III

Umjubelte Immigranten im Tuschinski – Immer mehr Arbeitslose – Die »Bei-uns-Menschen« – Holländische Nazis – Keine Judenfrage – Hitlers Krieg, aber nicht bei uns!

1930 bis 9. Mai 1940

Im ersten Halbjahr 1930 war New York weit weg, die holländische Wirtschaft unbeeindruckt von den Turbulenzen dort an der Börse. Die Amsterdamer erfreuten sich an den ersten Tonfilmen, die vor allem aus Deutschland kamen – »Der Kuss« mit Greta Garbo, »Der Blaue Engel« mit Marlene Dietrich und Emil Jannings. Doch die Niederlande blieben keine Insel der Seligen inmitten einer weltweiten Wirtschaftskrise. Die Statistiken am Jahresende 1930 meldeten, dass in der Hauptstadt rund 21000 Menschen arbeitslos waren. Und das ist erst der Anfang vom wirtschaftlichen Absturz, für den die Arbeitslosen-Zahl der sichtbarste Indikator ist. 1931 sind schon 35000 Menschen in Amsterdam ohne Arbeit, zwanzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung in der Hauptstadt.

Die Krise beförderte den Wunsch der Amsterdamer, dem tristen Alltag zu entrinnen. Louis Davids gründete am Leidseplein ein eigenes Theater für Kabarett-Revuen. Im Theater Carré trat er 1931 vor stets ausverkauftem Haus in der Operette »Weißes Rössl« auf, auch Johan Heesters war wieder mit von der Partie. (Als Johannes Heesters ist er am 24. Dezember 2011 mit 108 Jahren in Starnberg gestorben.) Weil die Amsterdamer in ihrer Tanzwut nicht zu bremsen waren, erhöhte der Magistrat die Lokale mit Tanzerlaubnis von sieben auf neun. Doch pro Tanzpaar mussten vier Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen und in den Tanz-Lokalen war nur männliche Bedienung erlaubt.

Zur 60. Geburtstagsfeier des Concertgebouw-Dirigenten Willem Mengelberg kamen 1931 die Comedian Harmonists aus Berlin, zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren. Nicht allen gefiel es, dass Amsterdam für deutsche Künstler ein attraktives Arbeitsrevier war. »Ausländische Musiker genießen Vorrang«, titelte die Zeitschrift Het Leven und zeigte eine Fotomontage mit einem Café, in dem das »Attraktionsorchester F. Wirtz«, »Die Prater-Blume« und eine Wiener Damenkapelle auftraten, und ein Schild zum »Rheinischen Oktoberfest« wies. Dazu die Unterschrift »Nein, das ist nicht Berlin – sondern im Herzen der Amstelstadt …« Die Amsterdamer stimmten auf ihre Weise darüber ab, was sie von kultureller Abschottung hielten. Sie stürmten die Kasse vom Theater Carré, als im gleichen Jahr die Litfaßsäulen riefen: »Sie kommt!« Die 15000 Karten für eine Woche Tournee waren sofort vergriffen. Es kam die berühmte Josephine Baker, aber diesmal nicht, um im Bananen-Röckchen zu tanzen. Die Baker sang französische Chansons, und die Amsterdamer waren hingerissen.

Aus dem gleichen Jahr 1932 stammen Fotografien, auf denen endlose Reihen von Männern zu sehen sind: Arbeitslose, die zweimal täglich in Amsterdamer Amtsstuben erscheinen müssen, um ihren Stempel und anschließend ihre »Stütze« zu bekommen. Monne de Miranda versucht, trotz leerer städtischer Kassen mit seinem Wohnungsbau-Dezernat Arbeitsbeschaffungsprogramme aufzustellen. Er gewinnt eine Mehrheit im Gemeinderat, am südlichen Rand des neuen Viertels Amsterdam Zuid ein modernes »Frei- und Sonnenbad« anzulegen. Der Preis für die Zustimmung der Katholischen Partei: Zwar dürfen Männer und Frauen gemeinsam auf der Wiese Sonnenbäder nehmen, zum Schwimmen aber geht es in getrennte Becken. Im August 1932 eröffnet Monne de Miranda vor vielen hundert Gästen das neue Amstelparkbad. (Heute heißt es De Miranda-Bad.) Doch insgesamt geht die Arbeitslosenkurve weiter nach oben: 1932 sind rund 40000 und 1933 weitere 5000 Menschen ohne Arbeit. Und mit der Arbeitslosigkeit steigt die Unruhe in der Hauptstadt.

1933, am 17. März, ist im zum Kino umgebauten Rembrandttheater Premiere des deutschen Ufa-Films »Morgenrot«. Ein linkes Aktionskomitee hat zu Protesten aufgerufen. Am Premierentag drängt die Polizei Zwischenrufer – »Bluthunde«, »Schande« – aus den Vorstellungen. Stinkbomben fliegen, weiße Mäuse werden im Publikum ausgesetzt. Draußen geht die Polizei zu Pferde mit Säbel und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. Mit jedem Tag nehmen die Proteste auf dem Rembrandtplein zu. Am 24. wird der Film aus dem Programm genommen. Das Argument der Protestierenden: der Film sei ein »unerträgliches Stück faschistischer Kriegspropaganda«, weshalb ihn der neue deutsche Reichskanzler einen Tag nach seiner Ernennung in Berlin angesehen habe. Der neue Mann an der Spitze der deutschen Reichsregierung hieß seit dem 30. Januar 1933 Adolf Hitler, Führer der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei. Reichspräsident Hindenburg und konservative Politiker hatten ihm ganz legal zur Macht verholfen.

Als in Amsterdam »Morgenrot« anlief, hatten die Niederlande schon die ersten indirekten Folgen der nationalsozialistischen Politik zu spüren bekommen. Am 17. Februar 1933 brannte in Berlin der Deutsche Reichstag. Die NS-Regierung beschuldigte die Kommunisten und begann umgehend, linke Politiker und Intellektuelle zu verhaften. In den Niederlanden treffen die ersten deutschen Flüchtlinge ein.

Am 1. April 1933 riefen die Nationalsozialisten in Deutschland zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Auslagen wurden zerstört, Scheiben beschmiert und eingeschlagen, jüdische Geschäftsleute festgenommen. Nur fünf Wochen später, am 10. Mai, loderten vor der Kroll-Oper in Berlin die Flammen: Studenten warfen die Werke deutscher Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler ins Feuer. Wieder flohen Menschen aus Deutschland, diesmal zu Tausenden – jüdische wie nichtjüdische Schriftsteller, Gelehrte, Künstler, die in ihrer Heimat um ihre Würde, um ihre Freiheit, um ihr Leben fürchten mussten.

Im ersten Halbjahr 1933 passierten rund 15000 Flüchtlinge aus Deutschland die Grenze ins benachbarte Holland. Sie brauchten kein Visum, und wer arbeiten wollte, hatte freie Bahn. Die meisten Flüchtlinge zogen bis Jahresende weiter oder kehrten nach Deutschland zurück. Bis Dezember hatten sich in Amsterdam offiziell 2104 Deutsche bei der Polizei angemeldet, die an der Amstel einen neuen Start wagten. Der jüdische Bankier Otto Frank aus Frankfurt am Main war einer von ihnen. Im Sommer 1933 ging der Vierundvierzigjährige in die Niederlande und versuchte, als Unternehmer mit einer Konzession für das berühmte Marmeladen-Geliermittel Opekta Fuß zu fassen. Im Dezember bezog Otto Frank mit seiner Frau Edith eine helle moderne Wohnung in Amsterdam Zuid, Merwedeplein 37. Kurz vor Weihnachten brachten Verwandte die siebenjährige Tochter Margot; im Februar 1934 war auch die vierjährige Tochter Anne mit der Familie in Amsterdam vereint.

Zu den Flüchtlingen, die Amsterdam wieder verließen und nicht als dauerhaftes Exil wählten, gehören Schriftsteller wie Joseph Roth, Irmgard Keun, Klaus Mann, Hermann Kesten. Aber auch, wenn sie nicht blieben, fanden sie und weitere deutsche Autoren, die in Deutschland nicht mehr publizieren durften – darunter Heinrich Mann, Alfred Döblin, Stefan Zweig, Anna Seghers –, in der Hauptstadt der Niederlande eine neue Heimat für ihre Werke. Die angesehenen Amsterdamer Verlage Querido und Allert de Lange gründeten eigene deutschsprachige Verlage, in denen zwischen 1933 und 1940 insgesamt rund zweihundert Bücher von neunundneunzig deutschen Autoren erschienen.

Ohne Resonanz blieb in den Niederlanden eine Gruppierung am rechten politischen Rand, die im Dezember 1931 in Utrecht als Nationalsozialistische Bewegung (NSB) gegründet worden war. Ihr »Führer«, der siebenunddreißigjährige Anton Adriaan Mussert, war Ingenieur bei der Wasserbaubehörde, ein unauffälliger Typ. Seine Botschaft: die Demokratie sei von gestern, dem Faschismus gehöre die Zukunft.

Bis zum Jahresanfang 1933 hatte die rechtsradikale Partei nur knapp tausend Mitglieder. Dann jedoch schnellten die Zahlen nach oben: Im Juni meldete die NSB rund 5700 Mitglieder, im Dezember 1933 hatten sich 20000 Niederländer bei den Nationalsozialisten eingeschrieben. Die Welle des Erfolgs, die ihre faschistischen Gesinnungsgenossen im deutschen Reich an die Macht trug, hat zweifellos zu diesem sensationellen Aufschwung beigetragen.

Die NSB war kein Sammelbecken von verkrachten Existenzen und Verlierern, keine bloße Protestpartei. Hier fanden sich Freiberufler, Mittelständler, Selbständige, Militärs, allesamt Vertreter einer bürgerlichen Kultur. Den Amsterdamer NSB-Distrikt übernahm im Herbst 1933 ein Mitglied, das Zahnarzt von Beruf war. Nicht wenige trieben idealistische Motive: die Sehnsucht nach einem dritten Weg zwischen Marxismus und Liberalismus, die Hoffnung auf eine bessere, gerechte Gesellschaft. Für jüngere Menschen war es attraktiv, zu einer neuen heroischen Elite zu zählen.

Die NSB-Leute trugen Uniform, schwarz statt braun wie bei den deutschen Nazis; parallel zum Hitler-Gruß grüßte man sich zackig mit »Hou Zee« und ausgestrecktem Arm. Die WA – Wehr-Abteilung – aus kampfbereiten NSBlern wurde nach dem Beispiel der deutschen SA aufgebaut. Allerdings legte Anton Mussert in den ersten Jahren Wert darauf, dass sich die niederländischen Nationalsozialisten von den deutschen unterschieden. »Jeder gute holländische Jude ist bei uns willkommen«, schrieb er im Sommer 1933. Mussert wusste, dass antisemitische Töne bei seinen Landsleuten nicht gut ankamen. Bei jeder Gelegenheit beschwor die NSB ihre Treue zur Königin und dem Haus Oranien. Die Betonung, einen eigenen Faschismus niederländischer Prägung zu vertreten, tat ihre Wirkung. Bei der ersten großen öffentlichen Kundgebung der NSB in Amsterdam, im April 1934, zu der rund 7000 Mitglieder aus dem ganzen Land anreisten, verkündete Anton Mussert, dass die Partei fast 30000 Mitglieder zählte.

In der Mitte der Gesellschaft aber waren die niederländischen Nationalsozialisten deshalb nicht angekommen. Die übergroße Mehrheit der Niederländer fühlte sich eins mit den Hunderttausend, die im September 1933 bei der Abschlussfeier zum fünfunddreißigjährigen Thronjubiläum von zwei Uhr mittags bis neun Uhr abends im Amsterdamer Olympiastadion an Königin Wilhelmina vorbeigezogen waren. Ihnen allen sprach die Königin aus dem Herzen, als sie in ihrer Rede ausrief: »Wij willen onz zelf zijn en blijven!« Ein Satz, der in die Geschichtsbücher des kleinen Landes eingegangen ist: Wir wollen wir selber sein und bleiben. Das bedeutete: Auch in Krisenzeiten dürfen Kopien von ideologischen Bewegungen jenseits der Grenzen die Grundlagen der niederländischen Gesellschaft nicht ins Abseits stellen oder zerstören; Vielfalt und Pluralismus der Überzeugungen, geistige Freiheit und Offenheit gehören unumstößlich dazu. Und die Amsterdamer bejubelten jeden Abend Künstler und Künstlerinnen, egal welcher Nationalität und Hautfarbe, die Unterhaltung und Vergnügen in den grauen Alltag brachten.

Am 28. April 1934 war großer Bahnhof an Amsterdams Centraal Station: Reporter, ein Empfangskomitee und viele Fans begrüßten Rudolf Nelson und seine Frau, die sich im Schiller-Hotel am Rembrandtplein einquartierten, dazu die ganze Nelson-Truppe. Louis Davids hatte den berühmten deutschen Kollegen in sein Theater am Leidseplein eingeladen. Schon am 1. Mai war dort Premiere mit »1000 Takte Nelson«. Dreißig Jahre zuvor hatte Rudolf Nelson, 1878 in Berlin geboren, in der deutschen Hauptstadt sein erstes Kabarett eröffnet. Seitdem waren seine Großstadt-Revuen, die Berliner Schnodderigkeit und Wiener Charme mit Eleganz auf der Bühne vermischten, ein unerreichtes Markenzeichen. Das Berlin der zwanziger Jahre ist ohne Nelsons Theater am Kurfürstendamm, seine Lieder, Schlager und Chansons undenkbar; Kurt Tucholsky war einer seiner Textschreiber. Um 1930 trällerte man auch in Amsterdam seinen Hit vom »Nachtgespenst« – »… Ich weck Dich, wenn Du pennst, so lang bis Du mich Liebling nennst«. Rudolf Nelson war schon zuvor in Amsterdam aufgetreten und sprach Niederländisch, ein alter willkommener Bekannter.

Die Anreise der Nelson-Truppe nach Amsterdam im Frühjahr 1934 war über Prag, Wien, Zürich gelaufen. Denn im Frühjahr 1933 hatte der Jude Rudolf Nelson Deutschland verlassen und war von seiner Tournee ins Ausland nicht mehr in das Land zurückgekehrt, wo die Nationalsozialisten Kultur und Unterhaltung fest in ihren Dienst nahmen. Ein Glück für Amsterdam: Ab September 1934 ist Rudolf Nelson mit seinem Revue-Kabarett an das Theater La Gaîté im Kino-Palast Tuschinski gebunden. Der »Dicke Napoleon des Cabarets«, so Tucholsky, begleitet auf der Bühne am weißen Flügel seine Lieder und komponiert alle vierzehn Tage eine neue Revue. Es gibt Auftritte mit Operettenmelodien und Parodien, und in den Pausen spielt eine Jazzband zum Tanz auf. Beliebte Schauspieler und Sängerinnen sind willkommen, eine von ihnen ist Dora Gerson.

Schon 1931 war die Chanson-Sängerin Dora Gerson mit dem Kabarett »Ping-Pong« Louis Davids bei einem Berlin-Besuch aufgefallen, und er hatte sie in die Niederlande eingeladen. Auch die Gerson, Berliner Jüdin, flüchtete im Frühjahr 1933 aus Deutschland. Anfang Mai 1933 stand das Ping-Pong im Amsterdamer Rika Hopper-Theater in der Plantage Middenlaan 4 auf der Bühne.

Im August und November waren weitere Ping-Pong-Auftritte in Amsterdam. »Sie singt einfach wundervoll …«, schrieb De Telegraaf. Dora Gersons spröder Gesang nahm den Texten jede Sentimentalität, auch da, wo sie die Essenz des eigenen Emigrantenschicksals vortrug: »Heute hast du noch fünf Zimmer,/ morgen bist du Kohlentrimmer… Es kennt der Mensch im Leben nur Momente / Momente so, Momente so … Ein guter Kurs und was Applaus, / ein bisschen Zärtlichkeit, ein bisschen Glück, / das alles dauert nur ein’ Augenblick, / dann ist auch schon wieder Schluss. / Es kennt der Mensch im Leben nur Momente, / Momente so, Momente so.« Das Kabarett Ping-Pong löste sich Ende 1934 auf. Dora Gerson ist weiterhin mit Einzelauftritten erfolgreich.

Eine scharfe politisch-literarische Waffe gegen den Nationalsozialismus wollte das Kabarett sein, das am 1. Januar 1933 in München erstmals vors Publikum trat. Thomas Manns älteste Tochter Erika hatte »Die Pfeffermühle« mit Künstlerfreunden und der Schauspielerin Therese Giehse gegründet. Im März sah sich die Truppe in der Schweiz wieder, entschlossen, als Kabarett im Exil weiterzumachen. Das galt für Zürich wie für Amsterdam, wo die Pfeffermühle erstmals vom 1. bis 31. Mai 1934 gastierte, im Centraal Theater in der Amstelstraat.

In diesen Wochen waren die Niederländer in nationaler Hochstimmung. Auslöser war ein Fußballspiel am 8. April 1934 im ausverkauften Amsterdamer Olympiastadion, wo die niederländische Nationalmannschaft Irland mit 5:2 Toren besiegte. Damit hatten sich die Holländer für die zweite Fußballweltmeisterschaft der Geschichte qualifiziert, die im faschistischen Italien ausgetragen wurde. Am 2. Mai nahm der Schlagersänger Willy Derby im Berliner Polydor-Studio, das technisch allen holländischen Studios weit voraus war, ein selbst komponiertes Lied auf Schallplatte auf. Seine Landsleute wurden nicht müde, es als Beschwörungsformel für ihre Fußball-Helden zu singen: »We gaan naar Rome, we gaan naar Rome…« In Rom würde das Endspiel stattfinden, und am Ende des Liedes hieß es: »Wenn die Niederlande das nicht gewinnen, esse ich keine Makkaroni mehr.«

Hunderte fußballverrückter Holländer zogen über die Alpen, einige per Fahrrad, um »Oranje« zu unterstützen. Das erste Spiel fand am 27. Mai in Mailand statt, Schweiz gegen Niederlande. Am Ende stand es 3:2, aus der Traum, denn es galt von Anfang an das K.-o.-System.

Das Erwachen in der Krisen-Realität war ernüchternd: Am 4. Juli 1934 ziehen Arbeitslose nach einer Versammlung in der Rozengracht durch das Amsterdamer Arbeiterviertel Jordaan. Lautstark machen sie ihrer Wut Luft: Ihre ohnehin geringe Arbeitslosen-Unterstützung ist zum 3. Juli um zwölf Prozent gekürzt worden. Es kommt zu Kämpfen mit der Polizei.

5. Juli – In mehreren Arbeitervierteln Amsterdams, aber vor allem im Jordaan, herrscht Aufruhr. Autos werden umgestürzt und angezündet, Geschäfte geplündert, Barrikaden gebaut. Die aufgebotenen Polizisten werden mit Pflastersteinen und Dachziegeln, mit Blumentöpfen und Hausrat aus den Fenstern beworfen. Selbst die berittene Polizei muss sich zurückziehen.

6. Juli – Der Bürgermeister hat die Armee um Verstärkung gebeten. Sie rückt mit Gewehren, Mörsern und gepanzerten Wagen an. Straße um Straße im Viertel um die Noorderkerk wird von den Soldaten geräumt.

7. Juli – Am Samstagmorgen ist der Aufruhr im Jordaan vorbei. Die Statistik zählt 5 Tote, 30 Verwundete liegen in den Krankenhäusern, 107 Personen wurden festgenommen. Heute erinnert eine Bronzeskulptur vor der Noorderkerk, wo samstags der große Markt um die Kirche ein buntes, bewegtes Ensemble bildet, an die ohnmächtige Wut der Menschen.

Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich weiter. 1934 stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Amsterdam auf 50000; 1935 waren laut Statistik 54000 Menschen ohne Arbeit, in der Realität noch viel mehr. Im Winter 1934/35 befragte die Stadt Arbeitslose und Familienangehörige nach ihrem Alltag. Die Mehrheit war gleich zu Beginn der Krise entlassen worden, hatte keinerlei Hoffnung, je wieder Arbeit zu bekommen. Die Betroffenen waren erbittert und mutlos, und es fehlte ihnen die Energie zum Protest.

In der nationalen Politik blieb Ministerpräsident Hendrik Colijn von der calvinistisch-protestantischen ARP (Antirevolutionäre Partei), die im Bündnis mit anderen konfessionellen Parteien und den Liberalen regierte, unangefochten. Das bürgerliche Lager vertraute dem »Steuermann«, der auf Wahlzetteln als der »von Gott gesandte Führer der ARP« gepriesen wurde. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik lehnte der selbstbewusste Colijn, Jahrgang 1869, ein aktives staatliches Eingreifen unbeirrt ab. Löhne kürzen, Preise senken, Leute entlassen, blieb seine Devise, der Markt wird sich von alleine wieder aufrichten. Die Folge des rigorosen Sparkurses: 1934 war das reale Einkommen in den Niederlanden pro Kopf im Vergleich zu 1929 um 30 Prozent gesunken.

Kein öffentliches Aufbegehren, keine Streiks im Land. Immerhin: Bei der Kommunalwahl im Frühjahr 1935 verloren in Amsterdam die bürgerlich-konfessionellen Parteien Stimmen, die Sozialdemokraten gewannen zu ihren 16 Sitzen im Gemeinderat einen hinzu. Aber Monne de Miranda, der neue-alte Beigeordnete, hatte kein Geld mehr für den sozialen Wohnungsbau. Es war nicht nur vorbei mit den beispielhaften städtebaulichen Wohnprojekten in Amsterdam. Seit das schöne neue Viertel Amsterdam Zuid im Oktober 1929 fertig war, blieben viele Wohnungen, für Beamte und Besserverdienende gedacht, leer – bis 1933. Dann plötzlich fanden sich zahlungskräftige Mieter für die modernen Wohnungen: Amsterdam Zuid profitierte von den jüdischen Flüchtlingen aus NS-Deutschland.

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Der Wirtschaftskrise zum Trotz: Tanz auf dem Dam 1935

Otto Frank mit seiner Familie am Merwedeplein ist ein typisches Beispiel: In der Mehrzahl waren es Kaufleute, verheiratet, um die vierzig, mit finanziellem Polster und bereit, sich mit aller Kraft in den Niederlanden zu engagieren. Amsterdam Zuid – ob in der Rivierenbuurt (Flüsseviertel) oder dem Viertel um Apollolaan und Beethovenstraat – erinnerte sie an das heimatlich-elegante Ambiente in Düsseldorf, Berlin oder Frankfurt.

Die Beethovenstraat mit ihren breiten Bürgersteigen und der Tram-Linie 24 in der Straßenmitte, die bis zum Hauptbahnhof fuhr, avancierte bald zur deutschen Kauf- und Flaniermeile von Amsterdam Zuid. Zuerst eröffnete 1934 Leo Pollack »Delicia«, eine Bäckerei nebst Lunchraum, wo es deutsche Leckereien wie Nuss- oder Käsetorte und deutsches Brot gab. 1935 folgte Metzger Siegfried Hergershausen aus Duisburg, die Kundinnen standen Schlange – deutsche Wurst! Neben einem koscheren Restaurant, einem Obst- und Gemüseladen, dem Optiker Bamberger, der feinen Herrenmode und dem Fotoatelier der Münchnerin Grete Weil bildete das Café de Paris mit seiner Terrasse den allseits beliebten »Sahnetupfer« der Beethovenstraat. Immerhin hing bei Delicia ein Schild mit dem Hinweis, hier werde auch Holländisch gesprochen.

Die deutschen Juden lebten in Amsterdam Zuid in ihrer eigenen Welt. Da die meisten keine niederländischen Zeitungen lasen, haben sie nicht viel vom Marsch der 16000 NSB-Mitglieder erfahren, die Ende März 1935 vom Bahnhof in ein Ausstellungsgebäude im Viertel De Pijp marschierten. Sie mussten die Innenstadt meiden, Fahnen und Musik waren verboten. Im Innern der Halle jedoch war eine Ehrentribüne für Anton Mussert, den »Leider« (Führer) der Nationalsozialistischen Bewegung aufgebaut. In seiner Rede warnte er, das niederländische Volk stünde vor dem Untergang. Nur die NSB könne noch Rettung bringen.

Wenige Tage später riefen die Sozialdemokraten zu einer Gegendemonstration für Frieden, Wohlfahrt und Freiheit auf. Rund 35000 Amsterdamer kamen. Die Regierung von Ministerpräsident Hendrik Colijn hatte Militärs und Beamten schon 1934 verboten, Mitglied in der NSB zu sein und die Wehrabteilung (WA) der NSB durfte öffentlich nicht in schwarzer Uniform auftreten. Jetzt nannte Colijn die NSB einen faschistischen Import aus Deutschland, den man im Keim ersticken müsse. Es war Wahlkampf. Das Ergebnis der Provinz-Wahlen Mitte April 1935 schockierte die Niederlande: Gewinner war die NSB, die aus dem Stand landesweit im Durchschnitt 7,9 Prozent der Stimmen erhalten hatte und besonders in den großen Städten erfolgreich war. Am Regierungssitz Den Haag bekam sie 12,02 Prozent, in der Hauptstadt Amsterdam 10,8 Prozent. Mittelständler, Bauern und begüterte Bürger hatten sie gewählt. Im Juni zählte die NSB rund 43000 Mitglieder.

Im gleichen Monat noch tat sich ein Komitee zusammen, um entschieden für die Demokratie zu werben und gegen alle rechten und linken Extreme im Land Flagge zu zeigen, vor allem aber gegen die NSB. »Einheit durch Demokratie« (EDD) war Name und Programm; ein achtundzwanzigjähriger Pastor der Reformierten Kirche stand an der Spitze. Schon in den ersten zwölf Monaten konnte die EDD rund 10000 Mitglieder gewinnen.

Doch die niederländischen Nationalsozialisten fühlten sich von einer Welle des Erfolgs getragen. Aggressiv warben NSB-Mitglieder an zentralen Plätzen und Straßen Amsterdams für das Partei-Blatt »Volk und Vaterland« oder fanden sich zu Fahrrad-Rudeln zusammen, um den Verkehr in der Innenstadt zu stören.

Es gab Bereiche, wo die NSB – bei aller Abgrenzung der Kirchen – christliche Verbündete fand. Mit christlichen Gruppierungen und den konfessionellen Parteien wetterte die radikale Rechte gegen die Verrohung der Sitten durch die moderne Massenkultur. Filme, Jazz- und Tanzmusik aus Amerika, freizügige Revuen aus Paris und kesse Schlager aus dem Berlin der zwanziger Jahre waren ihnen ein Gräuel. Aber entgegen ihrem lautstarken Auftreten hatten die Untergangspropheten die Menschen in der Hauptstadt nicht hinter sich. Die Mehrheit der Amsterdamer hatte sich längst für die weltoffene internationale Unterhaltungskultur entschieden. Das Jahr 1936 brachte neuen musikalischen Import aus der Neuen Welt, der sofort Anklang fand.

In Amsterdam öffneten die ersten »schwarzen Klubs«, zuerst der Kit Kat Club, wo Coleman Hawkins aus Missouri, unerreichter Meister auf dem Tenorsaxophon, auftrat. Noch beliebter wurde der Negro Palace, denn er lag zentral am Thorbeckeplein, der sich fast nahtlos an den Rembrandtplein anschließt. Negro Palace warb mit der Attraktion seines »weltberühmten Negerpianisten«. Die offiziellen Tugendwächter waren alarmiert. Beide Klubs seien eine »Gefahr für die öffentliche Sittlichkeit« und zumal für junge Mädchen eine »sexuelle Attraktion«. Das schrieb Amsterdams Polizeichef im Dezember 1936 an den Bürgermeister und fuhr fort: »Vor allem das Auftreten des Bandleaders versetzt den Besucher in den Zoo.« Doch während man die Gesichter der Affen im Zoo noch schätzen könne, sei der »Auftritt dieser Menschenaffen nur noch eklig anzusehen«.

Der Bürgermeister handelt im Sinne seines obersten Polizisten und fordert die Klubs auf, alle »Neger« umgehend zu entlassen, sonst würden ihre Konzessionen entzogen. Negro Palace protestiert und entlässt 17 Musiker. Aber nur kurzfristig, denn es weiß, das Publikum steht hinter der »Negermusik«. Noch in der laufenden Wintersaison werden wieder farbige Musiker eingestellt. Ab 1937 spielt Coleman Hawkins wieder regelmäßig im Negro Palace. Aus den Revuen und Varieté-Aufführungen der Theater sind farbige Künstler nicht mehr wegzudenken. Theater Carré wirbt mit den Harmony Kings als »Neger-Sängern mit Weltreputation!!«. Stadtverwaltung und Polizei reagieren nicht weiter. Im Zweifel siegt die Amsterdamer Toleranz, augenzwinkernd-pragmatisch.

Unterdessen stieg die Zahl der Arbeitslosen in Amsterdam weiter, auf 58000 im Jahr 1936. Der wichtige Export nach Deutschland – Butter, Eier, Käse, Gemüse und Gartenprodukte – war völlig eingebrochen. Vor 1930 gingen für rund 400 Millionen Gulden Güter über die Grenze; 1936 erreichte der Export nach Deutschland gerade einmal 117 Millionen. Hitler-Deutschland, dessen Ziel eine in allen Bereichen autarke Nation war, hatte 1933 die Einfuhrzölle erhöht. Aufgrund seiner geografischen Lage musste das kleine Land gegenüber dem mächtigen Nachbarn auf dem politischen Parkett leise auftreten: Es war abhängig von positiven Wirtschaftsbeziehungen zum deutschen Reich, unabhängig davon, wer dort regierte.

Im Inland dagegen konnte die Regierung aktiv werden, um zu zeigen, dass sie die Arbeitslosigkeit mit allen Mitteln bekämpfte. Der Blick richtete sich auf die Flüchtlinge aus Deutschland. Wer bleiben und arbeiten wollte, dem legten die niederländischen Gesetze bis Ende 1934 nichts in den Weg. Auch wenn der Strom der Flüchtlinge seit Ende 1933 stark nachgelassen hatte, kam immer noch eine kleine Zahl von Menschen jenseits der Grenzen, die in ihrer Heimat diskriminiert und verfolgt wurden, oder nicht mehr unter dem NS-Regime leben wollten. Ab 1. Januar 1935 benötigten Ausländer in den Niederlanden eine Arbeitserlaubnis, ausgenommen die beliebten deutschen Dienstmädchen, deren Arbeit nachweislich von holländischen Frauen verweigert wurde.

In Amsterdam griff die Stadtverwaltung durch, um den einheimischen Unterhaltungskünstlern vor den Ausländern Arbeitsplätze zu sichern. Ab 1936 sollte selbst Rudolf Nelson mit seiner Revue-Truppe für drei Monate pro Jahr ins Ausland gehen und stets von Neuem um eine Auftrittserlaubnis anhalten. Als die Einschränkungen zum Jahresende 1935 bekannt wurden, stürmten die Besucher demonstrativ die Nelson-Abende im La Gaîté, hunderte Fans mussten draußen bleiben. Die Presse von links bis rechts warb einheitlich dafür, dass die Amsterdamer ganzjährig »ihren Nelson« behalten durften – »in seinem Fach ist er der beste, wie Toscanini«. Es half nichts, am 31. Dezember 1935 stieg die große Abschiedsparty für die Nelson-Truppe.

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Jordaanviertel dreißiger Jahre: immer mehr Menschen stehen um Arbeitslosengeld an

Im März 1936 feierten die Amsterdamer triumphal die Rückkehr. Rudolf Nelson dankte mit der neuen Revue »Hallo Amsterdam« und ließ mehr Texte denn je auf Niederländisch vortragen. Im Juni ging die Truppe wie vorgeschrieben außer Landes, nach Wien und London; am 1. September folgte wieder die stürmisch bejubelte Rückkehr in Amsterdam. Diesmal durften die Lieblinge des Amsterdamer Publikums bis Februar 1937 an einem Stück im La Gaîté auftreten.

Im April 1936 kam Erika Mann mit ihrem Kabarett »Die Pfeffermühle« zum dritten Mal an die Amstel, diesmal ins Rika Hopper-Theater und feierte den eintausendsten Auftritt. Das Publikum war begeistert, auch die niederländische Regierung wünschte sich weitere Gastspiele. Doch das Kabarett, so ihre schriftliche Vorgabe, müsse in Zukunft auf jede, auch die »indirekteste politische Wirkung« verzichten. Damit sah Erika Mann die finanzielle Existenz der »Pfeffermühle« insgesamt gefährdet, denn bei ihren Tourneen waren die Niederlande »das ertragreichste Jagdrevier«. Im September 1936 fährt Erika Mann mit ihrem Bruder Klaus Mann auf einem holländischen Dampfer in Richtung Neue Welt.

Im gleichen Monat kommen Hans Keilson und seine Verlobte Gertrud Manz als Emigranten nach Amsterdam. Der studierte Mediziner, Jahrgang 1909, hatte im Frühjahr 1933 erfolgreich seinen ersten Roman im S. Fischer Verlag veröffentlicht, aber als Jude für seine beiden Talente keine Zukunft in Deutschland. Gertrud Manz, Katholikin, drängt auf Emigration; Hitler, davon ist die Grafologin überzeugt, »zündet die Welt an«. In Amsterdam haben sich die Zeiten drastisch geändert für »Fremdlinge«, so der niederländische Terminus. Immer seltener wird mit Blick auf die eigenen Arbeitslosen Arbeitserlaubnis erteilt.

Über ihre Zeit an der Amstel schreibt Hans Keilson ein »Amsterdamer Lied«: »Zu Amsterdam im vierten Stock / mit einer Laus im Haar, / da lebten wir, mein Schatz und ich, / dreiviertel und ein Jahr. // Wir liebten uns am Schwanenteich / des Nachts im Vondelpark. / Der Himmel glühte Leuchtmetall, / die Erde roch so stark. // Die Freiheit saß uns im Genick, / zuvor die Polizei. / In Amsterdam war es noch kalt / im Tulpenmonat Mai … Es lebt sich in der schönsten Stadt / selbst mit der liebsten Frau, / wenn man dort keine Arbeit hat, / am Ende ungenau … Kind, pack die Koffer wieder ein! / Zu Ende ist die Jagd. / Noch einmal über’n Rembrandtplein, dann schmeiß dich in die Gracht!« Das taten die beiden dann doch nicht, sondern zogen in das nahe gelegene Bussum. Gertrud Manz fand Arbeit als Grafologin, Hans Keilson betreute Kinder psychotherapeutisch innerhalb der Grenzen niederländischer Gesetze. Seine deutschen Examen als Mediziner wurden nicht anerkannt. (Am 31. Mai 2011 ist Hans Keilson, in den Niederlanden ein anerkannter Therapeut, hierzulande als deutscher Schriftsteller wiederentdeckt, in Bussum gestorben.)

Die immer rigorosere Flüchtlingspolitik soll den Zustrom an Flüchtlingen austrocknen und Hitler-Deutschland signalisieren: Wir wollen kein Zufluchtsort für Gegner der deutschen Regierung werden und damit indirekt Partei ergreifen, sondern neutral bleiben. Seit rund 120 Jahrhunderten waren die Niederlande mit ihrer Neutralitätspolitik gut gefahren und in keinen europäischen Krieg verwickelt worden. Das nennt man Realpolitik, und für die gibt es stets gute Gründe.

Aber Tausende Amsterdamer wollten Flagge zeigen gegen die menschenverachtende antijüdische Politik der deutschen Regierung und waren im September 1935 dem Aufruf des Komitees für Jüdische Angelegenheiten gefolgt. Es war im Frühjahr 1933 gegründet worden, um für die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland materielle und seelische Hilfe zu leisten. Vier Tage nach der Verabschiedung der »Nürnberger Rassengesetze« durch den Deutschen Reichstag am 15. September 1935 protestierten Frauen und Männer in der Apollohalle in Amsterdam Zuid, einem eleganten Bau der Amsterdamer Schule, gegen die erneute Entrechtung und Unterdrückung »ihrer Glaubensgenossen in Deutschland«, die »zu Menschen zweiten Ranges« erklärt worden seien. Die Stimmung der Zuhörer wechselte zwischen atemloser Stille und donnerndem Applaus. Minutenlange Ovationen bekamen der protestantische Theologe, der das jüdische Volk einen Segen für die Menschheit nannte und mit einem »Heil Israel« endete und der katholische Kaplan, der ausrief: »Wenn es um die Niederlande geht, dann sind wir keine Katholiken, keine Protestanten, keine Juden – dann sind wir alle Niederländer.«

Seit jüdische Flüchtlinge um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert an die Amstel kamen, mussten sie sich nicht verstecken, sondern konnten sich in ihrem »neuen Vaterland« sicher und geborgen fühlen. Und daran hatte sich bis 1935 nichts geändert: In den Niederlanden gab es keine Verfolgungen, mussten Juden keine Vertreibung fürchten und konnten ihre religiösen Gesetze und Traditionen frei leben.

Während sich in Deutschland und Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts politische Parteien gegründet hatten, die Antisemitismus in ihr Programm schrieben, schloss das niederländische Nationalgefühl die jüdischen Bürger mit ein. Es gab keine »Judenfrage« in Holland. Antisemitismus war, anders als in den Nachbarländern, weder in den feinen Kreisen noch in der Öffentlichkeit salonfähig. Es erschienen keine Zeitungsartikel voller Hass auf die »jüdische Rasse«.

Nach der Volkszählung von 1930 lebten in der Hauptstadt der Niederlande 65523 Menschen, die als Religionsangabe »jüdisch« ankreuzten. Das bedeutet: 58,5 Prozent aller holländischen Juden lebten in Amsterdam und stellten dort 8,6 Prozent der Bevölkerung. Von der Gesamtbevölkerung der Niederlande wiederum machten die Mitglieder der jüdischen Gemeinden gerade einmal 1,41 Prozent aus. In Amsterdam waren die Juden im Durchschnitt so arm und so reich wie die Mehrheitsbevölkerung und in allen Schichten vertreten.

Parallel zu Entwicklungen in den christlichen Konfessionen gingen die Bindung an die Gemeinde und der Synagogenbesuch zurück. Doch wie fern man seinem Glauben auch stand: Am Freitagabend, wenn der Schabbat begann, kamen die Juden in allen Vierteln Amsterdams zu einer festlichen Mahlzeit im großen Familienkreis zusammen, und die traditionelle Hühnersuppe durfte nicht fehlen. Mehr als achtzig koschere Geschäfte konnten sich an der Amstel halten: Metzgereien, Bäckereien, Hühner- und Kuchengeschäfte, dazu einige Restaurants, und alles wurde auch eifrig von der nichtjüdischen Bevölkerung genutzt.

Das alte Judenviertel in der Innenstadt, wo die Juden rund die Hälfte der Bewohner stellten, war in den dreißiger Jahren zum Teil abgerissen und saniert, aber immer noch gab es um Nieuwe Achtergracht und Weesperplein feuchte dunkle Kellerwohnungen. Hier wohnten seit Generationen Christen und Juden problemlos Tür an Tür. Ebenso lebten in den neuen Vierteln – Transvaal, Plantage, Amsterdam Zuid – wo der jüdische Anteil bei rund dreißig Prozent lag, Menschen verschiedenen Glaubens friedlich zusammen. Die geschäftige Jodenbreestraat und die beliebten jüdischen Märkte waren für alle Amsterdamer attraktiv. Und umgekehrt gilt: Ob Louis Davids, der elegante Sänger, Schauspieler und Revue-Künstler, Monne de Miranda, der populäre sozialdemokratische Kommunalpolitiker oder der Architekt Michel de Klerk, Begründer der Amsterdamer Schule: sie wurden von den Amsterdamern nach ihren Talenten und ihrem Können beurteilt. Nicht anders erging es den jüdischen Künstlern, die aus Deutschland kamen wie Rudolf Nelson oder Dora Gerson.

Die Historiker sind sich darin einig, dass die Juden Amsterdams in den dreißiger Jahren zu einem hohen Teil gesellschaftlich etabliert und kulturell integriert waren. Das schließt antijüdische Vorurteile nicht aus, oder einen »sanften Antisemitismus«, wie es manche Experten nennen. Witze über Juden waren im Umlauf, manch einer sah von oben auf die »Joodjes«, die Jüdlein, herab. Der »Große Klub« der Industriellen am Dam hatte keine jüdischen Mitglieder. Die jüdische Minderheit wurde weiterhin als eine Gruppe für sich gesehen. Abgrenzung jedoch war in der »versäulten« niederländischen Gesellschaft nicht die Ausnahme sondern die Regel.

Als Jude kann man mit antijüdischen Vorurteilen besser leben, wenn man weiß, dass ein holländischer Protestant jeden Katholiken zur Hölle wünscht, wenn der Katholik niemals seine Kinder in eine protestantische Schule schicken würde. Ein jüdischer Ruderverein fühlt sich nicht als Außenseiter, wenn es selbstverständlich katholische, protestantische und sozialistische Ruderklubs gibt. Keine Minderheit ist diskriminiert, wenn die »Souveränität im eigenen Kreis« allgemeine Richtschnur für die Gesamtstruktur der Gesellschaft ist. Wenn der Grundsatz gilt, dass jede Gruppe ihr eigenes Milieu bildet und zugleich das Existenzrecht der anderen akzeptiert und alle in übergreifenden Bereichen zu Kompromissen bereit sind.

Politisch-rassistischer Antisemitismus zeigte sich zuerst bei den niederländischen Nationalsozialisten. Es war ein Tabubruch, als eine NSB-Zeitung 1936 eine antisemitische Kampagne begann. Als im April 1937 Dora Gerson im La Gaîté auftritt, stören Amsterdamer NSB-Mitglieder die Vorstellung der aus Deutschland geflüchteten jüdischen Kabarett-Sängerin mit lauten antisemitischen Bemerkungen. Stolz schildert die sozialdemokratische Zeitung Het Volk, was dann geschah: »Sie standen allerdings augenblicklich draußen in der kühlen Luft … ihr Verschwinden wurde vom Publikum mit Applaus begrüßt.«

Im Mai 1937 stellte sich die NSB erstmals nach dem sensationellen Erfolg von 1935 wieder zur Wahl. Die Aktion »Einheit durch Demokratie« (EDD) hatte sich inzwischen mit 30000 Mitgliedern zu einer Massenbewegung entwickelt. Im Wahlaufruf der EDD wurde an die Grundprinzipien des niederländischen Volkes erinnert: Verbundenheit mit dem Haus Oranien – Treue zu Prinzipien des Christentums und der Menschlichkeit – Kampf für die Gewissensfreiheit. Die Wähler wurden aufgerufen, ihre Stimme keiner nationalsozialistischen oder kommunistischen Partei zu geben: »Lasst die Antwort an jene, die unser Volk dem Untergang weihen wollen, deutlich sein«. Die Antwort war eindeutig: Die NSB sackte landesweit von knapp 8 auf 4 Prozent ab.

Nach diesem Misserfolg nähern sich die niederländischen Faschisten programmatisch mehr und mehr den deutschen Nationalsozialisten an. 1938 wird Anton Mussert erklären, dass die NSB im Gegensatz zur bisherigen Praxis für Juden verboten ist. Doch die »Bewegung« gewinnt durch ihre Radikalisierung keine neuen Mitglieder. Gestern noch als Idealisten innerhalb der Gesellschaft geduldet, gelten NSB-Anhänger zusehends als »Hitler-Knechte« und »Verräter«, die sich außerhalb des grundlegenden nationalen Konsens stellen.

Auch in anderen Bereichen scheint sich eine Wende zu früheren soliden Zuständen anzudeuten. Die Zahl der Arbeitslosen geht 1937 erstmals seit 1930 zurück. Den Lieblingsschlager des Jahres singt Lou Bandy, ein Meister einfacher, fröhlicher Lieder und Revue-Star im Theater Carré; der flache Strohhut Modell »Kreissäge« ist sein Markenzeichen. »Bring Dir Freude ins Leben, schieb die Sorgen beiseite«, ermuntert Bandy, »was andre Dir nicht geben können, hast Du selber in der Hand … Als Jonas im Walfischbauch saß, kam er doch auch wieder heraus.« Die bibelfesten Niederländer nahmen diesen Stimmungsmacher dankbar auf. Doch der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wie es der Pessimist Wilhelm Busch formuliert, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Am 12. März 1938 überqueren 65000 Soldaten der deutschen Wehrmacht die Grenze nach Österreich. Drei Tage später verkündet Hitler auf dem Heldenplatz in Wien »den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich«. Tausende Österreicher, vor allem Juden – auch Emigranten, die dort auf Sicherheit hofften – flüchten, unter anderem in die Niederlande. Um dem befürchteten Menschen-Zustrom generell zu wehren, wird die Grenze für Flüchtlinge aller Nationalitäten geschlossen. Asyl wird nur noch dem gewährt, der nachweisen kann, in Lebensgefahr zu sein. Wer illegal in den Niederlanden aufgegriffen wird, kommt in eines von 25 Lagern. Der Justizminister bezeichnet die Flüchtlinge als »unerwünschte Elemente«. Die öffentliche Empörung über den Minister ist groß. Die Regierung erlaubt daraufhin aus »humanitären Gründen«, dass weitere 800 Flüchtlinge bis zum Jahresende einreisen dürfen.

Die Stimmung in den Niederlanden hat sich – nach anfänglichem wohlwollendem Abwarten – seit Mitte der dreißiger Jahre eindeutig gegen Hitler-Deutschland gewendet. Langsam tauchen neben aller Hilfe für die Flüchtlinge auch Fragen auf: Sind die jüdischen Emigranten aus Deutschland zuerst Juden oder nicht doch, trotz aller Verfolgung, zuerst ihren deutschen Wurzeln verpflichtet? War die Gefahr nicht groß, dass sich der Hass der Niederländer gegenüber NS-Deutschland mit antisemitischen Gefühlen auflud?

In den liberalen Zeitungen kommt eine Diskussion in Fahrt, die sich vor allem auf Amsterdam bezieht, wo sich die meisten Flüchtlinge niedergelassen haben: »Die natürliche Sympathie, die wir den jüdischen Emigranten entgegenbringen … wird hierzulande beeinträchtigt durch diejenigen Emigranten, die uns unsympathisch sind, nicht, weil sie deutsche Juden, sondern weil sie deutsche Juden sind.« Der Vorwurf, den Het Liberale Weekblad am 15. Juli 1938 den Emigranten macht: »Ihre Vorliebe für die deutsche Sprache, die deutschen Sitten, die Verherrlichung Deutschlands im Vergleich zu Holland sind widerwärtig.« Zum Schluss zitiert die Zeitung den »Brief einer gebildeten Dame«, die sehr viel für die Sache der jüdischen Emigranten getan habe: »Ich ›koche‹, wenn ich sehe, wie Amsterdam sich in eine deutsche Stadt verwandelt.« Genauer gesagt: Amsterdam Zuid war der Stein des Anstoßes.

Die deutschen Juden in Amsterdam Zuid pflegten in der Öffentlichkeit unüberseh- und unüberhörbar ihre deutschen Eigenheiten: Sie trugen feine Pelzjacken und teuren Schmuck und machten ihre Bestellungen in Cafés, Eissalons und Geschäften auf Deutsch, meist sehr laut. Vom Schaffner in der Straßenbahn-Linie 24, von den Amsterdamern nur noch »Berlijn Expres« genannt, forderten sie ihren Fahrschein unmissverständlich auf Deutsch.

Untereinander, aber auch gegenüber ihrem Gastvolk, nahmen die Vergleiche mit der Heimat, in der doch ihr Leben bedroht gewesen war, kein Ende. Von ihren niederländischen Nachbarn wurden sie bald die »Bijunskis« (Bei-uns-Menschen) genannt: »Bei uns war alles besser … Bei uns wäre das nicht möglich gewesen…!« Kaum einer machte Anstrengungen, sich der holländischen Kultur zuzuwenden, die Sprache zu lernen. Das alles schmerzte die niederländischen Juden doppelt: Sie fühlten mit ihren vertriebenen Glaubensgenossen und waren mit ihnen solidarisch; aber als Niederländer empfanden sie das Auftreten der Flüchtlinge als überheblich, ungehörig, undankbar.

Im September 1938 war in Amsterdam endlich wieder Gelegenheit, zu zeigen, wie sehr die ganze Nation sich als Einheit verstand. Die Hauptstadt konnte die Menschen kaum fassen: Eine Million Menschen kamen aus allen Teilen des Landes, als Königin Wilhelmina ihr vierzigjähriges Thronjubiläum feierte. Es begann mit einem festlichen Gottesdienst in der Nieuwe Kerk, dann folgte ein Konzertabend im Concertgebouw unter der Leitung von Willem Mengelberg, und am 9. September der Höhepunkt: In stundenlangem Defilee huldigten im Olympiastadion alle Teile der Gesellschaft bis weit in die Dunkelheit der Königin, die seit vier Jahren Witwe war. Königin Wilhelmina fasste die Erwartungen der Menschen in Worte, wenn sie erklärte, ihre »Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen in dunklen Zeiten« sei für sie »mehr denn je Quelle der Freude«. Es war eine große Feier gegenseitiger nationaler Ermutigung.

Am 1. Oktober marschierten wiederum deutsche Soldaten über eine Grenze, diesmal besetzten sie das Sudetenland. Am 21. Oktober fand nachts die erste Verdunkelungs-Übung in Amsterdam statt. In der Stadt waren Sirenen angebracht worden, und die Bevölkerung sollte alle Fenster mit dicken Gardinen licht-dicht abschließen. Die Flugzeuge, die das Experiment von oben beobachteten, kamen mit schlechter Nachricht zurück: nicht nur, dass tausende von Zigaretten im Dunkeln glühten, weil die Amsterdamer neugierig vor die Türen gegangen waren. Selbst bei Verdunkelung war Amsterdam durch den Grachtengürtel und die weiten Wasserflächen von Amstel und IJ für einen Angreifer aus der Luft gut erkennbar.

Als Radio und Zeitungen im Laufe des 10. November 1938 berichteten, welchen barbarischen, mörderischen Aktionen die Juden in Deutschland in der Nacht zuvor ausgesetzt waren, zeigte sich die große Mehrheit der Niederländer schockiert. An die niederländische Regierung gingen in den folgenden Tagen 50000 Asylanträge deutscher Juden, denen schmerzlich klar wurde, dass alle Hoffnungen, in ihrem Heimatland – und sei es als Menschen zweiter Klasse – leben zu können, Illusion waren. Als Ministerpräsident Colijn erklärte, nur 2000 Flüchtlinge aufzunehmen, protestieren rund 50000 Niederländer mit einer Petition, die Grenzen großzügig zu öffnen. Die sozialdemokratische Parteizeitung Vrijheid, Arbeid, Brood forderte: »Öffnet die Pforten!« Schließlich erhöhte die Regierung die Zahl auf 7000.

Bei einer nationalen Spendenaktion für alle Flüchtlingskomitees kamen über 430000 Gulden zusammen. Zusätzlich wurden 1600 jüdische Kinder aufgenommen, deren Eltern in Deutschland und Österreich sich schweren Herzens von ihnen trennten. Mitte Dezember 1938 wurde die 888 Kilometer lange Grenze der Niederlande zum Deutschen Reich definitiv geschlossen. Etwa 1000 Grenzschützer sind hier stationiert, um jeden illegalen Flüchtling abzuschieben oder in eines der zwei Dutzend holländischen Internierungslager zu überweisen. Legal durften bis zum März 1939 insgesamt knapp 10000 Flüchtlinge ins Land kommen.

Die brennenden Synagogen und die gehetzten Juden im Nachbarland haben den Dichter Ed Hoornik, der Berlin gut kannte, am 12. November 1938 zu einer beängstigenden Vision inspiriert. Er erinnert in seinem Gedicht »Pogrom« daran, dass Amsterdam nur zehn Zugstunden von der deutschen Hauptstadt entfernt liegt – »tien uur sporen naar Berlijn«. Der Wanderer in Hoorniks Gedicht wähnt sich beim Gang durch eine nächtliche Stadt in Berlin, »von Qualm und Flammen umgeben«; er meint, das Wasser der Spree zu sehen. Doch nein: »Es ist der Amstelstrom, ist Amsterdam. / Und auf dem Rembrandtplein geh’n die Laternen an … Ich drücke meine Nägel tiefer noch in meine Hände. / Die Jodenbreestraat ist wie eine tiefe Schlucht; ich sehe meinen Schatten tanzen an den Wänden. / Es sind nur zehn Zugstunden nach Berlin.«

Im Dezember 1938 ist die Emigranten-Revue von Rudolf Nelson nach der vorgeschriebenen dreimonatigen Abwesenheit zurück an der Amstel. Die Amsterdamer strömen wieder Abend für Abend ins La Gaîté, um bei witzigen Liedern, spritziger Musik und vergnügten Sketchen für ein paar Stunden die Welt draußen vergessen zu können. Am Ende des alten Jahres fragt die Redaktion der Zeitung Het Volk den Beigeordneten Monne de Miranda nach seinen Wünschen für das Neue Jahr. »Für 1939 wünsche ich den Arbeitslosen Arbeit,« sagt der sozialdemokratische Politiker, »dem Mittelstand viele Aufträge, den Reichen Verbundenheit mit ihrer Stadt.«

Am 6. Januar 1939 meldet De Telegraaf mit dicken Lettern »Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Baugrundstücken in Amsterdam«. Der Beigeordnete für Wohnungsbau soll städtische Grundstücke, die in Amsterdam nur in Erbpacht vergeben werden, nicht nach korrekten Kriterien, sondern zum eigenen Vorteil vergeben haben. Korruption nennt man das, und De Telegraaf wird von nun an über Monate neue Einzelheiten zum »Erbpachtskandal« auftischen, damit dieser ungeheure Verdacht, der auf Monne de Miranda zielt, nicht aus den Schlagzeilen kommt.

Der fast Vierundsechzigjährige, dessen Leben seit über vierzig Jahren im Dienst seiner Partei steht, bestreitet die Vorwürfe vehement. Aber Monne de Miranda fühlt, wie es im Gemeinderat einsam um ihn wird; die Hetzjagd der Artikel macht ihn mürbe. Mitte Mai begibt er sich auf dringendes Anraten seines Hausarztes in ein Sanatorium. Die jungen engagierten Ärzte in Koningsheide sind auf Psychosen und Neurosen spezialisiert. Der Patient ist schwer depressiv, fühlt sich schuldig gegenüber seinen Kindern und seiner Frau.

Ende Juni sind Kommunalwahlen in Amsterdam. Monne de Miranda, der seit 1911 ununterbrochen in den Gemeinderat gewählt worden ist, verzichtet auf ein weiteres politisches Mandat. Die Wahlen fallen verheerend aus: Die SDAP verliert drei Sitze, die gleiche Anzahl von Sitzen gewinnt mit 6,9 Prozent die NSB.

Nur wenige Wochen später, im Juli 1939, geht auf der nationalen Bühne nach zwanzig Jahren die Koalition der konfessionellen Parteien – Protestanten und Katholiken – zu Ende. Ministerpräsident Hendrik Colijn führt seine protestantische ARP in die Opposition. Die Katholiken, die lange schon eine aktive staatliche Sozialpolitik fordern, um aus der Wirtschaftskrise herauszukommen, bilden mit den Sozialdemokraten und einer kleinen protestantischen Partei eine neue Mehrheit. Ein historischer Moment, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Niederlande ist die SDAP an der nationalen Regierung in Den Haag beteiligt und stellt zwei »rote« Minister. Zwei Jahre zuvor hatten sich Hollands Sozialdemokraten in einem neuen Grundsatzprogramm von Grundprinzipien des Marxismus gelöst und dem Klassenkampf abgeschworen. Der Parteivorsitzende erklärte einem Kritiker von Links, das Land befinde sich in einem Zustand niemals gekannter Kriegsgefahr, da »müssen wir Zeugnis ablegen von unserem Glauben an die Demokratie«.

Im selben Monat Juli veröffentlichte die unabhängige Kommission zum »Erbpachtskandal« den ersten Teil ihres Berichtes und sprach den Beigeordneten Monne de Miranda von allen Vorwürfen frei, sich an städtischen Grundstücken bereichert oder unlautere Geschäfte gemacht zu haben. Doch die schwer verletzte Seele von Monne de Miranda brauchte noch Monate, um unter fachlicher Obhut langsam zu gesunden.

Am 1. Juli war Louis Davids, der Sänger, Schauspieler, Revue-Star und Meister der Kleinkunst in einer Privatklinik am Emmaplein in Amsterdam gestorben. Wegen seiner schweren Asthma-Erkrankung war der Sechsundfünfzigjährige nur noch selten aufgetreten. Aber wenn er 1939 noch einmal auf der Bühne gestanden hatte, dann sagte Louis Davids an einer Stelle des Programms beiläufig ins Publikum: »Morgens, wenn ich aufstehe, schaue ich als erstes aus dem Fenster, um zu sehen, ob ich schon im Ausland bin.« Mit dieser hintersinnigen Bemerkung, die eine plötzliche Besetzung des kleinen Landes durchaus im Bereich des Möglichen sah, stand der Künstler allerdings sehr allein. Politiker wie alle anderen gesellschaftlichen Eliten waren trotz der erfolgreichen aggressiven Expansionspolitik Hitler-Deutschlands überzeugt, dass die strikte Neutralitätspolitik die Niederlande vor allen Eroberungsgelüsten des mächtigen Nachbarn bewahren würde.

Und die Amsterdamer hielten sich gerne an das schöne neue Liedchen von Willy Derby. Der populäre Sänger fuhr im Frühjahr 1939 wieder in das Polydor-Studio in Berlin, wo er 1934 aus Anlass der Fußball-Weltmeisterschaft aufgenommen hatte »We gaan naar Rome …« Auch diesmal kam er mit einer Schallplatte zurück, die ein Hit wurde: »Morgen geht es besser, besser besser … Morgen werden die Sorgen, die wir heute haben, nicht mehr bestehen …«

Für das Ehepaar Willy und Adele Halberstam, Jahrgang 1866 und 1871, war das Heute entscheidend. Es bedeutete, dem Terror in Deutschland entkommen und als jüdische Flüchtlinge ganz legal im April 1939 in Amsterdam angekommen zu sein, wohin ihr Sohn Albert schon 1933 emigriert war. Anfang Juni bezogen sie eine Wohnung in der Jan van Eijkstraat in Amsterdam Zuid. Doch das sichere Exil in der Hauptstadt der Niederlande blieb für diese deutsch-jüdischen Flüchtlinge beschwert durch das Gestern – ein Leben als begüterte Geschäftsleute in Berlin, innig verbunden mit allem, was deutsche Kultur und Lebensart ausmachte.

Erhalten haben sich die Briefe der Halberstams an Tochter, Schwiegersohn und Enkelkinder, die ebenfalls im Frühjahr 1939 geflüchtet waren und in Chile Asyl fanden. Fünf Wochen nach ihrer Ankunft fasste Wilhelm Halberstam seinen Eindruck von den Menschen, die sie in ihr Land aufgenommen hatten, zusammen: »Die Psyche der Holländer ist von der meinen so himmelweit verschieden, dass ich nicht einmal die Leute begreifen kann, denen es hier gefällt.« Mitte Juni waren dem Flüchtling aus Deutschland die Holländer »weiterhin ein unerschöpfliches Studienobjekt, aber nicht immer studienwert«.

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Willy Derby: der Schlagersänger kreiert 1939 den Hit »Morgen geht es besser, besser …«

Anders als vielen anderen war es den Halberstams auch noch gelungen, ihren gesamten Haushalt von Berlin nach Amsterdam zu expedieren. »Aber leider hat uns das Auspacken wenig Freude gemacht«, schrieb Adele Halberstam Mitte Juni an ihre Tochter. Glas und Porzellan waren zu Bruch gegangen, der Föhn fehlte, »die wundervollen alten Platten … Vatis braunes Samtjäckchen etc. etc. Wir sind sehr unzufrieden …« Trotz geräumiger Wohnung musste ein Teil der Möbel und Teppiche in den Keller wandern; an den Wänden hingen schwere Ölbilder Rahmen an Rahmen. Dennoch: »Von einem gepflegten Haushalt ist keine Rede, und Vati jammert über die Verwüstung der Möbel.«

Unterdessen verfolgte der Diktator in Berlin konsequent seine mörderischen Pläne, und nahm dafür auch politische Umwege in Kauf, die allen seinen bisherigen Aussagen widersprachen. Für Adolf Hitler heiligte der Zweck alle Mittel.

23. August 1939 – Das Deutsche Reich schließt mit der Sowjetunion, nach der Ideologie des Nationalsozialismus bisher das Reich des Bösen, einen Nicht-Angriffspakt. Jetzt wussten Europas Politiker: Hitler hat freie Hand für weitere Eroberungen im Osten, solange er Russland nicht angreift.

26. August – In Den Haag überreicht der deutsche Gesandte in Anwesenheit des niederländischen Außenministers Königin Wilhelmina eine Erklärung: darin verpflichtet sich Deutschland im Falle eines Krieges die Neutralität der Niederlande zu achten.

28. August – Zuerst hören es die Niederländer in den frühen Radio-Nachrichten: Zu den Waffen! Das gilt für alle Männer, die im Rahmen ihrer Wehrpflicht in der Armee gedient haben. Die Regierung hat eine allgemeine Mobilmachung angeordnet. In Amsterdam sind rund 30000 Männer davon betroffen. Die Zeitschrift Panorama beruhigt ihre Leser: »Nichts spricht dafür, dass unser Gebiet oder unsere Neutralität in diesen unruhigen Zeiten bedroht ist.« Die Mobilmachung sei »nur Vorsorge für den kleinsten Zwischenfall, der unsere Neutralität in Gefahr bringen könnte«. Das spricht allen Niederländern, auch den verantwortlichen Politikern, aus dem Herzen.

29. August – Im Rijksmuseum in Amsterdam wird das berühmteste Bild, »Die Nachtwache« von Rembrandt, aus dem Rahmen genommen und eingerollt. Sollte wirklich der undenkbare Fall eines feindlichen Angriffs eintreffen, kann das nationale Heiligtum sofort an einen sicheren Ort evakuiert werden.

1. September – Das Deutsche Reich überfällt Polen, seinen östlichen Nachbarn. Danzig wird von See aus angegriffen, rund 1,5 Millionen Soldaten der deutschen Wehrmacht brechen über die Grenze in Polen ein. Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg ausgelöst.

3. September – England und Frankreich erklären Deutschland gemäß ihrem Verteidigungs-Bündnis mit Polen den Krieg. Doch sie sind militärisch völlig unvorbereitet und können deshalb nicht in die Kämpfe eingreifen. Die 300000 Soldaten vom niederländischen Heer werden an strategisch wichtige Plätze wie Flughäfen und an die Grenzen verlegt. Auch an die Küste, um zu demonstrieren, dass man gegenüber allen Nachbarn neutral ist – selbst gegenüber England. Das Rijksmuseum mit seinen nationalen Schätzen wird nun vollständig evakuiert und die unersetzlichen holländischen Meister auf Kirchen und Schulen in kleinen Dörfern über das ganze Land verteilt.

4. September – Im Parlament in Den Haag erklärt der Ministerpräsident, dass die Niederlande an ihrer strikten Neutralitätspolitik festhalten. Diese Neutralität sei entscheidend für das Gleichgewicht in Europa. Als ob das nicht längst von Hitler mit seiner aggressiven Politik zerstört worden war und nun erst recht durch den gewalttätigen Überfall auf den polnischen Nachbarn nicht mehr bestand. Als ob dieses eine Wort – Neutralität – wie ein Zauber eine unüberwindbare Mauer um das Land ziehen würde. Nach dieser Logik blieb Adolf Hitler für die niederländische Regierung auch in den folgenden Wochen und Monaten ein »befreundetes Staatsoberhaupt«. Die Presse wurde eindringlich gebeten, dem deutschen Reichskanzler keinen Vorwand mit Artikeln oder Karikaturen zu liefern – als ob man so den Diktator besänftigen könne, die Niederlande mit seiner Kriegspolitik zu verschonen.

19. September – Wie jedes Jahr eröffnet die Königin mit einer Rede das Parlament in Den Haag. Sie lobt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation und bittet, mit der Regierung vertrauensvoll der Zukunft entgegenzusehen. Angesichts des Novums zweier sozialdemokratischer Minister auch dies ein historischer Augenblick im Rittersaal von Den Haag.

Seit dem 1. September hatten alle Amsterdamer Familienvorstände eine »Stammkarte« für die Lebensmittelversorgung erhalten. Eine Regierungsabteilung tüftelte seit 1937 an einem gerechten Verteilungssystem von Nahrungsmitteln und Waren des täglichen Bedarfs für den Krisenfall. Was in den Jahren 1916 bis 1918 geschehen war, sollte sich nicht wiederholen: Die Niederländer hungerten, obwohl das Land vom Ersten Weltkrieg verschont geblieben war. Darum hatten die Amsterdamer dafür Verständnis, dass sie im Oktober 1939 gegen Vorzeigen der Stammkarte im städtischen Verteilungsbüro »Bonnen« (Bons/Bezugsscheine) für Zucker abholen mussten. Von nun an war Zucker rationiert und im Geschäft nur gegen Bons zu kaufen. Als zweites kamen im November Hülsenfrüchte »auf Bon«. Die Bezugsscheine hatten ein Verfallsdatum und mussten immer aufs Neue abgeholt werden. So konnte niemand Bons horten, um Hamsterkäufe zu tätigen. Und überhaupt – es war doch alles nur vorübergehend.

Auch der Luftschutzdienst in Amsterdam wurde aktiviert. Die Mitglieder, alles Freiwillige, waren für 200 öffentliche Luftschutzkeller in der Hauptstadt zuständig, in denen rund 35000 Menschen Zuflucht finden sollten. 25 Kilometer Schläuche und 160000 Gasmasken mussten griffbereit und in Schuss sein. Anhänger der Nationalsozialistischen Bewegung waren von diesem Ehrendienst ausgeschlossen.

Wenige Tage nach Kriegsbeginn, am 5. September, hatte sich der im Juni neu gewählte Amsterdamer Gemeinderat konstituiert und zu seiner ersten Sitzung versammelt. Erstmals seit 1911 saß Monne de Miranda nicht mehr im Rat. Die Sozialdemokraten, die drei Sitze verloren hatten, wählten eine Frau zur Fraktionsvorsitzenden: Alida de Jong, 1885 im Hinterzimmer einer Kellerwohnung im Amsterdamer Judenviertel geboren. Sie hatte eine für eine Frau ungewöhnliche Karriere in der SDAP und der Gewerkschaft gemacht.

Ihre Biografie hatte viele Ähnlichkeiten mit der ihres Parteigenossen Monne de Miranda. Auch sie musste früh Geld verdienen und wurde Kostümnäherin, obwohl sie so gerne auf der Schule geblieben wäre und den Beruf der Lehrerin ergriffen hätte. Mit zwanzig trat Alida de Jong einer Gewerkschaft, ein Jahr später der SDAP bei. Wie Monne de Miranda hatte sie den jüdischen Glauben ihres Elternhauses abgestreift, ohne ihre jüdischen Wurzeln zu verleugnen. Im Juli 1912 erhielt die Siebenundzwanzigjährige als erste Frau in den Niederlanden eine bezahlte Halbtagsstelle bei der Gewerkschaft. Sie kündigte ihre Arbeit in der Nähabteilung vom luxuriösen Warenhaus Bijenkorf am Dam, denn für sie war die Gewerkschaftsarbeit ein Fulltime-Job.

Alida de Jong heiratete nicht. An langen Polit-Abenden der Genossen hielt sie, einzige Frau unter Männern, durch, um ihre Vorstellungen in Partei und Gewerkschaft einzubringen. Sie war pragmatisch, ohne ihr Ideal aufzugeben: die Situation der Frauen in der Arbeiterklasse zu verbessern. Sie bildete sich selber unermüdlich weiter: las, ging ins Theater, in Konzerte, lernte Deutsch. Und forderte Ähnliches von ihren Genossen und Genossinnen: »Wir müssen fortwährend an der geistigen Bildung unserer Klasse arbeiten. Und damit meine ich gewiss nicht allein das männliche Element …«

Erst dreiundvierzigjährig verlässt sie die modrige Kellerwohnung der Familie im Judenviertel, wo sie ein Zimmer mit ihrer Schwester teilte, und zieht zusammen mit der Schwester nach Amsterdam Zuid. 1931 rückt sie ins Parlament nach, eine von 9 Frauen unter 100 Männern in Den Haag. Im Amsterdamer Gemeinderat sitzt Alida de Jong ab 1935. Sie war als Fraktionsvorsitzende eine gute Wahl für schwierige Zeiten.

Seit Ende August 1939 die Mobilmachung ausgerufen wurde, herrschten Unruhe und teilweise eine gereizte Stimmung in Amsterdam. Knapp 800000 Menschen lebten an der Amstel, doch auf weniger Raum als heute. Amsterdam war eine volle Stadt, und die Mobilmachung beförderte noch die Enge. Rund 50000 Häuser und 75 Schulen wurden für die Einquartierung der einberufenen Soldaten gebraucht. Der Hauptbahnhof war ständig überfüllt, ebenso Straßenbahnen, Taxis und Busse. Überall bildeten sich Menschenschlangen, schnell waren hitzige Debatten angestoßen.

Pazifisten wurden aktiv und blockierten die Eingänge zu den Mobilmachungsbüros oder suchten die eingezogenen Soldaten in ihren Quartieren auf. Polizei zog auf, versuchte die aufgebrachte Menge mit Worten zu beruhigen – manches Mal auch mit Pistolenschüssen in die Luft und gezogenem Säbel. Ausgangspunkt aller Diskussionen: Der deutsche Überfall auf Polen hatte mit einem »Blitz-Sieg« im Osten geendet; würde der Diktator sich nun die westlichen Nachbarn vornehmen? Die brutale Logik der deutschen Politik unter Adolf Hitler sprach dafür, doch die Niederländer waren sich weiterhin durch alle Schichten, Parteien und Konfessionen einig: Mochte Europa in Flammen stehen – ihr Land würde verschont bleiben!

In den ersten Abenden nach Ausbruch des Krieges war Amsterdam bei Einbruch der Dunkelheit eine leere Stadt. Die Menschen blieben im Schutz ihrer Wohnungen. Aber das änderte sich schnell: »Nach ein paar Tagen ging das Leben wie üblich weiter: die Kinos waren voll, die Menschen gingen mit wachen Gesichtern durch die Straßen und jeder tat, als ob nichts besonderes geschehen wäre«, das schrieb Hendrik Jan Smeding, Geschichtslehrer an einem Amsterdamer Gymnasium, am 8. September in sein Tagebuch. Er hatte es bewusst Anfang September begonnen, um ein wenig von den aufgewühlten Zeiten im Wort festzuhalten.

Im Land herrschte Friede, egal wie zerbrechlich. Es war an der Zeit, sich um »die Jungs« zu kümmern, die glücklicherweise nicht kämpfen mussten. Aber die Mobilmachung hatte sie aus ihren Familien herausgerissen; in Kasernen, Schulen, Turnhallen und Kirchen stand ihr Feldbett. Überall im Land nähten Frauen ab dem Herbst 1939 für »unsere Jungs« Decken und Kissen, strickten Kniewärmer und Schals: »Mit Stricknadeln in der Hand dient man auch dem Vaterland«. Ein neuer Zweig der Unterhaltungsindustrie entstand. Komiker, Sänger und Schauspieler zogen in die Kasernen und gaben »Entspannungsabende«. Schlagerdichter texteten neue Lieder über das Soldatenleben, die aus allen Radios schallten und beim Marschieren flott über die Lippen gingen.

Besonders beliebt war die Geschichte vom »blonden Mientje« – eine Koseform von Wilhelmina –, die »ein Herz mit Stacheldraht« hatte. Gesungen wurde der Text nach der Marsch-Melodie eines Liedes, mit dem die deutschen Soldaten bevorzugt marschierten, ob in der Heimat oder im besetzten Polen: »Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, / und das heisst – Erika!« Und so klang es nach der »Erika-Melodie« durch Amsterdams Straßen, wenn die Jungs vorbeimarschierten: »Blonde Mientje heeft een hart met prikkeldraad, / Blijf maar thuis … prikkeldraad! …« (Blondes Mientje hat ein Herz mit Stacheldraht, / Bleibt ruhig Zuhaus … Stacheldraht! Denn diese Festung erobert kein Soldat. / Es ist und bleibt … Stacheldraht! … Vom Soldaten bis zum Sergeanten, Adjutanten, Leutenant, / alle sind total verknallt in das blonde Mientje … aber keiner hats zu einem Kuss gebracht …)

Zum Jahresende 1939 verdichteten sich die Gerüchte, dass Deutschland auch im Westen einen Krieg führen und die Niederlande nicht verschonen würde. Aber nichts dergleichen geschah, und man fühlte sich bestätigt in dem Glauben: bei uns nicht! Tatsächlich hatte Hitler schon am 23. Mai 1939 in Gesprächen mit seinen Militärs den Daumen in Richtung Niederlande gesenkt. Wenn es zu einer Offensive im Westen käme – und daran bestand schon vor dem Polenfeldzug für den deutschen Regierungschef kein Zweifel mehr –, dann würde die Wehrmacht »Holland und Belgien besetzen« müssen, um Frankreich zu schlagen und so die Basis für einen erfolgreichen Krieg gegen England zu haben.

Am 4. November traf Monne de Miranda nach fünfeinhalb Monaten im Sanatorium wieder in Amsterdam ein; nur langsam fand er sein seelisches Gleichgewicht wieder. An seine Frau hatte er geschrieben, er werde den Zug um 2 Uhr 16 nehmen und am Amstelbahnhof ankommen: »Da hoffe ich Dich zu finden. Zum Tee sind wir dann zuhause.« Zuhause warteten auch seine jüngsten Kinder, dreizehn und zwölf Jahre alt.

Zu Weihnachten 1939 bietet die Direktion des traditionsreichen Amstelhotels den Amsterdamern an, sie trotz der »Ereignisse im Ausland«, die zu »bedrückender Gemütsverfassung« geführt haben, für einige Stunden von ihren Sorgen zu befreien. Das Hotel lädt ein zu »einem fröhlichen und in kulinarischer Sicht hochstehendem Weihnachtsfest«.

Am 23. Dezember ist der festliche Saal im La Gaîté überfüllt. Rudolf Nelson war mit seiner Truppe den Sommer über im Kurhaus von Scheveningen aufgetreten, nun ist er wieder zurück im heimatlichen Amsterdam. Die Revue »Saison in Amsterdam« hat Premiere. Weil der Revue-Meister weiß, dass seine Fans verwöhnt sind, folgt am 14. Januar 1940 mit »Melodie und Mode« schon die nächste Premiere, fast alle Texte auf Niederländisch.

Im Februar 1940 kommt das Düsseldorfer Theater zu einem Gastspiel an die Amstel mit Schillers »Don Carlos« – ausgerechnet. Immer noch gilt für alle Verantwortlichen in den Niederlanden, dass Deutschland ein befreundetes Land ist, und deshalb trotz der Kriegszeiten anti-deutsche Meinungsäußerungen verpönt sind. Als der Marquis Posa dem König Philipp auf der Bühne ins Gesicht schleudert »Geben Sie Gedankenfreiheit« und das Amsterdamer Publikum demonstrativ Beifall klatscht, gehen sofort die Lichter im Saal an. Blitzschnell ziehen Polizisten, die in Zivil im Publikum saßen, die lautesten Klatscher aus dem Verkehr. Einigen von ihnen wird wegen »Störung der öffentlichen Ordnung« der Prozess gemacht.

Der Winter 1939/40 bricht alle Kälte-Rekorde in den Niederlanden. Endlich kann Ende Januar wieder einmal der traditionelle »Elf-Städte-Lauf« auf Schlittschuhen über zugefrorene Kanäle und Seen stattfinden, der auf zweihundert Kilometern elf Städte und Dörfer in der Provinz Friesland verbindet. Bis weit in den Februar 1940 frönen die Holländer ihrem Lieblingssport, auch Königin Wilhelmina gleitet mit der Familie noch lange übers Eis. Es ist eine erweiterte Familie, seit Prinzessin Juliana im Januar 1937 den deutschen Adligen Bernhard zur Lippe-Biesterfeld geheiratet hat. Bernhard ist ein Charmeur, der die Herzen von Tochter und Mutter gewann, mit Stars von Film und Revue befreundet war, seiner Frau Paris und Budapest zeigte, sie für modische Kleider und Frisuren gewann und die strenge, calvinistisch geprägte Stimmung bei Hofe merklich auflockerte. Die Königin stellte eigenhändig Aschenbecher für den Schwiegersohn in die Salons, und ihre Tochter Juliana traute sich, im Beisein der Mutter die bisher verpönte Zigarette anzuzünden. Inzwischen hatte das Paar zwei Töchter, Beatrix und Irene.

1940: Ein neues Jahr hat begonnen – neue Hoffnungen, neue Ängste. Ab und zu gab es in der Hauptstadt etwas zu feiern, auf das man stolz sein konnte, im März 1940 war es das vierzigjährige Bestehen des Fußballklubs Ajax Amsterdam. Im gleichen Monat starb der letzte Nachtwächter Amsterdams mit 86 Jahren. Wer politisch Flagge zeigen wollte, ging am 1. April ins Theater Bellevue zu einer Veranstaltung unter dem Motto: »Kein Rassenhass in den Niederlanden!« Zu den Rednern zählte auch der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Am Tag danach war die ganze Nation stolz: Vom Amsterdamer Flughafen Schiphol aus startete die Königliche Luftfahrtgesellschaft (KLM) einen regelmäßigen Flugdienst für Güter nach Lissabon.

Am 9. April 1940 war es vorbei mit den angenehmen Alltäglichkeiten. Die Nachrichten und Schlagzeilen meldeten: Überfall der deutschen Wehrmacht auf Dänemark und Norwegen. Dänemark kapitulierte kampflos noch am gleichen Tag; Norwegen leistete heftigen Widerstand. Wann waren die Niederlande an der Reihe?

In Amsterdam jedoch packte niemand die Koffer, um sich auf den kurzen und noch freien Seeweg nach England zu machen. Weder wohlhabende niederländische Juden noch deutsch-jüdische Emigranten flüchteten, auch nicht linke Intellektuelle, die davon ausgehen konnten, dass ihr Leben in Gefahr war, wenn deutsche Soldaten über die Grenze marschierten. Die Historikerin und Schriftstellerin Annie Romein-Verschoor, die mit Mann und drei Kindern nur wenige Minuten von der Familie Frank entfernt im Hochhaus in Amsterdam Zuid wohnte, schreibt in ihren Erinnerungen, wie schwer es ist, diese gespaltene Sicht im Nachhinein zu begreifen. Da waren die Gerüchte über etwas, »das ebenso unvorstellbar wie unausweichlich schien«. Man wartete wie das Kaninchen auf die Schlange und ließ sich doch nicht von der Sicherheit abbringen »that can’t happen here«. Schließlich lebten die Niederlande seit über hundert Jahren im Frieden.

Am 19. April erklärte die niederländische Regierung den Ausnahmezustand, ohne vom Kurs der Neutralitätspolitik abzuweichen. Am 20. April war ein festlicher Empfang im Krasnapolsky am Dam, das beliebte Amsterdamer Luxushotel hatte 75. Geburtstag. Am 2. Mai war Himmelfahrt, ein strahlender vorsommerlicher Tag. Die Amsterdamer saßen auf den Terrassen vor den Cafés, schlenderten durch Vondel- und Oosterpark. Oder sie fuhren beschwingt mit ihren Fahrrädern aus der Stadt hinaus wie der sechsundzwanzigjährige Louis de Jong mit seiner Frau Liesbeth. Das junge Paar, das sein erstes Kind erwartete, genoss den schönen Tag.

Louis de Jong war der Lieblingsneffe von Alida de Jong, der sozialdemokratischen Politikerin. Sie war stolz darauf, dass er – dessen Großeltern nie die ärmliche Wohnung im Judenviertel verlassen hatten – das Gymnasium besucht und Geschichte an der Universität Amsterdam studiert hatte. Louis de Jong wurde Redakteur beim linksliberalen Wochenblatt De Groene Amsterdammer. Zwei Tage nach dem Himmelfahrts-Ausflug erschien am 4. Mai 1940 eine Sondernummer vom Groene Amsterdammer, an der auch de Jong mitgearbeitet hatte. Im Eröffnungsartikel erklärte die Redaktion: »Besonders was die Niederlande betrifft, ist es unsere feste Überzeugung, dass kein äußerer Feind es wagen wird, unsere Unabhängigkeit zu beschädigen …«

Wer Glück hatte, besaß für den Abend von Himmelfahrt eine Karte für das Concertgebouw: Willem Mengelberg dirigierte Beethovens Neunte, die Ode an die Freude: »Alle Menschen werden Brüder …« Willem Mengelberg, der Star des Amsterdamer Musiklebens, hatte seit 1935 viel von seinem Nimbus verloren. Damals war er geschmeichelt, dass Orchester in Deutschland ihn zum Dirigieren einluden. Verständnislos reagierte er auf die Kritik, die sich in der Öffentlichkeit und im Gemeinderat von Amsterdam regte und von solchen Auftritten abriet. Der Faschismus vernichte Kunst und Kultur. Das konnte nach Mengelbergs Logik nicht sein, denn für ihn war Kunst unpolitisch und stand über allen Parteien und Rassen.

Als er 1937 mit dem Concertgebouw-Orchester, in dem viele jüdische Musiker spielten, nach Hitler-Deutschland fahren wollte, hatte ihm das Orchester die Gefolgschaft verweigert. Da fuhr der Maestro eben alleine, dirigierte in Berlin eine Vorstellung der NS-Organisation »Kraft durch Freude« und machte sich nichts daraus, wenn NS-Größen bei seinen Konzerten in brauner Uniform in der ersten Reihe saßen.

Irgendwann verstummte die Kritik. Immer noch konnte Willem Mengelberg sein Orchester und das Publikum für die Musik begeistern. Wer am 2. Mai 1940 eine Karte besaß, ging ins Concertgebouw. Und war es denn nicht eine Vision, an der man festhalten musste, den bedrohlichen politischen Umständen zum Trotz – »Alle Menschen werden Brüder …«

Der folgende Donnerstag, 9. Mai 1940, war ein strahlender, warmer Tag mit wolkenlosem blauem Himmel. Die Amsterdamer fuhren am Morgen mit dem Fahrrad in die Büros, ins Geschäft und nach getaner Arbeit schnell zurück, denn es lockte ein lauer Abend auf dem Balkon oder einer Café-Terrasse mit einem Bier oder einem kopje koffie, und vielleicht noch ein Spaziergang die Gracht entlang. Ein halbes Jahr später, im Oktober, hat der Vizepräsident des Staats-Rates und ein wichtiger Berater von Königin Wilhelmina, sich in Erinnerung gerufen, in welcher Stimmung seine Landsleute an jenem Abend zu Bett gingen: »Waren die Abendzeitungen nicht, wie stets, frei von alarmierenden Berichten? Kein Grund also, sich zu fürchten oder sich Sorgen zu machen. Niederland, geliebtes Niederland, bleibe eine Insel des Friedens … Das muss einer der letzten Gedanken von Tausenden von Niederländern gewesen sein, als sie in dieser besonders klaren Sternennacht des 9. Mai in den Schlaf fielen.«