bankier Walraven – Wally – van Hall ist der motivierende Kopf, der als Verbindungsmann unter dem Decknamen »van Tuyl« unermüdlich durchs Land reist, engere Kontakte zwischen den Widerstandsgruppen knüpft und neue Strukturen organisiert. Der charismatische Siebenunddreißigjährige ermutigt die alten Mitstreiter, gewinnt neue und bringt Geld in die Widerstandskassen. Van Hall überzeugt seine Mitstreiter beim »Seemanns-Unterstützungsfonds«, nun auch den untergetauchten »Landratten« und ihren Familien zu helfen. Im Sommer 1943 führt alle Zusammenarbeit zur Gründung der illegalen »Nationalen Hilfe für Untergetauchte« (LO).

Am 13. Mai hatte SS-Führer Rauter ein Radio-Verbot für die Niederlande erlassen: Bis zum Monatsende mussten alle Geräte beim Postamt oder der nächsten Polizeiwache abgegeben werden. Wer nicht ablieferte, den erwartete eine unbegrenzte Geldstrafe oder fünf Jahre Gefängnis. Ausgenommen vom Verbot waren alle deutschen Instanzen, NS-Organisationen, Mitglieder der NSB und auch, wer ein Drahtfunkgerät ohne Kurz- und Langwelle besaß und nur das nationalsozialistische Programm empfangen konnte. Dass der »Nationale Rundfunk« damit den größten Teil seiner Hörer und außerdem die Gebühren verlor, war beim Abwägen für die Besatzer das kleinere Übel. Es ging darum, die feindlichen Sender auszuschalten, vor allem BBC und Radio Oranje aus London. Außerdem befürchtete die Wehrmacht, dass bei einer Invasion die Anti-Hitler-Koalition durch das Radio Einfluss auf die Bevölkerung nehmen könnte.

Das neue Verbot führte zu fantasievollen Aktivitäten. Radiogeräte verschwanden in Kaninchen- und Hühnerställen, unter Kohlen und Kartoffeln im Keller, auf Dachböden, in Schornsteinen und wasserdichten Behältern im Garten. Die Zahlen sprechen für sich: Registriert waren rund 1160000 Radios im ganzen Land, abgeliefert wurden bis Mitte Juli etwa 735000, darunter auffallend viele alte Geräte.

Auch im Mai standen die Amsterdamer vor den Kinos Schlange, von der illegalen Zeitung Trouw heftig, aber vergeblich, kritisiert. Die »große Masse« lebe, »als ob wir nicht alle in einen Kampf auf Leben und Tod« verwickelt wären; sie bevölkere die Kinos, obwohl dort deutsche Filme laufen. Ebenfalls ungebrochen war die Begeisterung der Amsterdamer für das Theater Carré: »Muziek en Rhytme« hieß die umjubelte Mai-Revue mit dem Show-Orchester Boyd Bachman, Conny Stuart, der bekannten Radiosängerin und vierzig weiteren Mitwirkenden. Die Sportveranstaltungen im Olympiastadion waren weiterhin gut besucht. Bei Leichtathletikwettbewerben der Frauen Ende Mai verbesserte die fünfundzwanzigjährige Fanny Blankers-Koen den Weltrekord im Hochsprung auf 1,71 Meter.

14. Mai – Die Besatzer geben bekannt: Amsterdam wird ab sofort für die Juden zur verbotenen Stadt. Alle Juden in der Hauptstadt, die nicht für den Jüdischen Rat arbeiten und deshalb keine »Sperre« für den »Arbeitsdienst in Deutschland« haben, sollen sich am 20. Mai zwischen 6 und 16 Uhr in der Kaserne am Polderweg einfinden. Von dort wird der Transport direkt ins Lager Westerbork gehen. Die Aufforderung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, ZjA, betrifft rund 9000 Menschen. Von ihnen erscheinen am 20. Mai genau 943 mit Rucksack und Koffern am Polderweg zur Deportation.

Der Kopf der Zentralstelle, SS-Führer Ferdinand aus der Fünten, tobt und knöpft sich noch am gleichen Abend die Führer vom Jüdischen Rat vor. Wie der Jüdische Rat reagiert, hält das Protokoll der 94. Ratssitzung vom 21. Mai fest: »Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung und teilt mit, dass die deutschen Behörden heute Morgen angeordnet haben, dass sich am kommenden Dienstag 7000 Menschen durch Vermittlung des Jüdischen Rates zum Transport nach Westerbork melden müssen.« Die Sitzung wird für fünf Minuten unterbrochen. Danach »wird mitgeteilt, dass sich der Jüdische Rat entschlossen hat, die Anordnungen auszuführen«. Klar ist auch, dass der Jüdische Rat seine Mitarbeiter nicht mehr schützen kann: »… ein Teil des Jüdischen Rates wird eine Aufforderung zum Arbeitseinsatz erhalten«. Man solle sich darauf vorbereiten, »bald bereit sein zu müssen«. Das betrifft auch die Lehrer am Jüdischen Lyzeum, die bisher unter dem besonderen Schutz des Jüdischen Rates standen.

Mirjam Levie, die als Mitarbeiterin alles unmittelbar im zentralen Büro des Jüdischen Rats an der Nieuwe Keizersgracht miterlebt, schätzt, dass die 7000 Aufforderungen zum Transport, die die Deutschen verlangen, etwa sechzig Prozent des Jüdischen Rates treffen werden: »… alles Personen, die man gut kennt. Und dann … die Eltern!« Wer eine »Sperre« vom Jüdischen Rat hat, dessen Eltern waren bisher automatisch vor dem Transport geschützt. Alle Abteilungen des Rats werden aufgefordert, sofort Listen mit den Personen ihres Bereichs zu erstellen, die sich am kommenden Dienstag zum Transport nach Westerbork melden sollen.

Abbildung

Von deutschen Wegweisern umstellt: Alltag auf dem Dam 1943.

In den Büros des Jüdischen Rates (JR) spielen sich an diesem Wochenende erregte Szenen ab. Sekretärinnen bekommen Nervenzusammenbrüche, als sie die Aufforderungen für die eigenen Eltern schreiben müssen. So hart prallen die Meinungen aufeinander, dass es zu Handgreiflichkeiten kommt, und die Polizei gerufen werden muss. Am Sonntagmorgen geht Mirjam Levie morgens um elf nach Hause, um ein wenig zu schlafen. Sie bekommt einen Weinkrampf, »weil ich wusste, dass es uns schlecht ergehen würde und ich es so furchtbar fand, dass sich der JR wieder für diese Henkersarbeit hergab und nicht erklärte: Es ist jetzt doch aus und vorbei, macht euren Dreck allein!« Nach zwei Uhr ist sie wieder im Büro und muss »im Auftrag der hohen Tiere alle persönlichen Freunde von der (vorläufigen) Aufforderungsliste streichen … Ich heulte fast vor Wut und Ärger, aber ich konnte nichts dagegen tun.« Jeder versucht, Einfluss zu nehmen, sich und seine Familie zu retten.

25. Mai – Von 7000 Amsterdamer Juden, die sich auf Befehl der Besatzer und nach dem Aufruf des Jüdischen Rates am Abend am Polderweg einfinden sollen, sind rund 1600 erschienen. Die Deutschen haben damit gerechnet und alles für einen überraschenden Überfall vorbereitet.

26. Mai – Die Großrazzia im Zentrum Amsterdams beginnt um Mitternacht. Deutsche Ordnungspolizei, die »Grünen«, steht bereit, ebenso das niederländische Polizeibataillon der gefürchteten »Schwarzen«. Gegen Abend hatte man die Polizisten im Roxy-Theater in der Kalverstraat mit antisemitischen deutschen Filmen auf ihren Einsatz vorbereitet. Auch die normale Amsterdamer Ordnungspolizei, der die Deutschen längst misstrauen, muss nach Monaten der Abstinenz wieder ran und das Judenviertel um den Waterlooplein hermetisch abriegeln. Die anderen Polizisten durchsuchen das Viertel, Haus für Haus, Wohnung für Wohnung. Auch die Freiwillige Hilfspolizei der niederländischen Nazis ist wieder dabei und macht ihrem brutalen Ruf alle Ehre.

Die aufgespürten Juden, zum Teil misshandelt, werden zum Waterlooplein geführt und anschließend in der Großen Synagoge registriert. Dort müssen auch die Wohnungsschlüssel abgeliefert werden; wenig später werden ihre Wohnungen »gepulst«, die Möbelwagen der Firma Puls stehen vor dem Haus. Vom Jüdischen Ordnungsdienst im Lager Westerbork haben die Deutschen kurzfristig einige Dutzend Männer mit Lastwagen hergebracht. Diese Ordner führen die registrierten Juden von der Synagoge in die Amstelstraat. Da warten schon die Straßenbahnen zum Muiderpoort-Bahnhof, wo die Züge nach Westerbork abfahren, bis ins Morgengrauen. Im Laufe des 27. Mai kommen etwa 3300 Juden aus Amsterdam im Lager Westerbork an.

In diesen Tagen schreibt ein fünfunddreißigjähriger Beamter, der kurz zuvor aus einer östlichen Provinz nach Amsterdam gezogen war, in sein Tagebuch: »Während es vor 3–4 Wochen noch von Judensternen wimmelte, sind sie nun auf ein Minimum geschrumpft. Ich denke, in einigen Tagen wird das Judentum in den Niederlanden Vergangenheit sein.« Kein Bedauern sondern Genugtuung spricht aus diesen Worten. Sie stehen für eine Minderheit, doch auch dies gehört zum Gesamtbild.

Am 28. Mai treffen die führenden Männer vom Jüdischen Rat zur 95. Sitzung in ihrem Büro im schönen alten Grachtenhaus Nieuwe Keizersgracht 58 zusammen. (1723 hat es ein jüdischer Bankier errichten lassen. Heute sind dort therapeutische Institute aller Art einquartiert.) Es liegt kaum fünf Minuten vom Waterlooplein und der großen sefardischen Synagoge entfernt. Das Protokoll zitiert den Vorsitzenden, Professor David Cohen: »Diese Woche war eine der verhängnisvollsten in der Geschichte der Amsterdamer Juden … An einem einzigen Tag wurde eine dreihundertjährige Geschichte zerstört.« Professor Cohen wünscht »jenen, die dahingehen, Kraft, um dieses schreckliche Schicksal tragen zu können«. Ein Blick in die Zukunft: »Uns bleibt nichts anderes übrig, als an bessere Zeiten zu glauben, und wir erwarten Rettung und Vereinigung mit jenen, auf die wir nicht verzichten können.«

Dann kommt der Vorsitzende zur Gegenwart. Er habe tags zuvor mit den deutschen Besatzern gesprochen.: »Es steht fest, dass die deutschen Behörden die Fortführung der Arbeit des Jüdischen Rates wünschen.« Anschließend diskutiert der Rat, wie die Abteilungen mit weniger Personal neu organisiert werden können: »Man wird über Versetzungen von Mitarbeitern aus überbesetzten Abteilungen in Abteilungen mit Personalmangel nachdenken.« Der Weg der führenden Männer des Jüdischen Rates ist gradlinig, seit er sich auf einen Befehl der Deutschen im Februar 1941 bilden musste. Im Angesicht der Verfolgungen wollen sie eine jüdische Institution erhalten, die – »um Schlimmeres zu verhüten« – mit den Deutschen, den Verfolgern, zusammenarbeitet. Ihr letztes Ziel war, eine jüdische Elite vor der Vernichtung zu bewahren, die nach dem Krieg in den Niederlanden eine neue jüdische Gemeinschaft aufbauen konnte.

Wie seit dem Juli 1942 füllten die Juden, die aus Amsterdam nach Westerbork transportiert wurden, weiterhin die Züge, die jeden Dienstag aus diesem Lager in den Osten fuhren. Im Frühjahr und Sommer 1943 wird die »räudige Schlange«, wie der Westerborker Chronist Philip Mechanicus diese Züge nennt, verlängert, um möglichst viele Deportierte möglichst schnell der Vernichtungsmaschinerie zuzuführen. Am 1. Juni 1943, es ist ein stiller regnerischer Morgen, »beläuft sich der Transport wieder auf dreitausend Mann«. Mechanicus beschreibt die Transporte: »Sie erfolgten in Viehwagen, die eigentlich zum Transport von Pferden vorgesehen sind. Die Deportierten liegen nicht auf Stroh, sondern zwischen ihren Essensbeuteln und ihrem wenigen Gepäck auf dem nackten Boden.« Vor der Abfahrt aus dem Lager Westerbork noch ein Schock: »Die Polizisten von Lippmann, Rosenthal & Co. folgen den Verdammten bis in den Zug: Sie pressen mit Drohungen und Maulschellen noch die letzten kleinen Besitztümer aus ihnen heraus, kleine Wertpapiere, Füllfederhalter, Armbanduhren.«

Sobald die vorgeschriebene Zahl an »Menschenmaterial« erreicht ist, werden die Wagentüren bis auf einen kleinen Spalt zum Luftholen geschlossen: »Der Kommandant gibt das Signal zur Abfahrt: Ein Wink mit der Hand. Die Pfeife schrillt, meistens gegen elf Uhr; allen im Lager geht der Ton durch Mark und Bein. Die räudige Schlange macht sich mit gefülltem Wanst davon.« Der jüdische Bevölkerungsteil in den Niederlanden ging seiner totalen Eliminierung entgegen.

Die jungen Leute in den vier Widerstandsgruppen, die jüdische Kinder aus der Kinderkrippe gegenüber der Schouwburg schmuggelten und sie zu Pflegefamilien im ganzen Land brachten, gönnten sich keine Pausen. Permanent kamen neue Kinder in die Crèche, die von den Männern der Kolonne Henneicke aufgespürt worden waren. Zugleich war es Henriette Pimentel, der Direktorin, gelungen, einen neuen Fluchtweg aus der Krippe aufzutun. Zwei Häuser weiter, Plantage Middenlaan 27, befand sich eine Fachoberschule der Reformierten Gemeinde. Die Gärten hinter den beiden Gebäuden waren nur durch eine kleine Hecke getrennt. Henriette Pimentels Kontakt zum Schuldirektor war so vertrauensvoll, dass ab Mai Kinder über diesen neuen Fluchtweg in ein neues Leben geschleust werden konnten.

Der Schuldirektor war einverstanden, dass Kinder aus der Crèche in der Schule ihren Mittagsschlaf hielten und im Schulgarten spielen durften. Abends wurden sie wieder über die Hecke gehoben und kamen zurück in die Crèche. Was in der Zwischenzeit geschah, kümmerte den Direktor nicht.

Die Schüler registrierten, dass nachmittags in der Schule Erwachsene ein und aus gingen, die nicht zum Krippenpersonal gehörten. Keiner der Schüler hat verraten, was offensichtlich war: »Kinderhelfer« nutzten den neutralen Eingang der Reformierten-Schule, verließen dann auf dem gleichen Weg vorsichtig mit einem jüdischen Schützling das Schulgebäude, und verschwanden schnell um die nächste Ecke, während die SS-Bewacher vor der Schouwburg auf der anderen Straßenseite auf den Eingang der jüdischen Krippe fixiert waren.

Wie schnell vergehen vier Wochen, wenn Kinderleben gerettet werden sollen. Wie bleiern schleicht die Zeit, wenn Erwachsene, mit gepackten Rucksäcken, Nacht für Nacht regungslos in der Wohnung im Dunkeln sitzen und die Stiefelschritte auf dem Pflaster fürchten, die schrille Klingel, den Lärm an der Wohnungstür, das barsche Kommando: Mitkommen, aber schnell. Wenn sich neben aller Angst die winzige Hoffnung hält, dass es vielleicht doch ein Ende haben könnte mit der Menschenjagd – jetzt, heute Abend.

20. Juni – Es würde ein schöner Sommersonntag werden. Man spürte es schon in der Morgendämmerung, als hunderte von deutschen Polizisten, Angehörige der niederländischen Freiwilligen Hilfspolizei und einige Dutzend Männer vom Jüdischen Ordnungsdienst des Lagers Westerbork, weiße Binden am Arm, das Transvaalviertel und Amsterdam Zuid hermetisch absperrten. Brücken über die Grachten und Kanäle gingen hoch, an strategisch wichtigen Kreuzungen standen die »Grünen«; passieren durfte nur, wer einen Sonderausweis hatte. Es sollte eine umfassende und überraschende Razzia werden. Adolf Eichmann hatte sich aus Berlin gemeldet und die Vorgabe an niederländischen Juden, die bis zum Jahresende »die Züge nach Osten« füllen sollten, erhöht. Wieder »lieferten« die Franzosen nicht genug für die Vernichtungslager. Nach den Absperrungen kam die Polizei mit Lautsprecherwagen und befahl, dass alle Juden sich mit Gepäck zur nächstliegenden Sammelstelle begeben sollten: zum Krugerplein oder Sarphatipark, zum Olympiaplein, Daniel Willinkplein (Victorieplein) und zum Polderweg.

Der intime Krugerplein liegt in der Transvaalbuurt, dem Vorzeigeviertel des modernen sozialen Wohnungsbaus, den der Gemeinde-Politiker Monne de Miranda in den zwanziger Jahren maßgeblich gefördert hatte. Am 20. Juli 1943 standen die letzten Juden des Viertels, die seit Juli 1942 noch nicht durch Aufrufe oder Razzien in die Fänge der Deutschen geraten waren, am Krugerplein, und warteten, bis sie, vom Jüdischen Ordnungsdienst angewiesen, in die mit Planen bedeckten Lastwagen stiegen. Einige drehten sich noch einmal um, winkten freundlich-wehmütig den Nachbarn zu, die am Straßenrand standen oder aus den Fenstern schauten, an diesem schönen schrecklichen Sommertag.

Abbildung

Die Züge in die Vernichtung warten: Juden in Amsterdam Zuid auf dem Weg zum Bahnhof

Auch auf dem Rasenstück vor dem Wolkenkratzer am Daniel Willinkplein sammelten sich die restlichen jüdischen Bewohner aus Amsterdam Zuid, ebenso am Olympiaplein mit seinen Sportanlagen, gleich hinter der breiten Apollolaan. »Es war schönes Wetter an diesem Tag, und auf den Plätzen ging der normale Sportbetrieb weiter. Es waren keine NSBler, die da spielten. Es waren keine Widerstandskämpfer. Es war die Mehrheit des niederländischen Volkes. Man hatte sich an sehr vieles gewöhnen müssen.« Das schreibt der Amsterdamer Jude Abel Herzberg, der Bergen-Belsen überlebte, in seiner »Chronik der Judenverfolgung«.

Die Juden wurden im Laufe des Tages zur Schouwburg oder zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung am Adama van Scheltemaplein gefahren, dort registriert und an der Borneokade in die wartenden Züge, es sind Viehwagen, gestopft. Fast 5500 Juden sind am 20. Juni 1943 in Amsterdam aufgegriffen worden. Am Abend wurde noch einmal von deutschen Polizisten »Wohnung für Wohnung überholt«, wie der Polizeibericht über die Razzia an den Reichskommissar meldet. Amsterdam sollte endlich »judenfrei« sein. Weitere versteckte Juden wurden aufgespürt, »marschfertig gemacht und in der gleichen Nacht nach Westerbork verbracht«. 25 von den knapp 5500 Juden gelang in der Nacht während eines Luftalarms die Flucht. Alle anderen kamen im Laufe des Montags im Lager Westerbork an. Unter den Deportierten vom 20. Juni befinden sich Menschen, deren Stimmen in dieser Besatzungszeit schon zu hören waren:

Alida de Jong, Jahrgang 1885, die engagierte Gewerkschafterin und eine der wenigen sozialdemokratischen Frauen im Parlament in Den Haag und im Gemeinderat von Amsterdam, wurde zusammen mit ihrer Schwester Jeannette aus ihrer Wohnung im Marathonweg 39 geholt. Die beiden bleiben bis zum 6. Juli im Lager Westerbork. Dann müssen sie mit weiteren 2415 Juden in den Zug steigen. Als sie am 9. Juli im Vernichtungslager Sobibor ankommen, werden die Schwestern, wie alle anderen, in die Gaskammer getrieben. Ihr Bruder Godfried de Jong war mit seiner Frau Betsij und der dreizehnjährigen Tochter Jeannette einen Monat zuvor aus Amsterdam deportiert worden. Alle drei wurden am 4. Juni in Sobibor ermordet. Im Mai 1940 hatten sie mit ihrem Sohn Louis de Jong, Lieblingsneffe seiner Tante Alida, vom Hafen IJmuiden nach England fliehen wollen. Louis de Jong konnte sich mit seiner Frau auf das letzte Schiff retten, hatte aber die Eltern und die kleine Schwester in der Menge der Fliehenden an Land aus den Augen verloren. Während des Krieges war er in London Mitarbeiter von Radio Oranje. (Und wurde nach 1945 der wichtigste niederländische Historiker für die Zeit von Krieg und Besatzung.)

Adele und Wilhelm Halberstam lebten seit dem Frühjahr 1939 als deutsch-jüdische Emigranten in Amsterdam Zuid. Am 20. Juni hatte das Ehepaar keine Wahl und folgte dem Aufruf der Lautsprecher zum Transport nach Westerbork. Wilhelm Halberstam stirbt Anfang Oktober im Lager. Der Sohn Albert bleibt vorerst in Amsterdam, im September muss auch er nach Westerbork fahren. Adele Halberstams letztes Lebenszeichen sind einige wenige Zeilen vom 31. Oktober an Tochter und Schwiegersohn in Chile: »Ich funktioniere wie ein Automat, der Lebenszweck fehlt. In Liebe und Sehnsucht.« Sie wurde am 17. November zusammen mit 530 Juden aus dem Lager Westerbork in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet, Albert Halberstam am 31. März 1944.

Mirjam Levie hörte die Lautsprecher am frühen Morgen in ihrer Wohnung in der Pretoriusstraat. Sie versucht, durch die Sperren auf der Straße zu ihrer Mutter im Israelitischen Krankenhaus zu kommen. Doch ein »Grüner« packt sie und bringt sie ins Koloniaal Institut. Dort muss sie neben anderen Juden mit dem Gesicht zur Wand stehen, dreieinhalb Stunden lang. Ein Überfallwagen bringt die gelernte Dolmetscherin zur Sammelstelle am Polderweg. Mirjam Levie hat noch Hoffnung. Als dort Ferdinand aus der Fünten auftaucht, zeigt sie ihm ihre Papiere als Mitarbeiterin im Jüdischen Rat. Doch der SS-Führer sagt bloß: »Spielt keine Rolle« und »Es wird nur noch ausquartiert«. Über Westerbork kommt Mirjam Levie Anfang 1944 ins Lager Bergen-Belsen. Dort gehört die überzeugte Zionistin zu den wenigen Juden, die Anfang Juli 1944 im einzigen Austauschtransport quer durch Europa und die Türkei nach Palästina gebracht und so gerettet werden. (Dort trifft sie ihren Verlobten Leo Bolle, den Adressaten ihrer Briefe, wieder und die beiden heiraten.)

Die umfangreichen Sperren am 20. Juni treffen auch etliche nichtjüdische Amsterdamer. Einem von ihnen, der mit Frau und Kind aufs Land zur Kirschenernte fahren möchte, gelingt es nach vielen Mühen, einen Bahnhof zu erreichen. In sein Tagebuch schreibt er: »Viele im Zug haben keine Ahnung, was sich in Amsterdam abspielt, die letzten Juden werden abgeholt. Zusammengetrieben und wie Vieh weggeführt. Erst nach Vught (KZ in den Niederlanden) und dann weiter nach Polen deportiert. Ach, was müssen diese Menschen doch alles mitmachen … Auch wenn es kein angenehmes Volk ist. Aber es sind doch auch Menschen.«

Am 25. Juli schreibt aus Den Haag ein Vertreter des deutschen Auswärtigen Amtes an seine Berliner Zentrale und zitiert einen geheimen Bericht der deutschen Sicherheitspolizei: »Die Razzia in Amsterdam vom 20. Juni, die strikt geheim gehalten wurde, war ein großer Erfolg. Die niederländische Bevölkerung ist damit nicht einverstanden, aber tut nichts dagegen.« Die aus Amsterdam Deportierten bestiegen nach kurzem Aufenthalt in Westerbork schon wieder die Viehwagen, immer an einem Dienstag. Am 13. Juli schreibt Philip Mechanicus, Gefangener und Chronist im Lager: »Der Transport liegt wieder hinter uns. Westerbork hat diesmal über zweitausend Juden für den Osten preisgeben müssen.« Auf der Transportliste für diesen Tag stand auch Klaartje de Zwarte-Walvisch, die Anfang des Monats die überfüllte Schouwburg Richtung Westerbork hatte verlassen müssen. Zu diesem Zeitpunkt endet auch ihr Tagebuch. Zusammen mit 1988 Frauen und Männern, Kindern und Kranken – wir wissen es heute genauer als der Augenzeuge Mechanicus – ist die Zweiunddreißigjährige am 16. Juli in Sobibor angekommen; niemand überlebte. Ihr Mann Joseph wurde später deportiert und starb im März 1944 »irgendwo in Polen«.

Am 25. Juli, abends, erlebt Amsterdam Noord den zweiten von drei Luftangriffen auf die Fokker-Flugzeugwerke. Der Betrieb ist längst Teil der deutschen Kriegsindustrie, und beliefert die deutsche Luftwaffe mit Nachschub. Am 28. Juli folgt der dritte Luftangriff der Westmächte auf die Fokker-Werke innerhalb von zehn Tagen. Wegen tief hängender Wolken und Abstimmungsproblemen der Piloten werden die Fabriken nur einmal getroffen, aber um so mehr Wohnhäuser im Umkreis. Durch die missglückte Aktion sterben über 200 Menschen, viele Gebäude werden zerstört. Auch wenn die Amsterdamer die angepeilte Zerstörung von Fokker einsehen: Dass so viele Menschen sinnlos sterben müssen, zermürbt und fördert die Resignation. Wieder sind es die Schlagersänger mit ihren Liedern, die versuchen, die düstere Stimmung ein wenig aufzuhellen.

Der Schallplatten-Hit des Sommers 1943 – »’t komt wel weer in orde« – »Es wird schon alles wieder gut« – hat einen Nerv getroffen. Zu den Rhythmen der Big Band von Dick Willebrandts singt der beliebte Jan de Vries: »Wir wollen nicht meckern, alles hat ein Ende. / Lass Dich nicht hängen, / sei ein ganzer Kerl. / Es wird schon alles wieder gut …« Dass die Ratschläge höchst banal sind, macht nichts: »Lass das Licht nicht brennen / und sei sparsam mit dem Gas.« Denn dann folgen die Zeilen voller Optimismus, die die Amsterdamer hören wollen: »Lamentiere nicht länger, / wie es früher war, / Denn es wird schon alles wieder gut. / Mach’s wie ich und kümmer Dich um nichts.«

Das Orchester orientiert sich am Glenn-Miller-Sound, und Dick Willebrandts, ein anerkannter Jazz-Pianist, spielt voller Swing das Solo am Klavier. Erstaunlich, denn das ist »negroide« Musik, verpönt und verboten. Die musikalische Freiheit hat einen Preis: Ab August 1943 macht das Orchester Dick Willebrandts Propaganda-Aufnahmen für den Deutschen Europa-Sender: Jazz vom Feinsten, denn es sollen über den Äther US-Boys und englische Soldaten gewonnen beziehungsweise kampfunwillig gemacht werden.

Es ist der gleiche Sommer, in dem die Direktorin der Kinderkrippe, die jungen Pflegerinnen, der Leiter der benachbarten Reformierten-Schule und die »Kinderschmuggler« alles versuchen, um so viele jüdische Kinder wie möglich aus den Händen der Mörder zu retten. Walter Süskind, der Organisator im Hintergrund, nutzt weiterhin skrupellos seine Kontakte mit den Deutschen, um die Transportlisten zu fälschen. Alle, die auf diese Weise den Besatzern Widerstand leisten, wissen: Es bleibt nicht mehr viel Zeit.

Henriette Pimentel sorgt dafür, dass ihre Mitarbeiterinnen bei diesem permanenten Kraftakt für »ihre Kinder« auch ein wenig an sich selber denken. Von ihrer Chefin ermutigt, schreibt die Pflegerin Sieny Kattenburg an ihre Eltern, die am 20. Mai mit der jüngeren Tochter ins Lager Westerbork deportiert worden sind, und bittet um die Zustimmung zur Heirat. Die Neunzehnjährige und der dreiundzwanzigjährige Harry Cohen, der für den Jüdischen Rat Kurierdienste machte, sind seit Monaten ein Paar. Seit Harry Cohen am 20. Juli erlebte, wie sein Bruder bei der großen Razzia mit Frau und Kind aus Amsterdam nach Westerbork transportiert wurde, ist er mit Wissen der Direktorin in der weiträumigen Crèche untergetaucht. Und sie drängt beide zur Heirat, weil die Chancen, untertauchen zu können, wesentlich besser wären.

Jeden Tag ging Harry Cohen zum jüdischen Einwohnermeldeamt in der Weesperstraat, wohin Sienys Vater seine Zustimmung schicken sollte. Am 28. Juni um 9 Uhr 30 ist sie da, und sofort fragt der Bräutigam in spe: »Wann können wir heiraten?« Das sei abhängig von der Klasse, in der man heiratet – erste, zweite oder dritte. Heute sei die zweite Klasse an der Reihe, antwortet der Mitarbeiter. Kostenpunkt: 12,50 Gulden und bitte um zehn Uhr mit zwei Zeugen antreten. Im Geschwindschritt zurück zur Krippe: »Um zehn Uhr heiraten wir.« Keine Zeit, die festlichen Kleider zu besorgen, die bei Freunden verstaut sind. Als Trauzeugin kommt auch die Direktorin mit aufs jüdische Standesamt. Anschließend wollte Harry Cohen sofort mit seiner Frau untertauchen, aber sie weigerte sich: »Ich will die Kinder nicht im Stich lassen.«

Gleiches gilt für Henriette Pimentel, 67 Jahre alt, die längst in den Ruhestand hätte gehen können. Doch nach der deutschen Besatzung galt ihr ganzer Einsatz dem »Kinderhaus«, das sie seit 1926 leitete. Die illegalen Aktionen zur Rettung der Kinder wurden nicht zuletzt dank ihrer Autorität, Umsicht und Verlässlichkeit möglich. Vier Wochen nach der Heirat, am 26. Juli, standen unerwartet Überfallwagen der deutschen Polizei vor der Türe. Die meisten Pflegerinnen, auch die Direktorin, und natürlich die Kinder mussten mitkommen. Es ging ins Lager Westerbork.

Die Deutschen entschieden, dass sie die Krippe noch brauchen würden. Sieny Cohen-Kattenburg und ihre Kollegin, die zehn Jahre ältere Virrie Cohen, Tochter des Vorsitzenden vom Jüdischen Rat, hatten jetzt die Verantwortung für die jüdischen Kinder, die schon nach wenigen Tagen wieder die Räume füllten. Die Kolonne Henneicke war mit ihrer Jagd auf untergetauchte Juden noch nicht am Ende. Die deutsche Polizei spürte auf ihren Streifzügen durch Amsterdam weiterhin jüdische Familien mit Kindern auf und brachte sie in die Schouwburg in der Plantage Middenlaan. Aber auch die heimliche und gefährliche Arbeit der »Kinder-Schmuggler« ging weiter.

Aus Westerbork kamen ermutigende Briefe von Henriette Pimentel, die ihren Hund Brunie mit ins Lager hatte nehmen dürfen. Die alte Direktorin machte Pläne für die Crèche in der Nachkriegszeit. Ab Mitte September blieben die Briefe aus, und als Brunie eines Tages verloren durch die Baracken lief, wussten die Menschen im Lager Westerbork, die die kleine energische Dame kannten, dass auch sie im Viehwaggon in Richtung Osten deportiert worden war. Am 17. September 1943 wurde Henriette Pimentel in Auschwitz-Birkenau vergast.

In Amsterdam sind auch im August die Razzien und der Transport von Juden nach Westerbork weitergegangen. Die Deutschen haben es auf die letzten Kranken im Niederländisch-Israelitischen Krankenhaus (NIZ) abgesehen. Philip Mechanicus notiert am 15. August in Westerbork: »Gestern abend Transport von knapp vierhundert Mann aus Amsterdam angekommen. Ein großes Kontingent Kranker aus dem NIZ. Armselige alte Männlein, fast ohne Gepäck. Abscheu und Mitleid.« Doch es sind nicht nur die Juden, die von den Besatzern systematisch gejagt werden.

Am 1. August, ein Sonntag, waren die Tribünen im Olympiastadion dicht besetzt. Die niederländischen Radrennfahrer trugen ihre Nationale Meisterschaft aus. Am nächsten Tag rollte die deutsche Sicherheitspolizei, unbemerkt von der Öffentlichkeit, die Widerstandsgruppe CS-6 auf und stürmte deren Hauptquartier, das Haus der Familie Boissevain in der Corellistraat 6.

Im Februar 1943 hatten drei politische Attentate der CS-6 auf hohe niederländische Beamte, »Verräter«, die mit den Deutschen kooperierten, Aufsehen erregt. Wenig später wurde der Arzt Gerrit Kastein, strategischer Kopf der Gruppe, verraten und verhaftet. Um keine Namen zu nennen, beging Kastein Selbstmord, indem er während des Polizei-Verhörs mit gefesselten Händen im zweiten Stock aus dem Fenster sprang. In den folgenden Monaten erschossen Mitglieder von CS-6, meist Studenten, die politisch radikal links engagiert waren, rund zwanzig niederländische Polizisten und Sicherheitsbeamte, die bei der Verfolgung der Juden aktiv waren. Zugleich gerieten einzelne in die Fänge der Besatzer, nannten Namen ihrer Mitkämpfer unter der Folter oder wurden zu Doppelagenten. Bis in den September hatten die Deutschen schließlich rund siebzig Mitglieder von CS-6 verhaftet, darunter auch die einundzwanzigjährige Reina Prinsen Geerligs, als sie nach einem Attentat ihre Pistole in einem illegalen Amsterdamer Quartier verstecken wollte.

Nur einen Tag brauchte das Standgericht am 30. September, um im Prozess gegen die Gruppe 19 Todesurteile zu fällen, 12 davon gegen Widerständler aus Amsterdam. Sie alle standen am 1. Oktober in den Dünen von Overveen vor einem deutschen Erschießungskommando, darunter auch die beiden Boissevain-Brüder »Janka« und »Gi« und ihr Cousin Louis. Reina Prinsen Geerligs, geboren im Oktober 1922, wird mit zwei Mitstreiterinnen gleichen Alters ins Lager Sachsenhausen bei Oranienburg deportiert. Dort sind die drei jungen Frauen am 24. November 1943 ermordet worden, singend sollen sie vor das Erschießungskommando getreten sein.

Über Amsterdam lag bleiern Resignation. Die Invasion der Alliierten, mit der die Menschen fest vor dem Herbst gerechnet hatten, schien wieder nicht zu gelingen. Da ließ die Kapitulation Italiens und die Gefangennahme des faschistischen Diktators Mussolini am 8. September die Stimmung in der Stadt blitzartig umspringen. Der Polizeibericht hielt fest: »An diesem Abend waren die meisten Cafés voll, und die Menschen von Heiterkeit erfüllt. Da und dort brannten Jugendliche Feuerwerke auf den Straßen ab.« Nur vier Tage später kam die Resignation so jäh zurück, wie sie verflogen war. Die Deutschen hatten den gefangenen Mussolini befreit, in Italien ging der Krieg weiter.

Als die allgemeine Freude noch groß war, am 8. September, diktierten zwei Männer der »Abtlg. Recherche, Gruppe Henneicke« in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung, zu der ihre Abteilung gehörte, einen »Bericht« zum »Judenkind Max Vogel«. Mittags um 12 Uhr hätten sie ihn »bei dem Arier Vermeulen, wohnhaft zu Amsterdam, Linnaeusparkweg 63« festgenommen. Der Vater sei schon »nach Polen abtransportiert«, die Mutter »untergetaucht« und die Großmutter, die sich ebenfalls in der Wohnung am Linnaeusparkweg befand, »schon in die Schouwburg eingeliefert worden«.

Max Vogel, ein kränkelnder Junge mit offener TB, war am 7. September zwei Jahre alt geworden. Bevor seine Mutter untertauchte, hatte sie ihren Sohn illegal bei einer Pflegefamilie unterbringen können. Damit Max an seinem Geburtstag ein wenig von der eigenen Familie um sich hat, kommt die Großmutter zu Besuch. Vogeltje Emmerik-Worms ist 48 Jahre alt und bleibt über Nacht. Als am nächsten Morgen um neun Uhr die Klingel geht, stehen zwei Männer vor der Türe und betreten das propere Backsteinhaus in der stillen Straße. Der Protest der Pflegemutter hilft nicht: »Mitkommen!« Zwei Prämien winken, der Tag beginnt erfolgreich für das Henneicke-Team. Vogeltje Emmerik-Worms stirbt am 24. September 1943 in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau. Ihr Enkel landet in der Crèche gegenüber der Schouwburg, zur Deportation bestimmt. Doch noch im September wird der kleine Max aus der Krippe geschmuggelt und findet bei einer nichtjüdischen Familie einen sicheren Hafen; seine untergetauchte Mutter überlebt ebenfalls.

Die Kinder-Helfer der vier Widerstandsgruppen erhalten immer zahlreichere Hinweise, dass die Zeit für Juden in Amsterdam im September ablaufen wird. Zu Dutzenden werden jetzt die Kinder aus der Krippe geschmuggelt und hohe Risiken genommen. Virrie Cohen gelingt es, fünfzehn Kinder auf einmal heimlich in das Büro des Jüdischen Rates in der Plantage Parklaan, nur wenige Minuten entfernt, zu bringen. Längst sind selbst die Kleinsten daran gewöhnt, stillzuhalten, nicht zu weinen. Nach und nach kommen die Kurier-Studenten ins Büro, um die Kinder abzuholen, und sofort vom Amsterdamer Hauptbahnhof zu nichtjüdischen Pflegefamilien in der Provinz zu fahren. Weil die Kinder sie von Besuchen in der Krippe kennen, gehen sie vertrauensvoll mit.

29. September, kurz vor 8 Uhr morgens – Das Ehepaar Sieny und Harry Cohen verlässt die Kinderkrippe. Schon nach wenigen Minuten werden sie in der menschenleeren Straße von einem Zivilisten angehalten, ein Niederländer, der für den deutschen Sicherheitsdienst (SD) arbeitet: »Die Ausweise!« Sieny Cohen trägt ihre Pflegerinnen-Uniform als Signal: Obwohl Jüdin, werde ich noch gebraucht. Ihr Mann weist die Ausweise mit den beiden schwarzen J vor, die gefälschten für ein neues Leben liegen gut versteckt in der Tasche: »Wir machen nur eine kleine Runde, bevor wir an die Arbeit gehen.« Endlose Sekunden, dann gibt der Mann die Ausweise zurück; sie können weitergehen. Ohne ein Wort zu sprechen, laufen Sieny und Harry Cohen den langen Weg nach Amsterdam Zuid, Stadionskade 70. Hier wohnen nichtjüdische Freunde, die Vorbereitungen für ihr Untertauchen getroffen haben. Bevor sie klingeln, reißen die beiden sich den gelben Stern von der Kleidung: Harry und Sieny Cohen existieren nicht mehr; ihr langer Weg als untergetauchte Juden beginnt. Das Ehepaar Cohen wird überleben.

29. September, am Nachmittag – SS-Führer aus der Fünten erscheint in der Crèche: Es ist vorbei, alle Kinder, die in der Krippe sind, werden noch heute abtransportiert. Nur Virrie Cohen bleibt »gesperrt«, um alles abzuwickeln und Kinder, die weiterhin aufgespürt werden, zu versorgen.

In der Schouwburg erfährt Grete Weil, wie alle, die hier für den Jüdischen Rat arbeiten, dass sie an diesem Abend nicht nach Hause darf. Da ihr Mann Edgar im Juli 1941 während der ersten Amsterdamer Straßenrazzia gepackt und im KZ Mauthausen ermordet wurde, hat die deutsch-jüdische Immigrantin bis jetzt eine »Sperre« bekommen. Nun überlegt die gelernte Fotografin fieberhaft, ob sie in dieser Nacht fliehen soll. Grete Weil riskiert es. Zusammen mit zwei weiteren Juden geht sie durch den Bühneneingang des ehemaligen Theaters nach draußen. Hier sind rund um die Uhr SS-Männer postiert, auf deren Wohlwollen die Fliehenden hoffen, denn man kennt sich seit Monaten. Dann die Verblüffung – »niemand steht draußen. Schnell reißen wir uns die Sterne von den Mänteln«. Grete Weil gelingt es, in Amsterdam unterzutauchen. Sie überlebt.

29. September, am Abend – Die Juden, die noch in Amsterdam leben, werden von einer umfassenden Razzia überrascht. Aus Westerbork sind rund 150 Männer vom Jüdischen Ordnungsdienst in die Hauptstadt gebracht worden, um mit Hand anzulegen. Es soll endgültig »aufgeräumt« werden. Dass der Transport am Vorabend von Rosch Haschanah, dem jüdischen Neujahrsfest, stattfindet, gehört zu den perfiden Demütigungen der Besatzer.

Haben die führenden Männer vom Jüdischen Rat darauf vertraut, dass sie für die Deutschen unersetzlich sind? Wenn ja, dann war es eine Illusion, die an diesem Tag zerplatzte. Immerhin, die beiden Vorsitzenden, Professor David Cohen und der Unternehmer Abraham Asscher, ihre engsten Mitarbeiter und Verwandten, auch Willem Elte, Direktor des Jüdischen Lyzeums, mussten am Amsterdamer Hauptbahnhof keine Viehwaggons besteigen, wie die meisten ihrer Glaubensgenossen. Sie fahren dritter Klasse ins Lager Westerbork. Die Deutschen entschieden noch am gleichen Tag, den Jüdischen Rat aufzulösen, der ihnen seit dem Februar 1941 gute Dienste geleistet und viel Arbeit abgenommen hatte.

Insgesamt kamen am 29. und 30. September drei Transporte mit rund 2800 Menschen in Westerbork an. Es waren nicht die letzten Züge, die von Amsterdam Juden ins Lager fuhren. Aber es war die letzte organisierte Razzia in der Hauptstadt. Bis Juli 1944 werden von kleinen Polizeikommandos, von Einzeltätern und Verrätern in Amsterdam noch rund 6600 untergetauchte Juden aufgespürt werden. Das Risiko, verraten, entdeckt und verhaftet zu werden, lag für erwachsene untergetauchte Juden in Amsterdam bei mindestens 33 Prozent. Bei jüdischen Kindern waren es nur 3,5 Prozent, die Hemmschwelle lag offensichtlich wesentlich höher.

Nachdem die Kinderkrippe am 29. September geschlossen worden war, lieferten die Menschenjäger in den nächsten Tagen für Kopfgeld wieder jüdische Kinder in der Schouwburg ab. Virrie Cohen kümmerte sich um sie. Am 8. Oktober musste sie auch diese Kinder für einen Transport vorbereiten. Um 14 Uhr 30 kamen zwei Busse. Vier Stunden lang fuhren sie Kinder und Erwachsene unter Bewachung von der Schouwburg in der Plantage Middenlaan zum Panamakade, wo die Züge nach Westerbork warteten. Anschließend bedrängen Freunde, darunter Walter Süskind, Virrie Cohen, unterzutauchen: Sie müsse überleben, um nach dem Krieg die Kinder in den Pflegefamilien zu identifizieren, denn viele der Eltern würden nicht wiederkehren. Schweren Herzens geht Virrie Cohen wenig später unbemerkt in Richtung Weteringschans davon, eine Untertauchadresse im Kopf. Sie wird überleben.

Auch die Widerstandsarbeit der Kinder-Helfer ist an ihr Ende gekommen. Von 5000 bis 6000 jüdischen Kindern, die von den Deutschen aufgegriffen wurden, haben die vier Gruppen zwischen Juli 1942 und September 1943 gut 900 vor Deportation und Tod retten können, davon rund 600 Kinder durch dramatische Schmuggel-Aktionen aus der Crèche gegenüber der Joodse Schouwburg.

Zum 1. Oktober lösen die Besatzer die Kolonne Henneicke auf. Achtzehn der 54 Männer werden entlassen, die anderen in NS-Organisationen untergebracht, wo sie weiterhin Jagd auf untergetauchte Juden machen können. Willem Henneicke bekommt einen Posten in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Insgesamt wird bei der ZjA Personal eingespart und sie zieht in ein kleineres Büro. Ihre Arbeit ist getan.

Am 8. Oktober 1943 proklamieren die deutschen Besatzer Amsterdam offiziell als »judenfrei«. Doch es gibt weiterhin jüdisches Leben in der Hauptstadt. Da sind einmal die unsichtbaren Juden, die – auf Dachböden, in Hinterzimmern, leeren Häusern und Verschlägen oder mit gefälschten Ausweisen – ihren Verfolgern trotzen. Die Schätzungen schwanken zwischen 8000 und 18000 Juden, die nach dem Herbst 1943 in Amsterdam im Untergrund leben. Außerdem gibt es immer noch einzelne Juden, deren Ausweis mit der lebensrettenden »Sperre« verlängert wird, weil sie für die Besetzer von Nutzen sind. Walter Süskind zum Beispiel, der mit seiner Frau Johanna und der fünfjährigen Tochter Yvonne in Amsterdam bleiben darf, weil er sich um die Abwicklung der Joodse Schouwburg kümmern muss. Und dann leben an der Amstel noch rund 300 »portugiesische« Juden mit »Sperre«, aber auf Abruf. Von ihnen wird im nächsten Kapitel die Rede sein.

Die Deutschen hatten ihr Ziel – die Vernichtung der europäischen Juden – in den besetzten Niederlanden anfangs verschleiernd, dann offen und immer zielstrebig und entschlossen verfolgt. Im September 1943 schien die außergewöhnliche Geschichte der niederländischen Juden, mit Wurzeln über viele Generationen bis in die Zeit um 1600, an ihr Ende gekommen.

Jeder Tod ist eine Katastrophe. Die Angst und die Verzweiflung jedes und jeder einzelnen, seine und ihre Schmerzen, die menschenverachtenden Zustände in den Lagern, das Leid und die zerstörten Leben derer, die überlebten – niemand kann es erfühlen und erfassen. Nichts gibt es wiedergutzumachen, nur die Verpflichtung, alles im Gedächtnis zu halten, immer aufs Neue zu erzählen, was geschehen ist.

Wenn die Qualen und Erniedrigungen der ermordeten Juden, der Gefolterten und Gejagten alle Vorstellungen übersteigen; wenn das, was die Betroffenen »die Hölle« nannten, alle Worte fade werden lässt, bleiben die Zahlen. Auch die Quantität des Schrecklichen hat eine Wucht, die die Würde des einzelnen Menschen nicht untergehen lässt sondern wie in versteinerter Trauer für alle Zeiten aufbewahrt.

Zur Erinnerung: 80000 der 140000 jüdischen Niederländer lebten im Frühjahr 1940, als die Deutschen das Land überfielen, in Amsterdam. Diese Zahl wuchs bis ins den Sommer 1942 stark an, da die meisten niederländischen Juden nach und nach gezwungen wurden, in die Hauptstadt zu ziehen. Weil in die Zeit vom Oktober 1943 bis zum Kriegsende nur noch ein Bruchteil der Deportationen und Morde fällt, ist jetzt der Augenblick, die Bilanz der Vernichtung aufzustellen.

Von den 140000 niederländischen Juden haben die deutschen Besatzer seit Mitte Juli 1942, also in gut 14 Monaten, rund 107000 aufgegriffen und deportiert. Knapp 5000 von ihnen überleben die Mordmaschinerie. Das bedeutet: Rund 102000 der niederländischen Juden wurden ermordet, vernichtet, ausgelöscht – Ehepaare, Kinder, Säuglinge, Eltern, Geschwister, Großeltern. 54,9 Prozent von ihnen starben in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, 33,4 Prozent in den Gaskammern von Sobibor. Die übrigen überlebten die Lager Bergen-Belsen und Mauthausen nicht oder starben in den ersten Monaten 1945 als Häftlinge auf den Todesmärschen aus den Vernichtungslagern Richtung Westen.

Im Vergleich zu den großen Razzien am helllichten Tag und den vielen Juden, die sich mit Gepäck »für den Arbeitsdienst« auf öffentlichen Plätzen hatten sammeln müssen, fielen den Amsterdamern die kleinen Deportationen im Herbst 1943 nicht mehr auf. Und die eigenen Sorgen wurden immer bedrängender. Als am 29. September abends die letzte Juden-Razzia stattfand, hatte die deutsche Polizei noch genug Reserven, alle Ausgänge im Concertgebouw zu sperren und sich auf die Jagd nach nichtjüdischen niederländischen Männern zu machen, die sich dem Arbeitsdienst in Deutschland entzogen. Der traditionsreiche Konzertsaal war zur Box-Arena umfunktioniert worden. Nach dem Kampf mussten beim Hinausgehen alle Männer ihre Ausweise vorzeigen. Ähnliche Kontrollen wurden in Kinos und Theatern durchgeführt, weil dort die »Beute« am größten war.

Am Abend ertrugen die Amsterdamer zunehmend die Luftangriffe der anglo-amerikanischen Bomber und den Lärm der deutschen Abwehrgeschütze. Am 3. Oktober stürzten wieder einige Flugzeuge brennend auf den Amsterdamer Flughafen Schiphol. Am 4. wurde, wie von den Besatzern befohlen, auf die ungeliebte Winterzeit umgeschaltet. Am 2. und 16. Oktober drohte SS-Führer Hanns Albin Rauter wieder einmal in Zeitungsanzeigen denen, die ihr Radio noch nicht abgeliefert hatten. Sie mussten mit dem Verlust der Wohnung bis hin zu Todesurteilen rechnen. Gerade einmal weitere 30000 Geräte gaben die Niederländer her. Mindestens 400000 blieben in den Haushalten versteckt.

Am Sonntag, dem 7. November, strömten die Amsterdamer ins Concertgebouw zu einer Vorstellung mit viel Gesang über »Ons glorijke Nederlandsche lied«. Die »glorreichen Lieder«, fester Bestandteil der stolzen freiheitlichen Geschichte der Niederländer, ließen unterdrückte patriotische Gefühle hochkommen. Anti-deutsche Parolen wurden im Publikum beklatscht, es entstand Unruhe. Die Polizei war bald informiert, die Sängerinnen wurden verhaftet, der Saal geräumt.

Was nicht in den Zeitungen stand: Am 19. November 1943 schließen die Deutschen endgültig die Joodse Schouwburg, seit August 1942 für die Besatzer »Umschlagplatz Plantage Middenlaan«. Nicht dass die Deutschen die Judenjagd aufgegeben hätten. Aber sie wussten, die wenigen Juden, die noch im Untergrund in Amsterdam lebten und die sie entdecken würden, hatten vor der Fahrt nach Westerbork in der Haftanstalt am Amstelveenweg Platz.

Anfang November meldeten die Nachrichten aus den »Feindsendern« im gut versteckten Radio, dass die Rote Armee immer weiter nach Westen vorstieß. Doch die Amsterdamer wussten: Die Armeen der Amerikaner und Engländer mussten an Europas westlichen Küsten an Land gehen, um diesen Kontinent aus der Gewalt der Deutschen zu befreien. Dass die Deutschen im Dezember 1943 ihre Verteidigungsanlagen um Amsterdam verstärkten und dafür Villen und Häuser abrissen und Bäume fällten, ließ die ohnmächtige Wut wieder hochkommen, einerseits. Aber zugleich war es ein hoffnungsvolles Signal: dass die Besatzer sich auf eine Invasion einstellten.

Am 13. Dezember wieder ein anglo-amerikanischer Luftangriff auf Schiphol: Alarm, Abwehrfeuer. Wieder stürzen einige Flugzeuge brennend ab. Eine Granate schlägt mitten im Zentrum in der Warmoesstraat ein, um die Ecke vom Krasnapolsky-Hotel, ein Toter, mehrere Verwundete.

Zu Hause bleiben, sich einigeln? Nein, am 6. Dezember stehen die Amsterdamer natürlich am Dam und begrüßen Sinterklaas, den heiligen Nikolaus im Bischofsornat und seinen Begleiter, den Zwarte Piet. Und die rund 350 Menschen, die im Leidseplein-Theater Platz haben und an vielen Dezember-Abenden den Saal füllen, geben ebenfalls eine eindeutige Antwort. »Alleen voor dames« heißt die Kabarett-Revue mit Sketchen und Musik, die Wim Sonneveld mit einer eigenen Kabarett-Gesellschaft auf die Bühne stellt. Der Sechsundzwanzigjährige, der bei dem berühmten Louis Davids seine ersten Auftritte hatte, entdeckte für diese Revue als Textschreiberin die Theaterstudentin Hella Haasse. (Nach dem Krieg wurde Hella Haasse die Grande Dame der niederländischen Literatur. Am 29. September 2011 ist sie, 93 Jahre alt, in Amsterdam gestorben.) Im Rückblick sagte sie über die Aufführungen im Dezember 1943 am Leidseplein-Theater, dass sie »durch die lockere, märchenhafte Stimmung einen angenehmen Kontrast zu den elenden äußeren Umständen boten«. In den Hauptrollen spielten Conny Stuart und Lia Dorana, beide als Sängerinnen, Schauspielerinnen und durch das Kabarett bekannt und beliebt.

Das Jahr 1943 endete so gegensätzlich, wie die Amsterdamer, Juden und Nichtjuden, in den vergangenen zwölf Monaten das Leben erfahren hatten. Am 15. Dezember hoben die Deutschen die »Sperre« für Walter Süskind, seine Frau und seine kleine Tochter auf. Die Familie, 1936 als deutsch-jüdische Emigranten in die Niederlande gekommen, musste Amsterdam in Richtung Lager Westerbork verlassen. Am 16. Dezember lief wieder eine Ausweis-Kontrolle der »Grünen« im Theater Royal, um niederländische Männer zu packen, die sich dem Arbeitsdienst entzogen. Am Ersten Weihnachtstag feierte im Bellevue-Hotel der Amsterdamer Frauen-Fahrradclub sein fünfundvierzigjähriges Jubiläum.

30. Dezember – In Westerbork notierte Philip Mechanicus, der getreue Chronist des Lagers, in seine Tagebuchhefte: »Transport von achtzig Mann aus Amsterdam, fast nur Untergetauchte.«