IX
Pellkartoffeln und Rohkost – Die Flüsterkarte – »Durchgangslager Schouwburg« – Raubzug Hausratstelle – Vom Wohnzimmer ins Lager – Rettung für 80 Kinder – Ohnmächtige Wut – Zufriedene Mörder
August bis Dezember 1942
Mit jedem Jahr Besatzung stieg die Anzahl der Eingriffe, die alltägliche Dinge rationierten, um die in kriegerischen Zeiten knapper werdenden Lebensmittel und Grundstoffe weiterhin möglichst gerecht zu verteilen. Das bedeutete für die Amsterdamer: Immer länger und differenzierter wurde die Liste der Güter, die nur noch auf Bezugsschein erhältlich waren.
Es wuchs die Wut auf diese Scheine, die »Bons«, für die man ständig mehr Lebenszeit einplanen musste. Jede Woche aufs Neue standen Frauen und Männer im Distributionsbüro der Stadt Amsterdam in der Schlange, zeigten ihre Stammkarte, um pro Kopf für ihre Familien die neuen Bons zu erhalten: für Kaffee und Milch, Brot und Fett, Käse, Fisch und Fleisch, Seife und Zahnpasta, Waschpulver und Haferflocken, Schuhe, Unterhosen, Mäntel, Blusen und noch so vieles mehr. Jeder Bon hatte eine aufgedruckte Nummer. Niemand sollte Gutscheine horten. Zuhause wurde die tägliche Zeitung studiert oder der wöchentliche Distributions-Führer, wo alle Nummern mit den jeweiligen Verfallsdaten penibel aufgeführt waren. Außerdem mussten bei vielen Bons unterschiedliche Mengenzuteilungen beachtet werden, ob für Kranke und Alte, Männer oder Frauen, Säuglinge oder Kinder.
Die Geschäftsleute saßen jeden Abend um den Tisch und klebten die erhaltenen Gutscheine in Vordrucke mit Rubriken, die sie zurück an die Verteilungsstelle schickten. Für diesen Wert erhielten sie neue Ware. Auch wenn es keiner zugeben wollte: Mit diesem komplizierten System, das sich nicht die Besatzer, sondern die Niederländer ausgedacht und in Ansätzen schon im Oktober 1939 eingeführt hatten – als erstmals der Zucker »op bon« kam –, wurde auch im dritten Besatzungssommer eine gerechte und ausreichende Verteilung der Güter erreicht. Und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Amsterdamer Verteilungsbüro, inzwischen von 30 auf knapp 500 aufgestockt, waren alle Niederländer.
Engpässe blieben nicht aus. Im Juli und August 1942 wurde manches Gemüse knapp. Da hieß es, statt Salat Kohl essen. Aber an Kartoffeln war kein Mangel. Bisher musste niemand in den Niederlanden hungern. Auch wenn subjektiv vielen Amsterdamern der Magen knurrte: Objektiv förderte zwischen 1939 und 1942 der Rückgang von 3000 auf 2700 Kalorien täglich – vor allem eine Folge der kleineren Rationen von Fett und Fleisch, die das System pro Person zuteilte – eine gesunde Lebensweise. Auch die Vitaminzufuhr stieg. In Ermangelung anderer Genüsse begannen die Niederländer erstmals Rohkostsalate zu essen.
Die Bezugsscheine regulierten die Verteilung und damit die Mengen, die jedem zustanden, mit den Preisen hatten sie nichts zu tun. Die Frauen mussten im Geschäft die Geldbörse zücken, um das zu bezahlen, was ihren Familienmitgliedern laut Bons zustand. Wer Freunde oder Verwandte zu einem Essen ins Gasthaus einlud, zahlte die Zeche, während die Eingeladenen wussten, dass sie die Bezugsscheine für das mitbringen mussten, was sie mit ihrer Mahlzeit verzehrten, Fleisch und Fisch, Fett und Brot. Kompliziert wurde es, wenn der Bezugsschein für hundert Gramm Fleisch ausgezeichnet war, aber das Schnitzel nur sechzig Gramm wog. Dann gab es für den Gast einen vierzig Gramm-Fleischbon zurück, der aber nur in Gaststätten gültig war. Kompliziert, aber sollte man deshalb auf das Restaurant-Vergnügen verzichten?
Im Sommer 1942 zählten die Restaurants und Cafés an der Amstel mehr Gäste denn je, obwohl die freie Wahl an Essen und Getränken immer stärker eingeschränkt wurde. Begonnen hatte es im Frühjahr, als die Besatzer begannen, den Köchen ins Handwerk zu pfuschen. Montag, Mittwoch und Freitag durften Kartoffeln nur in der Schale auf den Tisch kommen; die Niederländer lernten die »Pellkartoffel« kennen. Am Dienstag und Freitag, wenn fleischlose Kost serviert werden musste, fielen auch Huhn und Wild unter das Verbot. Montag und Donnerstag waren einfache Speisen vorgeschrieben: erstens ein bonfreies Menü, angekündigt auf der Speisekarte unter dem Titel »Was der Topf hergibt«. Genaueres durfte nicht mitgeteilt werden, nur dass bei diesem Gericht nicht mehr als fünfzig Gramm Fleisch und zehn Gramm Butter verwendet wurden. Zweitens war ein weiteres fleischloses Essen erlaubt, dazu vorweg eine Suppe und ein Pudding als Nachtisch. Beides schon lange kein Original mehr sondern aus »Ersatz«-Stoffen hergestellt, die ungeliebten Surrogate. Insgesamt sollten die Wirte kleinere Portionen austeilen.
Mit jedem Monat, den der Krieg im Osten Europas und in Nordafrika weiterging, wurden Güter, Grundstoffe, Nahrungsmittel und die dringend benötigte Energie knapper. Die Deutschen versuchten einen Spagat: aus den besetzten Niederlanden noch mehr Güter abzuziehen, aber die Einschnitte für die Bevölkerung sozial verträglich zu halten, um Unruhen zu vermeiden. Im Juli wurde vorgeschrieben, die warmen Mahlzeiten in den Lokalen nur von 12 Uhr 30 bis 14 Uhr 30 und von 18 bis 21 Uhr zu servieren. Auf dem Tisch durften keine Kerzen mehr brennen. Warmes Wasser gab es im Hotel für die Gäste werktags nur morgens von sieben bis um halb neun Uhr, sonntags eine Stunde später. In Hotels und Geschäften wurden Lifte und Rolltreppen nur noch aufwärts benutzt und erst ab dem vierten Stock. Alles Energie-Sparmaßnahmen.
Ab 13. August wurde frisches Obst als Nachtisch gestrichen, deutsches Militär ausgenommen. Ab Anfang Oktober 1942 brachte der Ober den Kaffee ohne Zucker, beides selbstverständlich »Ersatz«-Produkte. Die Amsterdamer nahmen es gelassen. Warum darüber sich aufregen, wenn man abends auf BBC oder Radio Oranje hörte, dass die Russen eine Gegenoffensive gestartet hatten, die deutschen Soldaten Moskau nicht einnehmen konnten und nun offenbar um Stalingrad in schwere Bedrängnis kamen.
Den Amsterdamer Männern aber verging im Sommer 1942 der Spaß: Während die Damen noch ein Likörchen bestellen konnten, auch Bier noch erhältlich war, wurde in Amsterdams Kneipen und Lokalen der Vorrat an Wacholderschnaps knapp; genauer gesagt der Jenever, der zu Holland gehört wie Deiche und Windmühlen. Die Wirte versuchten es mit Humor und Privilegien für die Stammkundschaft. »Junger Jenever für alte Kunden« schrieben sie an die Gaststubenwand. Andere schenkten pro Tag 25 Gästen ein Gläschen ein, dann war Schluss. Die Preise stiegen von 15 bis 20 Cent 1940 auf bis zu 3,50 Gulden pro Glas Ende 1942. Es war auch kein Trost, dass längst die kleinen Häppchen zum Schnaps fehlten, die gesalzenen Erdnüsse und gebrannten Mandeln, die traditionellen »bitterballen« und die »knipperdolletjes«, runde Salzplätzchen.
Die Besatzer hatten verboten, nach 19 Uhr harte Getränke auszuschenken. An den meisten Theken und Bars wurde vorsichtshalber nach dieser Uhrzeit gleich mit dem Jenever ein Glas Ranja ausgeschenkt, die beliebte Limonade. Kam wirklich einmal eine Kontrolle zur Tür herein, verschwanden die Schnapsgläser im Nu, und ein jeder saß vor einer einsamen Limonade. Zudem hatte die Polizei keineswegs ein scharfes Auge auf dieses Verbot. Für das Jahr 1942 zählte die offizielle Polizeistatistik sieben Übertretungen, was den Jenever betraf, für ganz Amsterdam.
Auch das sorgfältige Bezugsschein-System konnte nicht verhindern, dass in Amsterdam der Schwarzmarkt blühte. Es gab jede Menge Butter und Fleisch, Käse und Obst unter der Hand, wenn man Geld hatte. Das Pfund Butter, 1941 noch für 1,30 Gulden zu haben, kostete 1942 schon 7,50 Gulden. Wer genug bot, für den fand der Wirt noch eine Flasche Champagner im Keller und schenkte auch ein weiteres Gläschen Jenever ein.
In den Restaurants legte der Ober dezent unauffällig die »Spezial- oder Flüsterkarte« unter die Serviette. Wer ein dickes Portemonnaie hatte, war nicht auf fleischlose Speisen und Pellkartoffeln angewiesen. Im feinen Amsterdamer Restaurant »Excelsior-De Smore« verzichtete man auf heimliche Angebote. Dort stand an erster Stelle der Speisekarte in großen Lettern »WAS DER TOPF HERGIBT (10 gr. Butter) 2,50 Gulden«. Zwei Zeilen weiter folgte ganz offen »Frischer gekochter Salm« für 15 Gulden; für 3 Gulden wurden Erdbeeren mit Eis serviert.
Ob teurer Salm oder Rohkostsalat: In allen Lokalen und Cafés erinnerten Schilder an das, was Teil des Amsterdamer Alltags geworden war, auch wenn es neunzig Prozent der Amsterdamer nicht betraf: »Für Juden verboten«. Es war auch »nur« die kleine jüdische Minderheit von rund zehn Prozent der Bevölkerung, die seit Anfang Juli damit rechnen musste, zum »Arbeitsdienst in Deutschland« aufgerufen zu werden. Unter der Androhung von Razzien waren die meisten Aufgerufenen seit Mitte Juli zur Stelle und bestiegen am Hauptbahnhof die Züge nach Westerbork und anschließend weiter nach Osten. Doch den Menschenjägern war die Organisation zu kompliziert. Sie schalteten den Jüdischen Rat bei der Einberufung aus und machten das Deportations-Verfahren wesentlich kürzer.
Jetzt erstellte die Zentralstelle für jüdische Auswanderung (ZjA) anhand der Statistiken der Amsterdamer Verwaltung Listen und forderte die betroffenen Juden per Post auf, am Tag nach Erhalt des Schreibens direkt mit Sack und Pack reisefertig zu erscheinen. Deshalb brauchte man einen neuen Ort zum Registrieren, wo die Angeschriebenen bleiben und die Nacht vor der Abfahrt verbringen konnten.
Der Ausweis der Schauspielerin Henriette Davids als Mitarbeiterin des Jüdischen Rates in der Schouwburg wurde am 5. August 1942 ausgestellt. Wenige Tage zuvor war Ferdinand aus der Fünten im Jüdischen Theater, wo gerade für eine neue Revue geprobt wurde, erschienen: Ende der Vorstellung! Mit wenigen Worten machte der führende Mann der ZjA alle Hoffnungen zunichte, die Kunst könne ein schützender Hafen sein in Zeiten der Katastrophe. Ab sofort brauchten die Besatzer das Gebäude als »Durchgangslager« für die Juden nach Westerbork. Die Hollandsche Schouwburg hatte ausgedient als letzter Schonraum jüdischer Kultur in Amsterdam, als ein Ort, wo sich zu Musik und Theater, Operetten und jiddischen Liedern die jüdische Gemeinde versammelte. Alle jüdischen Künstler unterstellten sich sofort dem Jüdischen Rat und erhielten als Helfer im leer geräumten Theatersaal für die Juden »auf der Durchreise« die begehrte »Sperre«, die sie vom »Arbeitseinsatz« in Deutschland freistellte.
Wie vorgeschrieben, erschienen die aufgerufenen Juden ab 28. Juli vor dem hellen neoklassizistischen Bau in der Plantage Middenlaan. Dort wurden sie von Mitarbeitern der ZjA registriert und vom Jüdischen Rat betreut. Am folgenden Abend schon ging es zum Hauptbahnhof, von dort mit dem Zug nach Westerbork und weiter ins Ungewisse. Denn von denen, die bisher Westerbork verlassen hatten, gab es keinerlei Rückmeldungen, wo sie gelandet waren. Wirklich in Deutschland? Immerhin: Die Ungewissheit ließ noch Hoffnung zu.
Am Morgen des 3. August jedoch brach Panik aus in der jüdischen Gemeinschaft. Die Zeitungen schrieben, was ein Vertreter des deutschen Reichskommissars für die besetzten Niederlande in einer öffentlichen Rede über das Schicksal der deportierten Juden gesagt hatte. Sie müssten »Aufräumarbeit in leeren Städten des verwüsteten Ostens leisten«. Und er hatte drohend hinzugefügt »Ihr Schicksal wird hart sein.« Schlagartig brachen alle Hoffnungen ein. »Der verwüstete Osten« war nur noch abschreckend. Die Bereitschaft, sich diesem »harten Schicksal« freiwillig auszuliefern, schrumpfte auf ein Minimum. Die Wohnung wurde zum Schutzraum, den man nicht verlassen wollte.
Am Abend des 3. August erschienen nur rund 450 Amsterdamer Juden mit Rucksäcken und Koffern in der Joodse Schouwburg. Die Besatzer hatten für diesen Abend – und die weiteren – doppelt so viele in das ehemalige Theater befohlen. Zwei Tage später folgten mit dem nächsten Schub nicht viel mehr als ein Dutzend »reisewilliger« Juden dem Befehl der Besatzer, und so beschließen diese, mit brutaler Gewalt ihren Willen für alle sichtbar durchzusetzen.
6. August – Wohnungstüren sind keine Hindernisse, weder für die deutschen »Grünen«, noch für die »Schwarzen« vom Schalkhaarder Polizeibataillon. Morgens um elf Uhr fahren die Polizeiwagen am Daniel Willinkplein (heute Victorieplein) mit quietschenden Bremsen vor. Polizisten sperren im Laufschritt das geräumige Gebiet zwischen dem Platz am Wolkenkratzer und der Scheldestraat ab. Auf der Straße greifen sie jeden, der den gelben Stern trägt. Andere dringen laut rufend in die Häuser ein, das Gewehr über der Schulter: »Wohnen hier Juden?« Wer nicht blitzschnell öffnet, dem wird die Tür eingetreten. Dann heißt es »schnell, schnell, raus!«. Alle werden auf bereitstehende Lastwagen gestoßen und in die Joodse Schouwburg oder in den Innenhof der ZjA verfrachtet. Als um 23 Uhr die Razzia vorbei ist, sind etwa 2200 Juden aus Amsterdam Zuid in den Händen der deutschen Besatzer.
Doch was als Drohung und Einschüchterung gedacht war, zeigt keine Wirkung. Nach dem nächsten Aufruf erscheinen am Abend des 9. August gerade mal 68 Juden reisefertig in der Schouwburg. Wütend streifen deutsche Polizisten und niederländische Kollegen vom Polizeibataillon durch die Gegend zwischen Beethoven- und Rubensstraat und führen willkürlich 230 Juden ab. Am Ende des August 1942 bilanzieren die Besatzer 6265 Juden, die in die Züge nach Westerbork gezwungen wurden und von dort Richtung Osten weiterfuhren.
Wie es im Herbst 1942 im Durchgangslager Joodse Schouwburg zuging, darüber haben sich nur wenige Augenzeugenberichte von Juden erhalten. Denn für weit über neunzig Prozent der Menschen, die – ihrer Freiheit beraubt – im Jüdischen Theater eingeliefert wurden oder arbeiteten, begann hier die Reise in den Tod. Zu den wenigen, die überlebten, gehört Henriette Davids. Wie alle ehemaligen jüdischen Künstler der Schouwburg half sie jetzt als Mitarbeiterin des Jüdischen Rates, ihren Glaubensgenossen den traurigen Aufenthalt zu erleichtern. Im September 1942 gelang es ihr und ihrem Mann unterzutauchen.
In ihren Erinnerungen erzählt sie von Verzweifelten, deren Tränen sie nicht teilen durfte, denn das hatten die Deutschen dem jüdischen Personal streng verboten. Da waren junge Leute, die das Ganze wie ein Abenteuer aufnahmen. Henriette Davids hörte Jungen und Mädchen, die mit ihrer Familie telefonierten: »Wir haben es hier gut, macht Euch mal keine Sorgen! Wir kommen zurück!« Im Theatersaal saßen Familien, deren Kinder unbeschwert zwischen den Erwachsenen wuselten.
Eine Zeugin, die als junges Mädchen von einer Nachbarwohnung aus in den kleinen Hof hinter der Schouwburg blicken konnte, berichtet von der teilweise lockeren Atmosphäre der ersten Wochen. Die Eingeschlossenen sprachen über die Mauer hinweg mit Familienangehörigen: »Ich hatte ein altes Koffergrammofon auf der Fensterbank stehen und legte Platten auf, darüber freuten sie sich sehr.« Silvia Grohs, die Star-Sängerin im Ensemble der Joodse Schouwburg, die sich wie Henriette Davids im leergeräumten Theatersaal um die Ankommenden kümmert, erzählt vom Lebenswillen der Gejagten: »Auch Bonnie Sterkenberg war unter den Opfern, meine Friseuse, und ihr Mann Georg. Sie begrüßten mich mit einem breiten Lächeln.« Bonnie war schwanger: »Wir werden zurück sein, ehe unser Kind zur Welt kommt … Wo sie uns auch hinschicken, wir werden uns nützlich machen … Ergeben stiegen sie auf die Lastwagen. Ich habe sie nie wiedergesehen.«
Mirjam Levie, die Sekretärin und Dolmetscherin beim Jüdischen Rat, wurde nach der großen Razzia vom 6. August nachts in die Schouwburg gerufen. Sie tippte umgehend Gesuche zur Freilassung für hunderte von Juden, die verhaftet worden waren, obwohl sie den Polizisten Ausweise des Jüdischen Rats vorlegten, die sie vom Arbeitsdienst »freistellten«. Ferdinand aus der Fünten von der ZjA, der an diesem Abend wie meistens die »Beute« inspiziert, entscheidet über die Gesuche: »Er überprüfte Fall für Fall, aber völlig willkürlich … Es war allerdings ein gutes Gefühl, als wir am nächsten Tag hörten, dass fast alle Gesuche, die ich getippt hatte, bewilligt worden waren.« Noch gelang es auch, im Gedränge Juden wieder aus der Schouwburg hinauszuschmuggeln, zumal wenn die deutschen Bewacher dem reichlichen Alkoholangebot, das die jüdischen Mitarbeiter einsetzten, nicht widerstehen konnten.
Die allermeisten Opfer jedoch hatten kein Glück und wurden mit Lastwagen oder Straßenbahn von der Schouwburg in der Plantage Middenlaan zum Hauptbahnhof gebracht. Einer der Amsterdamer Polizisten, die an der Ecke zur Plantage Parklaan zu Pferd den Zugang zur Schouwburg absperrten, erinnerte sich später an schmerzliche Bilder: »Bei uns trafen Bekannte und Familienangehörige ein … Sie versuchten, durch die Absperrung zu gelangen, um mit den Eingesperrten in Kontakt zu kommen. Wenn dann eine Straßenbahn vorbeifuhr, vollgestopft mit Opfern, kam es oft vor, dass sie sahen, wie ihre Familie, wie nahe Angehörige abtransportiert wurden. Ich habe gesehen, wie Frauen sich vor Angst, Verzweiflung und Ohnmacht die Haare vom Kopf rissen, während deutsche Soldaten sich vor Vergnügen über diese unglücklichen Menschen lachend auf die Schenkel schlugen.«
Kaum rollten die Züge der niederländischen Eisenbahn die Deportierten regelmäßig in Richtung Westerbork, griffen in Amsterdam die Räder der Vernichtungsmaschinerie weiter ineinander. Die Schlüssel der verlassenen Wohnungen landeten bei den Mitarbeitern der »Hausratstelle«, eine Abteilung der Zentrale für jüdische Auswanderung. Auch dies einer der verharmlosenden Begriffe, hinter denen die Besatzer ihre brutalen Ziele verbargen. Einzige Aufgabe der Hausratstelle war es, umgehend die Wohnungen der Deportierten zu inspizieren und ein Inventar aller Gegenstände anzufertigen. Dann wurde der »Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg« (ERR) eingeschaltet, der in allen besetzten Ländern den Raubzug der Deutschen an wertvollen Kunstschätzen aus Museen und Privatsammlungen und an Alltagsmobiliar, die sogenannte »Möbelaktion«, organisierte. In Amsterdam hatte der Leiter vom ERR sein Hauptbüro in der Prinsengracht 796 und koordinierte den Einsatz der Stadtteilbüros.
Zu den Mitarbeitern der Stadtteilbüros zählten rund siebzig niederländische Arbeiter, die beim Sortieren und Verpacken der Wohnungseinrichtungen eingesetzt wurden. Auf dem Papier sollte der jüdische Hausrat von Amsterdam in die eroberten Ostgebiete transportiert werden und dort Büros und Wohnungen der deutschen Besetzer ausstatten. Tatsächlich wurde die Beute zum Teil an niederländische Händler verkauft, die damit ihre Auktionen bereicherten; anderes landete auf dem schwarzen Markt. Amsterdamer Mitbewohner hatten keine Hemmungen, sich am Eigentum ihrer ehemaligen Nachbarn zu vergreifen. Je länger die Aktionen dauerten, um so mehr ließen Mitarbeiter der Hausratstelle Gegenstände verschwinden, statt sie auf die Inventarliste zu setzen.
Aber es blieben noch Güter in Millionenwerten zum Verschiffen übrig. Mit dem Beginn der Deportation der Amsterdamer Juden wurden Zehntausende Tonnen Raubgut im Amsterdamer Hafen, Oosterlijke Handelskade, von der Bremer Transportfirma Kühne + Nagel im Auftrag des »Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg« umgeschlagen. Ziel war das Ruhrgebiet, mühelos zu Schiff erreichbar. Dort verteilten die Parteibonzen der NSDAP Möbel und Geschirr, Kleidung und Wäsche nach Belieben an Ausgebombte und zum eigenen Nutzen.
Ein verlässliches Glied im Ablauf der Raub-Organisation innerhalb Amsterdams war das Umzugsunternehmen von Abraham Puls, seit 1934 Mitglied der Nationalsozialistischen Bewegung (NSB) in den Niederlanden. Fuhren die großen Möbelwagen in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil jüdischer Bewohner vor, dann ahnten die Nachbarn: Es handelte sich nicht um einen gewöhnlichen Umzug. Hier wurde »gepulst«, wie es sehr bald hieß, und jeder wusste, worum es ging: »Wenn eine Familie weggeholt war, erschienen die Wagen der Firma Puls, um die Häuser leer zu machen … Mit Freunden ging ich schon mal in so ein Haus, bevor die Firma Puls da war. Wir schlugen alles kaputt, so dass es für die Deutschen nicht mehr zu gebrauchen war.« Jan Meijer, damals 17 Jahre alt, fügt seinen Erinnerungen hinzu: »Natürlich nahm ich auch mal eine Kleinigkeit mit, keine wertvollen, sondern kleine Dinge, die ein Kind gut findet.«
Mitte August, als immer weniger Juden dem Aufruf zum »Arbeitseinsatz« folgten und die Straßen-Razzien nicht viel brachten, wurden die verantwortlichen deutschen SS-Führer von Amsterdam zu ihren Chefs nach Den Haag zitiert: Eichmann in Berlin erwarte größere Anstrengungen. An der Jahresquote von 40 000 Deportierten werde nicht gerüttelt. Der neue Plan der Besatzer für die Amsterdamer Deportationen: Der Überraschungseffekt muss größer werden. Die Juden sollen ohne schriftliche Mitteilung direkt abends in ihren Wohnungen aufgegriffen und mitgenommen werden. Am Mittag des 2. September teilten die Besatzer dem Amsterdamer Polizeichef Tulp mit, dass unter deutschem Oberbefehl die Amsterdamer Ordnungspolizei noch am gleichen Abend erstmals an einer Juden-Aktion teilnehmen müsse. Tulp gab entsprechende Befehle an seine Mitarbeiter weiter und erwartete vollen Einsatz.
Die Polizisten moserten. Seit Januar 1942 wurden für Aktionen nach Dienstschluss keine Überstunden mehr bezahlt. Auch die Sache selbst ließ sie zögern. Sie kannten sich aus in den jüdischen Vierteln, weil sie dort Streife gingen. Sie wussten oder fühlten: Was mit den Juden während der Besatzung geschah, war nicht recht. Aber was konnte der einzelne dagegen tun – nichts. Die Polizisten beschlossen, am Abend bei der Razzia so feinfühlig wie möglich vorzugehen. Das war immer noch besser, als wenn deutsche Rüpel die niederländischen Juden aus ihren Wohnungen zerrten.
Am 2. September 1942 waren bei der groß angelegten Deportation Amsterdamer Juden im Einsatz: die »Grünen«, deutsche Polizisten vom Polizeibataillon 68, seit Juli 1941 in der niederländischen Hauptstadt stationiert, dazu die »Schwarzen«, junge Männer vom Schalkhaarder Polizeibataillon, in Amsterdam kaserniert und mit NS-Gedankengut infiziert, und drittens ganz normale Amsterdamer Streifenpolizisten. Denen waren die Namenslisten und Adressen der Juden, die sie abholen sollten, erst gegen 19 Uhr mitgeteilt worden, damit jüdische Freunde und Bekannte nicht mehr gewarnt werden konnten. Gegen 20 Uhr setzten sich die Mannschaften in Bewegung, fuhren oder marschierten zu den zentralen Sammelplätzen im alten Judenviertel und in Amsterdam Zuid: Daniel Willinkplein, Krugerplein, Jonas Daniel Meijerplein. Dann klingelten vor allem die normalen Amsterdamer Polizisten an den Wohnungen der betroffenen Juden, teilten ihnen mit, dass sie zum »Arbeitsdienst« in Deutschland eingeteilt seien und sofort mitkommen müssten.
Jeder hatte rund zehn Minuten Zeit, einen Koffer »für die Reise« zu packen. Dann wurde die Wohnung abgeschlossen und die Amsterdamer Polizisten übergaben die Juden an der jeweiligen Sammelstelle den Kollegen vom Polizeibataillon oder den »Grünen«, die sie mit Polizeiwagen zur Joodse Schouwburg oder zur Zentralstelle für jüdische Auswanderer fuhren. Um die zurückgebliebenen Haustiere kümmerte sich noch in der gleichen Nacht ein Amsterdamer Verein von Tierfreunden. Die Polizisten, die die Menschen aus den Häusern holten, nahmen auch die Wohnungsschlüssel an sich. Am nächsten Morgen übergaben sie die Schlüssel den Mitarbeitern der ZjA, deren Kollegen von der Hausraterfassung sich sofort an ihre Räuber-Arbeit machten.
Nach diesem Einsatz trafen sich am 6. September Amsterdamer Polizisten, die an den Aktionen teilgenommen hatten, mit ihren Kollegen zum sonntäglichen Polizeisport. Es gab nur ein Thema, und es wurde heftig diskutiert. Dass so viele Alte und Kranke abtransportiert wurden, die unmöglich zum »Arbeitsdienst« eingesetzt werden konnten, hatte die Polizisten stutzig gemacht. Zwei bisher noch nicht betroffene Inspektoren erklärten in dieser Runde, sie würden ähnliche Befehle verweigern.
An diesem Wochenende schrieb einer der beteiligten Polizisten unter Pseudonym einen Brief an den Amsterdamer Generalstaatsanwalt, der zugleich für die Polizei zuständig war: »Wie viele andere aus unserem Korps bedrücken mich in den letzten Tagen Lasten, die uns auferlegt werden, und die ich meiner Pflicht getreu nach Ehre und Gewissen erfüllen will. Es widerstrebt uns, was wir tun müssen, und wir verrichten es mit blutendem Herzen. Die Mitarbeit an den Deportationen von Juden, die in unserer Stadt wohnen, belastet uns ohnehin. Aber dass wir jetzt an einigen Abenden selbst alte, schwache und hinfällige Männer und Frauen aus ihren Häusern holen müssen, geht zu weit. Etliche von uns empfinden die Verrichtung dieser Arbeit als eine Beleidigung unseres niederländischen Korps. Mütter mit Kleinkindern müssen wir hinaus in die Nacht nehmen.« Der hohe Beamte wird gebeten, dem schnell ein Ende zu machen, denn alle müssten doch dem Recht dienen.
Was den Polizisten nicht bewusst war: Sie stützten mit ihrem Bemühen, die Menschen beim Abholen aus den Wohnungen freundlich zu behandeln und ihnen, wenn nötig, gut zuzureden, die Interessen der Besatzer, dass alles unaufgeregt und ohne Komplikationen vor sich ging. Die Strategie, dass die Amsterdamer Polizisten, die traditionell Vertrauen genossen und sich in den jüdischen Vierteln und der Mentalität ihrer Bewohner auskannten, allein schon durch ihr Erscheinen bei den Aufgegriffenen die ohnehin geringe Motivation zum Widerstand vollends schwinden ließ, ging auf. Während die einen resignierten, keimte bei anderen sogar ein Gefühl von Hoffung auf. Wenn sich die niederländischen Gesetzeshüter an solchen Aktionen beteiligten, konnte es doch nicht so schlimm werden.
Am 4., 5. und 8. September gingen die Deportationen direkt aus den Wohnungen weiter. Seit dem 2. September waren jedes Mal zwischen 380 und 450 Juden erfasst worden und füllten die Züge ins Lager Westerbork. Am 11. orderte Polizeichef Tulp, dem die Namen der zwei widerständigen Amsterdamer Polizisten gemeldet worden waren, an, die Männer bei den abendlichen Deportationen einzusetzen. Gegen halb vier Uhr nachmittags erfuhren sie davon und äußerten ihre Bedenken. Einer der beiden Polizisten war nach einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten bereit, alle Befehle auszuführen. Der Jurist Jan van den Oeven, in Telefonaten von seiner Frau kräftig unterstützt, blieb bei seiner Meinung und erklärte, aufgrund seiner religiösen Überzeugung diesen Auftrag nicht ausführen zu können. Er wurde umgehend seines Dienstes enthoben und am nächsten Tag entlassen. Die Deportationen gingen im Zwei-Tage-Takt weiter.
Am 15. September gegen Mitternacht klingelte es an der gemeinsamen Wohnung von Mirjam Levie, ihren Eltern, ihrer Schwester und ihrer Großmutter. Draußen Polizisten mit einer Liste, auf der alle Namen standen: »Wir sollten uns anziehen und mitgehen.« Der Einwand, dass die Familie durch die Mitarbeit von Mirjam Levie im Jüdischen Rat »gesperrt« sei, half nicht. Es gelingt Mirjam Levie die Polizisten zu überreden, vorläufig nur sie und ihren Vater zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung mitzunehmen. Im privilegierten Besitz eines Telefons, kann sie ihrem Chef noch telefonisch ihr Missgeschick durchgeben. Die Polizisten bringen sie zu einem Überfallwagen, der schon andere Deportierte aufgenommen hat:
»Und dann begann die Hölle. Der Zustand im Wagen war unbeschreiblich. Die Insassen waren vollkommen aufgelöst, lagen auf dem Boden und wimmerten oder schrien. Wir mussten noch andere abholen und hörten, wie Türen eingetreten wurden. Alte und Kranke im Schlafanzug und einer Jacke darüber wurden im wahrsten Sinne des Wortes aus den Häusern geschleift und wie Lumpen in den Wagen geworfen … Und das alles im Stockfinstern. Die Brücke zwischen Weesperstraat und J. D. Meijerplein war hochgezogen und musste heruntergelassen werden, wenn das Auto passieren wollte. Und immer wieder fuhren wir hin und her, bis der Wagen endlich voll war.«
Als Mirjam Levie gegen halb zwei Uhr mit ihrem Vater am Adama van Scheltemaplein im Innenhof der ZjA, wo deutsche Soldaten mit Gewehren postiert waren, aus dem Wagen stieg, rief ein Mitarbeiter vom Jüdischen Rat schon ihren Namen – »da wusste ich, dass alles in Ordnung war«. Vater und Tochter können zu den »Freigestellten« gehen, die den Schrecken der Deportation für diese Nacht entkommen sind: »Natürlich waren wir sehr froh, aber als wir sahen, dass sich die anderen, die mit uns im Auto gewesen waren, zum ›Transport‹ stellen mussten, war das schon schrecklich.« Weil bis um 6 Uhr Ausgangssperre war, marschierten die Levies mit allen »Freigestellten« in eine nahe gelegene Schule, um dort zu übernachten.
Oft verbrachten die »Freigestellten« die Nacht auch in einem Büro des Jüdischen Rates in der Jan van Eijckstraat 19. Direkt gegenüber wohnten seit ihrer Emigration aus Deutschland im April 1939 Adele und Wilhelm Halberstam. Um das Büro des Jüdischen Rates zu entlasten, boten die Halberstams an, Juden, die nachts in der ZjA wieder freigelassen wurden, bis zum Ende der Ausgangssperre aufzunehmen. »Was ja auch wirklich Menschenpflicht ist«, schreibt Adele Halberstam ihrer Tochter am 9. September nach Chile, und erzählt, dass in der Nacht zuvor 38 Personen bei ihnen einquartiert waren: »Wir legten alle vorhandenen Kissen, Decken und die Matratzen vom Liegestuhl bereit, brühten große Kannen Tee auf und kratzten zusammen, was ich noch an Tassen und Löffeln besitze.«
In der Nacht zum 11. September kommen 35 »Freigestellte« in die geräumige Wohnung, in der das Ehepaar mit seinem Sohn Albert lebt. Die Mutter schreibt ihrer Tochter am nächsten Abend: »Albert ist totmüde, aber in seinem Element. Für mich ist das einzig Unangenehme, dass morgens ein Riesenabwasch zu besorgen ist, und dass das WC aussieht wie auf einem Bahnhof.« Nachmittags geht die Familie in die Schule auf der anderen Straßenseite, wo in der Aula an den hohen jüdischen Feiertagen die Gottesdienste gefeiert werden. Nach dem jüdischen Kalender beginnt am 12. September 1942 ein neues Jahr: »Wie schön waren früher die Neujahrsvorabende! Heut war es gar nicht feiertagsfriedlich, denn die Aktion ging weiter, und wir mussten wieder auf Einquartierung rechnen. Jetzt sind wir wenigstens schon so vertraut damit, dass es ziemlich schnell geht.« Wenig später klingelt es, und 28 Personen werden bis zum Morgen aufgenommen, »darunter eine junge Frau mit einem 4jährigen Jungen im Pyjama«. Und so geht es weiter, den ganzen September.
In diesen Tagen lässt Adele Halberstam, der eine geordnete innere und äußere Haltung in schweren Zeiten als Lebensstütze Kraft gibt, in ihren Briefen einen Blick in ihr Herz zu: »Ich bin in einer verzweifelten Stimmung. Dazu trägt auch die Nachricht von Olga N. bei, dass sie am 31.8. fort musste … Das Wetter ist unbeschreiblich schön, aber der Sonnenschein passt gar nicht zu unserer Stimmung; das Fragezeichen vor jedem nächsten Tag ist zu groß.« Gegen Septemberende spricht sie sich und den Lieben im fernen Chile wieder Mut zu: »Auch diese Zeiten werden wir mit Gottes Hilfe überstehen und dann umso glücklicher sein. Ihr kennt ja meine Devise: ›Fest an Gott und bess’re Zukunft glauben.‹«
Ihre Sorgen, ihre Ängste und Verzweiflungen mussten die Juden in Amsterdam allein mit ihresgleichen teilen, denn längst war es ihnen verboten, die Wohnungen nichtjüdischer Freunde zu betreten, und sie durften umgekehrt keinen Besuch von Nichtjuden empfangen. Doch die rund neunzig Prozent Amsterdamer, die keine Juden waren, konnten so blind und so taub gar nicht sein, um zu übersehen oder nicht zu hören, was sich seit Mitte Juli in ihrer Stadt abspielte, die für alle Einheimischen, Juden wie Christen, das geliebte Mokum war. Die nichtjüdischen Erwachsenen wussten es, und die Kinder ebenso, denn die jüdischen Viertel waren kein Getto. Seit Jahrhunderten wohnten, arbeiteten und lebten in der Stadt an der Amstel Juden und Christen Tür an Tür.
An einem schönen Sommerabend wurde die Straße abgesperrt, in der Jan Meijer mit seiner nichtjüdischen Familie wohnte: »Jede Wohnung wurde durchsucht und alle, die noch nicht fort waren, wurden mitgenommen. Meine Eltern, mein kleiner Bruder und meine Schwester standen auf dem Balkon und sahen, wie unsere Nachbarn mitten auf der Straße eine immer länger werdende Reihe bildeten.« Mit Frau Feitsma, die über ihnen wohnte, hatten Jans Eltern abgesprochen, dass sie von ihren zwei Söhnen einen, nämlich Japie, bei den Meijers zurücklassen konnte, wenn die Polizisten zu ihr kämen. Herr Feitsma war schon abgeholt worden. An diesem Abend war Japie zufällig unten, um mit Jan und dessen Bruder in einem Bett zu schlafen. Als die Polizisten – ein Deutscher und ein Niederländer – bei den Meijers erschienen und die Papiere prüften, bemerkten sie Japie nicht. Dann gingen sie in den zweiten Stock zu Frau Feitsma.
»Vom Balkon aus sahen wir, wie Frau Feitsma und ihr anderer Sohn Philip aus der Haustür kamen und sich in die enorme Menschen-Reihe stellen … Niemand sagte etwas, über allem hing eine schreckliche Stille. Plötzlich sahen wir, dass Frau Feitsma zu einem deutschen Soldaten lief, es war, als ob sie ihn etwas fragte.« Gleich darauf klingelt es bei den Meijers. Frau Feitsma kommt die Treppe herauf und sagt: »Wenn wir im Lager meinen Mann treffen, dann wird er doch alle seine Söhne sehen wollen.« Das war die erste Geschichte dieses Abends, die sich dem siebzehnjährigen Jan ins Gedächtnis brannte. Eine zweite folgte: »Als unsere nächste Nachbarin, Frau Kleijnkramer, nach draußen kam, war sie völlig in Panik. Plötzlich durchbrach ihre Stimme die Stille. In hysterischer Verzweiflung schrie sie: ›Wir werden vergast, wir werden vergast.‹ Niemand reagierte, niemand sagte etwas.« Die lautlose wie die schrille Verzweiflung hing in den Straßen von Amsterdam, blieb haften, auch wenn die Menschen längst fortgebracht waren.
Mitte September konstatierte der polizeiliche Nachrichtendienst als Reaktion der Amsterdamer auf die Deportationen »vor allem Mitleid«, aber »zu Taten kommt es nicht«. Das war nicht die ganze Wahrheit. Zwar gab es keine zentralen öffentlichen Proteste und keine Widerstandsaktionen. Bis auf minimale Ausnahmen taten alle rund um die Wegführung der Juden Beteiligten ihren Dienst, Straßenbahn- und Zugfahrer, Polizisten, städtische Beamte. Aber an manchen Abenden kamen an den Plätzen, wo die Juden, die aus ihren Wohnungen geholt waren, sich sammeln mussten, spontan Jugendliche zusammen, Juden und Nichtjuden. Sie machten mit lauten Worten ihrem Abscheu Luft und ihrer Verachtung gegenüber den Polizisten, die öfters mit ihren Dienstpistolen in die Luft schossen, um die Aufgebrachten auf Abstand zu halten.
Aus der Sicht des Amsterdamer Polizeichefs Tulp waren die kleinen Scharmützel Anlass, dem obersten Verantwortlichen für die Amsterdamer Juden-Aktionen, Hanns Albin Rauter, am 26. September stolz über die erfolgreichen Deportationen im Allgemeinen und über die Männer vom kasernierten Amsterdamer Polizeibataillon im Besonderen zu berichten: »Sie werden es verstehen, Gruppenführer, dass das jede Woche regelmäßige Einfangen von durchschnittlich 450 Juden pro Abend das niederländische Publikum vor Mitleid und Empörung bersten macht. Trotzdem ist der Respekt vor den Männern des Bataillons so groß, dass z. B. in der Nähe des Krugerplein, wo abendaus abendein zahlreiche Leute das Einfangen von Juden beobachten, bloß die Anwesenheit von zwei Polizeiagenten des Bataillons genügt, um dem Äußern von auch nur einem Missklang vorzubeugen …« Dann folgt eine indirekte Bestätigung, dass die »normalen« Amsterdamer Polizisten nicht mit gleicher gewünschter Härte vorgingen. Tulp fährt fort, dass an solchen Sammelplätzen mehrere »normale« Polizisten »alle Hände voll zu tun gehabt hätten«, um die Unruhe unter Kontrolle zu halten.
Es blieben winzige Protest-Zeichen in einem Meer von Schweigen und Wegsehen, trotz allen Mitleidens. Die illegale Zeitung Het Parool wollte die große Mehrheit der nichtjüdischen Amsterdamer nicht kritisieren. Sie brachte nach den ersten Deportationen im Juli keine Artikel mehr über die schrecklichen Ereignisse in Amsterdam, rief nicht mehr zum Widerstand auf. Je länger die Verfolgungen der Juden anhielten, je intensiver sie wurden – nichts änderte sich an dem Gefühl »ohnmächtiger Wut« und der banalen Realität: Das Leben geht weiter.
So genossen die vielen Amsterdamer, die keinen gelben Stern tragen mussten und für die Parkanlagen, Cafés und Schwimmbäder kein verbotenes Terrain waren, die heißen Hochsommertage 1942. Sie lagen im Amstelbad, das Anne Frank sehr geliebt hatte, spazierten durch den Vondelpark, saßen auf der Terrasse vom Café De Kroon am Rembrandtplein und tranken den neuesten Hit: Joghurt, verquirlt mit Marmelade. Leider nicht von Dauer, denn sehr bald kam auch der Joghurt »op bon«. Und wahrscheinlich ließen sich die Gedanken an die verflixten Bezugsscheine nicht völlig verscheuchen. Die Ersatz-Seife enthielt kaum noch Fett, dafür um so mehr Chlor, eigentlich unbrauchbar. Das übliche Waschmittel war inzwischen so schlecht, dass es Textilien nicht sauber, sondern kaputt machte. Aber wem es gelang, beim Metzger nach und nach fünf Kilo Suppenknochen zu erstehen, und wer sie nach dem Auskochen wieder ablieferte, erhielt ein gutes Stück Seife oder ein ordentliches Waschmittel.
Der Absatz der Kinokarten stieg weiter, die Amsterdamer strömten mehr denn je in Konzerte und Sportveranstaltungen. Hatten die Bewohner der Hauptstadt 1939 in den öffentlichen Bibliotheken 155 000 Bücher ausgeliehen, waren es 1942 rund 230 000. Das nächtliche Ausgehverbot wurde weniger denn je übertreten, die Menschen wollten ihre Ruhe, keinen Ärger. Träumerische Ablenkung weit fort in den Süden bot der Lieblingsschlager dieses Sommers: »Oh sonniges Madeira, Land der Liebe und der Sonne, ich wollte, ich könnte zusammen mit Dir dorthin reisen.« Als Anfang September zum Nationalen Sängerfest rund 4000 Sänger und Sängerinnen mit 200 Musikanten auf dem Dam auftraten, waren die Amsterdamer begeistert.
Am 24. September 1942 schreibt Hanns Albin Rauter dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, oberster Chef aller Konzentrationslager, einen »Zwischenbericht über die Abschiebung der Juden« in den besetzten Niederlanden: »Bis jetzt haben wir mit den strafweise nach Mauthausen abgeschobenen Juden zusammen 20 000 Juden nach Auschwitz in Marsch gesetzt. In ganz Holland kommen ungefähr 120 000 Juden zur Abschiebung …« In Berlin notiert Himmler »sehr gut« unter das Schreiben.
Am 1. September hatte Adele Halberstam in ihren Briefen vom Besuch bei einer befreundeten Familie berichtet, deren zwei Kinder Marianne und Franz Lehmann, noch keine zwanzig Jahre alt, zu den ersten Transporten Mitte Juli aufgerufen wurden, »und die Eltern haben noch keine Zeile erhalten, wissen überhaupt nicht, wo die Kinder sind«. Am 19. Oktober bittet sie ihre Tochter in Chile, einer gemeinsamen Bekannten mitzuteilen, dass man von deren Bruder »nichts mehr gehört habe, seit er von Drente weitergeschickt worden ist … Sicher ist er wohl in ein deutsches Arbeitslager gekommen«. Mit Drente war das Lager Westerbork gemeint, das in der gleichnamigen Provinz lag. Als die Briefe geschrieben wurden, waren Franz und Marianne Lehmann und der besagte Bruder schon längst tot, ermordet im KZ Auschwitz-Birkenau.
Wie von einem schwarzen Loch verschluckt schienen die Menschen, die im Amsterdamer Hauptbahnhof in die Züge gezwungen und vom Lager Westerbork aus nach Osten transportiert wurden, Männer und Frauen, Kinder und Kranke, Jugendliche und Alte. Mitte August hatte der Jüdische Rat fünf Tage lang alle erreichbaren Landkarten unter die Lupe genommen, bis er schließlich den Ort »Birkenau« ausfindig machte. Von dort, aus »Oberschlesien«, waren 52 Karten angekommen, Absender: Amsterdamer Juden, die deportiert worden waren. Alle enthielten in unpersönlichen Kurzmeldungen die gleiche Botschaft: die Arbeit sei »hart, aber erträglich«, das Essen »angemessen«, die Unterbringung »gut«, die allgemeine Behandlung »korrekt«. Ein Hohn auf die menschenunwürdigen Umstände, unter denen Menschen in den Baracken von Auschwitz-Birkenau vegetieren und in Außenlagern Zwangsarbeit verrichten mussten – wenn sie nicht längst ins Gas getrieben waren.
Die Amsterdamer Auschwitz-Häftlinge hatten die 52 Karten auf Befehl geschrieben. Nach ihnen erreichte kein Wort mehr den Jüdischen Rat, der dennoch darauf bestand, diese Karten als positives Zeichen zu sehen: 52 zu einem Zeitpunkt, als schon über 4000 Amsterdamer Juden zum angeblichen »Arbeitsdienst« in Deutschland gezwungen waren. Aus den Briefen von Adele Halberstam spricht die Erbitterung der jüdischen Gemeinde, in ihrer Not von den eigenen Leuten allein gelassen zu werden.
Kritische Anfragen aus der Gemeinde forderten immer heftiger, dass der Jüdische Rat sich jeder Zusammenarbeit mit den Besatzern verweigerte, um nicht indirekt die Deportationen zu stützen. Bei einer Sitzung Mitte September lehnte der Jüdische Rat eine solche Verweigerungshaltung ab. Die Führer seien »verpflichtet, auf ihren Posten zu bleiben« und weiter »moralische und praktische Hilfe« zu leisten. Laut Protokoll verteidigte er auch die »Freistellungen« vom Transport, die er für seine Mitarbeiter ausschrieb. Es ginge darum, »wenigstens die wichtigsten Leute so lange als möglich hier zu halten«.
Am Ende des Protokolls wird fast wie nebenbei vermerkt, der Rat habe den ersten Bericht »von einem Todesfall in Auswitz« zur Kenntnis genommen. Ein Todesfall – dabei waren Mitte September 1942 mindestens 10 000 Juden aus Amsterdam elendig in jenem KZ ermordet worden, dessen Namen der Jüdische Rat zu Amsterdam nicht einmal korrekt zu schreiben wusste.
In seinem Brief vom 24. September hatte Hanns Albin Rauter dem Reichsführer SS für Anfang Oktober einen Überraschungscoup angekündigt. Alle männlichen Juden, die man seit Jahresanfang in niederländische Arbeitslager befohlen hatte, sollten gleichzeitig mit ihren Angehörigen »schlagartig am selben Tag« verhaftet werden. Und so geschah es.
Für die Juden hatte mit Sonnenuntergang der Schabbat begonnen, als sich am 2. Oktober 1942 gegen 22 Uhr 30 ein Großaufgebot von rund 1500 Polizisten in der ganzen Stadt auf den Weg machte, die Adressen von 4013 Personen in der Tasche. Aufgegriffen werden sollten die Amsterdamer Familienangehörigen, meist Frauen und Kinder, der jüdischen Männer, die zur gleichen Zeit in den Arbeitslagern verhaftet wurden. Die Juden wurden aus den Wohnungen geholt, in das zuständige Polizeirevier gebracht und auf einem großen Platz am Polderweg gesammelt. Von da ging es zum Bahnhof an der Muiderport, wo die Züge schon warteten.
Die Polizisten hatten strikte Anweisungen, bei Alten und Kranken keine Ausnahmen zu machen, keine Krankenwagen zu bestellen, sondern sie mit Polizeiwagen erst zum Revier und von dort direkt zum Bahnhof zu schaffen. Es regnete, als Frauen, schwer bepackt, mit ihren weinenden Kindern in langen Reihen durch tiefe Dunkelheit zum Polderweg marschierten, bewacht von deutschen Polizisten, den »Grünen«, und von den »Schwarzen«. Das Abwehrfeuer, um Flugzeuge der Alliierten abzuwehren, war besonders heftig an diesem Abend. Die Polizisten konnten gegen fünf Uhr morgens nach Hause oder in ihre Kaserne gehen. Bewohner im Ortsteil Watergraafsmeer sahen noch Stunden später Züge mit deportierten Juden vorbeifahren.
Am nächsten Abend, 3. Oktober 1942, sollten die Deportationen fortgesetzt werden. Nicht alle Familienmitglieder der Juden in den Arbeitslagern waren aufgegriffen worden. Mittags bekam Polizeichef Tulp, der auf Seiten der Amsterdamer Polizei die Aktionen leitete, einen so schweren Rheuma-Anfall, dass er seine Befugnisse einem Stellvertreter übertragen musste. Der Ausfall dieses Mannes, ein niederländischer Nationalsozialist, der die Judenpolitik der Besatzer mit Entschlossenheit und Autorität exekutierte, hatte Folgen. Nach dem Einsatz beschwerte sich Hans Kärgel, Kommandant der deutschen Polizisten, der mit seinen Männern vom Bataillon 68 wie am Abend zuvor beteiligt war, über den verdeckten Widerstand der Amsterdamer Polizisten, die am Abend in die Wohnungen der betroffenen Juden gegangen waren.
SS-Hauptsturmführer Hans Kärgel, seit 1932 Mitglied der NSDAP, befehligte vor seinem Antritt in Amsterdam im September 1942 das Polizeibataillon 61, das in Osteuropa an Massenverbrechen gegenüber Juden und der Bewachung des Warschauer Gettos beteiligt war. Kärgel schrieb in seinem Erfahrungsbericht, dass die Amsterdamer Polizisten jede Gelegenheit nutzten, um die Aktion zu sabotieren. Sie nahmen sich in den Wohnungen unendlich Zeit, um die Papiere der Juden zu prüfen und erlaubten ihnen, jede Menge Gepäckstücke mitzunehmen. Auch verhafteten die Polizisten zu wenig Juden und ließen die »nötige Energie und Schärfe« vermissen. Es fehle ihnen an »innerer Überzeugung«.
Diese Beobachtungen entsprachen der Realität. Auch wenn man keinem Polizisten eine Dienstverweigerung nachweisen konnte, wurde die Aktion an diesem Samstagabend um 22 Uhr 15 eingestellt, genauer gesagt: wegen Misserfolgs abgebrochen. Nur Juden, die das Pech hatten, schon auf einem Polizeirevier gelandet zu sein, wurden noch zum Polderweg gebracht. Dann war Feierabend für die regulären Amsterdamer Polizisten, und für den Rest des Jahres wurden sie von den Besatzern zu keiner weiteren abendlichen Aktion angefordert. Sybren Tulp erholte sich von seiner Rheuma-Erkrankung nicht mehr und starb am 20. Oktober 1942. SS-Hauptsturmführer Rauter befahl eine pompöse Beerdigung mit SS-Ritualen für das Mitglied der Niederländischen SS. Heinrich Himmler kondolierte der Witwe und schickte einen Kranz.
Nach dem 3. Oktober schöpften die, die schon ihre Koffer für den Transport bereitgestellt hatten, ein klein wenig Hoffnung. Keine Polizeiwagen am Abend, keine Straßensperren, kein Klingeln, keine Stiefelschritte im Treppenhaus. Was die Amsterdamer, die Juden zumal, nicht ahnen konnten: Die Besatzer lehnten sich nur vorübergehend beruhigt zurück, befreit vom Quotendruck. In den letzten Tagen habe man »13 000 Juden in Holland zusammengefangen«, schrieb Hanns Albin Rauter am 7. Oktober 1942 an Heinrich Himmler. Er sei mit der Entwicklung »recht zufrieden«.
Auch SS-Führer Ferdinand aus der Fünten, verantwortlich für die Aktionen in Amsterdam, war zufrieden. Er konnte nach den bisherigen Transporten davon ausgehen, dass die von Eichmann geforderte Deportations-Quote von 40 000 niederländischen Juden bis zum Jahresende problemlos erreicht würde. Seit September nutzte er die Joodse Schouwburg deshalb nicht mehr als Durchgangslager mit kurzem Aufenthalt, sondern als Menschen-Reservoir. Nicht nach vorgegebenem Schema, sondern je nach Bedarf ließ er am Amsterdamer Hauptbahnhof die Züge zum Lager Westerbork, das die Deportierten kaum noch fassen konnte, füllen. Das hatte Folgen für die Amsterdamer Juden, die allnächtlich aufgegriffen und in das ehemalige Theater in der Plantage Middenlaan gebracht wurden.
Für Wochen blieben die Verhafteten im Herbst 1942 in der Schouwburg eingepfercht, bevor sie zum Hauptbahnhof aufbrechen mussten. Einen Besucher erinnerte die Situation »an Neapel, als dort die Pest herrschte«; der Gestank war unerträglich. Die meisten Menschen saßen wie erstarrt im großen Saal, auf den Treppen, den Balkonen, den Logen, um sich ihre wenigen Habseligkeiten. Manche drehten wie aufgezogen ihre Runden durch das Gebäude. Wer Glück hatte, schlief nachts auf einer abgenutzten Matratze. Todesangst hing in der Luft und der Schweiß der Verzweiflung. Dazwischen verteilten die Mitarbeiter vom Jüdischen Rat Essen und die kärglichen Medikamente. Immer wieder wurden die beiden jüdischen Ärzte zu Menschen gerufen, die versucht hatten, sich mitten in diesem Chaos das Leben zu nehmen.
Die Situation spitzte sich so zu, dass die Besatzer im Oktober dem Drängen von Walter Süskind, Mitglied im Jüdischen Rat, der den gesamten Ablauf in der Schouwburg managte, nachgaben. Direkt gegenüber vom Theater befand sich eine etablierte jüdische Kinderkrippe. Sie durfte nun als Krippe für die Kinder eingerichtet werden, die mit ihren gefangenen Eltern in die Schouwburg kamen. Jetzt konnten wenigstens die Jüngsten die Zeit bis zu ihrem Transport unter der freundlichen Betreuung von jüdischen Kindergärtnerinnen in menschenwürdigeren Umständen verbringen als ihre Eltern.
Die Kinder. Im Juli 1942, als die Deportationen an der Amstel begannen, hatten sich spontan Studenten und Studentinnen der Universität Amsterdam, vor allem Naturwissenschaftler, zusammengetan, um wenigstens die jüdischen Kinder zu retten. Sie gewannen den einunddreißigjährigen Kinderarzt Ph. H. Fiedeldij Dop, der nahe dem Vondelpark am bürgerlichen Koninginneweg eine Praxis mit vielen jüdischen Patienten hatte. Der nichtjüdische Mediziner suchte die Eltern auf, um sie dafür zu gewinnen, ihre Kinder fremden Menschen anzuvertrauen. Sie würden für deren Sicherheit sorgen – bis die Eltern sie in besseren Zeiten wieder abholen könnten.
Durch persönliche Kontakte wurde ein Netzwerk zwischen den Amsterdamer Studenten und Studenten in Utrecht aufgebaut, das nichtjüdische Pflege-Eltern und materielle Unterstützung für die Amsterdamer Kinder organisierte – Kleidung, Geld und die lebenswichtigen Bezugsscheine. Am Tugelaweg im Amsterdamer Transvaalviertel richtete eine Familie ihre Wohnung als Zwischenstation ein. Dorthin brachten die Amsterdamer die Kinder, von denen sich ihre jüdischen Eltern getrennt hatten. Vom nahen Amstelbahnhof kamen die »Kuriere«, meist junge Studentinnen, um unverfänglich mit einem oder mehreren Kindern wieder nach Utrecht zurückzufahren.
Je jünger die Kinder waren, desto besser waren sie zu vermitteln. Bis zum Jahresende 1942 wurden rund achtzig jüdische Kinder durch die beiden Studentengruppen in Sicherheit gebracht. Unterstützt wurden die Studenten in ihrer Widerstandsarbeit durch Verwandte und Freunde, und der Erzbischof von Utrecht half mit regelmäßigen Geldzuschüssen. Hatten die jüdischen Eltern sich einmal zur Trennung entschlossen, waren sie erleichtert, ihre Kinder gut versorgt zu wissen und sagten beim Abschied meist optimistisch: »Wir kommen schon zurecht.«
Im November 1942 geht das Leben des sozialdemokratischen Politikers Monne de Miranda gewaltsam zu Ende. Im Juli war er in seiner Wohnung von den Deutschen verhaftet worden und seitdem im Gefängnis. Er durfte seiner Frau nicht schreiben, sie durfte ihren Mann nicht besuchen. De Miranda bekam keinen Rechtsbeistand, keinen Grund für seine Verhaftung genannt. Er vermutete politische Gründe, denn er war als Beigeordneter in den dreißiger Jahren im Gemeinderat stets als entschiedener Gegner von Hitler-Deutschland aufgetreten. Dass Monne de Miranda in einer »Mischehe« lebte, bewahrte ihn nicht davor, am 23. Oktober von Amsterdam ins Lager Amersfoort gebracht zu werden.
Erstmals nach einem Vierteljahr bekam seine Frau einen Brief von ihm, noch aus der Amsterdamer Haftanstalt. Ihr Mann teilte ihr mit, dass er »auf Transport« gehen müsse – »dabei hatte ich mich so sehr auf unser Wiedersehen gefreut – und auf das höchste Gut: die Freiheit … Die ups und downs in den berechtigten Erwartungen sind am schwersten zu ertragen.« Er denke viel an seine Kinder, die jüngsten waren fünfzehn und vierzehn Jahre alt. De Miranda schloss seinen Brief: »Wie es weitergeht, weiß ich nicht! Solange es Tag war, habe ich gearbeitet; jetzt, wo der Abend fällt, bin ich, was das Schicksal auch bringen möge, vorbereitet. Mein Vertrauen in die große Sache ist unerschütterlich.«
Das »Polizeiliche Durchgangslager Amersfort« war im August 1941 von den Besatzern nahe der Stadt Amersfoort errichtet worden. Eingeliefert wurden vor allem politische und jüdische Häftlinge, weil die normalen niederländischen Gefängnisse die rund 6000 von den Besatzern verhafteten »Unerwünschten« nicht mehr fassen konnten. Die Bewachung im Lager bestand um diese Zeit vorwiegend aus deutschen SS-Männern. Die jüdischen Gefangenen mussten ein gelbes Kennzeichen tragen.
Der Siebenundsechzigjährige, nach fast vier Monaten Haft in keiner guten physischen Verfassung, musste lernen, mit holländischen Holzschuhen zu marschieren und den ungeduldigen Befehlen in deutscher Sprache zu folgen. Das gelang Monne de Miranda schon bei der »Empfangszeremonie« auf dem Lagerhof nicht so, wie es die Bewacher wünschten. Sie beschimpften ihn und schlugen ihn vor aller Augen mit Knüppeln zusammen. Dann ging es zum Lagerfriseur, der allen die Köpfe kahl schor.
Monne de Miranda wurde dem »Judenkommando« zugeteilt, musste aus dem Lager marschieren und an einem Platz, wo ein Gefängnis entstehen sollte, Schubkarren voll schwerer Steine durch den zähen Sand karren. Dabei wurde ununterbrochen auf die jüdischen Gefangenen eingeschlagen, besonders aber auf den alten Sozialdemokraten aus Amsterdam. Schon am zweiten Tag war de Miranda so zerschlagen, dass er im Notfall-Saal von Sanitätern versorgt werden musste. Nach wenigen Tagen beorderte der Lagerarzt ihn zurück zum Steineschleppen.
Doch de Mirandas Körper verweigert sich und bricht am 2. November unter erneuten Schlägen zusammen. Am Abend wird ein jüdischer Mitgefangener gezwungen, den ohnmächtigen, blutenden, mit Lehm beschmierten alten Mann in einer Schubkarre zum Appellplatz zu bringen und auf den regennassen Boden zu kippen. Salomon Rodrigues de Miranda, den alle nur »Monne« nannten, starb in der Nacht vom 2. auf den 3. November 1942 im Lager Amersfoort. »Todesursache Herzschwäche« schrieb der Lagerarzt in die Akten.
Die »große Sache«, für die der gelernte Diamantschleifer und überzeugte Sozialdemokrat aus dem alten Judenviertel in Amsterdam fast fünf Jahrzehnte alle seine Kräfte einsetzte und am Ende mit dem Leben bezahlte, war die Vision einer gerechten, einer humanen Welt. Wer heute durch das weitläufige moderne Stadhuis am Waterlooplein geht, kommt auch an einem »De Miranda-Saal« vorbei, wo die Gemeinderäte tagen.
Das Auf und Ab der Gemütslagen zu ertragen, war für alle, die unter den Besatzern leben mussten, eine schwierige Übung. Aber so blieb auch in depressiven Stunden und Tagen ein Quentchen Hoffnung: die Erfahrung, dass es jeder Zeit unerwartet Anlass zur Freude geben konnte. Am 5. November meldete der Nachrichtendienst der Amsterdamer Polizei eine auffallend fröhliche Stimmung. In den Straßenbahnen haben an diesem Tag wildfremde Menschen miteinander gelacht und gescherzt, ohne den Anlass beim Wort nennen zu müssen. Als einer der Mitfahrer in die Menge wirft, die Stimmung sei ja außergewöhnlich fröhlich, ruft ein anderer zurück: »Kein Wunder mein Herr, da gibt es gute Gründe.« Alle wussten, was er meinte: In Nordafrika hatten die englischen Truppen bei Al Alamein die Deutschen unter General Erwin Rommel besiegt. Damit wuchs die Hoffnung, dass endlich die Invasion der Alliierten an einer westlichen Küste Europas beginnen würde, um den Kontinent aus dem Würgegriff von Hitler-Deutschland zu befreien.
Die November-Entwicklungen an der Front – in Nordafrika, aber auch im Osten, wo die Deutschen erfolglos um Stalingrad kämpften – waren auch gute Nachrichten für die Juden. Zur gleichen Zeit aber wiederholte sich der Alptraum, auf dessen Ende sie gehofft hatten. »Den gesamten Oktober über war es ruhig geblieben, aber Anfang November hatte die Misere aufs Neue begonnen«, schreibt Mirjam Levie. »Im November waren die Juden an der Reihe, die bei der Wehrmacht arbeiteten. Viele wurden von ihrem Arbeitsplatz geholt, die Familien aus den Häusern geschleppt und alle zusammen abtransportiert.«
So geschah es tagsüber am 11. November in Kattenburg, dem Ortsteil am östlichen Hafenrand, wo sich 1911 die »Konfektionsfabrik Hollandia« angesiedelt hatte. Die Fabrik stellte wasserdichte Regenmäntel her, war die größte und modernste in Europa und einem deutschen Verwalter unterstellt. Der hatte für seine »Rüstungsjuden« und ihre Familienmitglieder bisher eine Freistellung von den Transporten bekommen, da Hollandia große Mengen Regenmäntel für die deutsche Wehrmacht produzierte. Unter dem Vorwand, es gelte Sabotage zu bekämpfen, drang die deutsche Polizei überfallartig in die Fabrik und in die Wohnungen der Arbeiter ein und führten über 820 Männer, Frauen und Kinder ab. Für sie wurde das Vernichtungslager Auschwitz zum »Endziel«, nur acht von ihnen überlebten.
Im November gingen die ganz normalen Wohnungs-Razzien weiter. Weigerung zwecklos. Wohin sollte man fliehen? Die »Schwarzen« vom Schalkhaarder Bataillon wurden im November an drei Wochen jeweils fünf Tage eingesetzt. Die unzuverlässigen Amsterdamer Streifenpolizisten ließ Ferdinand aus der Fünten, der die Aktionen festlegte, in Ruhe. Nur als in Amsterdam die letzten jüdischen Geschäfte mit Lebensmitteln schließen mussten und versiegelt wurden, vertraute der SS-Mann diese Aufgabe den traditionellen Amsterdamer Polizisten an. Am 1. Dezember verhaftete die deutsche Polizei fünf Niederländer vom »schwarzen« Polizeibataillon: Diebstahl aus jüdischen Wohnungen, Korruption und Alkoholismus hieß die Anklage. Sie waren nicht die letzten, die aufgrund ähnlicher Vorwürfe entlassen oder versetzt wurden.
Natürlich standen solche Dinge nicht in den gleichgeschalteten Zeitungen. Die warnten vor den Gefahren der Verdunkelung, die die Deutschen sofort nach ihrem Sieg im Mai 1940 angeordnet hatten: In der ersten Novemberwoche waren nachts wieder Menschen in den Grachten ertrunken, diesmal sieben an der Zahl. Am 14. berichteten die Zeitungen vom »Tag der Niederländischen Polizei«, der mit einem Marsch durch die Stadt, vorbei am Bürgermeister, begann und mit einem festlichen Konzert im Concertgebouw endete. Am 3. Dezember gab es eine Sensation zu melden: Die Stadt Amsterdam stellte erstmals Frauen als Straßenbahnfahrerinnen ein, 300 insgesamt. Dahinter stand die Befürchtung, dass die niederländischen Fahrer demnächst gezwungen würden, in Deutschland zu arbeiten.
Am 5. Dezember 1942 war die Zeit stehen geblieben: Festlich zog Sinterklaas, der heilige Nikolaus, wie seit Generationen mit Zwarte Piet, in Deutschland Knecht Ruprecht, in Amsterdam ein, in den Straßen von Kindern und Erwachsenen jubelnd begrüßt. Kein Kind in Amsterdam blieb ohne Geschenk, zumal in diesem Jahr das jüdische Chanukkafest und Sinterklaas fast zusammenfielen. Zu Chanukka bekam Anne Frank »ein paar hübsche Sächelchen«. Doch der »Nikolausabend am Samstag war viel schöner«. Das schrieb Anne Frank im Hinterhaus an der Prinsengracht, wo fünf Erwachsene und drei Jugendliche untergetaucht waren, am 7. Dezember 1942 in ihr Tagebuch. Otto Frank, der Vater, hatte die Geschenke im unteren Teil des Hauses in einem Schrank versteckt. Dieser Raum hatte keine Fenster, und am Samstagabend war keiner der Mitarbeiter in den Büros: »In der Ecke stand ein großer Korb, mit Nikolauspapier geschmückt, und ganz oben war eine Maske vom Zwarte Piet befestigt. Schnell nahmen wir den Korb mit nach oben.«
Am 17. Dezember brachten die BBC und Radio Oranje in ihren Nachrichten eine Erklärung der Anti-Hitler-Koalition. Polen sei zum »Hauptschlachthaus« der Deutschen geworden; Schwächere fielen dem Massenmord zum Opfer, andere würden durch Arbeit zu Tode geschunden. Professor David Cohen, Vorsitzender des Jüdischen Rats, versuchte in Gesprächen, die Amsterdamer Juden zu beruhigen. Aus der Tatsache, dass Gräueltaten gegenüber polnischen Juden begangen würden, sei nicht zu schließen, dass den holländischen Ähnliches passieren würde. Solche Erklärungen seien Propaganda mit dem einzigen Ziel, die Welt gegen Deutschland aufzubringen.
18. Dezember – Ein Zug der Deutschen Reichsbahn verließ mit dem letzten Westerbork-Transport niederländischer Juden für das Jahr 1942 den Bahnhof von Hoogdahl, der seit November durch eine Schmalspurbahn mit dem Lager verbunden war. In diesem Transport, wie alle vorherigen für das Vernichtungslager Auschwitz bestimmt, befand sich nach deutscher Zählung der 40 000. »Volljude«, seit Mitte Juli in Amsterdam die Deportationen begonnen hatten. Was die Niederlande betraf, verlief die Ermordung der europäischen Juden nach Plan. In Berlin war Adolf Eichmann zufrieden. Für seine SS-Gehilfen in Westerbork ein Grund zum Feiern. Sie organisierten Ende Dezember einen festlichen Abend im Lager. In Amsterdam wurde die leere Joodse Schouwburg gründlich geputzt, bereit für neue »Lieferungen«. Die deutschen Polizisten, die dort ihren Wachdienst taten, durften über die Feiertage nach Hause fahren.
Alltag in Amsterdam. Am 13. Dezember hatten die niederländischen Nationalsozialisten den 11. Jahrestag ihrer Parteigründung, der NSB, im flaggengeschmückten Concertgebouw gefeiert. Reichskommissar Seyß-Inquart hielt eine Rede, und Anton Mussert, »Führer« der NSB, wurde zum »Führer des niederländischen Volkes« ausgerufen. Am 19. Dezember lud die niederländische »Winterhilfe«, eine NS-Organisation, rund tausend Amsterdamer Kinder zu einer Weihnachtsfeier ins feine Amsterdamer Hotel Bellevue. Im Ufa-Kino am Rembrandtplein lief der Film »Die Goldene Stadt« an, der zweite deutsche Farbfilm in Agfacolor. Er spielt in Prag, auch eine von den Deutschen besetzte Stadt. Die Amsterdamer strömten in die »Goldene Stadt«.
Am 20. Dezember traf sich der große Männerchor »Kunst na Arbeid« (Kunst nach der Arbeit) aus Anlass des sechzigjährigen Jubiläums zu einem festlichen Konzert im Concertgebouw. Nach einem Spiel von Ajax Amsterdam, dem berühmten Fußballclub, kam es am 27. Dezember auf dem Hauptbahnhof zu schweren Tumulten. Die Polizei musste den Säbel ziehen, mit dem sie traditionell bei Unruhen ausgerüstet war.
In der Weihnachtsnummer 1942 spricht die Redaktion der illegalen Zeitung Het Parool, die trotz mancher Festnahmen unter Mitarbeitern und Zeitungsverteilern erfolgreich im Untergrund arbeitet, ihren Lesern Mut zu. Sie sollen Vertrauen in die Alliierten haben, auch wenn das Jahr ohne die ersehnte Invasion vergangen war. Der »Endkampf« sei in Sicht, Deutschland von den Engländern aus Afrika verjagt, und Russland verteidige sich bewundernswert: »Wohin ihr auch schaut, ihr müsst erkennen: Deutschlands Überlegenheit ist Vergangenheit.«