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Die NSB macht Randale – Deutsche Polizei mischt mit – Ausbruch am »Nelkentag« – Hochkonjunktur – Illegale Flugblätter – Ariererklärung – Die Jüdische Revue spielt weiter
Juni bis Dezember 1940
Am 5. Juni 1940 schreibt der Amsterdamer Geschichtslehrer Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch: »Wir erwachen ein bisschen aus einem bösen Traum: noch keine Juden-Verfolgungen; keine Razzien; keine Säuberungen an den Universitäten.« Die Erleichterung, das Aufatmen konnte weitergehen, parallel zum Alltag, der so viel mehr dem gewohnten Leben vor der Besatzung entsprach als allen Befürchtungen. Nach Kinos und Theatern hatten auch die Museen wieder geöffnet. Dass nun Kaffee, Tee und Brot nur gegen Bezugsscheine verkauft wurden, war lästig, aber daran war man schließlich schon aus Friedenszeiten gewöhnt. Die Klubzeitung der Amsterdamer Schwimmvereinigung von 1870 sprach der Mehrheit aus dem Herzen: »Das Leben muss seinen Fortgang finden, und daran müssen wir alle mitarbeiten. Der Schwimmsport muss deshalb kräftig fortgeführt werden. Dadurch wird es möglich, die Schwierigkeiten im täglichen Leben besser zu meistern.« Ein wichtiger Gradmesser im christlich geprägten Holland, wo die Zeitungen in den dreißiger Jahren über den Kirchenkampf in Hitler-Deutschland informiert hatten, war das Gemeinde-Leben: Es ging ungestört weiter, ohne jeden Eingriff der Besatzer.
Nichts anderes versprachen und demonstrierten der Bürgermeister und die städtische Verwaltung den Amsterdamern: Trotz Kapitulation, trotz Besatzung – alles geht weiter wie bisher. Nur eine kleine, lautstarke Minderheit hielt dagegen, die Nationalsozialistische Bewegung der niederländischen Faschisten. Alles wird anders, lautete ihre Parole; schließlich waren ihre deutschen Gesinnungsgenossen die Sieger. Aber die Sieger dachten nicht daran, der NSB und anderen rechtsradikalen Gruppen Posten und Machtpositionen in der holländischen Politik und Gesellschaft zu übertragen. Und so machten die Radikalen aus eigenem Antrieb in der Hauptstadt auf sich aufmerksam, aggressiv und gewalttätig. Demokratie, Diskussionen, Kompromisse – das war gestern. Heute regiert die Straße.
Zwischen dem 6. und 24. Juni vergeht kaum ein Tag, am dem die Amsterdamer Polizei nicht gefordert war, weil die Wehrabteilungen (WA) der NSB oder faschistische Splittergruppen Randale machten. Im Café De Kroon am Rembrandtplein wird das Interieur kurz und klein geschlagen. Im Kaufhaus Bijenkorf am Dam werden acht große Schaufenster eingeworfen. Kellner, in der NSB organisiert, behindern den Verkehr in der Innenstadt mit einer Fahrraddemonstration, und fordern auf Plakaten: »Keine jüdischen Geschäftsführer im Gastgewerbe«. Im Café de Paris in der Beethovenstraat in Amsterdam Zuid stürmen rund zwanzig Männer die voll besetzte Terrasse, Scheiben und Spiegel werden eingeschlagen. Am Rembrandtplein sammeln sich schwarz Uniformierte und ziehen in die Kalver- und Amstelstraat, wo sie Zettel mit antijüdischen Parolen an die Geschäfte kleben. Auf dem IJsclubgelände hinter dem Rijksmuseum treten in schwarzer Uniform dreihundert Mann der WA an und fordern, den Platz zum Exerzieren nutzen zu können.
Die Amsterdamer Polizei ist verunsichert. Wer gestern zu den Feinden der Demokratie zählte, steht heute mit seinem Gedankengut auf Seiten der Besatzer. Täglich müssen sich die einzelnen Polizisten und ihre Vorgesetzten fragen, wie weit ihre Spielräume sind, Recht und Ordnung in Amsterdam wie gewohnt durchzusetzen. Mal halten sich die Ordnungshüter im Hintergrund, mal verhaften sie die Täter.
Die Besatzer waren nicht nur mit Soldaten gekommen. Ende Mai hatte sich das Polizeibataillon 254 der deutschen Ordnungspolizei (Opo) mit 550 Mann in einer Schule in der Sarphatistraat einquartiert. Seine Führung logierte im prächtigen Kolonialinstitut, heute Tropenmuseum. Die Männer vom Opo-Bataillon, von den Niederländern wegen der Farbe ihrer Uniform meist »die Grünen« genannt, waren schwer bewaffnet. Der interne Auftrag lautete, »aufflackernde Unruhen« im Keim zu ersticken. Eher im Verborgenen agierte der SS-Apparat mit seinem Sicherheitsdienst (SD) und der Sicherheitspolizei (SiPo). Auch Gestapo und Kriminalpolizei gehörten dazu und waren für die Jagd auf politische Gegner zuständig. Im Juni zogen sie an die Herengracht 487.
Die Machtverteilung zwischen Siegern und Besiegten wird durch die »Verordnung« des Reichskommissars Seyß-Inquart vom 29. Mai 1940 geregelt. Die Verantwortung für »Öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit« lag bei der niederländischen Polizei – »sofern sich der Reichskommissar nicht der deutschen SS und Polizeitruppen bedient«. Und dann der entscheidende Satz: »Die niederländische Polizei steht unter Aufsicht der Deutschen Polizei und ist an ihre Anweisungen gebunden.« In der Hoffnung, mit den deutschen Kollegen eine sachliche Arbeitsgrundlage herzustellen und zu festigen, wiesen die niederländischen Vorgesetzen ihre Polizisten an, gegenüber der deutschen Polizei eine »korrekte und entgegenkommende Haltung« einzunehmen.
Dass in den Amsterdamer Verteilungs-Büros, wo man die Bezugsscheine für Nahrungsmittel abholte, niederländische Polizei auftauchte, war kein Grund zum Misstrauen. Es fiel nicht weiter auf, wenn aus der Schlange der Wartenden ab und an jemand von einem Polizisten herausgeholt und in ein Hinterzimmer gebeten wurde. Niemand sah, dass die Angesprochenen dort an die Kollegen von der deutschen Sicherheitspolizei übergeben wurden. So leistete die Amsterdamer Polizei anhand ihrer »Fremdenlisten« schnell und geräuschlos Amtshilfe. Die Verhafteten waren jüdische Emigranten aus Deutschland, meist mit politischem Hintergrund. Die Amsterdamer Polizei kümmerte sich nicht darum, was weiter mit ihnen geschah.
Bis zu den bürgerlichen deutsch-jüdischen Emigranten in Amsterdam Zuid sprach sich das nicht herum. Sie atmeten auf, weil alles blieb wie bisher – manches zu ihrem Leidwesen. Ende Juni 1940 schreibt Wilhelm Halberstam, der mit seiner Frau Adele aus Berlin emigrierte Geschäftsmann, aus der gemütlichen Wohnung in der Jan van Eijckstraat an seine Tochter in Chile: »Während ich hier schreibe, hört auf der Straße das Gebrüll der Lebensmittel- und Blumenverkäufer nicht auf, ländlich-schändlich, untermischt mit entsetzlicher Bettelmusik …«. Die fünfzehnjährige Hilde Goldberg, deren Mutter – eine deutsch-jüdische Emigrantin – in Ohnmacht gefallen war, als die deutschen Soldaten am 15. Mai an ihrer Wohnung vorbei durch Amsterdam Zuid zogen, sagte wenig später zu ihrer nichtjüdischen Freundin: »Wenn alles so bleibt, können wir den Krieg vielleicht überleben.« Wenn die deutschen Soldaten, die ins populäre Amstelparkbad in Amsterdam Zuid gingen und korrekt Eintritt bezahlten, verlangten, dass im Wasser ein Strick zwischen ihnen und den Niederländern befestigt werde, weil es unter ihnen viele Juden gebe – nun ja, das war ihre Sache.
Am 14. Juni wurde vielen Amsterdamern bewusst, dass die Zeit nicht stehen blieb. »Paris hat kapituliert«, schreibt Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch. »Dies ist ein stiller und sehr wehmütiger Abend.« Auf den Lehrer macht es einen noch tieferen Eindruck als die Kapitulation der Niederlande – bei aller Liebe nur »ein kleines Land«. Nun muss selbst das große Frankreich vor den Deutschen kapitulieren, mit Paris, »dem Symbol der Freiheit«. Als Frankreich, am 10. Mai gleichzeitig mit den Niederlanden von den Deutschen überfallen, im Juni 1940 bedingungslos kapituliert, sind die Deutschen – unter ihrem Führer Adolf Hitler – die Herren Europas. Vom Nordkap bis zu den Pyrenäen stehen ihre Soldaten. Sie haben stolze Völker unterworfen, herrschen dank einer gewaltigen Militärmaschine und mit einer aggressiven Ideologie, die keinerlei Moral und Recht kennt und Würde nur der eigenen »Herrenrasse« zugesteht.
Wer in jenen Tagen auf eine Landkarte Europas blickte, musste einen gewaltigen Glauben an die Kraft der Ideale von Freiheit und Menschenwürde haben. Und war solcher Idealismus angesichts der Realitäten nicht hoffnungslos naiv, lebensfremd? Am 25. Juni 1940 erscheint in den Niederlanden das Buch »Auf der Grenze zweier Welten«. Geschrieben hat es Hendrik Colijn, Ministerpräsident von 1932 bis 1939, viel bewunderter »Steuermann« der Nation in schwierigen Zeiten. Von dem schmalen Band wurden in wenigen Wochen rund 100 000 Exemplare verkauft.
Colijn, der konservative christliche Politiker, sieht den »gesunden Menschenverstand« auf seiner Seite: Deutschland wird für die nächste Zeit die entscheidende Macht in Europa sein. Die Niederländer sollen sich keine Illusionen machen: »Es mag immer noch Menschen geben, die glauben, eines Tages geht die Königin mit ihren Ministern in Hoek van Holland wieder an Land und am folgenden Tag ist dann alles wieder wie in alten Zeiten – wir glauben nichts davon.« Man habe nun die Wahl: »Abwarten, was über uns beschlossen wird« oder selber daran mitwirken, in welche Richtung es gehen soll. Für Hendrik Colijn ist es keine Frage, wofür die Niederländer sich entscheiden werden. Zumal er überzeugt ist, dass im Europa der Zukunft, »in dem Deutschland die Führung hat, Platz für die freien selbständigen Niederlande« sein wird.
Die Verkaufszahlen zeigen, wie sehr der angesehene Politiker aus alten Zeiten in diesen Tagen die Stimmung seiner Landsleute getroffen hat. Aber tief im Innern sammelten sich ambivalente Gefühle: der verletzte Nationalstolz, die Erinnerung an den freien »Geist der Niederlande«, von dem man nun schweigen musste, der Abscheu gegenüber den »Moffen«. Am 29. Juni 1940 drängten diese Gefühle heftig in die Öffentlichkeit.
Seit vielen Jahrzehnten war es üblich, die Geburtstage der königlichen Familie – von Königin Wilhelmina und Prinzessin Juliana – als öffentliches Fest zu feiern und damit die Treue des Volkes zum Haus der Oranier zum Ausdruck zu bringen. Seit seiner Heirat mit Prinzessin Juliana gehörte Prinz Bernhard zur Familie, und sein Geburtstag am 29. Juni 1940 war ein Samstag. Der Vormittag verlief ruhig in Amsterdam. Hier und da hing eine Flagge aus dem Fenster, vor dem Palais am Dam legten Menschen Blumen nieder. Zwar versuchten NSB-Anhänger dort Rangeleien auszulösen. Insgesamt jedoch war die Stimmung entspannt. Etliche Amsterdamer trugen eine weiße Nelke im Knopfloch, wie Prinz Bernhard es gerne tat.
Kurz nach 15 Uhr marschierte der Nationale Jeugdstorm, die Jugendorganisation der niederländischen Nationalsozialisten, in Uniform mit Fahnen und Trommeln und begleitet von WA-Männern mit Schlagstöcken vom Frederiksplein zum IJsclubgelände hinter dem Rijksmuseum. Es war ein verbotener Marsch. Doch die Polizei schritt nicht ein, auch nicht, als WA-Männer auf Menschen am Straßenrand einschlugen, die laut ihren Abscheu äußerten.
Als die Truppe gegen 17 Uhr zum Dam weitermarschiert, legen es die WA-Männer auf körperliche Attacken an, reißen Passanten die weißen Nelken von der Kleidung. Zwischen Rembrandtplein und Dam kommt es zu erbitterten Straßenkämpfen. Und das ist erst der Anfang. Abends gegen halb neun Uhr strömen Spaziergänger und Radfahrer mit Fahnen, Nelken und anderen Blumen zum Emmaplein südlich vom Vondelpark. Hier steht ein Denkmal von Königin Emma, Wilhelminas Mutter und Vorgängerin. Es dauert nicht lange, da tauchen die deutschen »Grünen« auf und treiben die Menschen mit Karabinern und Pistolen auseinander. In den Straßen rings um den Platz belästigen NSB-Sympathisanten Menschen mit Nelken am Revers und provozieren Handgemenge, während sich die Amsterdamer Polizisten zurückhalten. Auch in der Innenstadt gehen die Kämpfe weiter. Dort treiben deutsche Polizisten, die »Grünen«, mit Pistolen und Amsterdamer Polizisten mit dem Säbel die Menschen auseinander. Insgesamt zählt die Polizei dreißig schwere Kämpfe und über zwanzig Verwundete.
Am Sonntag ist wieder Ruhe in der Stadt. Der »Nelkentag« bleibt ein einmaliger emotionaler Ausbruch, bei dem sich die Gefühle der Amsterdamer Luft machten. Einmal wollten sie es den verhassten NSBlern, diesen Landesverrätern, zeigen, die ungeschoren das Stadtbild prägten. Es war kein organisierter Widerstand, aber eine willkommene Gelegenheit, öffentlich zu machen, dass die Enttäuschung über die Flucht der Königin längst verraucht war und die Verbundenheit der Niederländer mit dem Haus Oranien unzerstörbar.
Wütend ordnet Reichskommissar Seyß-Inquart an, dass in Zukunft alle Urteile in niederländischen Gerichten »im Namen des Rechts« verkündet werden und nicht mehr »im Namen der Königin«. Als im September neue Briefmarken in Serie gehen, fehlt das Porträt der Königin. Jedes Mitglied der königlichen Familie ist von nun an persona non grata. In Amsterdam ändern die Besatzer die Namen aller Straßen, Parks, Schulen und Krankenhäuser, die sich auf das Haus Oranien beziehen.
Mehr und mehr deutsche Soldaten werden nach Amsterdam verlegt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Deutschland nach dem Sieg über Frankreich den Kampf gegen England vorbereitet, und die Niederlande sind aufgrund ihrer geografischen Position ein militärischer Brückenkopf. Die zwanzig Mitarbeiter im städtischen Einquartierungsamt beschaffen Wohnboote und Garagen, Lagerhäuser, Sportplätze und weitere Schulen. Ständig werden neue private Quartiere für die Besatzer gesucht, kein unüberwindbares Problem.
Die Tagebücher der Amsterdamer sind voller Lob über ihre deutschen »Gäste«, Offiziere wie Mannschaften: »Nette Kerls – korrekt, diszipliniert, sauber – im Gegensatz zu den niederländischen Soldaten räumen sie auf, machen Reparaturen im Haus«. Als im Juli die Wehrmacht auf dem Dam einen kleinen überdachten Pavillon errichtet und eine deutsche Militärkapelle aufspielt, drängen sich die Amsterdamer und genießen die beschwingte Abwechslung.
Doch es kommen auch erste Verordnungen und Verbote, die in den Alltag eingreifen. Am 1. Juli fordert der Besatzer von der niederländischen Luftschutzorganisation eine »Reinigung von nicht geeigneten Elementen«. Erst ein weiteres Schreiben sagt, wer gemeint ist – »Juden und deutschfeindliche Holländer«. Auch die Verordnung vom 29. Juli über die »Vermeidung von Tierquälerei beim Viehschlachten« verschleiert, wer gemeint ist: die orthodoxen Juden in Amsterdam, die sich strikt an das religiöse Gesetz halten und nur das Fleisch von geschächteten Tieren essen, die nicht maschinell getötet wurden. Mit dieser Verordnung wird das Schächten verboten.
Die Verordnung des Reichskommissars vom 4. Juli »Zum Schutz der niederländischen Bevölkerung vor unwahren Nachrichten« betrifft alle. Sie verbietet ausländische Sender zu hören, die nicht vom Gebiet des Großdeutschen Reichs und der besetzten Länder ausgestrahlt werden. Wer es dennoch tut, muss mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und in schweren Fällen bis zehn Jahren rechnen. Außerdem werden Kundgebungen für das Haus Oranien nicht mehr geduldet. Am 31. August ist der Geburtstag von Königin Wilhelmina. Einen zweiten »Nelkentag« soll es nicht geben.
Am 5. Juli folgt eine umfassende Filmzensur. Es dürfen nur noch Filme gezeigt werden, die in besetzten niederländischen Gebieten hergestellt oder für das Großdeutsche Reich freigegeben wurden. Zudem müssen alle niederländischen Filme der dreißiger Jahre zwischen Juli und August durch die deutsche Zensur. Anschließend können die Amsterdamer in ihren Kinos feststellen, was gestrichen wurde: alles, was an das Königshaus erinnert und alle Verweise auf das niederländische Heer, denn die Besatzer fürchten im Schutz der Dunkelheit Reaktionen des Publikums, die »nicht der öffentlichen Ordnung zuträglich« sind. Außerdem fehlen in Vorspann und Abspann alle jüdischen Mitarbeiter. Ob es eine direkte Konsequenz ist, bleibt unbeweisbar: Auf jeden Fall gehen die filmbegeisterten Amsterdamer im Sommer 1940 erheblich weniger ins Kino als die Jahre zuvor.
In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli nimmt sich der Verlagsdirektor der »Arbeiterpresse« an seinem Arbeitsplatz das Leben, nachdem am Tag unter dem Schutz der deutschen Besatzer NSB-Mitglieder die Redaktionen besetzt haben. Der sozialdemokratische Verlag am Nieuwezijds Voorburgwal, wo damals alle Tageszeitungen zuhause sind, ist ein traditionsreicher stolzer Konzern, der Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Schriften im Dienst einer linken demokratisch-humanistischen Idee herausgibt.
Drei Tage später bietet ein radikaler NSB-Führer, von den Besatzern zum Kommissar für die »marxistischen Parteien« ernannt, der sozialdemokratischen Partei an, »am Wiederaufbau des Landes mitzuarbeiten«. Im Verlauf des Gesprächs zeigt sich Koos Vorrink, Vorsitzender der SDAP, einem solchen Ansinnen nicht abgeneigt – unter einer Voraussetzung: »Wenn morgen in den Niederlanden die Freiheit der Versammlung, die Freiheit der Presse, die Freiheit des Gewissens wiederhergestellt wird«. Am nächsten Tag, dem 24. Juli, werden vom Reichskommissar alle Parteien, außer der NSB, verboten und alle parlamentarischen Institutionen ihrer Funktionen enthoben. Die demokratischen Parteien vernichten ihre Mitgliederlisten, ihre Anhänger versuchen auf privater Ebene Kontakt zu halten. Ein Pfeiler der niederländischen Demokratie zerbröselt lautlos auf der politischen Bühne.
Von Berlin aus schärfte Adolf Hitler seinen politischen Mitstreitern ein, den Lebensstandard der Niederländer nicht unter den der Deutschen sinken zu lassen, gemäß der Devise »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«. Reichskommissar Seyß-Inquart war bemüht, mit dieser Lockvogel-Strategie die Akzeptanz der Niederländer für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Tatsächlich sollte es ihnen unter den deutschen Besatzern erst einmal wirtschaftlich besser gehen als in den dreißiger Jahren zuvor.
Am 11. Juni ordnete der Reichskommissar an, dass alle Entlassungen in niederländischen Betrieben nach dem 10. Mai – dem Tag des Überfalls – hinfällig seien, und es in Zukunft überhaupt keine Entlassungen mehr geben dürfe. Zugleich kümmerte er sich persönlich darum, dass Aufträge, die in Deutschland nicht mehr von Deutschen erledigt werden konnten, weil immer mehr Arbeitskräfte als Soldaten eingezogen wurden, an holländische Unternehmen weitergereicht wurden. Noch im Juni kam es zu einer grundlegenden Übereinkunft zwischen dem niederländischen Metall-Verband und der deutschen Wehrmacht: Die Wehrmacht stieg in alle Verträge ein, die vor dem Krieg zwischen der niederländischen Armee und einheimischen Betrieben abgeschlossen worden waren und nun brach lagen.
Dabei ging es ausschließlich um die Herstellung von Waffen und Kriegsgerät für die deutsche Kriegsmaschinerie. Auf Rückfrage vom Metall-Verband – ob man nach dem Krieg vielleicht Ärger bekommen könnte – hatten die Generalsekretäre der niederländischen Ministerien in Den Haag ihren Segen zu diesem Deal gegeben. Bei den Amsterdamer Werften und Hafenindustrien füllten sich mit dem Sommer die Auftragsbücher. Riesengroß war unter anderem die Nachfrage der deutschen Wehrmacht nach Uniformen, Stiefeln, Lederwaren. Der Aufschwung erfasste die gesamte niederländische Wirtschaft, die vor allem aus kleinen und mittleren Betrieben bestand. Jeder Chef wusste, wenn er Aufträge der Wehrmacht ablehnt, wird die Konkurrenz zugreifen, oder die Arbeiter im Betrieb werden Druck machen, weil sie ihre Arbeitsplätze behalten wollen. Endlich, nach einem Jahrzehnt der Arbeitslosigkeit, war wieder Geld im Portemonnaie und man musste nicht mehr vor den trostlosen Stempellokalen Schlange stehen. In der zweiten Jahreshälfte 1940 sank mit jedem Monat die Arbeitslosigkeit; die Durchschnittseinkommen und damit die allgemeine Kaufkraft stiegen. Die Deutschen lobten die niederländische Qualitätsarbeit und die pünktlichen Lieferungen. Bis zum August hatte die Wehrmacht für 370 Millionen Gulden Aufträge an die niederländische Wirtschaft vergeben; ein Geschäft im gegenseitigen Interesse.
Der Aufschwung änderte nichts daran, dass Amsterdam eine Stadt ohne Autos geworden war; Fahrradtaxis und Pferdewagen zogen durch die Straßen, weil Benzin zu knapp und teuer war. Auf die düsteren Straßen bei Nacht und die befohlene Verdunkelung hätte man gerne verzichtet. Aber mit den schweren dunklen Gardinen verschwand auch die Welt draußen, und man konnte es sich in den eigenen vier Wänden auf die vertraute Weise gemütlich machen. Die Verdunkelung führte allerdings dazu, dass von Juni bis Dezember 1940 rund 450 Menschen nachts in die Amsterdamer Grachten fielen; 25 von ihnen ertranken. Geschäftstüchtige Amsterdamer boten sich in Anzeigen als »Führer« durch die dunklen Straßen an. Insgesamt war die Stimmung nicht schlecht, nach der Devise: Wir haben nun mal den Krieg verloren; es könnte alles viel schlimmer sein.
Ab und an riskierte man ein »verzetje« (Widerstand im Kleinformat): knüpfte schmale orangene Bänder – die Farbe des Hauses Oranien – ans Fahrrad, oder stellte orangenfarbene Blumen ins Fenster. Und am 28. Juli 1940, abends um 21 Uhr, saßen fast alle Niederländer am Radio und hörten aus einem Studio der BBC in London erstmals in vertrauter niederländischer Sprache: »Hier ist Radio Oranje, die Stimme der kämpfenden Niederlande; eine Sendung der niederländischen Exil-Regierung.« Dann sprach Königin Wilhelmina. Sie erinnerte daran, dass in früheren Zeiten nichts »unseren Freiheitssinn, unsere Gewissensfreiheit und unsere Glaubensfreiheit« hatte auslöschen können. Sie sei überzeugt, dass »wir und unsere Landsleute auch in der jetzigen Epoche aus dieser Prüfung mit allem, was uns heilig ist, gestärkt und geläutert hervorgehen werden«. Dem Verbot der Sieger, feindliche Sender zu hören, zum Trotz, gab es am nächsten Tag in den Straßenbahnen und Geschäften von Amsterdam, an den Arbeitsplätzen und in den Schulen kein anderes Thema als die Worte der Königin, die alle berührt hatten.
Jeden Abend zur gleichen Zeit sendete von nun an Radio Oranje eine Viertelstunde für die Menschen in der Heimat: gegen die Propaganda der Deutschen, für den Glauben an ein freies Holland. Zu den drei Redakteuren in London gehörte der Journalist Louis de Jong, dem am 14. Mai mit seiner schwangeren Frau die Flucht gelungen war, während seine Eltern, seine kleine Schwester und seine Tante Alida de Jong in Amsterdam zurückblieben.
Bei aller Begeisterung für die Königin wurde bald Kritik geübt an den Sendungen aus der Ferne. Die Redakteure in London hatten kaum Kontakt zum besetzten Land, waren schlecht oder mit großer Verspätung informiert. Das Viertelstündchen Radio Oranje am Abend hatte wenig Einfluss auf den Alltag in der Hauptstadt. Da war weiterhin Pragmatismus angesagt. Und die Amsterdamer, die solchen Pragmatismus verabscheuten – weil er auf Kollaboration mit den Deutschen hinauslief –, sind im Sommer 1940 an einer Hand abzuzählen. Der Journalist Frans Goedehart, 1904 geboren, überzeugter Sozialist, ist einer der wenigen, der zum Widerstand auffordert.
Am 25. Juli 1940 liegt in rund fünfhundert Amsterdamer Briefkästen und Hauseingängen der »1. Nieuwsbrief von Pieter ’t Hoen«. Es ist ein vierseitiges Flugblatt, das gegen die Propaganda der Besatzer unabhängige Informationen liefert und nicht mit Verachtung für die angepasste niederländische Presse spart. Wie der Aufklärer und Journalist Pieter ’t Hoen im 18. Jahrhundert will das Flugblatt die wahren Patrioten stärken und aufrütteln: »Ein deutscher Sieg wird aus der ganzen Welt ein Gefängnis machen.« Anpassung führt in den Untergang des Landes; nur mit Widerstand gegen die Besatzer ist die Freiheit zurückzugewinnen. Der Kampf lohnt sich: »Mut und Vertrauen! Die Zukunft gehört einem freien niederländischen Volk in einer freien Völkergemeinschaft.«
Anfang August folgte der »2. Nachrichtenbrief«, und noch im gleichen Monat hat Frans Goedehart für sein illegales Flugblatt aus dem Untergrund einen kleinen Kreis von Mitkämpfern gewonnen. Er allein verfasst den Text, alle teilen die Unkosten für Papier, Umschläge und die Arbeit am Vervielfältigungsapparat, der jeden Samstag im Gartenhaus an der Rückseite eines Grundstücks an der Keizersgracht in Aktion ist. Im Schutz der hohen Gartenmauer werden anschließend Papierreste und Matrizen verbrannt, und die Asche penibel mit der Erde verstampft. Dann verteilen die Männer den »Nachrichtenbrief« in Briefkästen, Treppenhäusern und Toreinfahrten. Die deutsche Sicherheitspolizei ist über das »gehässige« Flugblatt schnell informiert.
Unabhängig von dieser Aktion beschließt Frans Hofker, beim Amsterdamer Telefondienst angestellt, im August etwas zu tun »gegen die Lügen der Besatzer«, die von der Presse unkommentiert verbreitet werden. Für sein Flugblatt-Vorhaben gewinnt der Zwanzigjährige alte Schulfreunde. Sie steuern Geld für einen Vervielfältigungsapparat bei; Mitte September 1940 erscheint erstmals Vrij Nederland: »Unser Land soll keine deutsche Provinz werden! Es lebe das Vaterland! Es lebe das Königshaus! Es leben unsere Bundesgenossen!« Von den vier Seiten werden fürs erste nur 130 Exemplare verteilt. Um Eindruck zu machen, steht auf dem illegalen Flugblatt, es habe eine Auflage von »1001«.
Es gibt ermunternde Reaktionen auf das Untergrundblatt »Freie Niederlande« und Nachfragen aus anderen Städten. Frans Hofker bekommt Unterstützung von einer Gruppe junger Erwachsener, die sich in einer protestantischen Gemeinde Amsterdams engagieren. Vrij Nederland wird professioneller und auf eine breitere Basis gestellt. Doch die beiden illegalen Flugblatt-Projekte sind kleine Sandkörner im Getriebe der Hauptstadt mit ihren rund 750 000 Bewohnern. Solche Aktionen zu wagen und durchzuhalten, dazu gehörte im Sommer 1940 ein ganz starker Idealismus.
Auch die Unterhaltung, die Amsterdam unter den Besatzern in Theatern und Cafés bietet, spricht für eine pragmatische Einstellung; wie es scheint, auch bei den Besatzern. Im Broadway-Café wird weiterhin Jazzmusik gespielt, mit schwarzen Musikern in der Band. Mitte August 1940 gibt es im Theater Carré, nicht weit von der Magere Brug, eine in doppelter Hinsicht erstaunliche Premiere: Gespielt wird die amerikanische Operette »Rose Marie«, nach der Uraufführung 1924 am Broadway eine der erfolgreichsten in New York, London und Paris. Die Hauptrolle im Theater Carré spielt der populäre niederländische Schauspieler, Kabarett- und Filmstar Sylvain Poons, 1896 in Amsterdam in eine jüdische Schauspieler- und Sängerfamilie geboren. Wieder fühlen sich alle bestätigt, die nach der Besetzung im Hinblick auf die Verfolgung der Juden in Hitler-Deutschland erklärten: »Nicht bei uns! Die niederländischen Juden sind und bleiben Teil der niederländischen Nation.«
Schon Mitte Juli hatte Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch geschrieben, dass »jeder auf den großen Angriff auf England wartet … Amsterdam sieht aus wie eine deutsche Garnisonsstadt«. Die ursprünglich rund 3500 deutschen Soldaten in der Hauptstadt waren auf knapp 15 000 aufgestockt worden. Im August folgten praktische Konsequenzen für die Amsterdamer: Die Ausgangssperre wurde von Mitternacht auf 22 Uhr vorverlegt, die Cafés mussten um 21 Uhr 30 schließen. Danach fuhr keine Straßenbahn mehr. Theater und Kinos passten sich an, legten die ersten Vorstellungen auf die Mittagsstunden. Auch ein öffentliches Tanzverbot hatten die Besatzer erlassen.
Immer wieder kam es zu Schlägereien in den Straßen und auf den Plätzen der Innenstadt. Die niederländischen Rechtsradikalen provozierten mit antisemitischen Parolen und Schildern empörte Passanten; Amsterdamer Polizisten und die »Grünen« griffen durch. Bei Nacht hallten die Stiefel von deutschen Soldaten durch die dunklen leeren Straßen, denn für die Besatzer galt keine Sperrstunde. Manch einer hatte ein meisje, ein Mädchen, dabei. In den ersten Monaten machten sich Amsterdamer Polizisten, die nachts patrouillieren durften, ein Vergnügen daraus, diese Mädchen auf die nächste Polizeistation zu bitten. Dort mussten die jungen niederländischen Frauen zum Ärger ihrer deutschen Soldaten-Freunde bis morgens um vier Uhr, dem Ende der Ausgangssperre, bleiben. Bald allerdings bekamen die Polizisten einen Wink von oben, solche »Überkorrektheiten« in Zukunft zu unterlassen.
Beim Tageslicht arrangierten sich alle wieder. Die deutschen Soldaten kauften Amsterdams Geschäfte leer – Möbel, Haushaltsgeräte, Damenkleider, Uhren, Schmuck, Spielzeug, Schokolade. Einfach alles schickten sie in die Heimat oder stiegen bei Urlaub vollbepackt in den Zug. Der Amsterdamer Mittelstand war zufrieden. Und im nationalen Maßstab liefen die Geschäfte zwischen der deutschen Wehrmacht und den Niederlanden ähnlich gut: Ende Oktober zählte die Statistik Aufträge im Wert von 740 Millionen Gulden, eine Verdoppelung gegenüber dem August.
Am 7. September begann der »große Angriff auf England«, die »Operation Seelöwe«. 300 Bomber und 600 Eskortjäger der deutschen Wehrmacht stiegen auf in Richtung London; 436 Menschen starben bei diesem ersten Bombenangriff in den Trümmern der britischen Hauptstadt. Bis zum 15. November würden die deutschen Bomber Nacht für Nacht London, aber auch andere englische Städte angreifen. Im Gegenschlag gerieten nicht nur deutsche Städte ins Visier der Engländer, auch die Amsterdamer mussten »zahlen«, als Geisel in deutscher Hand. Zwischen Ende September und Mitte Oktober starben durch Bombenangriffe auf die Hauptstadt an der Amstel über ein Dutzend Menschen, viele wurden verwundet. Die Amsterdamer, inzwischen an das Leben in zwei Welten gewöhnt, ließen sich von der deutschen Propaganda zu keinen Demonstrationen gegen die englischen Attacken anstiften. Sie wussten: Ein Ende der Besatzung war nur mit Hilfe der verbündeten Anti-Hitler-Front, der Alliierten, möglich.
Reichskommissar Seyß-Inquart, der Musikliebhaber, kam oft und gerne von Den Haag, seinem Regierungs- und Wohnsitz, ins Amsterdamer Concertgebouw herüber und pflegte freundlichen Umgang mit dem berühmten Willem Mengelberg. Als er Ende September das Konzertprogramm für das Winterhalbjahr las, war er empört. Für den 2. Oktober wurde der Vertreter von Mengelberg ins Reichskommissariat nach Den Haag befohlen. Dort bekam er zu hören, der Reichskommissar habe bisher großzügig darüber hinweggesehen, dass im Concertgebouw noch immer jüdische Musiker spielten. Um so verstimmter sei er über einige »jüdische Erscheinungen« im geplanten Programm: die Erste Sinfonie von Mahler, das Violinkonzert und die Italienische Sinfonie von Mendelssohn und »Mathis der Maler« von Hindemith. Falls diese Kompositionen zur Aufführung kämen, würden der Reichskommissar und seine Mitarbeiter kein Konzert des Concertgebouw-Orchesters mehr besuchen und dem Orchester würden alle Zuschüsse gestrichen.
Der Vertreter Mengelbergs erinnerte daran, dass sich Dirigenten und Geschäftsführung des Concertgebouw bisher stets an die Wünsche der deutschen Autoritäten hielten, indem sie nur noch Arier als neue Musiker einstellten und einige jüdische Musiker inzwischen das Orchester verlassen hätten. Das Ergebnis des Rapport-Gesprächs: Mendelssohn wurde vollständig gestrichen; Willem Mengelberg, dem Mahler-Freund und -Kenner zuliebe, durfte die Erste Sinfonie von Mahler noch einmal in Amsterdam und Den Haag aufgeführt werden, »gewissermaßen als Abschluss der bisherigen Aufführungen dieses Komponisten«. Für die Oper des Komponisten Paul Hindemith, der kein Jude war, gab es für diesmal grünes Licht, doch für die Zukunft mussten Aufführungen seiner Werke unterbleiben.
Das Reichskommissariat hielt am 10. Oktober die Übereinkunft mit dem Concertgebouw-Orchester in einem Brief fest, der mit dem Hinweis schloss: »Der allmählichen Bereinigung des Orchesterkörpers von jüdischen Mitwirkenden möge man weiterhin sein Augenmerk schenken.« Die Geschäftsführung vom Concertgebouw hatte zu diesem Thema schon vorauseilenden Gehorsam gezeigt. Im großen Konzertsaal schmücken die umlaufende Galerie 29 grün-goldene Kartuschen mit den Namen berühmter Komponisten, darunter Mahler, Rubinstein und Mendelssohn. Dass diese drei unter deutscher Besatzung abgedeckt wurden, konnte keinem Besucher verborgen bleiben. Und die Kenner registrierten, dass die jüdischen Geiger, die bisher am ersten Pult spielten, nun ans letzte versetzt waren.
In Amsterdam allerdings war im Oktober ein anderes Thema Stadtgespräch, auch wenn es insgeheim mit der Concertgebouw-Thematik verbunden war. Ab dem 5. Oktober 1940 bekamen die 24 547 Amsterdamer Bediensteten – vom Pförtner bis zum Universitätsprofessor – von ihrem Vorgesetzen oder der Personalabteilung wie aus heiterem Himmel die sogenannte »Ariererklärung« vorgelegt, genau genommen waren es zwei Erklärungen. Wer selber und/oder wessen Ehemann/Ehefrau oder Verlobter oder »eine/r seiner Eltern oder Großeltern der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten«, musste Formular B unterzeichnen. Im Vokabular der Nationalsozialisten war er damit »jüdischen Blutes«. Auf wen das nicht zutraf, Partner oder Verlobte inbegriffen, der unterschrieb Formular A und konnte sich von nun an zu den niederländischen »Arieren« rechnen. In beiden Fällen wurde darauf hingewiesen, dass falsche Angaben die sofortige Entlassung nach sich zogen.
Die betroffenen Amsterdamer waren verunsichert und konnten nicht einordnen, weshalb diese Erklärung von ihnen gefordert wurde. Aber sie hatten auch keine Antwort auf die Frage, warum sie nicht unterschreiben sollten. Wie ahnungs- und ratlos selbst kritische, dem Faschismus feindlich gesinnte Zeitgenossen waren, zeigt die Reaktion von Jan Romein, marxistischer Historiker und Mitglied der Universität von Amsterdam. Am 14. Mai, einen Tag vor Kriegsende, hatte er vergeblich versucht, mit seiner Frau Annie Romein-Verschoor und den drei Kindern von IJmuiden nach England zu flüchten. Zurück in Amsterdam, zerriss das Ehepaar Briefe und Unterlagen, brachte »linke« Bücher außer Haus. Es fürchtete, dass ihnen Durchsuchungen, vielleicht sogar Haft drohten. Sie waren überzeugt, als Marxisten auf einer Fahndungsliste der deutschen oder der niederländischen Nationalsozialisten zu stehen. Aber nichts davon war bis zum Oktober eingetroffen.
Nachdem er im Frühjahr offensichtlich viel zu pessimistische Schlüsse aus der politischen Situation gezogen hatte, fragte Jan Romein einen angesehenen, grundsatzfesten Juristenkollegen um Rat. Dem missfiel zwar das »Judenformular«. Doch der Rechtsprofessor hatte keine grundsätzlichen Bedenken, da es sich um die selbstverständliche Feststellung einer einfachen Tatsache handelte. Jan Romein und alle seine akademischen Kollegen unterschrieben.
Bis Ende Oktober waren die knapp 25 000 Erklärungen unterzeichnet in der Personalabteilung der Stadt Amsterdam zurück. Vier Angestellte hatten ihre Unterschrift verweigert. Ähnlich lag das Verhältnis bei den insgesamt 192 205 Beschäftigten in den Städten und Gemeinden der Niederlande, die sich ebenfalls erklären mussten. Weniger als ein Dutzend hatten die »Ariererklärung« nicht unterschrieben. So wusste im November 1940 der niederländische Arbeitgeber – mit Namen und Arbeitsplatzangabe –, dass es landesweit 2090 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – oder deren Partner – gab, die nach dem Gesetz der deutschen Besatzer »jüdisches Blut« hatten. In der Amsterdamer Stadtverwaltung waren es 787 Menschen, auf die diese »Kategorie« zutraf. Und die Besatzer hatten auf alle diese Angaben ab sofort ebenfalls problemlos Zugriff. Während Jan Romein – und viele andere – sich nicht vorstellen konnten, was der Zweck dieser Aktion war, wussten die deutschen Täter und ihre niederländischen Handlanger längst Bescheid.
Rückblende auf den 28. August 1940, Regierungssitz Den Haag: Die Generalsekretäre der fortbestehenden niederländischen Ministerien, die sich zu loyaler Zusammenarbeit mit dem deutschen Reichskommissar und seinen Beamten verpflichtet hatten, erhalten von den Besatzern die Anweisung, »dafür Sorge zu tragen«, dass ab sofort kein Niederländer »von jüdischem Blut« mehr zum Beamten ernannt werde. Zudem dürften jüdische Beamte keinesfalls mehr befördert werden. Wenig später kommt die Anweisung, dass Beamte, die einen jüdischen Ehepartner haben, sofort entlassen werden müssen.
Das Reaktionsmuster von Seiten der höchsten niederländischen Beamten auf diese und ähnliche Forderungen der Besatzer in den folgenden Wochen und Monaten ist immer gleich: Widerspruch, Bedenken und der Einwand, dass die Obrigkeit mit solchen Maßnahmen das Vertrauen der Bevölkerung verlieren würde, weil die keine Trennung von Niederländern und Juden akzeptiere. Am Ende jedoch wurde unter großem Bedauern und mit dem Vermerk »vorläufig« der Auftrag der Sieger in allen Stücken erledigt. Es waren die Generalsekretäre, die die verwaltungstechnische Grundlage zur Trennung der Beamten in Juden und Nichtjuden – die »Ariererklärung« – ausarbeiteten und am 4. und 5. Oktober an sämtliche niederländischen Gemeinden verschickten, mit der Aufforderung, sie innerhalb von zwei Wochen allen Beamten und Angestellten vorzulegen und die Ergebnisse zu melden.
Schon zwei Tage später erfuhren die Generalsekretäre in Den Haag und der Bürgermeister in Amsterdam von den Deutschen, dass man nach Rücklauf der »Ariererklärung« aufgrund der damit erworbenen Informationen von ihnen fordern werde, alle jüdischen Beamten zu entlassen. In der internen Diskussion sprach sich eine Mehrheit der Generalsekretäre für Rücktritt aus, weil die Grenze der Kooperation erreicht sei. Die Minderheit plädierte für Weitermachen, um »allgemeines Chaos« im Land zu verhindern und »weiterhin die niederländischen Interessen zu wahren und zu schützen«. Von einem möglichen Widerstand gegen die deutschen Forderungen ist nirgendwo im Protokoll die Rede; die Minderheit setzte sich durch. Am 18. November einigten sich die Generalsekretäre auf die Formulierung des Briefes, mit dem die Gemeinden gegenüber ihren jüdischen Beamten und Angestellten am 21. November ein Berufsverbot aussprechen sollten: »Im Auftrag des Reichskommissars habe ich die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass Sie mit dem heutigen Tag von der Wahrnehmung ihrer Aufgaben entbunden sind.« Das Gehalt würde »vorläufig« weitergezahlt.
Der Amsterdamer Bürgermeister erhielt von den Generalsekretären die Anordnung, in der Verwaltung »380 Volljuden« mit besagtem Schreiben »ihrer Funktion« zu entheben. Eine verwirrende Zahl, die nicht mit den abgegebenen »Ariererklärungen« übereinstimmte; aber bloß nicht nachfragen. Am 25. November 1940 hatten 380 Amsterdamer Bedienstete ihre Entlassung – denn um nichts anderes ging es – »im Auftrag des Reichskommissars« schwarz auf weiß in Briefkästen und Postfächern. Außerdem wurde ihnen mitgeteilt, ab dem 26. November nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen, ausgenommen, sie hätten noch Arbeitszeug abzuliefern.
Die allermeisten Betroffenen waren am nächsten Tag nicht mehr dabei, als in den Abteilungen der städtischen Ämter und Institutionen ihre Namen verlesen wurden. Ein paar wenige entschieden sich, nicht wie Aussätzige über Nacht aus dem Arbeitsleben zu verschwinden, sondern aufrechten Hauptes im hellen Tageslicht zu gehen.
Im Amsterdamer Polizeikorps erhielten sechs Mitarbeiter einen Entlassungsbrief. Ein Wachtmeister, der in der Innenstadt Dienst tat, erinnerte sich viele Jahre später: »Wir hatten einen jüdischen Kollegen in der Warmoesstraat. Ich weiß noch genau, wie er nach seiner Entlassung sein Arbeitszeug bei unserm Chef ablieferte. Ich war dabei. Jeder fand es schrecklich. Aber das Verrückte ist, dass niemand von uns auf den Gedanken gekommen war, die Unterzeichnung der Ariererklärung zu verweigern … Im Nachhinein habe ich eingesehen, dass die Unterzeichnung unverantwortlich war. Ich hätte es nicht tun sollen.«
Im Telefonamt von Amsterdam wird Entlassenen der Zutritt verwehrt, als sie sich von ihren bisherigen Mitarbeitern verabschieden möchten. Als Rachel Speyer wie seit Jahren um halb neun Uhr die Reichspostsparkasse in der Van Baerlestraat betritt, wird auch ihr gesagt, sie solle ihren Arbeitsplatz nicht mehr betreten. Doch eine Kollegin kommt, holt sie am Eingang ab und begleitet die Achtunddreißigjährige, so dass sie von allen Abschied nehmen kann. Als Rachel Speyer das Haus verlässt, essen ihre Kolleginnen wie jeden Mittag ihr Brot in der Kantine, verlassen um fünf vor fünf Uhr ihr Büro. Ein Arbeitstag wie jeder andere, fast.
An der Universität von Amsterdam werden sechsundzwanzig Dozenten entlassen. Dem Rektor gelingt es, aufgebrachte Kollegen und Studenten von einem Streik abzuhalten. Um sicherzugehen, dass alles ruhig bleibt, werden die Weihnachtsferien vorverlegt. Nur die Studentenzeitschrift Propria Cures wagt ein offenes Wort. »Wir sind stolz darauf«, heißt es in einem Artikel über die Entlassenen, »euch als Dozenten und Mitarbeiter gehabt zu haben. Wir hoffen, dass ihr euren Platz an unserer Universität bald wieder einnehmen könnt.«
Am traditionsreichen Vossius-Gymnasium organisiert Bart Romein, dessen Vater sich hatte überzeugen lassen, die »Ariererklärung« zu unterschreiben, zusammen mit einem Freund einen Streik unter den Mitschülern. Am Tag nach der Entlassung von fünf jüdischen Lehrern bleiben die Schüler auf dem Schulhof und weigern sich, zum Unterricht in die Räume zu gehen. Die nichtjüdischen Lehrer signalisieren unter der Hand ihre Zustimmung, doch keiner beteiligt sich am Protest. Der Schuldirektor bittet Barts Mutter Annie Romein-Verschoor zu einem Gespräch, um ihr offiziell sein Missfallen am Verhalten ihres Sohnes mitzuteilen. Aber beim Abschied ruft er ihr im Treppenhaus demonstrativ nach: »Vergessen Sie nicht, die Jungs zu grüßen!«
Es gab Kollegen, die den Entlassenen schrieben, wie sehr sie ihren Weggang bedauerten. In einem städtischen Betrieb Amsterdams ließ der Chef Geld sammeln, er wurde selbst sofort entlassen. Auf Kanzeln in Amsterdamer Kirchen wurde gegen die antijüdischen Maßnahmen gepredigt. Doch das waren kaum hörbare Töne in einem Meer des Schweigens. Nicht dass die große Mehrheit der Niederländer dem Berufsverbot für Juden zustimmte. Aber sie sah darin ein kleineres Übel, keinen Anlass zum Widerstand oder Protest angesichts der Machtverhältnisse zwischen Siegern und Besiegten. Das Schlimmste für die jüdischen Mitbürger war eben nicht eingetreten. Sie sollten versuchen, das Beste daraus zu machen. Schließlich mussten unter der Besatzung alle Opfer bringen. Auch von den Führern der jüdischen Gemeinden gab es keine öffentlichen Proteste. Solche Aktionen, hatte sie die Verwaltung wissen lassen, seien nicht im Interesse der Juden.
Das höchste niederländische Gericht tat ein Übriges, die Gewissen als sanfte Ruhekissen zu stabilisieren. Der Hohe Rat in Den Haag musste sich mit der durch die »Ariererklärung« erfolgten Trennung in jüdische und nichtjüdische Beamte und den anschließenden Entlassungen befassen, weil das ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz war. Artikel 5 legte fest, dass jeder Niederländer jedes öffentliche Amt bekleiden konnte, unabhängig von religiöser Überzeugung und Herkunft.
Das höchste richterliche Organ der Niederlande, der Hohe Rat, entschied mit einer Mehrheit von 12 zu 5 Stimmen, die Verordnungen des Reichskommissars und die Anweisungen der Generalsekretäre in dieser Sache nicht zu missbilligen. Die Begründung blieb geheim. Erst nach 1945 war der Standpunkt der Gesetzeshüter vom Herbst 1940 nachzulesen: dem Hohen Gericht fehle die rechtliche Grundlage, den Aktionen der Besatzungsmacht die Rechtmäßigkeit abzusprechen. Sie hatten sogar das Argument der nationalsozialistischen Besatzer übernommen, dass man »jüdische Beamte« als »gefährlich« einschätzen müsse.
Ironie des Schicksals: Der Präsident des Gerichts, Lodewijk Ernst Visser, hatte freiwillig wegen Befangenheit nicht an der Abstimmung teilgenommen – weil er Jude war. Der international angesehene neunundsechzigjährige Jurist war seit 1915 Mitglied und seit 1939 Präsident des Hohen Rates. Auch für ihn gab es keine Ausnahme von den Folgen der »Ariererklärung«. Am 21. November 1940 unterschrieb der niederländische Generalsekretär für das Justizministerium »im Auftrag des Reichskommissars« an den »Edelhochachtbaren« nichtarischen Staatsbediensteten das Entlassungsschreiben: »… dass Sie mit Eingang vom 23. November 1940 der Wahrnehmung der Funktion als Präsident des Hohen Rates der Niederlande enthoben werden.« Visser werde »vorläufig im Genuss des Gehaltes, der Zulagen usw.« bleiben. Niemand seiner Kollegen im Hohen Rat hat protestiert, weder intern bei den zuständigen Gremien, geschweige denn öffentlich.
Manchmal helfen Fakten, so dürr sie sind, ein wenig weiter. Der Protest, von dem nichts zu hören und der Widerstand, zu dem niemand nach der »Ariererklärung« und der anschließenden Entlassung der jüdischen Beamten und Angestellten aufrief, hätte im doppelten Sinn einer Minderheit gegolten. Unter den Beschäftigten der Kommunen machten die Kollegen und Kolleginnen jüdischen Glaubens prozentual nur einen Bruchteil aus – in Amsterdam knapp 800 von fast 25 000 Beschäftigten. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft waren Beamte und Angestellte eine Minderheiten-Berufsgruppe – in Amsterdam knapp 800 von 80 000 jüdischen Bewohnern. Die Mehrheit der Juden wählte freie Berufe, sie waren Geschäftsleute, Händler, Ärzte, Rechtsanwälte. Um so leichter fiel es auch den ehrlich Empörten – Juden wie Christen –, an eine vorübergehende Maßnahme und große Ausnahme zu glauben.
Der November ist noch nicht vorbei, da erhält Amsterdams Bürgermeister eine neue Verordnung der Besatzer: Alle Juden in Ehrenämtern sind zu entlassen, als Ehrenamt wird auch die Arbeit der Gemeinderäte qualifiziert. Diesmal widerspricht die Stadtverwaltung. Bürgermeister Willem de Vlugt lässt beim zuständigen Generalsekretär des Innenministeriums anrufen: Die Anordnung verstoße gegen niederländisches Recht; im Gegensatz zu Ehrenämtern seien die Räte in demokratischer Wahl gewählt worden. Im Ministerium gibt man sich geschmeidig: Es sei doch keine Entlassung, sondern eine Enthebung der Funktionen und überhaupt nur vorläufig. Der Bürgermeister will nicht nachgeben, doch er hat die Rechnung ohne Dr. Hans Böhmcker gemacht. Der einundvierzigjährige Jurist, seit 1933 Mitglied der NSDAP, seit 1937 Lübecker Bürgermeister, war Mitte September 1940 zum »Beauftragten des Reichskommissars für die Stadt Amsterdam« ernannt worden. Er soll die städtische Verwaltung kontrollieren und auf die Politik der Besatzer ausrichten, aber nicht mehr mit »weicher Hand«.
Böhmcker dringt darauf, umgehend eine Bestätigungsliste der entlassenen jüdischen Gemeinderäte zu erhalten, Diskussionen ausgeschlossen, denn aufgrund der »zugegangenen Verfügungen« könne es »nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass die jüdischen Ratsmitglieder aus ihren Ämtern auszuscheiden« hätten. Vier der fünf jüdischen Gemeinderäte in Amsterdam sind Mitglied der seit dem Juli verbotenen Sozialdemokratischen Partei. Auch Alida de Jong, Parlamentsabgeordnete und 1939 zur Fraktionsvorsitzenden der SDAP im Gemeinderat gewählt, erfährt am 30. November, dass sie das Rathaus nicht mehr betreten darf.
In der letzten Fraktionssitzung aller sozialdemokratischen Gemeinderäte Amsterdams wird das unrechtmäßige Vorgehen mit keinem Wort erwähnt, kein Wort des Abschieds, gar des Bedauerns, geht an die politischen Mitstreiter aus Jahrzehnten. Da bricht einer von denen, die gegen Recht und Gesetz gehen müssen, das Schweigen und fragt, ob die sozialdemokratische Fraktion denn weitermachen könne als sei nichts geschehen? »Wir wollen doch nicht sentimental werden«, antwortet ihm der Sitzungsleiter. Noch vor Weihnachten 1940 erhalten die ehemaligen Gemeinderäte ein Schreiben der Verwaltung mit der Aufforderung, ihre Freikarte für das Schauspielhaus zurückzugeben, die sie nun nicht mehr brauchen würden. Ab 1. Januar 1941 läuft ihre Freikarte für die Straßenbahnen ab. Dienstwohnung und Telefonanschluss können sie »vorläufig« behalten.
Für die, die damals in der Gegenwart leben, ist es kaum möglich, sich ein Gesamtbild von der Politik der Besatzer zu machen. Die einzelnen unrechtmäßigen Maßnahmen passen keineswegs zusammen, widersprechen sich teilweise, sind auf einen engen Kreis begrenzt. Verwirrung zu stiften, besorgte Zeitgenossen mal zu ängstigen und mal zu beruhigen: das ist kein Zufall, sondern die bewusste Salami-Taktik der Sieger. Die grundsätzliche, bei allen Maßnahmen mitgedachte Stoßrichtung bleibt für die Besatzer auch in den Niederlanden davon unberührt. Während einer Dienstbesprechung im August 1940 erklärte einer der Vertreter des Reichskommissars im kleinen Kreis: »Die Aktion gegen die Juden ist in Vorbereitung und soll in nächster Zukunft durchgeführt werden …« Mochte es in Holland etwas länger dauern, an diesem Ziel gab es keine Abstriche.
Während die wenigen jüdischen Beschäftigten bei der Stadtverwaltung ihre Arbeit verloren, konnte die übergroße Mehrheit der Amsterdamer, egal welchen Glaubens, nicht nur im Theater Carré in der US-Operette »Rose Marie« einem jüdischen Star zujubeln. Ende Oktober kamen aus Scheveningen »Die Prominenten« und spielten ihre Revue »Alles o. k.« im Savoy-Cabaret am Leidseplein. Komponist, Text-Schreiber und Herz dieser Exiltruppe aus Deutschland, die seit 1938 mit großem Erfolg im Kurprogramm von Scheveningen auftrat, war Willy Rosen. Neben Rudolf Nelson gehörte der 1894 in Magdeburg geborene Jude zu den Großen der Berliner Kabarett- und Revue-Szene vor 1933. Als Deutschland am 10. Mai Holland überfiel, gingen Willy Rosen und die meisten seiner Truppe in den Untergrund. Doch schon am 15. Juni standen alle mit der Revue »Kommt und lacht!« wieder auf der Bühne.
»Die Prominenten« waren eine »gemischte« Truppe; Otto Dürer, Franz Engel und Silvia Grohs zählten zu den jüdischen »Prominenten«. Neben der jüdischen Österreicherin Silvia Grohs stand die Sängerin Dora Paulsen im Mittelpunkt. Die nichtjüdische Berlinerin, 1898 geboren, war jahrelang bei Rudolf Nelson aufgetreten, mit seinem Team ins Exil gegangen und hatte 1938 einen Niederländer geheiratet. Am 21. Dezember traten Die Prominenten mit ihrem Erfolg »Kommt und lacht!« im Beatrix-Theater in der Plantage Middenlaan auf. Der nichtjüdische Theaterdirektor erhielt problemlos eine Arbeitsgenehmigung für die mehrheitlich jüdische Truppe. Am 9. Januar 1941 stellte Willy Rosen mit »Viel Vergnügen« die nächste Revue auf die Bühne. Das Beatrix-Theater war jeden Abend bis auf den letzten Platz besetzt.
Ab dem 21. Oktober 1940 stand Amsterdam im Zeichen einer »Wiener Kunstwoche«, von Seyß-Inquart persönlich angeregt, der auch beim Programm mitmischte. Im Concertgebouw spielten die Wiener Philharmoniker, und natürlich erschien der Reichskommissar. Am 3. November saß er schon wieder im großen Konzertsaal des Concertgebouw, am Dirigentenpult Willem Mengelberg und neben Mozart und Wagner erklang die »Nussknacker-Suite« des russischen Komponisten Tschaikowski. Das Konzert umrahmte die Gründungsfeier von »Vreugde en Arbeid« (Freude und Arbeit), die niederländische Parallelinstitution des deutschen NS-Konzerns »Kraft durch Freude« (KdF). »Freude und Arbeit« sollte preisgünstige Ferien- und Kulturangebote für minderbemittelte Schichten anbieten und auf diesem Weg Niederländer für den Nationalsozialismus gewinnen.
Seit Oktober machten in Amsterdam die Rechtsradikalen von der NSB erneut mit Straßentumulten auf sich und ihre Bewegung aufmerksam. Die niederländischen Faschisten wollten endlich ihren Anteil an der deutschen Besatzungsmacht. Mitte November marschierten 5000 Männer der WA – Wehrabteilung – und NSB-Mitglieder aus ganz Holland den Damrak entlang und am NSB-Führer Anton Mussert vorbei. Mussert ist von einer elfköpfigen Leibwache umgeben. Die Männer tragen offen Revolver am Koppel; ein eindeutiger Verstoß gegen die Gesetze.
Im November hatte der Kino-Palast des ehemaligen Tuschinski wieder seine Pforten geöffnet. Er war Ende Mai geschlossen, der ehemalige Besitzer schon zuvor entlassen und der prominente Namenszug auf dem Dach entfernt worden. Nun hieß das Kino, das aus Amsterdams weltoffener Zeit stammte, ganz gewöhnlich »Tivoli«.
Am 2. Dezember heben die Besatzer das Tanzverbot in der Hauptstadt wieder auf, eine indirekte Bestätigung, dass »Operation Seelöwe«, der Angriff auf England, gescheitert ist. Am 15. November hatte die deutsche Luftwaffe das Zentrum von Coventry mit seiner Kathedrale zerstört, 550 Menschen starben. Die tödlichen Luftangriffe werden noch bis in den Mai 1941 fortgesetzt. Aber schon im Winter musste Hitler erkennen, dass er den Durchhaltewillen der Engländer nicht brechen konnte, die sich unter Winston Churchills Führung einem faulen Frieden mit Deutschland verweigerten. In den Straßen Amsterdams feixten junge Leute beim Anblick deutscher Soldaten und machten hinter deren Rücken heftige Schwimmbewegungen.
Reichskommissar Seyß-Inquart konnte dagegen im Dezember in einem Zeitungsinterview stolz Erfolge beim Thema Arbeitslosigkeit melden: »Dieses soziale Problem ist gelöst.« Zum ersten Mal seit über zehn Jahren gab es in den Niederlanden fast keine Arbeitslosen mehr. Dank den Aufträgen aus dem Großdeutschen Reich hatte die niederländische Wirtschaft Hochkonjunktur. Nur die Rohstoffe, von denen die Besatzer den Löwenanteil nach Deutschland abtransportierten, wurden immer knapper. Neue Schallplatten können die Amsterdamer Ende 1940 nur kaufen, wenn sie im Geschäft dafür alte, und seien sie zerbrochen, abliefern.
In Amsterdam Zuid hatten die deutsch-jüdischen Emigranten Adele und Wilhelm Halberstam andere Sorgen. Da ihr Vermögen in Berlin trotz anwaltlicher Einsprüche gesperrt blieb, hatten Bekannte in den USA die Halberstams seit Sommer 1939 mit monatlichen Überweisungen unterstützt. Nach dem Überfall der Deutschen auf die Niederlande konnte nichts mehr überwiesen werden. Glücklicherweise gab es etliches in diesem Emigranten-Haushalt, das beim Antiquitätenhändler zu Geld gemacht werden konnte. Mitte Juli schrieb Adele Halberstam an ihre Tochter: »Momentan verzehren wir den geringen Erlös für das 12 Personen Meißner Service und das versilberte Dejeuner von Großpapa Weigert, sowie den silbernen Lampenfuß mit dem großen Pergamentschirm von Tante Else.« Anfang September wird »der rote Teppich« in einer Auktion verkauft, immerhin für 109 Gulden. Aber schon müssen die Schränke weiter ausgeräumt, und »schöne Sachen« in die Versteigerungen gebracht werden.
Allen Widrigkeiten zum Trotz leben die Halberstams in Amsterdam Zuid weiter in ihrer festgefügten Welt des wohlhabenden deutschen Bürgertums. Wenn alles um sie herum aus den Fugen gerät, finden sie Halt an ihrem überkommenen Lebensstil, mag das noch so anstrengend sein. Seit sie im Oktober ihrer Haushaltshilfe kündigen mussten, schreibt Wilhelm Halberstam an Tochter und Familie in Chile, »könnte Muttis Tag tatsächlich 48 Stunden haben. Sie schafft von früh bis spät …« Trotzdem gelingt es ihr nicht, den Haushalt so »mustergültig« zu führen, »wie sie es immer gewöhnt war«. Zum einen ist die Wohnung zu eng, aber vor allem sind die Niederländer, so Wilhelm Halberstam, auf »Derartiges« nicht eingerichtet: »Vieles scheint den Normalmenschen hier als Luxus, was ›bei uns zu Haus‹ Bedürfnis war; besonders was Soigniertheit betrifft.« Sie haben nicht übertrieben, die Amsterdamer, mit ihrem kritischen Blick auf die »Bei-uns-Menschen«.
Keine finanziellen Sorgen hatte die deutsch-jüdische Emigranten-Familie Frank, ebenfalls Amsterdam Zuid. Der Handel mit Opekta, den Otto Frank in den dreißiger Jahren in Amsterdam mühsam begonnen hatte, war ausgebaut und florierte dank Fleiß und tüchtigen, loyalen Mitarbeitern. Am 22. Oktober 1940 wurden durch Verordnung des Reichskommissars alle jüdischen Unternehmen verpflichtet, ihre Betriebe registrieren zu lassen und sämtlichen Besitz offenzulegen. Rund fünfzig Prozent aller Geschäfte wurden anschließend von den Besatzern liquidiert, die andere Hälfte erhielt einen neuen »arischen« Verwalter, nicht selten ein Anhänger der NSB, die auf diesem Weg endlich vom deutschen Sieg profitieren konnte.
Offensichtlich wurde Otto Frank von dieser Zwangsverordnung nicht überrascht. Es gelang seinen nichtjüdischen Mitarbeitern mit Franks Geld ein Ausweich-Unternehmen zu gründen. Das Opekta-Geschäft wurde nicht liquidiert, und daneben gab es nun ein »arisches« Unternehmen, das bei Gefahr Franks »jüdische« Aktien übernehmen würde. Otto Frank konnte seinen Töchtern Margot und Anne weiterhin viele Wünsche erfüllen.
Die beiden Schwestern warteten sehnlich darauf, dass im Dezember in der Apollohalle endlich die Kunsteisbahn eröffnet würde. Jede freie Minute verbrachten sie dort; Anne mit den alten Schlittschuhen ihrer Schwester, die mit einem Vierkantschlüssel an die Schuhe geschraubt wurden. Alle ihre Freundinnen liefen auf modernen Schlittschuhen, die direkt an den Schuhen befestigt waren und deshalb viel besser saßen. Anne quengelte so lange, bis die Eltern auch ihr neue kauften. Das erfuhren die Verwandten in der Schweiz in einem Brief Anne Franks vom 13. Januar 1941, mit dem Zusatz: »Ich habe nun regelmäßig Unterricht im Kunsteislauf, da lernt man Walzer, Sprünge und alles, was beim Kunsteislauf dazugehört.«
Von der feinen Rivierenbuurt in Amsterdam Zuid, wo die Franks wohnten, mit den breiten Bürgersteigen und den baumbepflanzten Boulevards, fuhr die Straßenbahn in gut fünfzehn Minuten bis in die Innenstadt. Dort, am Rembrandtplein, betreten am 14. Dezember etwa siebzig Männer, davon zwanzig in WA-Uniform, das beliebte Lokal Heck’s Lunchroom. Sie sind mit Stöcken bewaffnet und versuchen, Schilder mit der Aufschrift »Juden unerwünscht« anzubringen. Es ist Samstag; die weitaus meisten der rund achthundert Gäste sind empört, protestieren laut und werden von den Eindringlingen in eine heftige Saalschlacht verwickelt. Nicht weit entfernt, im Café Savoy, stürmen rund einhundertfünfzig Schwarzhemden den Raum, jagen die jüdischen Gäste hinaus und befestigen erfolgreich die »Juden-Schilder«.
Als alles vorüber ist, entschuldigt sich ein uniformierter WA-Anführer, die Aktion sei aus dem Ruder gelaufen, man werde für den Schaden aufkommen. Dann stattet er im nahegelegenen Café Het Brouwerswapen, wo Hans Böhmcker mit seinen Leuten Stammgast ist, Bericht ab. Der Vorgang bleibt nicht unbemerkt und bestärkt die Amsterdamer Polizei in der Vermutung, dass es zwischen den Besatzern und rechtsradikalen niederländischen Gruppierungen heimliche Absprachen gibt. Auch wenn die Deutschen offiziell beteuern, dass die Leute von der WA und der NSB sich an Recht und Ordnung halten müssen, schüren sie insgeheim die Unruhen in der Hauptstadt.
Das Jahr 1940 ist fast zu Ende, da schlendern zwei gutbürgerlich gekleidete Herren mit ihren Ehefrauen in winterlicher Mittagssonne über den Judenmarkt am Waterlooplein. Leutselig schauen sie den Verkäufern zu, die ihre Waren anpreisen. Die Herren sind der deutsche Generalkommissar für die Bereiche Finanzen und Wirtschaft vom Reichskommissariat in Den Haag und Hans Böhmcker, der Beauftragte des Reichskommissars für die Stadt Amsterdam. Die Umstehenden schauen ebenfalls freundlich, sie ahnen nicht, wer da neben ihnen steht.
Auf dem Boden ist Flohmarktware ausgebreitet, an Ständen werden unter hellen Planen Nahrungsmittel verkauft. Ein »Judenmarkt« ist eigentlich nicht der Ort, an dem sich der deutsche Jurist Böhmcker, überzeugter Nationalsozialist und radikaler Antisemit, wohlfühlt. Gerade mal zwei Monate später werden die Gedanken, die ihm beim Gang über den geschäftigen Waterlooplein durch den Kopf gingen, im hellen Licht des Tages Gestalt annehmen.