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Ein vorhersehbarer Verrat
Gorian sah für einige Augenblicke nichts als hin und wieder aufblitzende Lichter in den unterschiedlichsten Farben und ansonsten tiefe Schwärze.
Die Fähigkeit des Maskierten, feste Materie zu durchschreiten, schien mit der Schattenpfadgängerei verwandt zu sein. Vielleicht war der Maskierte sogar ein Schattenpfadgänger, auch wenn er seine Kunst auf andere Weise anwendete, als dies im Haus der Schattenmeister üblich war. Womöglich benutzte er dafür Caladran-Magie, und Gorian fragte sich für einen Moment, ob er nicht vielleicht sogar ein Caladran war. Aber die fein nachgezeichneten Gesichtszüge der Maske deuteten eher auf einen Menschen hin.
Letztlich verstand Gorian nicht genug von der Magie der Caladran, um sie zweifelsfrei als solche erkennen zu können.
Schließlich fand er sich in einem dunklen Höhlengewölbe wieder. Lampen sorgten für flackerndes Licht, und Gorian roch den charakteristischen Duft von Caladran-Öl. Regale bedeckten ringsum die Wände und reichten bis an die Höhlendecke. Sie waren mit dicken, in wertvolles Leder gebundenen Folianten und Schriftrollen gefüllt. Offenbar befand er sich in einem Bibliotheksgewölbe, auch wenn es sich um einen anderen Raum handelte als jenen, in dem er mit seinem Meister und seinen Mitschülern dem Namenlosen Renegaten begegnet war.
Der Maskierte befand sich immer noch an seiner Seite, hatte seine Hand aber losgelassen und machte erneut eine Geste, mit der er Gorian aufforderte, ihm zu folgen. Seine Hände steckten in Handschuhen, die in dem gedämpften Licht metallisch schimmerten. Sie schienen aus dem gleichen Material zu bestehen wie die messingfarbene Maske und der Harnisch. Gorian hatte bisher nicht darauf geachtet, aber ihm fiel auf, dass der kleine Finger an beiden Händen dicker war als der Ringfinger.
Sie traten in einen weiteren Raum, und sogleich vernahm Gorian die Stimme des Bibliothekars: »Da bist du ja endlich!«
Um in den Raum zu gelangen, waren sie durch einen schweren Vorhang getreten. Allerdings war es Gorian beim Durchschreiten kurz so vorgekommen, als wäre der Vorhang in Wahrheit eine schwere Tür aus Eisen oder gar eine Felswand. Illusionszauber nach Art der Caladran, glaubte er den Grund für diese Irritation zu erkennen. Unwirksam für den geschulten Geist …
»Sei dir dessen niemals zu sicher«, widersprach der Namenlose Renegat. Es gefiel Gorian nicht, dass sein Gegenüber nicht nur ungefragt, sondern auch noch unbemerkt in seine Gedanken eindringen konnte. Doch auch auf diese ärgerliche Regung antwortete der Bibliothekar sogleich. »Es ist keine Zeit für unnötige Höflichkeit oder Rücksichtnahme auf deine Empfindlichkeiten. Die Zukunft bildet sich, und der Strom des Schicksals fließt manchmal nicht in sein eigentlich vorherbestimmtes Bett, sondern sucht sich einen eigenen Weg.«
»Sagt mir, was Ihr von mir wollt!«, erwiderte Gorian schroffer als eigentlich beabsichtigt.
Der Namenlose Renegat hatte die Kapuze seiner Kutte nach hinten geschlagen. Sein Caladran-Gesicht wirkte ernst, und dem intensiven Blick seiner schräg gestellten Augen war etwas Falkenhaftes eigen. »Mit deiner Magie hast du zwei Wesen besiegt, in denen die Menschen des Nordens Götter sahen, obwohl sie in Wirklichkeit nichts weiter waren als groteske Monstren, denen das Schicksal sterblicher Wesen vollkommen gleichgültig war.«
»Das scheinen Aggr und Paggr mit den Caladran gemein gehabt zu haben«, konnte sich Gorian eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. Diplomatie war etwas anderes, aber zumindest in einem Punkt stimmte er dem Namenlosen Renegaten zu: Für Höflichkeiten und Rücksichtnahmen war keine Zeit mehr. Die Lage war mehr als bedrohlich, daran änderte auch die Vernichtung der beiden Kristallbrüder nichts. Ein Aufschub war alles, was ihnen der Sieg eingebracht hatte, und der war zu einem sehr hohen Preis erkauft worden: vollkommene magische Schwäche.
»Diese Schwäche geht vorüber«, versicherte der uralte Caladran-Renegat. »Du glaubst, dass dein Talent nicht mehr vorhanden wäre, aber das stimmt nicht.«
»Warum spüre ich es dann nicht?«
»Du durchschaust die einfachen Illusionen der Caladran-Magie. Das sollte dir Beweis genug sein, dass es stimmt, was ich sage. Deine Kräfte sind noch vorhanden, aber du hast im Augenblick keinen bewussten Zugriff darauf. Es beunruhigt dich, dass du deine innere Kraft plötzlich nicht mehr spürst, dass du auf magischer Ebene taub und blind scheinst, und du vermisst die Gedankenverbindung zu diesem Mädchen, das in deiner Begleitung war, als wir uns das erste Mal trafen. Vor allem machst du dir Sorgen um deine Gefährten, fragst dich, ob der Eishauch der Kristallbrüder sie ausgelöscht hat. Aber deine Sorgen sind unbegründet, denn keiner deiner Begleiter ist ohne magisches Potenzial, sodass sie sich schützen konnten.«
Gorian schluckte. »Da Ihr in meinen Gedanken lesen könnt wie in einem offenen Buch, was wollt Ihr dann noch mit mir besprechen? Wieso hat mich Euer maskierter Bewacher hergebracht? Was wollt …«
Ein Scheppern ließ Gorian verstummen. Es folgte ein Laut, der wie ein Todesröcheln klang und dann erstarb.
Gorian ging an dem Namenlosen Renegaten vorbei auf ein Stück Felswand zu, das seine Aufmerksamkeit erregte, weil es nicht von Regalen verdeckt war. Im nächsten Moment zeigte sich ihm ein offener Durchgang in einen weiteren Raum. Und ganz schwach spürte er auch wieder seine Magie, die er schon verloren geglaubt hatte.
Der Durchgang führte in einen weiteren Bibliotheksraum, der allerdings deutlich kleiner war als diejenigen, die Gorian bisher betreten hatte.
Der Diener, der Gorian und seine Begleiter am Tag ihrer Ankunft in Felsenburg in die Bibliotheksgewölbe geführt hatte, saß vollkommen erschlafft auf einem Stuhl aus dunklem Ebenholz. Nur die verzierten Armlehnen hinderten seinen Körper daran, von der Sitzfläche zu rutschen. Die starren Augen ließen keinen Zweifel, dass er nicht mehr lebte – und der messingfarbene Kelch, der zu Boden gefallen war, schien die Ursache dafür zu sein. Reste eines Caladran-Tranks waren herausgespritzt.
»Was bedeutet das?«, fragte Gorian den Namenlosen Renegaten, der ihm mit dem Maskierten gefolgt war.
»Nichts. Er wusste, dass er uns auf unsere Reise nicht begleiten kann, und hat es deshalb vorgezogen, den Trank des Ewigen Schlafes zu sich zu nehmen. Dieser Trank enthält genug Magie, um zu verhindern, dass er zu grausigem Scheinleben wiedererwacht wie all die anderen, die in den Einflussbereich des Frostreichs geraten.«
»Unsere Reise?«, fragte Gorian. »Von was für einer Reise sprecht Ihr?«
Der Namenlose deutete auf eine Kiste, die aus demselben messingfarbenen Metall bestand wie Maske und Harnisch seines überwiegend stummen Wächters. »Mein Diener war so freundlich, alles dort hineinzupacken, was wir zu den Inseln der Caladran mitnehmen müssen.«
Gorian starrte auf den Leichnam des Dieners, der sich rapide veränderte und innerhalb weniger Augenblicke um Jahrzehnte alterte. Die Haut wurde faltig und erinnerte an brüchiges Pergament, die Haare wurden schlohweiß, und schließlich saß ein dem Aussehen nach hundertjähriger Greis auf dem Stuhl vor Gorian. Doch der Verfall schritt noch weiter fort, die pergamentartige Haut platzte auf, darunter kamen bleiche Knochen zum Vorschein, doch selbst die zerfielen zu Staub.
»Dies ist ein magischer Ort mit einer ganz besonderen Aura«, sagte der Namenlose Renegat. »Ich habe ihn mit Bedacht gewählt, um hier die gestohlenen magischen Schriften aufzubewahren. Keine dieser Schriften soll schließlich verschimmeln oder auf andere Weise Schaden nehmen. Mit Unterstützung der Caladran-Magie und der Heilkunst lässt sich die Aura Felsenburgs dafür nutzen, Dinge zu erhalten, und zwar weit über ihre Zeit hinaus, gleichgültig ob Schriften, Seelen oder Körper.«
»Ihr habt Euch eine Horde untoter Diener herangezüchtet, deren Zeit längst vorbei war!«, hielt Gorian dem Namenlosen Renegaten erschüttert vor. »Allen voran Oras Ban, den Königlichen Verwalter!«
»Ich gab ihnen Leben, sie mir ihre Loyalität. Willst du behaupten, das wäre kein ehrlicher Handel gewesen?«, entgegnete der Namenlose Renegat, wobei ein mattes Lächeln um seine dünnen Lippen spielte. »Abgesehen davon hätte ich mich nur ungern auf eine lange Reihe entscheidungsschwacher gryphländischer Könige verlassen, von denen gewiss ein halbes Dutzend bereit gewesen wäre, mich oder meine Schriften oder beides für Gold oder Einfluss den Caladran auszuliefern oder sonst wem zu verschachern.«
»Ich verstehe«, murmelte Gorian. »Und jetzt lasst Ihr Eure Gefolgsleute zum Sterben zurück.«
»Ich habe keine Wahl«, erwiderte der Namenlose Renegat. »Ich würde nicht so handeln, gäbe es eine andere Möglichkeit. Und davon abgesehen hat jeder von ihnen – Oras Ban eingeschlossen – mehr Leben bekommen, als ihm die Natur jemals zugestanden hätte. Manche von denen, die hier als Wachen dienen, waren todkrank oder schwer verletzt, doch ich habe sie geheilt und ihre Leben über das natürliche Maß hinaus verlängert. All jene, die ich jetzt zurücklasse, sollten mir dankbar sein, doch Dankbarkeit ist nicht die Stärke des Menschenvolks. Sie sind unersättlich und schwach, und beides macht sie anfällig für Wesen mit stärkerem Willen.«
»Wesen wie Morygor«, sagte Gorian.
»Ich sehe, du verstehst mich, obwohl ich das aufgrund deiner Jugend kaum für möglich hielt.«
»Es ist nicht leicht, der Aura Morygors zu widerstehen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß«, gestand Gorian ein.
»Ja, und nun frage dich selbst einmal, ob du diesem Einfluss hättest widerstehen können, hätte man dich vor die Wahl zwischen Weiterexistenz und Tod gestellt.« Der Namenlose trat an Gorian heran und sah ihn mit stechendem Blick an. »Die Wahrscheinlichkeiten der Schicksalslinien verändern sich. Wege, die sich vor kurzem sehr deutlich abzeichneten, verlieren sich im Nebel. Vielleicht ist es die Kraft Morygors, die dies bewirkt. Er beeinflusst den Schattenbringer, aber vielleicht beeinflusst der Schattenbringer auch die Ereignisse auf Erdenrund. Hör mir gut zu, wir müssen aus Felsenburg fliehen, denn Oras Ban wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Seite unserer Feinde schlagen.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Gorian.
»Wenn er es nicht tut, dann jemand aus seinem unmittelbaren Umkreis, davon bin ich überzeugt. Morygor kann ihnen genau das geben, wonach sie dürsten: Leben!«
»Aber das ist kein wirkliches Leben«, gab Gorian zu bedenken. »Es ist die Scheinexistenz der Untoten.«
»Es ist mehr, als ich ihnen bieten kann, Gorian.« Der Namenlose deutete wieder auf die Metallkiste und hob sie mit seiner Magie vom Boden. »Das hier muss in die Greifengondel, mit der ihr gekommen seid. Wir müssen uns beeilen, denn die Verräter werden sich in Kürze entscheiden, auf Morygors Seite zu wechseln.«
Der Namenlose Renegat erkannte die Möglichkeiten der Zukunft offenbar auf ähnliche Weise wie Morygor. Allerdings bezweifelte Gorian, dass er es in dieser Kunst annähernd zu jener Meisterschaft gebracht hatte, wie sie der Herr der Frostfeste erlangt hatte.
»Wie weit und wie sicher seht Ihr die Zukunft voraus?«, fragte Gorian nach einigem Zögern.
»Was Oras Ban angeht verdichtet sich alles auf eine einzige Wahrscheinlichkeit, so wie alle Flüsse einem großen Strom und schließlich dem Meer zufließen, auch wenn sie auf dem Weg dorthin manchmal über die Ufer treten und ihr Bett verändern.«
Der Namenlose Renegat ließ die messingfarbene Metallkiste ein Stück durch den Raum schweben und übergab sie dann mit einer Handbewegung dem Einfluss des Maskierten. Die beiden verständigten sich anscheinend stumm über ihre Gedanken, allerdings ohne dass Gorian davon etwas mitbekam. Er versuchte mithilfe seiner magischen Sinne zu erspüren, was genau sich in der Metallkiste befand, aber die Alte Kraft ließ ihn im Stich, er spürte nichts.
»Das liegt nicht an dir«, erklärte der Namenlose und beweis damit erneut, wie genau er Gorians Gedanken verfolgte. »Die Truhe schirmt ihren Inhalt vollkommen ab – zu ihrem eigenen Schutz und zu dem aller Unbedarften, die mit ihr in Berührung kommen.«
»Was ist da drin?«, verlangte Gorian zu wissen. »Welche Schriften und welche Art von Magie?«
»Auch wenn dein Meister dir seinerseits etwas voreilig den Rang eines Meisters verleihen wollte, bist du noch lange nicht so weit, das zu verstehen.«
Es versetzte Gorian einen Stich, dass der Namenlose sogar davon wusste. Er hatte nicht einmal Sheera oder Torbas davon erzählt.
Der Maskierte berührte die schwebende Kiste mit der flachen Hand. Eine Lichterscheinung flackerte kurz auf, und für einen Herzschlag lang schien es, als würde sein metallisch schimmernder Handschuh anfangen zu brennen. Die Truhe haftete daraufhin an seiner Handinnenfläche. Er trat auf ein Stück freie Felswand zu und verschwand darin, und die Truhe mit ihm.
»Er bringt unser wichtigstes Gepäckstück zu eurer Greifengondel«, erklärte der Namenlose Renegat.
»Ihr scheint das Einverständnis aller Beteiligten vorauszusetzen«, stellte Gorian missbilligend fest.
»Weder du noch deine Gefährten haben eine Wahl. Und genau darüber wirst du sie jetzt informieren.«
»Aber …«
»In Eurer primitiven menschlichen Spielart der Magie pflegt ihr eine Kunst, die ihr das Handlichtlesen nennt.«
»Gegenwärtig bin ich nicht in der Lage, meine Magie gezielt einzusetzen«, erinnerte ihn Gorian.
»Ich werde dir helfen.« Er trat an Gorian heran und legte seine Hand auf den Kopf des Ordensschülers, der auf einmal unkontrolliert zu zucken und zu zittern begann. Er hatte das Gefühl zu fallen und empfand einen furchtbaren Schmerz, der sich aber dann zu etwas anderem wandelte.
Kraft …
Der Namenlose nahm die dürre Caladran-Hand wieder fort. »Und nun verliere keine Zeit mehr!«
Gorian fügte die Handkanten zusammen, sodass seine Hände wie ein geöffnetes Buch wirkten. Ein Licht entstand, und Gorian spürte Erleichterung, als er das Gesicht von Thondaril sah.
Zugleich empfing er einen Gedanken Sheeras.
»Endlich! Was ist geschehen? Du warst wie tot und …«
Abrupt brach die Gedankenbotschaft ab – ebenso wie die Handlichtverbindung zu Thondaril.
Stattdessen erreichten Gorian Bilder, die direkt in seinem Kopf entstanden. Er sah durch Sheeras Augen, wie Oras Ban und ein Dutzend Wachen seine Gefährten mit gezogenen Waffen in die Enge trieben. Sie befanden sich auf dem höchsten Turm Felsenburgs. Torbas und Thondaril rissen augenblicklich ihre Klingen hervor und nahmen Kampfhaltung ein, wie sie im Haus des Schwertes gelehrt wurde.
»Rührt Euch nicht und legt Eure Waffen ab!«, hörte Gorian in seinem Kopf Oras Ban rufen. »Die Armbrüste meiner Männer sind mit Bolzen aus Sternenmetall geladen, das so behandelt wurde, wie es uns der Namenlose Renegat gelehrt hat! Selbst Eure Magie wird sich dagegen als machtlos erweisen!«
»Ist die Aura Morygors für Euch zu übermächtig, Oras Ban? Oder was treibt Euch zu diesem Verrat?«, rief Thondaril, und sein Sprechstein übersetzte die Worte ins Gryphländische. »Bei der Gleichgültigkeit des Verborgenen Gottes, ich hätte es mir denken können.«
»Ihr würdet mich verstehen, wärt Ihr in meiner Lage!«
»Hört nicht auf die Stimme, die Euch etwas einzuflüstern versucht. Morygor wird seine Versprechen niemals halten!«
»So wie die Dinge stehen, haben wir keine Alternative. Und es ist auch nicht nur die Gedankenstimme Morygors, der ich folge, sondern vor allem der Hoffnung auf ein Weiterleben.«
»Ihr werdet Untote sein!«, hielt Thondaril dagegen.
Oras Ban ging nicht darauf ein, sondern forderte erneut: »Legt Eure Waffen ab. Niemand will Euren Tod. Morygor will nur zwei Dinge: dass die Schriften mit der gestohlenen Magie der Caladran diesen Ort nicht verlassen und dass Gorian stirbt. Für Euch aber gäbe es eine Zukunft.«
Für Augenblicke nahm das Gesicht Oras Bans die Züge Morygors an, als er noch ein junger Caladran gewesen war.
Gorian fiel es in diesem Moment wie Schuppen von den Augen. Morygor nahm schon seit langem Einfluss auf Oras Ban, auch wenn der Königliche Verwalter ihm vielleicht erst jetzt endgültig nachgegeben hatte. Die Langfristigkeit, mit der Morygor die Verzweigungen der Schicksalswege berechnete, war erschreckend, aber genau darin lagen seine Erfolge begründet. Er erkannte Gefahren für sich und seine Herrschaft bereits in einem Stadium, da er ihnen noch mit Leichtigkeit begegnen konnte, jeder potenzielle Gegner wurde frühzeitig ausgeschaltet. Unter diesen Umständen grenzte es an ein Wunder, dass Gorian noch unter den Lebenden weilte.
»Ich muss ihnen helfen!«, stieß er hervor.
»Komm!«, rief der Namenlose Renegat und ergriff seine Hand. Die seine war eiskalt wie die eines Toten. Offenbar wusste auch er, was sich derzeit auf dem Turm abspielte.
Er zog Gorian mit sich auf jenes freie Stück der felsigen Höhlenwand zu, durch das der Maskierte zuvor verschwunden war. »Das Reisen durch Gestein ist eine leider arg in Vergessenheit geratene, aber sehr praktische Kunst.«
Während sie zusammen durch den Fels traten, sah Gorian wieder durch Sheeras Augen, was auf dem Turm geschah. Ein krächzender Schrei ließ die junge Ordensschülerin den Blick heben. Über dem Turm war ein geflügeltes Wesen erschienen, das sich schattenhaft gegen den grau gewordenen Himmel abhob.
Gorian erkannte in ihm sofort Ar-Don, auch wenn der Gargoyle diesmal eine vollkommen schwarze Färbung angenommen hatte.
Er stürzte herab und stieß dabei einen durchdringenden Schrei aus, in dem sich ein Schwall hasserfüllter, mordlüsterner Gedanken mischte.
Oras Ban schrie heiser einen Befehl in gryphländischer Sprache.
Unter seinen Männern waren fünf Armbrustschützen. Sie hoben ihre Waffen und schossen sie ab. Die magisch behandelten Bolzen aus Sternenmetall zogen glühende Spuren durch die Luft. Kurz hintereinander trafen sie den Gargoyle und sprengten ihn auseinander.
Seine Bruchstücke hagelten mit ungeheurer Wucht vom Himmel und durchschlugen die Leiber von Oras Ban und seinen Männern. Ihre Körper zuckten unter den Einschlägen, wurden regelrecht zerfetzt und zerfielen zu Staub, noch ehe sie zu Boden stürzten.
 
Gorian und der Namenlose Renegat erreichten die Einflughöhle der Greifen. Sie traten einfach aus dem Fels heraus, ganz in der Nähe von Centros Bals Greifengondel, wo der Maskierte bereits auf sie wartete. Die metallene Truhe stand vor ihm auf dem Boden.
Zog Yaal saß auf dem Rücken des Greifen, und Centros Bal stand vor seiner Gondel.
»Wir brechen auf!«, rief Gorian.
»Ich dachte schon, der Kerl hier will mich auf den Arm nehmen«, entgegnete Centros Bal und deutete auf den Maskierten. »Was ist mit Meister Thondaril und …«
»Keine Fragen jetzt! Tut, was ich sage!«, verlangte Gorian.
Ein markerschütterndes Brüllen durchdrang die Höhle, vermischt mit dem lauten Klackern zuklappender riesenhafter Schnäbel, das sich als Echo fortpflanzte.
»Bedenke, dass alle Greifenreiter, die noch hier in Felsenburg weilen, Oras Bans Getreue sind!«, erreichte Gorian ein Gedanke des Namenlosen Renegaten. »Inzwischen sind sie wohl Morygors Sklaven!«