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Die Königstochter
Sie folgten Demris Gon und seiner vollkommen
aufgelösten Gemahlin durch mehrere Korridore in die Privatgemächer
der königlichen Familie. Der Herrscher Gryphlands wünschte
ausdrücklich, dass ihn sowohl der Heiler Aarad als auch die anderen
Ordensangehörigen begleiteten.
Unterwegs versuchte Aarad vergeblich, der Königin
nähere Angaben über den Zustand ihrer Tochter zu entlocken, doch
sie war völlig außer sich.
»Sie ist um einiges jünger als ihr Gemahl, aber
das leidvolle Schicksal ihrer Tochter hat sie schnell altern
lassen«, empfing Gorian einen Gedanken Sheeras.
Für einen Moment glaubte er wieder jene dunkle
Magie zu spüren, die ihm bereits aufgefallen war, als er die
Greifengondel verlassen hatte.
Schließlich gelangten sie in das Gemach der
Königstochter.
Bleich und kränklich lag sie auf ihrem Bett,
Schweiß perlte auf ihrer Stirn, und schwarzes Blut quoll ihr aus
Augen, Ohren und Nase. Eine Dienerin versuchte vergeblich, den
Blutfluss mit Tüchern zu mindern.
Der Blick der Königstochter war starr auf einen
imaginären Punkt konzentriert. Sie stieß Laute aus, die vielleicht
unverständliche Worte waren, vielleicht auch nichts weiter
als ein letztes Aufstöhnen unter einem schier unermesslichen
Schmerz.
Ein großköpfiger Zahlenmagier und ein Priester des
Verborgenen Gottes standen neben dem Bett. Von dem Zahlenmagier
hatte Gorian schon gehört, Aarad hatte ihn erwähnt. Er hieß
Ptembros und war als Arzt tätig, denn er behauptete, mit der Hilfe
der Zahlenmagie nicht nur marode Geschäfte von ihrer
Misswirtschaft, sondern auch Kranke von ihrem Leiden befreien zu
können. Die Packleute am Hafen von Gryphenklau erzählten sich,
Ptembros sei durch den Einfluss der Königin an den Hof gelangt und
genieße dort hohes Ansehen, auch wenn die Wirksamkeit seiner
Heilmagie von nahezu allen Ärzten der Stadt angezweifelt
wurde.
Der Mann mit dem übergroßen, ballonartigen und von
zahllosen sich verzweigenden Adern überzogenen Kopf stand da, hob
die dürren, langfingrigen Hände und murmelte eine Abfolge von
Zahlen, die auf Gorian völlig willkürlich wirkte. Dass er dabei den
heiligreichischen Dialekt von Baronea benutzte, ließ die Prozedur
auf gryphländische Ohren vielleicht etwas geheimnisvoller
wirken.
Der Priester wirkte einfach nur entsetzt. Er schien
die Kranke bereits aufgegeben zu haben und es nicht mehr für
lohnend zu erachten, die Hilfe des Verborgenen Gottes zu
erflehen.
»Zur Seite! Lasst Heiler Aarad sein Werk tun!«,
rief der König, während seine Gemahlin laut schluchzte.
»Sieh hin, was geschieht, Gorian«, raunte Thondaril
seinem Schüler zu. »Schließlich willst du ja in allen fünf Häusern
den Meistertitel erringen, also auch den der Heiler.«
»Ja, diesen Plan habe ich in der Tat noch nicht
aufgegeben«, bestätigte Gorian, dann flüsterte er: »Spürt Ihr es
auch, Meister Thondaril?«
»Was?«
Gorians Augen wurden schwarz, und er fühlte, dass
da etwas Dunkles, abgrundtief Böses unmittelbar unter ihnen war. Im
ersten Moment dachte er, es wäre wieder der Totenalb, aber da war
eine Nuance, die nicht zu diesem Wesen passte, dafür aber zu jenem,
das über das Meer gekommen sein musste. Es war dieses bedrückende
Gefühl, von dem Sheera geglaubt hatte, es wäre eine Widerspiegelung
des Schattenbringers.
Und dann sah er es plötzlich.
Es hatte Flügel und sah aus wie eine hässliche
Kreuzung aus Fledermaus und Waldhyäne. Fast regungslos hockte die
Kreatur auf der Brust der Königstochter, und Gorian glaubte ihr
triumphierendes, meckerndes Gelächter zu hören.
Ein Schattenmahr, durchfuhr es ihn.
Den Erzählungen nach waren diese Wesen die
Begleiter der Totenalben. Sie folgten ihnen wie Hunde und ernährten
sich vom Seelenaas – dem, was die Totenalben verschmähten.
Außer Gorian schien niemand den Schattenmahr zu
bemerken, denn im Gegensatz zu Totenalben waren sie meist
unsichtbar. Weshalb aber Gorian das geflügelte Wesen zu sehen
vermochte, darüber machte er sich zunächst keine Gedanken; die
Legenden gaben auch dafür eine Vielzahl von Erklärungen.
Er sah, wie das Wesen sein hyänenartiges Maul weit
aufriss und sich anschickte, die wolfsartigen Reißzähne in den Hals
der Kranken zu schlagen.
Da stürzte Gorian nach vorn, zog Sternenklinge
hervor und stieß den im Weg stehenden Priester zur Seite, einen
Kraftschrei auf den Lippen.
Sternenklinge fuhr durch den Körper des
Schattenmahrs und teilte ihn in Hüfthöhe in zwei blutige Hälften,
aus denen, ebenso wie bei der Königstochter, schwarzes Blut quoll.
Blitze zuckten aus dem Schwert und tanzten für einige Augenblicke
über die beiden Hälften des Schattenmahrs, dessen meckerndes
Gelächter sich in einen schrillen Laut wandelte, der so hochtönend
war, dass menschliche Ohren ihn nicht zu hören vermochten. Die
Hälfte mit dem Kopf und den Vorderpranken bewegte sich noch, der
Unterleib mit den Flügeln hingegen lag regungslos auf der Brust der
Königstochter und zerfiel zu einer zähflüssigen schwarzen
Masse.
Im nächsten Moment sprang die obere Körperhälfte
des Ungetüms auf Gorian zu, das Maul weit aufgerissen.
Gorian wollte sich mit einem Schwertstreich
schützen, aber eine unsichtbare Kraft ließ den Hieb abprallen und
zur Seite gleiten. Das Wesen traf ihn an der Schulter, an der er
während seines Kampfes am Speerstein so schwer verwundet worden
war, und er stürzte zu Boden, während der Schattenmahr
zubiss.
Gorian riss seinen Dolch aus Sternenmetall hervor
und ließ die Klinge aufwärtsfahren. Eine Welle des Schmerzes raste
von der Schulter durch seinen ganzen Leib, aber das hielt ihn nicht
davon ab, seine Magie einzusetzen.
Der Rächer stieß durch den halbierten Schattenmahr,
spießte ihn förmlich auf, und Gorian riss ihn von seiner Schulter
und schleuderte ihn mitsamt dem Dolch von sich.
Der Rächer nagelte die verbliebene Oberhälfte der
Schreckenskreatur an einen mannsgroßen geschlossenen Gebetsschrein,
in dessen Holz die Klinge zitternd stecken blieb. Das grausige
Wesen gab keinen Laut mehr von sich. Seine Augen waren erstarrt,
schwarzes Blut troff aus seinem offenen
Leib, dort, wo Gorian ihn mit dem Schwert durchtrennt hatte.
Innerhalb weniger Augenblicke zerfiel der Schattenmahr zu einer
zähflüssigen schwarzen Masse.
Gorian erhob sich. Ihm war schwindelig. Diese
Kreatur hatte seine Schwachstelle genau gespürt und ihm in die
Schulterwunde gebissen.
Er vernahm seinen Namen wie aus weiter Ferne und
fragte sich, ob es vielleicht ein Gedanke Sheeras war, die er mit
einem Blick vergebens suchte.
Dunkle Schlieren umgaben ihn auf einmal, und er
bemerkte, dass es sein Blut war, das aus seiner Schulterwunde und
durch sein aufgerissenes Hemd quoll und sich in diesen dunklen
Rauch verwandelte.
»Ein braves Haustier, das seinen Auftrag bis zur
Selbstaufopferung erfüllt«, dröhnte plötzlich eine
Gedankenstimme in seinem Kopf. »Ich werde mir einen anderen
Schattenmahr zulegen und abrichten müssen. Wer weiß, vielleicht
genügt ja das, was von deiner Seele übrig bleibt, um einen neuen zu
erschaffen.«
Gorian sprang auf, wirbelte herum. Der schwarze
Rauch war verflogen, und seltsamerweise befand sich von den anderen
niemand mehr im Höhlengemach. Er war allein. Von der Königstochter
war nur ein großer dunkler Fleck eingetrockneten schwarzen Bluts
geblieben, der ihre Körperform ungefähr nachzeichnete.
Er blickte zu dem geschlossenen Gebetsschrein,
streckte die Hand aus und wollte den Rächer zu sich rufen. Aber das
gelang ihm nicht. Irgendetwas schien die Magie aus ihm
herauszusaugen, wenn er sie anzuwenden versuchte, denn auch sein
zweiter Versuch schlug fehl.
»Verunsichert? Ohne das, was du für deine
besondere Fähigkeit hältst, bist du ein Nichts. An dem Ort, an dem
du dich nun befindest,
wirken deine Kräfte nicht mehr in gewohnter Weise, und auch die
meisten Regeln, die du für unumstößlich hältst, gelten hier
nicht.« Ein höhnisches Gelächter dröhnte in Gorians Kopf.
»Wer bist du?«, rief er und wirbelte erneut herum,
weil er glaubte, im Augenwinkel einen Schatten gesehen zu haben,
der aber nur von einer der flackernden Öllampen erzeugt worden war.
Das Licht, das sie spendeten, wurde im nächsten Moment erheblich
schwächer, denn drei der sieben Lampen verloschen.
Anders als im Thronsaal gab es in dem Höhlengemach
auch keine Leuchtsteine, die das Sonnenlicht speicherten und
abgaben. Dafür befand sich an der Decke ein großes Mosaik, das eine
Sonne auf einem blauen Himmel mit wenigen Wolken zeigte.
Ein Bild der Hoffnung für die dahinsiechende
Königstochter, so schien es, das Gorian an jenen Augenblick
erinnerte, als er im Alter von zweieinhalb Jahren auf dem Boot
seines Vaters erwacht war. Einen gravierenden Unterschied gab es
allerdings: Die von dem Mosaik abgebildete Sonne hatte keinen
Schatten, der sie immer mehr bedeckte.
Eine weitere Öllampe erlosch.
Der Rächer begann im Holz des Schreins zu zittern.
Dessen Tür schlug auf, und der Dolch wurde mittels Magie durch die
Luft geschleudert, drehte sich dabei auf eine völlig chaotische,
nicht zu kalkulierende Weise, zog einen Halbkreis durch den Raum
und schoss dann mit der Spitze voran auf Gorian zu.
Der hielt in der Rechten noch immer Sternenklinge,
hob blitzschnell die Linke und schnappte den Griff des Dolchs,
bevor dessen Klinge ihm in jene Schulter dringen konnte, an der er
bereits verletzt war. Für einen kurzen Moment spürte
er noch eine fremde Kraft in dem Dolch, dann war sie
verschwunden.
Wenigstens über die unmittelbare Voraussicht,
mittels der ein Schwertmeister die Handlungen seines Gegners zu
erahnen vermochte, schien er noch in gewohnter Weise zu
verfügen.
Der Schrein stand halb offen und gab den Blick auf
ein fratzenhaftes Götzengesicht frei. Es war aus Holz geschnitzt
und mit grellen Farben angemalt.
Der Kopf schien einer grotesken Mischung aus Tier
und Mensch zu gehören und erinnerte mit seinen hervorstehenden
Hauern an einen Orxanier. Im Gegensatz zu diesem hatte dieses Wesen
jedoch zwei Paare übergroße Ohren.
Der König von Gryphland und seine Gemahlin hatten
sich bei der verzweifelten Suche nach Hilfe für ihre Tochter nicht
nur auf den Verborgenen Gott verlassen, sondern wohl auch noch zu
einem jener Götzen gefleht, die man in der Zeit vor der Verbreitung
des einzig wahren Glaubens in den meisten Ländern Ost-Erdenrunds
verehrt hatte. Sicher handelte es sich nicht um ein Abbild einer
der so genannten Alten Götter, deren Anbetung nicht nur im Heiligen
Reich bei strengster Strafe verboten war, sondern auch in allen
anderen Gebieten, in denen der Bischof von Atrantia als geistliches
Oberhaupt aller Gläubigen anerkannt wurde, also auch in
Gryphland.
Vermutlich stellte der Kopf also eher einen der
örtlichen Naturgötzen dar, deren Verehrung zwar verpönt war, aber
in den Ländern des Südens und Westens nie ganz ausgerottet werden
konnte. Immerhin hatte man den Schrein anstandshalber geschlossen
gehalten, wenn der Priester des Verborgenen Gottes bei der Kranken
gewesen war.
Gorian betrachtete die Klinge des Rächers. Das
schwarze
Blut daran bildete einen dunklen Belag, der bereits abbröckelte,
so als wäre er schon seit langem getrocknet.
Er steckte die Waffe zurück in die Scheide an
seinem Gürtel und wirbelte erneut herum, als eine der letzten drei
Öllampen erlosch, woraufhin nur noch Halbdunkel in dem Gemach
herrschte – und plötzlich wurde auch ein Teil des Sonnenmosaiks an
der Decke von einem großen dunklen Schatten verdeckt.
»Warum zeigst du dich nicht?«, rief Gorian und
stellte in diesem Moment fest, dass seine Stimme der einzige Laut
war, der noch an seine Ohren drang. Alle anderen Geräusche, die
normalerweise eine Art klanglichen Hintergrund bildeten und einem
aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit und Allgegenwart kaum
auffielen, waren verstummt, selbst das Meeresrauschen, das
ansonsten unablässig in allen Wohnhöhlen Gryphenklaus mehr oder
weniger stark widerhallte.
Auch die vorletzte Öllampe verlosch.
»Es ist amüsant, in deine Seele zu sehen«,
vernahm er erneut die Gedankenstimme. »Ich erkenne darin Furcht
und Verwirrung. Und dass du kaum noch in der Lage bist, dein
erlerntes Wissen auf diese völlig veränderte Situation
anzuwenden.«
Wie von selbst schloss sich der Schrein wieder,
wurde sogar mit großer Kraft zugeschlagen, wobei allerdings kein
Geräusch entstand. Der kleine Riegel, der die Schreintür
verschloss, bewegte sich ebenfalls lautlos. Die schwarze Substanz,
zu welcher der Schattenmahr zerflossen war, bildete nur noch einen
Fleck im Holz, der aussah, als wäre er schon viele Jahre alt.
In was für eine eigenartige Existenzebene war
Gorian nur geraten? Dann fiel ihm der schwarze Rauch ein, und er
fragte sich, ob er auf irgendeine Weise ins Zwischenreich der
Schattenpfade gelangt war, das die Schattenmeister des Ordens zur
Überwindung großer Entfernungen innerhalb von wenigen Augenblicken
nutzten.
»Deine Ausbildung im Ordenshaus der Schatten
scheint wirklich noch nicht weit fortgeschritten, dass du so lange
für diese Schlussfolgerung gebraucht hast.« Triumphierendes
Gelächter folgte.
»Du bist der Totenalb, der vom König Besitz
ergriffen hatte«, sagte Gorian laut und stellte erschrocken fest,
dass sich auch der Klang seiner Stimme verändert hatte. Sie hörte
sich stumpf an, ohne Echo, als würde er sich beim Sprechen ein
Kissen vor den Mund halten.
Der Angriff des Schattenmahrs hatte offenbar nur
dem einen Zweck gedient, ihn in dieses lautlose Zwischenreich zu
holen – eine Nebenwelt, in der Bedingungen herrschten, die es dem
Totenalb erleichterten, seinen ursprünglichen Auftrag auszuführen
und Gorian zu töten.
»Ich hasse das Licht und liebe die
Dunkelheit«, sagte die Gedankenstimme.
Dann bildete sich aus dem Schatten, der das
Sonnenmosaik bedeckte, eine Gestalt aus purer Finsternis.
Gorian wich ein paar Schritte zur Seite. Seine
Tritte verursachten dabei auf dem Steinboden der Wohnhöhle
keinerlei Geräusch.
Die Gestalt sprang lautlos von der Decke und
landete auf dem Boden, um sich dann aufzurichten. Ihre Umrisse
ähnelten dem eines Menschen. Innerhalb weniger Augenblicke
veränderte sie sich, gewann mehr und mehr an Substanz, und Gorian
erkannte, dass die Kreatur in einer dunklen Kutte steckte, die bis
zum Boden reichte. Sie streckte den Arm aus, der sich auf groteske
Weise verlängerte, und Augenblicke später verstofflichte sich eine
monströse Axt
mit zwei Klingen. Das metallische Blinken der Schneideblätter
stand in starkem Kontrast zu der Finsternis, die insbesondere unter
der Kapuze herrschte und offenbar von keinem Lichtstrahl erhellt
werden konnte.
»Du wirst doch sicher Verständnis dafür
haben, wenn ich kein Risiko eingehe und die Kampfbedingungen so
verändere, dass ich meinem zum Jähzorn neigenden Herrn mit
Sicherheit einen Erfolg werde vermelden können.«
Mit diesen Worten hob der Alb den freien Arm, und
eine Wolke aus schwarzem Rauch drang unter dem weiten Kuttenärmel
hervor, schwebte auf die letzte noch brennende Öllampe zu und ließ
sie verlöschen.
Nur noch Finsternis umgab Gorian, und das
höhnische, siegesgewisse Lachen des Totenalbs dröhnte auf
schmerzhafte Weise in seinen Gedanken.
Es ist der Geist, der sieht, nicht das Auge,
erinnerte sich Gorian an eines der Axiome des Ordens. Die Sinne
sind nur schwache Hilfsmittel des Geistes, dem allein die
Erkenntnis vorbehalten ist …
Gorian bewegte sich nicht, stand wie erstarrt in
der Dunkelheit, hielt den Griff von Sternenklinge mit beiden Händen
umfasst, und wieder fiel ihm die völlige Geräuschlosigkeit in
dieser absoluten und undurchdringlichen Finsternis auf.
Für das Auge undurchdringlich – aber nicht für
den Strahl des Geistes, ging es ihm durch den Kopf.
Es gab nichts, was ihm seine Sinne in diesem
Augenblick hätten vermitteln können. Und irgendwann würde die Axt,
von der Dunkelheit verborgen, auf ihn zuschnellen, ihm den Schädel
spalten, ohne dass ihm noch Zeit für einen Gedanken blieb.
Gorian fragte sich plötzlich, weshalb das
eigentlich noch nicht geschehen war.
Dann aber rief er sich ins Gedächtnis, was er über
die Natur der Totenalben gehört und gelesen hatte. Zum Beispiel,
dass sie sich an der Furcht ihrer Opfer weideten. Ein düsteres,
abartiges Vergnügen, das ihnen zusätzliche und ganz besondere
Kräfte zuführte und nach dem sie süchtig werden konnten wie manche
Menschen nach gegorenen Getränken, Rauchwerk oder den Säften der
Mohnblüte.
»Ah, wie sehr sich der mächtige Morygor vor dir
fürchtet – und als was für ein erbärmlicher Hund stehst du nun vor
mir!«, verhöhnte ihn der Totenalb, der seine Freude schließlich
nicht mehr für sich behalten konnte. »Ich muss gestehen, dass
ich selten die Endlichkeit allen Seins und insbesondere eines
Opfers so bedauert habe wie in diesem Fall. Aber kein Genuss währt
ewig. Und im Übrigen bin ich meinem Herrn verpflichtet …«
Plötzlich riss Gorian sein Schwert empor, und hart
krachte es mit der Klinge der Streitaxt zusammen, die der Totenalb
schwang.
Auch das geschah völlig geräuschlos.
Ein paar Funken sprühten, als das Sternenmetall
gegen die Axtklinge prallte.
Ein weiterer Hieb des Totenalbs folgte, doch auch
den wehrte Gorian ab. Der dritte Hieb war so heftig, dass er ihm
beinahe das Schwert aus der Hand prellte.
Er taumelte zurück und versuchte abzuschätzen, wie
viel Raum wohl noch zwischen seinem Rücken und der Wand der
Wohnhöhle lag.
Ein Schwall wütender und nicht mehr in Worte zu
fassender Gedanken traf ihn. Der Totenalb schien die Erkenntnis nur
schwer verdauen zu können, dass sein Opfer seinen Angriff
vorhergesehen und pariert hatte.
Lass den Geist sehen und vergiss Augen und
Ohren!, ging es Gorian durch den Sinn. Unter den besonderen
Bedingungen
dieser Schattenwelt, in die ihn der Totenalb gezwungen hatte, war
es zwecklos, sich in herkömmlicher Weise mit Magie und Schwert zur
Wehr zu setzen. Er musste einen anderen Weg finden.
Er schloss die Augen. Drei Angriffen hatte er
standhalten können …
Wieder attackierte ihn der Totenalb, genauso
lautlos und unsichtbar wie zuvor. Aber diesmal begegnete ihm Gorian
bereits mit sehr viel mehr Sicherheit. Es erinnerte ihn an die
ersten, noch sehr spielerischen Kampfübungen, die sein Vater
Nhorich mit ihm durchgeführt hatte. Übungen, bei denen er jene
Kunst der Schwertmeister hatte erlernen sollen, sich geistig in den
Gegner hineinzuversetzen und seine Handlungen vorauszuahnen.
»Stimmt es, dass einige Schwertmeister mit
geschlossenen Augen kämpfen können?«, hatte Gorian seinen Vater
damals gefragt.
»Von tausend Schwertmeistern vermag es nur einer«,
hatte Nhorich geantwortet. »Meister Erian, dein Großvater, gehörte
zu den wenigen. Ich habe ihm darin leider nie nacheifern können,
obwohl er versucht hat, mir auch das beizubringen.«
»Stand Großvater denn besonders viel von der Alten
Kraft zur Verfügung?«
»Auch das. Aber darauf kommt es nicht an.«
»Worauf dann?«
»Auf die Fähigkeit zur Erkenntnis. Darauf, sein
inneres Auge auf eine Weise zu benutzen, die mir niemals möglich
war.« Und dann hatte Nhorich seinem Sohn auf die Schulter geklopft
und hinzugefügt: »Wenn der Schattenbringer eines Tages nicht einmal
mehr genug Licht zur Erde lässt, dass man ein Schwert führen kann,
lohnt sich der Kampf ohnehin
nicht mehr, denn dann wird die Welt zu einem gefrorenen toten
Brocken in der unendlichen Kälte des Polyversums. Ein Ort, an dem
keine Existenz möglich ist …«
An diese Worte erinnerte sich Gorian, während er
den nächsten Angriff seines Gegners erwartete. Von Hieb zu Hieb
wurde es für ihn leichter vorherzusehen, wie sein Gegner als
Nächstes die Axt führen würde. Er konnte den Totenalb und sein Tun
trotz Finsternis und Geräuschlosigkeit genau erahnen, und
schließlich spürte er sogar, wo sich sein Feind gerade im Raum
befand.
Wieder erfolgte ein Angriff.
Mit einer ins Unermessliche gesteigerten Wut hieb
der Totenalb auf ihn ein. Nie zuvor hatte Gorian ein Wesen in
derart rascher Folge Hiebe mit einer vergleichsweise großen Waffe
austeilen sehen, wie es sein unsichtbarer Gegner nun tat.
Trotzdem brachten ihn diese Hiebe nicht einmal
ansatzweise in Gefahr. Er lenkte ihre Kraft geschickt ab, parierte
die furchtbaren Schläge mit immer größerem Geschick.
Wut ist die Tochter der Unsicherheit und die
Schwester der Furcht, fiel ihm ein weiteres der Ordens-Axiome
ein.
Als ihn der Totenalb erneut attackierte, wagte es
Gorian sogar, einen eigenen Schlag anzutäuschen. Ein gleichermaßen
ungestümer wie unvorsichtiger Hieb verfehlte ganz knapp seinen
Kopf. Gorian tauchte darunter hinweg und stieß dann mit
Sternenklinge zu.
Aber er rief dabei keinen Kraftschrei, der in
dieser geräuschlosen Welt ohnehin von niemandem gehört worden wäre.
Er konzentrierte seine angesammelte Kraft auch nicht auf das
Schwert, damit seine Kraft in seinen Gegner überströmen und ihn
vernichten konnte.
Er tat genau das Gegenteil.
In dem Moment, als die Klinge aus Sternenmetall in
den unsichtbaren Körper des Totenalbs schnitt, sog er alle Kraft
aus seinem Gegner, und Blitze tanzten am Schwert entlang.
Ein Gedankenschrei raubte Gorian fast die
Besinnung. Dann öffnete er die Augen.
Dunkler Rauch stieg vom Boden auf und verflüchtigte
sich innerhalb weniger Herzschläge. Dann blendete ihn das
flackernde Licht von Öllampen, das ihm für einen Moment fast
unerträglich hell erschien, und Schwindel erfasste ihn.
»Gorian!«, hörte er Sheeras Stimme und dann Meister
Thondaril, der eine magische Formel murmelte; sie war Gorian
unbekannt, sorgte aber offenbar dafür, dass sein Schwindelgefühl
verschwand.
Er war zurück. Zurück aus der Zwischenwelt der
Schattenpfade, die auf geheimnisvolle Weise neben jener Welt
existierte, die für alle wahrnehmbar war. Eine geisterhafte
Zwillingsschwester der Wirklichkeit ohne Geräusche.
Vor ihm lag ausgestreckt der Totenalb in seinem
kuttenartigen Gewand. Schwarzes Blut quoll aus der Wunde, die
Gorian ihm beigebracht hatte.
Dann zerflossen der Körper und das Gewand zu einer
zähen, dunklen Flüssigkeit, die von dem schwarzen Blut nicht zu
unterscheiden war, und Gleiches geschah mit seiner Axt. Kurz war
das sonst im Schatten der Kapuze verborgene Gesicht zu sehen, doch
es war nur noch ein Totenschädel.
Die Flüssigkeit drang in den Boden ein,
versickerte, und nur noch ein dunkler Fleck mit den ungefähren
Umrissen der Gestalt blieb zurück.
Gorian konnte sich einen Moment lang nicht von
diesem Anblick lösen, bis er Sheeras Hand sacht auf seiner Schulter
spürte.
»Dem Verborgenen Gott sei Dank, du bist
zurückgekehrt!«, erreichte
ihn ihr Gedanke. »Es hätte eine Schattenpfadreise ohne
Wiederkehr werden können.«
Gorian sah auf und blickte in Sheeras grünlich
schimmernde Augen. Sie berührte seine Schulter, wo er von dem
Schattenmahr gebissen worden war. Aber es schmerzte nicht mehr.
»Du hast dich selbst geheilt? Mir war für einen Moment, als
…« Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Aber in der Welt der
Schattenpfade ist so einiges möglich …«
Gorian wollte etwas sagen, aber ein Kloß steckte
ihm im Hals. Zu überwältigend war das, was er soeben erlebt hatte.
Er war dem Tod sehr nahe gewesen – oder vielleicht sogar einem noch
schlimmeren Schicksal. Und nicht für alles, was geschehen war,
hatte er eine Erklärung. Noch nicht …
Der Priester, der Zahlenmagier und die Königin
standen ergriffen um das Bett der Königstochter, und König Demris
Gon strahlte eine Freude aus wie wohl seit vielen Jahren nicht
mehr.
Die Königstochter hatte sich aufgerichtet, saß
aufrecht im Bett, und die dunklen Ringe unter ihren Augen waren
verschwunden. Es quoll auch kein dunkles Blut mehr aus Mund, Nase,
Ohren und Augen.
»Die Genesung Eurer Tochter ist eine Gnade des
Verborgenen Gottes«, behauptete der Priester, dann sprach er mit
der Königin ein Dankgebet.
Aarad legte der Königstochter nach Art eines
Heilers die Hand auf die Stirn und konzentrierte seinen Geist auf
die Erforschung ihres Gesundheitszustandes. Sein Urteil stand schon
nach kurzer Zeit fest. »Sie trägt keine Anzeichen jener Krankheit
mehr in sich, die sie so lange daniedergehalten hat«, verkündete
der Gesandte des Ordens.
Der Ältere und der Jüngere Prinz hielten sich etwas
abseits. Sie schienen beide noch nicht so recht zu wissen, was
sie von der plötzlichen Gesundung ihrer Schwester letztlich halten
sollten. Gorian wusste nicht, ob nach dem Hausrecht der
gryphländischen Königsfamilie eine weibliche Thronfolge möglich
war. Er würde Aarad bei Gelegenheit danach fragen.
»Du hast offenbar etwas vollbracht, das sonst
niemandem möglich war«, ergriff König Demris Gon das Wort und
wandte sich dabei an Gorian. Dabei trat er ganz unköniglich an ihn
heran und ergriff seine Hand. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken
soll!«
»Erfülle ihm alle Wünsche, die er fordert«, riet
die Königin. »Und versichere dich auf Dauer der Dienste dieses
jungen Mannes.«
»Das wird leider nicht möglich sein« entgegnete
Gorian freundlich. »Aber ich bitte Euch erneut darum, uns die Reise
nach Felsenburg zu gestatten und uns den Zugang zu den dort
gelagerten Caladran-Schriften zu gewähren. Außerdem erlaubt uns
bitte, zumindest eine dieser Schriften mit zu den Inseln der
Caladran zu nehmen, um sie ihren ehemaligen Besitzern
zurückzugeben.«
Auf einmal prägte wieder Unentschlossenheit die
Züge des Königs. Sein Blick wurde unruhig, und schon an seiner
Körperhaltung war abzulesen, wie ihn die innere Zerrissenheit
erneut bedrängte. Er ließ Gorians Hand los und machte einen Schritt
zurück.
»Ihr solltet zu Eurem Wort stehen, mein Gemahl!«,
verlangte die Königin.
»Aber was, wenn ein weiteres dieser Schattenwesen
unsere Tochter heimsucht? Etwa, um Rache dafür zu üben, dass ich
mich mit dem Orden der Alten Kraft verbündete und seinen
Mitgliedern ihre Wünsche gewährte? Ist das denn
ausgeschlossen?«
»Sollte dies geschehen, dann sei es so«, mischte
sich die Königstochter ein, und ihre Stimme klang überraschend
fest, ihr Blick wirkte klar. »Vater, ich schwankte so lange am
Rande des Grabes, dass ich den Tod nicht mehr fürchte. Jeden
Schrecken, den ich noch erleiden könnte, habe ich in der
Vergangenheit bereits erduldet.«
Einige Herzschläge lang sagte niemand ein Wort.
Alle Augen waren auf den König gerichtet.
»Gut«, sagte Demris Gon schließlich. »Ruft meinen
Sekretär. Ein entsprechendes Dokument soll ausgestellt und
besiegelt werden!«