22

Logan rannte, so schnell er konnte, den Pfad entlang. Er verspürte ein Stechen in der Lunge, war schweißüberströmt, und von dem ganzen Rauch und der Asche des verbrannten Buschwerks, die vom Himmel regnete, waren seine Haut und die Kleider mit einem dunklen, rußigen Film überzogen.

Bei seinem Gewaltmarsch mit Maya von seinem Haus zu Josephs Hütte war ihm aufgefallen, dass das Feuer sich erschreckend weit ausgebreitet hatte. Zwischen diesen Wanderwegen und dem ursprünglichen Brandherd mussten gut eintausend Morgen Land liegen, und trotzdem war er inzwischen so nahe an den Flammen, dass er weiter hinten am Horizont frische Rauchsäulen aufsteigen sehen konnte.

Der Flächenbrand näherte sich ihm mit jeder Minute, die verstrich. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Er konnte es sich nicht mehr leisten, jeden einzelnen Pfad abzulaufen, um Joseph ausfindig zu machen. Er musste sofort den richtigen Weg wählen, und dann konnte er nur noch beten, dass er nicht zu spät kam.

Es war noch nicht einmal Mittag, aber der Wind hatte aufgefrischt und blies jetzt stärker als für diese Tageszeit üblich. Das machte es noch schwieriger für Joseph – und für jeden der Hotshots, die auf dem Berg gegen das Feuer kämpften. Sollte der Wind nicht nachlassen, würde er die Flammen direkt in die Stadt hineintreiben, wo all die Touristen, die den Sommerurlaub hier verbrachten, sich aufhielten. Brände wie dieser suchten immer nach einem Weg hinunter ins Flachland – ihre Gefräßigkeit führte sie zu den Häusern, Autos und Campingplätzen mit vollen Benzinvorräten. Und da nur zwei größere Straßen aus der Stadt hinausführten, würden die unvermeidbaren Staus erhebliche Verluste zur Folge haben.

Logan gelangte an eine Weggabelung und fällte innerhalb einer Millisekunde eine Entscheidung. Er nahm die rechte Abzweigung, die nach Norden führte, und das, obwohl Joseph beim Wandern normalerweise in die andere Richtung ging. Wenn Joseph seine Feuerwehrmontur angelegt hatte, dann nur, weil er fest entschlossen war, den Brand zu bekämpfen. Dieser Wanderweg führte direkt dorthin.

Etwa vierhundert Meter nach der Wegkreuzung sah er plötzlich einen riesigen Feuerwirbel, der den Hang hinauf auf ihn zuraste. Logan brachte sich mit einem Sprung hinter einen Felsen in Sicherheit und sah von dort aus zu, wie die Säule aus Feuer und Asche den Berghang hinaufstob.

Ohne der Tatsache, dass er gerade nur mit knapper Not mit dem Leben davongekommen war, große Beachtung zu schenken, rannte er weiter den Pfad entlang, bis er oberhalb des Weges eine brennende Wiese bemerkte. Ohne Ausrüstung – er hatte nur den Ein-Mann-Feuerschutz bei sich, den er sich unter seinen Gürtel geklemmt hatte – kam er nicht weiter. Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel, Joseph möge die Lage ebenfalls richtig eingeschätzt und kehrtgemacht haben.

Über dem Knistern der Flammen konnte er ein ihm wohlbekanntes Geräusch ausmachen. Er näherte sich dem Feuer noch ein winziges Stückchen und suchte die Umgebung nach einem Lebenszeichen ab.

Da bemerkte er die Umrisse eines Mannes, die sich vor der orangefarbenen Flammenwand abzeichneten. »Joseph«, schrie Logan, doch er wusste, dass er nur seinen Atem verschwendete, denn die von den implodierenden Gasen verursachten Geräusche waren einfach zu laut, als dass Joseph ihn hätte hören können.

Es wäre vollkommen verrückt, ohne Schutzanzug auf die Wiese zu gehen und Joseph da herauszuholen, aber wäre er an Josephs Stelle, dann würde sein Ziehvater das Gleiche für ihn tun, davon war Logan überzeugt.

Also rannte er querfeldein geradewegs auf den Mann zu, dem er sein Leben verdankte. Diese Schuld würde er niemals begleichen können, selbst wenn er Joseph heute heil vom Berg herunterbekommen sollte.

Joseph war so darauf konzentriert, seine Kettensäge zu schwingen, dass er gar nicht bemerkte, wie Logan hinter ihm den Hang hinaufgerannt kam. Logan wusste, dass es keine gute Idee war, einem Mann mit einer Kettensäge in der Hand auf die Schulter zu klopfen, also nahm er einen Stein und zielte auf Josephs Bein.

Joseph fuhr herum; sein Gesichtsschutz war vollkommen von schwarzer Asche bedeckt, und nur Sekunden später hatte er sich weit genug von den Flammen entfernt, um die Maske abziehen und die Kettensäge fallen lassen zu können.

»Logan, was zum Teufel suchst du denn hier? Dieses Feuer ist mörderisch. Ein Jungspund wie du hat hier nichts verloren. Geh wieder zur Hütte!«

Logan begriff sofort, dass Joseph in die Vergangenheit zurückgekehrt war, in die Zeit, als er noch der Leiter der Hotshots gewesen war und Logan nur ein bockiger Teenager. Das hier war nicht der richtige Ort, um Joseph wieder in die Gegenwart zu holen, schließlich gab es einen Mörder, der immer noch frei herumlief.

Logan musste ihn also zuerst einmal in Sicherheit bringen. Später blieb noch genug Zeit, alle Puzzleteile zusammenzusetzen und herauszufinden, was heute genau geschehen war.

»Wir müssen verschwinden, Joseph. Sofort. Es ist nicht sicher hier.«

Joseph hatte noch nie einen Rückzieher gemacht, wenn es um ein Feuer ging. Er hatte genug Narben von Verbrennungen zweiten Grades, die davon Zeugnis ablegten. Aber Logan konnte nicht warten, bis er jetzt nachgab. Er stellte sich hinter Joseph und legte ihm die Hände auf die Schultern; dabei versengte er sich die Handflächen, solch eine enorme Hitze strahlte das feuerfeste Material ab. Er schob Joseph einfach in Richtung des Wanderwegs, weg von der Wiese.

Joseph hatte wegen der schweren Ausrüstung mit dem unebenen Gelände zu kämpfen.

»Gib mir deinen Rucksack«, sagte Logan.

»Einen Teufel werde ich tun und dich meine Sachen schleppen lassen«, raunzte Joseph ihn an.

Der Wind pfiff über den Berg und brachte Rauch und Flammen mit sich. Logan nahm Joseph in Windeseile alles vom Rücken und schleuderte die Ausrüstung auf die Erde. Er kniete sich hin, griff hinein und zog den Feuerschutz heraus. Dabei betete er, das Ding möge nicht schon zu alt sein, um noch zu funktionieren.

Obwohl die Hitze ihm das ganze Schienbein versengte, griff er unbeirrt nach Joseph, schloss ihn fest in die Arme und ließ sich fallen. Er kämpfte mit dem Feuerschutz, um ihn trotz des starken Windes über sie beide ziehen zu können; die Füße in Richtung des Feuers, stemmte er die Stiefel in die Schlaufen am Ende der schlafsackähnlichen Plane. Es kostete ihn seine ganze Kraft, die Sicherung am Boden zu halten, während der Wind und die Flammen über das Zelt aus Fiberglas und Aluminium fegten.

Unter sich hörte er Joseph unregelmäßig atmen, und Logan hoffte, er hatte dem Mann nicht die Rippen gebrochen oder ihm anderweitige Verletzungen zugefügt, die ihren Rückmarsch zur Hütte in die Länge ziehen könnten.

In all den Jahren als Hotshot hatte Logan einen Feuerschutz wie diesen erst ein einziges Mal verwenden müssen. Es war nicht unbedingt eine Erfahrung, die er wiederholen wollte. Das Gefühl, bei lebendigem Leibe in einer Mikrowelle geschmort zu werden, verschlimmerte sich noch, wenn man zu zweit unter der Glasfaser-Aludecke lag. Die Hitze, die sich überall ausbreitete, war die eine Sache; schlimmer noch war die Gefahr, die von den Flammen ausging, die womöglich durch den Schutz auf ihre Haut gelangten.

Aber Logan wusste genau, dass die wahrscheinlichste Todesursache für einen Feuerwehrmann seine Angst war, die ihn dazu brachte, die schützende Decke abzuwerfen.

Also presste er seine Hände und Füße, so fest es ging, in die dafür vorgesehenen Schlaufen, obwohl die Temperatur ins Unerträgliche stieg. Den Spitznamen »Bratenschlauch« hatte sich das Ding redlich verdient.

Und dann zogen die eben noch über ihnen tobenden Flammen genauso schnell vorbei, wie sie gekommen waren – der Wind trieb sie weiter den Berg hinauf. Logan behielt den Feuerschutz trotzdem fest im Griff, falls noch ein weiterer Feuerball über den Wanderweg rollen sollte. Er blieb noch einige Minuten in der gleichen Stellung liegen, dann war er endgültig sicher, dass das Feuer weitergezogen war.

Stück für Stück schob er den Feuerschutz zurück und hielt die Augen währenddessen geschlossen, da aus den verkohlten Bäumen, die die Wiese umstanden, ein dicker Ascheregen niederging. Er reichte Joseph die Hand und zog ihn hoch. Mit einem Blick erkannte er, dass sein Stiefvater wieder klar denken konnte.

»Was zum Teufel ist passiert?«

»Das verrate ich dir gleich. Wie sieht’s aus, kannst du rennen?«

Joseph sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Natürlich kann ich das.«

»Gut. Dann lauf zur Hütte zurück, so schnell du kannst. Ich bin direkt hinter dir.«

Joseph raste mit einer Geschwindigkeit über die Wiese, den Hang hinunter und zurück auf den Wanderpfad, die sein Alter wie auch seine geistige Verfassung Lügen strafte. Fünf Minuten lang rannten sie schnell und gleichmäßig hintereinander her, und dann erst fühlte Logan sich sicher genug, um das Tempo zu verringern. Er schloss zu Joseph auf und legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Wir können jetzt etwas langsamer laufen.«

All die Jahre als Elite-Feuerwehrmann hatten Josephs Körper so gut trainiert, dass er nur in einen noch immer recht schnellen Wanderschritt verfiel. Er war außer Atem, würde sich jedoch von nichts aufhalten lassen.

Logan wollte seinen alten Lehrmeister nur ungern für all das verantwortlich machen, was geschehen war. Aber es war an der Zeit, einige Entscheidungen zu fällen, die Joseph vielleicht nicht gefielen. Zum Teufel mit seiner Unabhängigkeit. Logan würde in Zukunft bei ihm leben. Es war der einzige Weg, um sicherzustellen, dass so etwas nicht noch einmal vorkam.

Da überkam ihn plötzlich die Erinnerung an sein brennendes Haus. Er war so in Sorge um Joseph gewesen, dass er kurzzeitig vergessen hatte, dass sein Zuhause nicht mehr existierte.

Na schön! Dann würde er eben bei Joseph einziehen, während er es wieder aufbaute. Diesmal würde er hoffentlich auch zusätzlich Platz für eine Ehefrau mit einplanen müssen. Und für Kinder.

»Was zum Teufel ist geschehen?«, fragte Joseph noch einmal.

Logan wägte jedes einzelne seiner Worte sorgfältig ab. »Ich bin nicht ganz sicher. Maya und ich sind zu dir gefahren, aber du warst nicht im Haus.«

Joseph rieb sich das Kinn, während er versuchte, sich die Geschehnisse ins Gedächtnis zu rufen. »Alles, an was ich mich erinnere, ist, dass ich ein Nickerchen gemacht habe, und als ich aufgewacht bin, stand Dennis’ Freundin in meinem Wohnzimmer, und zwar mit meiner Ausrüstung in der Hand. Sie sagte, sie würde gerne wissen, wie ich in voller Montur aussehe. Sie hat mir auch dabei geholfen, alles anzuziehen.«

Jenny? »War es das erste Mal, dass sie so etwas getan hat?«

Joseph nickte. »Ich habe die Uniform jahrelang nicht mehr getragen. Nicht, bis sie es erwähnt hat.«

In Logans Kopf drehte sich alles. War es möglich, dass Jenny für das Desolation-Wilderness-Feuer verantwortlich war? Für den Brand im Motel? Für Robbies Verletzungen und auch die Autobombe? Hatte sie sich innerlich kaputtgelacht über ihn, als er sie quasi angefleht hatte, Zeit mit Joseph zu verbringen, damit sie sich »um ihn kümmerte«?

Und wie sie sich um ihn gekümmert hatte! Sie hatte versucht, ihn direkt ins Grab zu befördern.

Aber wieso?

»Hat sie dich mit der Kettensäge losgeschickt? War es ihre Idee, dass du rausgehst und das Feuer bekämpfst?«

Joseph zog die dichten Augenbrauen hoch. »Ich weiß es nicht. Ich kann mich sonst an kaum etwas erinnern.« Er warf Logan einen entschuldigenden Blick zu. »Du hattest recht. Ich hätte diesen Flieger nach Hawaii nehmen sollen. Ich hätte uns beide beinahe umgebracht in dem Feuer.«

»Denk nicht weiter dran. Wir sind mit dem Leben davongekommen«, sagte Logan unwirsch.

Aber Maya war immer noch in der Hütte. Und Logan hatte sein ganzes Leben noch nie solche Ängste ausgestanden. Denn wenn Jenny den Brief verfasst hatte, der in der feuersicheren Box in Mayas Motelzimmer entdeckt worden war, dann war ihre Absicht klar: »Ich habe oft davon geträumt, Dein langes Haar brennen zu sehen und zuzuschauen, wie Deine zarte Haut bis auf die Knochen wegschmilzt.«

»Maya ist bei dir zu Hause, Joseph. Sie wartet dort auf uns. Ich habe sie alleine zurückgelassen. Sie könnte in Schwierigkeiten sein.«

Denn wie er die Lage einschätzte, hatte Jenny auf der Lauer gelegen, weil sie mit eigenen Augen sehen wollte, ob sie es lebend aus seinem Haus geschafft hatten.

Joseph lief jetzt ebenfalls schneller. »Lass uns dein Mädchen da rausholen!«