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Der Flug nach Felsenburg
Erstaunlich schnell wurde das für den Flug nach Felsenburg nötige Dokument ausgestellt und mit dem Siegel des Königs versehen. Es enthielt die königliche Erlaubnis, Felsenburg überhaupt anzufliegen und dort zu landen, und wies den Verwalter der geraubten Caladran-Schriften an, Gorian und seinen Gefährten Zugang zu allen Räumlichkeiten und sämtlichen Schriftstücken zu gewähren, die in der im nordöstlichen Ödland gelegenen Burg aufbewahrt wurden. Zudem wurde darin bestätigt, dass sie das Recht hatten, mindestens eines dieser Schriftstücke auszuwählen und mitzunehmen.
»Der schon von meinem Vater eingesetzte Verwalter heißt Oras Ban«, erläuterte Demris Gon. »Er ist schon sehr alt, gilt als eigenwillig und nicht gerade umgänglich. Aber er untersteht meiner Befehlsgewalt und wird sich Eurem Willen fügen, wenn Ihr ihm dieses Dokument vorlegt. Doch um einen Gefallen bitte ich Euch.«
»Wenn wir ihn erfüllen können«, sagte Thondaril.
»Sagt ihm nicht, dass Ihr beabsichtigt, eine dieser Schriften als Zeichen des guten Willens und zur Schmiedung eines künftigen Bündnisses zu den Caladran zu bringen. Dafür hätte er keinerlei Verständnis und sähe es als tiefste Schmach für Gryphland an.«
»Wenn es uns möglich ist, werden wir es unerwähnt lassen«, versprach Thondaril.
»Natürlich stellt mein Gemahl Euch eine königliche Greifengondel samt Mannschaft und Reiter zur Verfügung«, mischte sich die Königin ein, und sie sagte es direkt an Gorian gerichtet. Sie war offenbar der Ansicht, diesem Fremden, der ihre Tochter vor dem schon sicher geglaubten Tod bewahrt hatte, noch zu sehr viel mehr Dank verpflichtet zu sein.
Doch noch ehe Gorian antworten konnte, ergriff Thondaril wieder das Wort. »Wir werden uns selbst um eine Reisegelegenheit kümmern«, sagte er freundlich. »Es stehen unruhige Zeiten bevor, und Ihr werdet jeden Eurer Kriegsgreifen benötigen, um Euer Land zu verteidigen.«
Später, als sie in die Höhlen der Ordensgesandtschaft zurückgekehrt waren, verriet Thondaril den wahren Grund dafür, dass er das Angebot der Königin abgelehnt hatte. »Wir können zwar nicht ohne Greifen nach Felsenburg gelangen – es sei denn, wir hätten für diese Reise durch ein extrem unwegsames Land Monate Zeit, was, wie wir alle wissen, nicht der Fall ist -, aber ich möchte niemanden bei mir haben, dem ich nicht voll und ganz vertraue. Niemanden, der im Sold eines anderen steht – und schon gar nicht jemanden, der einem Mann gehorcht, der so wankelmütig ist wie der König von Gryphland. Wer weiß schon, welchen Dämon ihm Morygor demnächst im Schlaf schickt, damit er das Bündnis mit uns wieder aufkündigt.«
»Gleichgültig, an welchen seiner beiden Söhne er sein Reich übergibt«, warf Torbas mit spöttischem Unterton ein, »er sollte es nur möglichst bald tun. Jeder Bettler, den er im Hafen aufgabelt, wäre ein Herrscher mit mehr Entschlusskraft.«
Gorian wandte sich an Meister Thondaril. »Wie sollen wir aber dann zur Burg gelangen?«
»Wir nehmen die Hilfe eines Mannes in Anspruch, der immerhin bereit war, uns ins Reich der Kälte zu fliegen. Der gesehen hat, was denjenigen geschieht, die unter Morygors kalte Herrschaft fallen.«
»Centros Bal«, murmelte Gorian. Er lächelte matt. »Habe ich mir gedacht. Aber man wird ihn überzeugen müssen.«
»Darum wirst du mich begleiten, wenn ich zu ihm gehe«, bestimmte Meister Thondaril.
 
Centros Bal besaß ein Haus in Port Gryphenklau. Es lag in Sichtweite der Kaimauern und Umschlagplätze, wo die Waren angeliefert und umgeladen wurden. Oft genug wechselten sie aber nicht nur vom Schiff in die Greifengondel, sondern auch gleich für einen mehr oder weniger guten Preis den Besitzer. Der gesamte Hafen glich einer einzigen Markthandelsmeile.
Das Haus Centros Bals war zugleich ein Kontor und beherbergte auch die Stallung für seinen Greifen. Fünf Geschosse ragte es empor, und das kuppelförmige Dach ließ sich durch einen ausgeklügelten Mechanismus, den ein Baumeister aus Mitulien entworfen hatte, so weit öffnen, dass ein Greif einfliegen und landen konnte. Im Untergeschoss war eine Zucht und Dressurschule für Seilschlangen untergebracht; diese hilfreichen Wesen waren schließlich für jeden Greifenreiter unentbehrlich. Insbesondere auf ausgedehnten Reisen wie die Bernsteinflüge Centros Bals zu den Mittlinger Inseln musste man sich auf die Tiere verlassen können, die sich mit einem Ende um den Körper des Greifen schlangen und mit dem anderen die Gondel hielten oder bei einem Reiterwechsel einen Mann umfassten, um ihn vom Gondelbalkon auf den Greifenrücken oder zurückzuheben.
Gorian und Thondaril wurden am Eingang des Hauses von Fentos Roon in Empfang genommen. Der zweite und selten zum Einsatz kommende Greifenreiter in den Diensten Centros Bals erkannte die beiden sofort wieder.
»Ihr seht ja, dass hier ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, aber ich bin sicher, dass Centros Bal für Euch ganz gewiss Zeit findet«, sagte er freundlich.
»Ich hoffe, die Geschäfte deines Herrn gehen gut«, erwiderte Thondaril.
Sie mussten zur Seite weichen, weil eine Kolonne von Ogern, die sich im Hafen als Träger verdingten, große Stoffballen zu den Lagerräumen brachte.
»Mein Herr kann nicht klagen«, antwortete Fentos Roon. »Der Bernsteinverkauf in Basaleia hat – zumal durch die Umgehung des Zwischenhandels – eine gute Summe eingebracht. Es ist nur bedauerlich, dass sich dieses Geschäft bis auf weiteres nicht wiederholen lässt.«
Da hatte er recht. Solange die Mittlinger Inseln und das Meer, das sie umgab, von einem inzwischen wahrscheinlich mannshohen Eispanzer bedeckt waren, blieb jeder weitere Bernsteinflug ausgeschlossen. Davon abgesehen gehörte dieses Gebiet nun zu Morygors Reich, und es war davon auszugehen, dass sich seine dunkle magische Aura dort bereits so stark manifestiert hatte, wie es im Bereich des Speersteins von Orxanor der Fall gewesen war. Diese Aura veränderte jeden und machte ihn zum Untoten, wenn er sich zu lange in ihrem Einflussbereich aufhielt und nicht die innere Stärke aufbrachte, ihr zu widerstehen.
Ohne magische Hilfe war das eigentlich nicht denkbar. Nur Gorian hatte es seinerzeit geschafft, zumindest bis zum Speerstein vorzudringen, aber auch das nur zum Preis der totalen, todesähnlichen Erschöpfung.
Centros Bal empfing Gorian und Thondaril in der Kanzlei seines Kontors. Der kleine, drahtige Mann mit dem grauen Bart, der als »Nordfahrer« in ganz Ost-Erdenrund bekannt war, schien sich ehrlich zu freuen, die beiden wiederzusehen. Er trug seinen eng anliegenden Greifenreiter-Anzug, so als wäre er gerade erst von einem längeren Flug zurückgekehrt.
Ein Zahlenmagier – unzweifelhaft an seinem übergroßen kahlen und von einem Netz aus pulsierenden Adern überzogenen Kopf als solcher zu erkennen – stand an einem Schreibpult und murmelte Zahlen vor sich hin.
Auf dem Pult saß eine achtäugige Schreibspinne. Aus den Enden ihrer Beine quoll Tinte, mit der sie die Angaben des Zahlenmagiers mit einer solchen Feinheit und Akribie in eine Tabelle eintrug, wie dies keinem menschlichen Schreiber möglich gewesen wäre.
Gorian betrachtete die Schreibspinne einen Moment, und sie schien mit drei oder vier ihrer Augen diesen Blick zu erwidern, wobei sie ihre Schreibgeschwindigkeit kein bisschen verringerte.
Centros Bal bemerkte Gorians Interesse und lächelte. »Du hast sicher schon so ein Tier gesehen, was?«
»Ich habe davon gehört.«
»Die Schiffe aus Margorea bringen sie her, und sie erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Und sie sind sehr gelehrig. Aber es gibt bereits Bestrebungen der Schreibergilde, sie zu verbieten, weil sonst niemand mehr die Mühen des Schreibenlernens auf sich nimmt.«
»Wollen die Mitglieder der Schreibergilde sie nicht eher deshalb verbieten, weil sie um ihre Pfründe fürchten?«, vermutete Thondaril.
Centros Bal schüttelte den Kopf. »O nein, da liegt Ihr falsch, werter Thondaril«, entgegnete er in bestem Heiligreichisch. »Für eine Schreibspinne muss man den Lohn von drei Schreibern für ein ganzes Jahr zahlen, so teuer sind die Tierchen. Von den Kosten der Haltung ganz zu schweigen. Die Biester sind nämlich ziemlich anspruchsvoll.«
»Aber sie schreiben schneller und machen weniger Fehler«, erklärte der Zahlenmagier, der seine für unbeteiligte Hörer sinnlos erscheinende Zahlenlitanei für einen Moment unterbrach.
Centros Bal stellte ihnen den Zahlenmagier vor. Er hieß Rastos und stammte aus Andobar, der Hauptstadt des gleichnamigen Inselfürstentums vor der gryphländischen Küste. Formal gehörte Andobar zum Königreich Gryphland, aber faktisch war es schon seit jenen Tagen unabhängig, da die gryphländischen Greifenreiter gegen die Himmelsschiffe der Caladran gekämpft hatten. Der Fürst von Andobar hatte sich nämlich für neutral erklärt und sich geweigert, mit seinen eigenen Greifenreitern gegen den Feind zu Felde zu ziehen. Für manche Gryphländer hatte die Bezeichnung Andobarianer seitdem die gleiche Bedeutung wie das Wort Verräter.
Insbesondere den Mitgliedern der zahlreichen Gilden von Gryphland, die eine erhebliche Macht ausübten, war Andobar und jeder, der von dort stammte, verhasst, denn das angebliche Gildenunwesen war in dem Inselfürstentum abgeschafft worden. Die Fürsten von Andobar hatten damit den Handel angekurbelt und gleichzeitig die Gilden auf dem gryphländischen Festland dazu gezwungen, die Einfuhr so mancher Ware, die sie für bedenkliche Konkurrenz hielten, zuzulassen.
»Rastos vertritt mich hier in Gryphenklau, wenn ich auf Reisen bin«, erklärte Centros Bal. »Er genießt mein vollstes Vertrauen und hält hier meine Geschäfte am Laufen.«
»Ich habe schon von Euch gehört, Thondaril«, sagte Rastos höflich und in geschliffenem Heiligreichisch. Dann wandte er den ballonartigen Kopf und sah Gorian an. »Und von Euch erzählt man sich seit Kurzem ebenfalls sehr wundersame Dinge, Meister Gorian.«
Dass der Zahlenmagier ihn nicht nur in der Höflichkeitsform, sondern auch noch mit Meister ansprach, war wohl den Gerüchten geschuldet, die über die Errettung der Königstochter in Gryphenklau kursierten.
»Verzeiht, aber ich bin noch kein Meister, sondern ein nach wie vor gelehriger Schüler Thondarils«, gab Gorian auf Gryphländisch zurück.
»So ist das, was Ihr für das Königshaus getan habt, noch beeindruckender. Das ganze Land wird davon profitieren.«
»Leider vermochte niemand, den König von seinem Hang zur Entschlusslosigkeit zu heilen«, bekannte Gorian. »Er zögert noch, einem Bündnis gegen Morygor beizutreten, und wird nur einen seiner Söhne zu den Verhandlungen nach Arabur schicken.«
»Arabur? Der Kaiser des Heiligen Reichs soll sich dort verkrochen haben und hofft vermutlich genauso, dass der Giftkelch des Untergangs an ihm vorübergeht, wie unser eigener König.«
»Die sind alle starr vor Schrecken«, meinte Centros Bal. »Ich befürchte, bevor bei den Beratungen in Arabur irgendwelche Beschlüsse gefasst werden, hat sich eine Eisschicht über ganz Ost-Erdenrund gelegt.«
»Ihr habt die Schrecken von Morygors Reich mit eigenen Augen gesehen«, sagte Thondaril zu dem Nordfahrer. »Darum sollte Euch mehr als allen anderen klar sein, dass etwas getan werden muss und wir nicht auf die Entscheidungen der Mächtigen warten können.«
Centros Bal atmete tief durch. »Ihr braucht jemanden, der Euch fliegt, Meister Thondaril? Seid Ihr deswegen hier?«
»Ihr sollt es nicht umsonst tun. Der Orden verfügt noch immer über gewaltige Mittel, auch außerhalb des Heiligen Reichs, sodass Ihr sicher sein könnt, einen fürstlichen Lohn zu erhalten.«
Der hagere, kleine Mann, dessen Alter schwer zu schätzen war, lachte meckernd. »Wenn die Leviathane erst die Südküste Gryphlands oder Laramonts erreichen und alles niederwalzen, wird niemand mehr irgendeinen Lohn einfordern können, gleichgültig wie hoch oder fest versprochen er sein möchte. Und selbst wenn der Orden noch Schatzkammern in Andobar oder vielleicht sogar im fernen Margorea unterhält, um auch für die größtmögliche Katastrophe gewappnet zu sein, das Eis wird irgendwann auch bis dorthin reichen; das Laramontische Meer ist so wenig ein Hindernis, wie es andere Meere zuvor gewesen sind.«
Thondaril ging auf die Einwände des Greifenreiters erst gar nicht ein, sondern erklärte: »Ich brauche jemanden, der uns nach Felsenburg fliegt. Und ich möchte, dass Ihr das tut.«
»Ich war schon dort«, bekannte Centros Bal. Er deutete auf die Schreibspinne, die die Unterhaltung aufmerksam zu verfolgen schien, während sie gleichzeitig Kopien von Listen anfertigte, und das mit einer Geschwindigkeit, zu der auch der beste menschliche Schreiber niemals fähig gewesen wäre. »Ich habe ein halbes Dutzend Schreibspinnen an den Königlichen Verwalter von Felsenburg verkauft. Da ich aufgrund der abgenommenen Menge einen guten Preis bei meinem margoreanischen Schreibspinnenzüchter bekam, habe ich mir selbst auch eine geleistet, obwohl mir das sonst zu teuer gewesen wäre.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber die Biester amortisieren sich, sag ich Euch.«
»Ihr würdet uns also nach Felsenburg fliegen?«, vergewisserte sich Thondaril. »Über den Preis werden wir gewiss einig.«
»Wann wollt Ihr aufbrechen?«
»Am liebsten noch heute.«
»Morgen früh sind mein Greif und ich für Euch bereit.«
»Einverstanden.«
»Aber von Felsenburg aus wird die Reise dann weitergehen«, mischte sich Gorian ein.
»Nicht!« Er konnte die Mahnung Thondarils fast körperlich spüren. Offenbar hatte der zweifache Ordensmeister keineswegs die Absicht, Centros Bal bereits zu diesem Zeitpunkt voll und ganz einzuweihen.
Aber irgendein Gefühl sagte Gorian, dass dies hier und jetzt ausgesprochen werden musste. Und so tat er es. »Von Felsenburg aus sollt Ihr uns geradewegs zu den Inseln der Caladran bringen.«
Centros Bal reagierte so, wie Thondaril es offenbar befürchtet hatte. Der Greifenreiter wurde trotz einer von der Sonne gebräunten Haut plötzlich so bleich wie die schmucklose Wand hinter ihm. »Nein«, sagte er hart und klar. »Alles, nur das nicht! Der ganze Schatz des Ordens reicht nicht aus, dass ich dorthin fliege, wo man die Greifenreiter hasst wie sonst nirgends.«
»Ihr sollt es auch nicht des Silbers wegen tun, das Euch der Orden zahlen wird, Centros Bal«, entgegnete Gorian auf Gryphländisch. »Tut es aus der Notwendigkeit heraus, dass sich alle Kräfte gegen den gemeinsamen Feind vereinen müssen. Tut es, weil die Magie der Caladran vielleicht die einzige Möglichkeit ist, Morygor noch aufzuhalten.« Mit diesen Worten zog er Sternenklinge hervor.
Der hagere Greifenreiter wirkte irritiert, als Gorian ihm die Klinge vor das Gesicht hielt, sodass er sie genau betrachten konnte.
»Der beiden Schwerter meines Vaters wegen war ich am Speerstein und wäre dort um ein Haar gestorben«, fuhr Gorian fort. »Und die Gefahr, die Ihr bei diesem Unternehmen auf Euch genommen habt, war keineswegs geringer. Nun brauchen wir abermals einen Greifenreiter mit Eurem Mut und Eurer Unerschrockenheit.«
Centros Bal schwieg eine Weile. Er kratzte sich am Kinn, und auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. »Ich könnte Euch von Felsenburg aus direkt nach Havalan fliegen«, sagte er schließlich in gedämpftem Tonfall. »Die Westreicher pflegen traditionell gute Beziehungen zu den Caladran, und Ihr werdet sicher schnell eine Galeere finden, die Euch ans Ziel bringt.«
»Ich hatte gehofft, Ihr wüsstet, wie mächtig unser Feind ist und dass die verrinnende Zeit sein größter Verbündeter ist«, sagte Gorian. »Abgesehen davon muss es ein Greifenreiter sein, der uns zu den Caladran begleitet. Wir wollen eine der gestohlenen Schriften zurückbringen, und dieses Signal wird nur dann richtig verstanden werden, wenn ein Gryphländer zugegen ist.«
»Dann sollte das besser ein Gesandter des Königs oder noch besser einer der Kronprinzen sein.«
»Meint Ihr die beiden Jünglinge, die sich gegenseitig belauern wie Oger-Ringer auf dem Jahrmarkt und nur hoffen und darauf warten, dass einer von ihnen nicht am Hof ist, wenn der König stirbt, sodass der andere dann die Macht an sich reißen kann?« Gorian schüttelte den Kopf. »Ihr habt keinen Rang und kein Amt, und doch seid Ihr ein wesentlich besserer Botschafter Eures Landes. Ihr seid der Nordfahrer, und man wird selbst auf den Caladran-Inseln von Euch gehört haben.« Er atmete tief durch und steckte das Schwert wieder ein. »Sollten wir uns in Euch getäuscht haben, wäre dies sehr bedauerlich, denn es dürfte kaum jemanden geben, der Euch auf diesem Flug ersetzen könnte.«
»Manche Dinge muss auch ein Kaufmann um der Ehre willen tun«, mischte sich Rastos ein.
Centros Bal verzog das Gesicht. »Normalerweise würde ich nicht viel darauf geben, wenn ausgerechnet ein Zahlenmagier aus dem Land der Andobarianer-Verräter so etwas sagt. Es sei denn, sein Name ist Rastos.« Mit einer ruckartigen Bewegung wandte er sich Thondaril zu und sagte auf Heiligreichisch: »Er mag noch kein Meister des Ordens sein, aber ein Meister der Überredungskunst ist dieser junge Mann allemal. Wahrlich, dieses Talent würde ich mir bei manchem meiner Angestellten wünschen, die ich für teures Silber bezahle, um meine Waren an den Mann zu bringen.«
Thondaril hob die Augenbrauen. »Heißt das …?«
»Morgen früh bei Sonnenaufgang! Und seid bitte pünktlich, Meister Thondaril, damit wir am Abend in Felsenburg sind!«
 
Am Abend vor dem Aufbruch suchte Gorian seinen Mentor in dessen Zelle in der Ordensgesandtschaft von Gryphenklau auf.
Thondaril beendete gerade seine Übungen zur geistigen Versenkung. Seine Augen waren vollkommen schwarz und blieben es zunächst – ein Zeichen dafür, wie sehr er die Alte Kraft in sich gesammelt und konzentriert hatte.
Mit verschränkten Beinen und gegen die Schläfen gepressten Daumen und Zeigefingern saß er auf der einfachen Pritsche.
»Wenn ich ungelegen komme, dann…«, begann Gorian und wollte schon wieder gehen.
»Dann hätte ich dich nicht hereingebeten«, sagte der zweifache Meister und ließ die Hände sinken. »Wir haben in der Tat miteinander zu reden. Und das sollten wir tun, ehe wir aufbrechen.«
Es hatte sich für sie, seit sie das Haus des Greifenreiters verlassen hatten, nicht mehr die Gelegenheit für ein Gespräch unter vier Augen ergeben.
»Meister, es tut mir leid, dass ich gegenüber Centros Bal derart vorgeprescht bin, obwohl Ihr mich ermahntet und …«
»Du hast eine sehr verharmlosende Weise, das auszudrücken«, fiel Thondaril ihm ins Wort und erhob sich.
»Ich war überzeugt, das Richtige zu tun.«
»Eine solche Überzeugung ist oft genug der Keim des Irrtums. Du hast Glück gehabt, dass sich die Angelegenheit in unserem Sinn entwickelt hat. Aber es hätte auch anders kommen können.« Thondaril atmete tief aus. »Stell dir vor, Centros Bal hätte abgelehnt. So viel Auswahl an Greifenreitern, denen wir trauen können, haben wir nicht. Wir hätten ihn auch später noch bitten können, uns zu den Caladran-Inseln zu fliegen, zu einem Zeitpunkt, da er die Notwendigkeit dazu womöglich eher eingesehen hätte. Notfalls hätte ich seinen Willen manipuliert, und da er über keine magischen Fähigkeiten verfügt, wäre das auch nicht allzu schwer gewesen.«
»Damit hättet Ihr gegen die Regeln des Ordens verstoßen.«
»In dieser außergewöhnlichen Lage hätte ich das akzeptiert.«
»Ich gehe lieber den direkten Weg, Meister Thondaril. Ich will mich nicht verstellen. Ich will niemandem mit Magie meinen Willen aufzwingen und damit die Ordensregeln brechen. Und den Caladran wäre bestimmt auch aufgefallen, dass der Greifenreiter, der uns begleitet, dies nicht freiwillig tut, sondern weil er beeinflusst wird.«
Thondaril erhob sich. »Deine Haltung ist ehrenwert. Und der direkte Weg, wie du es ausgedrückt hast, hat sicher manches für sich. Aber hin und wieder ist es eben einfach nicht möglich, sich an alle Regeln zu halten, weil wir dadurch zu viele Risiken eingehen würden und letztlich das gefährden, was uns wichtig ist. Deine Ehrlichkeit und Offenheit hat dich diesmal ans Ziel gebracht, sie hätte dich aber auch davon entfernen können, und das wäre in diesem Fall verhängnisvoll gewesen. Die Dinge sind nicht immer schwarz oder weiß, sondern zumeist grau. Aber das wirst du hoffentlich noch lernen.«
Nach seiner Rede wandte sich Thondaril dem kleinen Tisch in der Zelle zu, auf dem außer einem aufgeschlagenen Exemplar der Ordens-Axiome noch eine kleine Ledertasche lag, die der Meister des Schwertes und der Magie ansonsten stets an seinem Gürtel trug.
Er griff in die Tasche, und Gorian erkannte sofort, was er da hervorholte. Es war der Ring eines Meisters, wie Thondaril selbst ihn zweifach am Finger trug.
»Der Orden ist ja derzeit damit beschäftigt, sich zu rekonstituieren«, sagte Thondaril mit ruhiger Stimme. »Unser Hochmeister entpuppte sich als Verräter, und von dem Verlust der Ordensburg werden wir uns lange nicht erholen. Aber inzwischen gibt es ein neu gebildetes Entscheidungskonvent, dem auch ich angehöre, und mittels Handlichtlesen ist es uns möglich, auch über große Entfernungen hinweg miteinander zu kommunizieren.« Thondaril hielt Gorian den Meisterring hin. »Den Mitgliedern des Entscheidungskonvents wurde die Autorität verliehen, aus eigenem Ermessen Meisterringe an ihre Schüler zu vergeben. Und ich bin der Auffassung, dass du dir deinen verdient hast. Mag sein, dass dir noch vieles fehlt, aber das wird dich die Zeit lehren. Dass es dir gelang, die Schwerter deines Vaters zurückzugewinnen, ist meines Erachtens Beweis genug für deine Fähigkeiten, daher ernenne ich dich hiermit zum Schwertmeister des Ordens der Alten Kraft, sofern du bei der Allmacht des Verborgenen Gottes schwörst, dein Talent und dein Wissen niemals im Geist des Bösen anzuwenden, die Axiome des Ordens zu achten und zur Verteidigung des Heiligen Reichs beizutragen.«
Gorian war mehr als nur überrascht. Wie lange hatte er davon geträumt. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn er eines Tages zum Schwertmeister ernannt wurde.
Nun war es so weit – allerdings unter Umständen, die ganz anders waren, als er es sich gedacht hatte.
»Ich schwöre es!«, sagte er eilig. »Der Verborgene Gott sei mein Helfer, sofern ich mit meinem Talent der seine bin!«
Seine Worte entsprachen der traditionellen Antwortformel. Sie stammte noch aus der Zeit des legendären Ersten Meisters, als dieser die ersten Gefolgsleute mit der Meisterwürde versah.
Thondaril steckte Gorian den Ring an die Hand. »Du wirst dir gewiss einen anderen Rahmen für diese Zeremonie vorgestellt haben. Den kann ich dir angesichts unserer Lage leider nicht bieten.«
»Das schmälert nicht die Bedeutung, die dieser Augenblick für mich hat«, erklärte Gorian.
»Was die anderen Meistertitel angeht, deren Erreichen du dir ja in aller Ernsthaftigkeit vorgenommen hattest …«
»Ich werde mich gedulden«, versprach Gorian.
»Das wirst du müssen«, nickte Thondaril. »Und ich möchte dich diesbezüglich auch noch einmal ermahnen, um dich von gefährlichen Selbstversuchen abzuhalten, insbesondere hinsichtlich der Schattenpfadgängerei. Der Angriff, dem du im Gemach der Königstochter ausgesetzt warst, hat dich in die Zwischenwelt der Schattenpfade gerissen, und du kannst von Glück sagen, sie ohne Schaden an Geist und Körper wieder verlassen zu haben.«
»Ich habe die Kraft des Totenalbs in mich aufgenommen«, erklärte Gorian. »So habe ich ihn getötet – durch Entziehung seiner Kraft. Es war genau das Gegenteil von dem, was man einen Schwertschüler lehrt.«
»Dass du diese Kraft aufgenommen hast, rettete vermutlich dein Leben, denn jemand, der nicht genug über die Schattenpfade weiß, endet schon nach kurzem Aufenthalt in jener Zwischenwelt als vorzeitig gealterter Greis, dem jegliche Lebenskraft fehlt.« Noch einmal ermahnte er den neuen Schwertmeister und sprach mit großer Eindringlichkeit: »Komm also nicht auf die Idee, eigene Schritte in diese Richtung unternehmen zu wollen, nur weil dir im Moment ein Lehrmeister fehlt, der dir zeigen könnte, wie man auf den Schattenpfaden zu wandeln vermag, ohne Schaden zu nehmen. Hast du verstanden?«
»Jedes Wort. Und ich verspreche, nicht unbedacht zu handeln.«
Es war Thondaril nicht anzumerken, ob ihn die Versicherungen seines Schülers wirklich restlos überzeugten. »Gut. Es wird dir sicherlich noch möglich sein, auch die Ausbildung in den anderen Ordenshäusern fortzusetzen. Vorausgesetzt, es gelingt uns irgendwie, Morygors Horden zumindest für einige Zeit aufzuhalten.«
Gorian hatte noch ein Anliegen. »Ich möchte Euch gewiss keine Ratschläge erteilen, Meister …«, begann er und suchte ganz offensichtlich nach den richtigen Worten.
»Das würde sich auch nicht geziemen«, erwiderte Thondaril. »Allerdings sagen die Axiome, dass die Wahrheit keinen Rang kennt. Und davon abgesehen bist du jetzt ein Meister wie ich. Dass du aber noch lange und in vielem auf den Rat des Erfahreneren hören solltest, ist natürlich eine andere Sache.«
Gorian nickte. Der Meisterring an seinem Finger drückte noch. »Meister Thondaril, da Ihr mich in den Rang eines Meisters erhoben habt, solltet Ihr auch Torbas diese Ehre zuteilwerden lassen.«
Thondaril hob die Augenbrauen. »So?«
»Er ist mir nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Zwar gebe ich es ungern zu, aber in allen Übungskämpfen, in denen wir uns in letzter Zeit gemessen haben, und das waren viele, hat er mich besiegt, und hinsichtlich des magischen Talents dürfte er mir gleichwertig sein.«
»Und doch warst du es, der zum Speerstein gelangte, nicht er.«
»Mit Verlaub, Meister Thondaril, aber auch Ihr konntet mir nicht bis dorthin folgen.«
»Morygors Aura war zu stark.«
»Meister, ich bitte Euch inständig, Torbas den Ring nicht zu versagen. Er hat ihn ebenso verdient wie ich.«
»Du bist jetzt ein Meister und hast das Recht, dir Schüler zu suchen und sie auszubilden. Zumindest den Regeln des Ordens nach ist das so, auch wenn ich dir zum gegenwärtigen Zeitpunkt dringend davon abrate. Aber du wirst niemals das Recht haben, meine Entscheidungen anzuzweifeln oder darüber zu befinden, wen ich zum Meister ernennen soll und wen nicht!« Die Furchen auf Thondarils Stirn waren tief geworden, und sein Gesicht, das ohnehin wie aus Stein gemeißelt wirkte, glich einer abweisenden Maske.
Vielleicht bin ich zu weit gegangen, dachte Gorian.
»O ja, das bist du!«, erreichte ihn ein Gedanke Thondarils. »Geh jetzt!«
Gorian nahm den Meisterring wieder von seinem Finger und legte ihn auf den Tisch. »Gebt ihn mir in dem Augenblick, da Ihr auch Torbas für würdig befindet, Meister.«
»Du bist ein Narr!«
»Möglicherweise. Aber Torbas und ich sind Gefährten. Ich habe ihm eines der Schwerter meines Vaters gegeben und werde auf ihn angewiesen sein. Wenn einer von uns ein Meister ist, während der andere Schüler bleibt, werden wir niemals den nötigen Zusammenhalt wiederfinden, den wir benötigen.«
Thondaril schwieg einen Moment. »Wiederfinden?«, fragte er dann in Gedanken, und der Blick, mit dem er Gorian bedachte, war so durchdringend, dass dieser glaubte, der zweifache Ordensmeister könnte bis auf den Grund seiner Seele sehen. »Was ist zwischen euch vorgefallen?«, hakte Thondaril unerbittlich nach.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gorian. »Ich weiß nur, dass nichts mehr so ist, wie es sein sollte, seit wir aus dem Frostreich zurückgekehrt sind. Sollte Torbas nun auch noch diesen Ring an meinem Finger sehen, wäre das womöglich der entscheidende Schnitt, der das Band zwischen uns völlig durchtrennt. Doch das darf nicht geschehen. Es würde uns entzweien.«
Gorian atmete laut aus. Er fürchtete sich vor Thondarils Antwort.
Die bestand zunächst in einem nachdenklichen Schweigen. Dann nahm er den Ring und steckte ihn zurück in die Tasche. »Die Nacht ist kurz. Du solltest das, was von ihr geblieben ist, zum Schlafen nutzen … Schüler
 
Am nächsten Morgen standen Gorian und Sheera auf dem Felsplateau der Gesandtschaftshöhle und beobachteten, wie sich unten in Port Gryphenklau der Greif von Centros Bal in die Lüfte erhob. Die Gondel war mit einer deutlich höheren Anzahl von Seilschlangen gesichert, als es Gorian vom letzten Flug mit dem Nordlandfahrer in Erinnerung hatte.
»Vielleicht erwartet er besondere Schwierigkeiten auf dieser Reise«, lautete Sheeras Vermutung, die Gorians Gedanken las. »In meiner oquitonischen Heimat erzählt man sich allerlei Geschichten über das Landesinnere von Gryphland.«
»Es gelangen nicht viele Fremde dorthin, und unbekannte Gebiete eignen sich immer für Schreckensgeschichten«, gab Gorian zurück.
Sie sah ihn von der Seite her an und schien zu spüren, dass ihn irgendetwas sehr stark beschäftigte, aber sie sandte ihm nicht einmal einen fragenden Gedanken – und dafür war er ihr in diesem Augenblick sehr dankbar. Nein, was sich am vergangenen Abend in Meister Thondarils Zelle abgespielt hatte, sollte zwischen ihm und seinem Meister bleiben. Für alle Zeiten. Vor allem Torbas durfte nie davon erfahren.
Auch Thondaril, Torbas und Aarad traten ins Freie. Eigentlich hatte Gorian erwartet, dass der Heiler als besonderer Kenner des Landes sie nach Felsenburg begleiten würde. Aber Aarad hatte offensichtlich andere Pläne, denn er trug nicht einmal eine Waffe, geschweige denn irgendwelches Gepäck bei sich.
»Meister Aarad wird leider nicht mitkommen«, erklärte Thondaril seinen Schülern. »Wir sind zu dem Schluss gelangt, dass jemand am Hof bleiben sollte, falls sich das Befinden der Königstochter überraschend wieder verschlechtern sollte. Sie ist noch geschwächt, und sollte ihr Gesundheitszustand plötzlich wieder umschlagen, kann sich das erheblich auf unser Bündnis mit Demris Gon auswirken.«
Centros Bals Greif erreichte das Felsplateau, und die Gondel sank herab, bis sie sanft aufsetzte.
Fentos Roon, der Zweite Greifenreiter, öffnete ihnen die Gondeltür, und Gorian und seine Gefährten stiegen ein. Die Seilschlangen strafften sich und stießen dabei ein Zischen aus, dann hob sich die Gondel wieder. Als Gorian wenig später aus einem der verglasten Fenster sah, schwebten sie bereits hoch über Gryphenklau.
»Ich bin gespannt, ob uns die Schriften von Felsenburg wirklich helfen«, hörte er Torbas neben sich sagen. »Ich habe da so meine Zweifel. Schon deswegen, weil niemand von uns die Caladran-Sprache beherrscht.«
»Nun, ich verfüge zumindest über gewisse Grundkenntnisse«, erklärte Thondaril. »Und die Schrift beherrsche ich gut genug, um den Wert eines Buches oder einer Schriftrolle einigermaßen ermessen zu können.«
»Habt Ihr je die Magie der Caladran ausprobiert?«, fragte Gorian interessiert.
»Das zu versuchen kann ich keinem empfehlen. Zumindest niemandem, der sie nicht wirklich beherrscht, und das sind wohl nur die Caladran selbst. Und auch die haben angeblich viel von ihrem früheren Wissen verloren.«
»Man sagt, die goldäugigen Spitzohren vermochten früher sogar mit ihren Himmelsschiffen zu den Sternen zu fliegen«, sagte Torbas. »Aber dieser Teil ihrer Magie scheint wohl auch in Vergessenheit geraten zu sein …«
 
Stunden gingen dahin, in denen sie über das zerklüftete Innere Gryphlands flogen. Der Verborgene Gott musste diese Landschaft in einer Laune unbändigen Zorns geschaffen haben. Schroffe, wie Messer aus geschliffenem Stein in die Höhe ragende Felsmassive wechselten sich mit tiefen, schmalen Schluchten ab, in denen ewiger Schatten herrschte.
In vielen der Felsmassive befanden sich die Wohnhöhlen einzelner Greifenreiter und ihres Gefolges, wie Fentos Roon ihnen erklärte. Er, der Zweite Greifenreiter Centros Bals, schien gar nicht mehr damit zu rechnen, auf diesem Flug überhaupt zum Einsatz zu kommen. Jedenfalls trug er keinen der gefütterten Greifenreiteranzüge aus Leder, die in besonderer Weise vor der Höhenkälte schützten, sondern ein gewöhnliches Wams und eine eng anliegende Hose.
Der Dritte Greifenreiter hörte der Unterhaltung nur interessiert zu. Gorian kannte ihn nicht. Es handelte sich jedenfalls nicht um denselben jungen Mann, der den Flug zum Speerstein von Orxanor als zweiter Ersatzmann mitgemacht hatte.
Später erfuhr Gorian, dass er Zog Yaal hieß und ein absoluter Anfänger in der Kunst der Greifenreiterei war. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger jedoch hatte er keinerlei Bedenken, einen Flug zu den Inseln der Caladran zu unternehmen.
Zog Yaal war ein schweigsamer junger Mann, dem das dunkle Haar bis zu den Augenbrauen in die Stirn fiel. Auch als Torbas ihn ansprach, antwortete er nur das Nötigste.
Fentos Roon hingegen war äußerst redselig und erzählte auch, warum es seinem Herrn so wichtig war, dass sie Felsenburg noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichten. »Es ist wegen den Fledermenschen. Sie kommen des Nachts aus dem Schatten der tiefen Erdspalten.«
»Auch hier, so nahe Gryphenklaus?«, fragte Sheera und runzelte die Stirn.
»Ja, aber hier gibt es nur noch sehr wenige von ihnen, und das sind auch Einzelgänger, die nicht in Rudeln auftreten«, gab Fentos Roon zu. »Im Nordwesten jedoch sind sie sehr zahlreich. Zwischen Mittelgryphland und der Grenze nach Mitulien erstrecken sich weite öde Gebiete, wo sie in sehr tiefen Schluchten hausen. Dieses Land gehört zwar offiziell noch zum Greifenreiter-Reich, aber kein gryphländischer König hat dort je wirklich geherrscht, auch wenn sich das jeder Mensch und jeder Greif wünschen mag.«
»Wieso sich jeder menschliche Bewohner dieses Landes das wünscht, leuchtet mir ein«, bekannte Torbas. »Aber wieso erwähnst du die Greifen? Auf deren Wünsche wird doch hierzulande kaum Rücksicht genommen. Ich meine, zumindest habe ich noch nie davon gehört, dass ein Greifenreiter sein Reittier gefragt hätte, ob das Reiseziel seinen Wünschen entspräche oder die Gondel nicht zu schwer sei.« Er lachte kurz auf, aber sein Humor fand bei keinem der anderen Anklang.
»Ich kann dir sagen, weshalb sich die Greifen nichts sehnlicher wünschten, als dass ein starker gryphländischer König diese Gebiete beherrschte«, sagte Fentos Roon sehr ernst, und sein Tonfall machte deutlich, dass man hierzulande keine Witze über diese Angelegenheit riss. »Die Fledermenschen jagen sie. Das ist der Hauptgrund dafür, dass die Anzahl der wilden Greifen im Landesinneren immer mehr zurückgeht. Vor langer Zeit tobte der Legende nach ein Krieg zwischen Fledermenschen und Greifen. Letzteren fehlte die Schläue ihrer Gegner, und so waren sie im Nachteil und wären beinahe ausgerottet worden. Daher schlossen sie einen Pakt mit den Menschen, die sich bereits an der Küste angesiedelt hatten und bisher vergeblich versuchten, ins Landesinnere vorzudringen. Die Greifen boten den Menschen ihre Dienste an, und im Gegenzug machten die Menschen aus den Greifen eine Streitmacht, die sich gegen die Fledermenschen behaupten konnte.«
»Und auf diese Weise wurden die Fledermenschen besiegt?«, fragte Torbas.
»Nein«, widersprach Fentos Roon. »Es war einer der ersten Könige Gryphlands, der dafür verantwortlich war. Er reiste einst zu den Inseln der Caladran, denn in jener Zeit gab es noch keine Feindschaft zwischen unseren Ländern …«
»Was auf ein Bündnis in der Zukunft hoffen lässt«, warf Sheera ein.
Fentos Roon wiegte skeptisch den Kopf. »Um das zu beurteilen, sollte man das Ende der Geschichte kennen.«
Gorian hob die Augenbrauen. »Dann spannt uns nicht länger auf die Folter«, verlangte er auf Gryphländisch; bisher war die Unterhaltung auf Heiligreichisch geführt worden, das auch Fentos Roon gut beherrschte.
»Dieser König hieß Song Mol«, fuhr Fentos Roon fort, »und wurde zu einer Sagengestalt, um die sich alle möglichen furchtbaren Geschichten ranken und mit der man bei uns kleine Kinder erschreckt.«
»Was hat er getan?«
»Er brachte von den Inseln der Caladran einen Zauber mit, um die Fledermenschen dort zu bekämpfen, wohin ihnen niemand folgen mochte – in den tiefsten Schattenschlünden der gryphländischen Gebirgszüge. Er hatte den Caladran den Zauber geraubt, und die Legendenerzähler in Port Gryphenklau nennen es den ersten Zauberraub.«
»So gab es also noch einen zweiten?«, fragte Gorian.
Fentos Roon nickte nur, um dann seine Geschichte weiterzuerzählen: »Mit dem Zauber, den Song Mol von den Inseln der Caladran mitbrachte, beschwor er die Feuerdämonen, die in den Tiefen der Erdspalten schliefen und nur daraus hervorkommen, wenn sie auf die richtige Weise gerufen werden. Genau das tat Song Mol.«
»Also war er in der Lage, die Magie der Caladran anzuwenden, obwohl er ein Mensch war?«, staunte Gorian.
»Das ist nur eine Legende«, mischte sich Thondaril ein, der sehr wohl ahnte, warum Gorian dieser Punkt so wichtig war. »Ihren Wahrheitsgehalt können wir nicht überprüfen.«
»Die Feuerdämonen quollen aus den Erdspalten«, erzählte Fentos Roon, »und da sie die Tiefenbereiche der Schluchten als ihr eigenes Reich ansahen, vernichteten sie die Fledermenschen dort. Manchen von ihnen gelang zwar die Flucht, und sie kehrten später zurück. Aber seit jenen Tagen sind sie für den König von Gryphland keine ernstzunehmenden Gegner mehr. Allerdings hatte die Sache einen Haken. Die Feuerdämonen ließen sich nämlich nicht wieder bannen. Sie verweigerten Song Mol den Gehorsam und verwüsteten das Land. Die Gebiete zwischen Felsenburg und der mitulischen Grenze waren einst fruchtbar und ebenso das Tal zwischen den südlichen Bergen und dem mittelgryphländischen Bergrücken. Nun wächst dort nichts mehr. Die Feuerdämonen wüteten immer weiter und drohten das ganze Königreich zu vernichten. Song Mols Kenntnisse der Caladran-Magie aber waren lückenhaft und reichten einfach nicht aus, die Kreaturen wieder zu bannen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als erneut zu den Caladran zu fliegen, um Abbitte zu leisten und sie um Hilfe anzuflehen. Doch die Caladran wiesen ihn zurück. Es kümmerte sie nicht, dass viele Gryphländer durch die Feuerdämonen ihr Leben verloren. Der Untergang des Königreichs wäre die gerechte Strafe dafür, dass Song Mol den Zauber gestohlen hatte …«
»Du hast fürwahr ein Talent zum Geschichtenerzählen«, unterbrauch ihn Torbas, und in seinen Worten schwangen sowohl Spott als auch Anerkennung mit. »Auf jeden Fall würdest du damit dein Auskommen in den Straßen von Port Gryphenklau finden, sollte dein Herr eines Tages zu der Ansicht gelangen, auf einen Zweiten Greifenreiter verzichten zu können, der ja ohnehin kaum zum Einsatz kommt.«
»Diese Geschichten kennt in Gryphland jedes Kind«, erwiderte Fentos Roon. »Wer damit Geld verdienen will, indem er sie an Straßenecken erzählt, muss sie schon sehr gut auszuschmücken wissen, um noch irgendein Greifenküken aus dem Bau zu locken.«
»Offenbar gelang es den Feuerdämonen nicht, das ganze Greifenreiter-Reich zu zerstören«, mischte sich Gorian ein. »Was hat sie aufgehalten?«
»Es war ein Caladran«, antwortete Fentos Roon. »Niemand kennt seinen Namen, die Legenden nennen ihn nur den Namenlosen Renegaten, und sicherlich war es nicht nur sein ihn plagendes Gewissen, das ihn so handeln ließ, sondern er war aus irgendeinem Grund ein Verfemter seines Volkes. Jedenfalls beging er den zweiten Zauberraub und brachte dem König von Gryphland eine Anzahl sehr wertvoller magischer Schriften.«
»Ich nehme mal an, dass der Namenlose Renegat die Caladran-Magie richtig anzuwenden wusste und die Feuerdämonen bannte«, warf Sheera ein.
»Ja«, bestätigte Fentos Roon, »so war es.«
»Aber der Raub dieser magischen Schriften…«, begann Gorian.
Fentos Roon nickte. »… war der Beginn der ewigen Feindschaft zwischen Caladran und Greifenreitern. Die Caladran verlangten ihre Rückgabe und die Auslieferung des Namenlosen Renegaten. Song Mol lehnte dies ab.«
»Was wurde aus dem Namenlosen Renegaten?«, wollte Gorian wissen.
Fentos Roon hob die Schultern. »Es gibt Dutzende sich teils heftig widersprechender Geschichten über sein weiteres Schicksal. Wahrscheinlich ist keine von ihnen wahr.«
In diesem Augenblick spürte Gorian einen Schmerz, der wie ein Messer durch seinen Kopf fuhr.
 
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass dieser Schmerz von einer Gedankenstimme ausgelöst wurde, die ungeheuer schrill in seinem Schädel widerhallte und von einem Schwall völlig ungeordneter Bilder begleitet wurde, Farben, Formen und Eindrücke, zwischen denen es keinerlei Zusammenhang zu geben schien und die schließlich in einem bunten, immer dunkler werdenden Strudel verwischten.
Seine Augen wurden schwarz, er presste Daumen und Zeigefinger beider Hände gegen die Schläfen.
Sheera berührte ihn an der Schulter, aber das bekam er kaum mit. Auch ihren fragenden Gedanken nahm er nur wie ein sehr fernes Echo wahr.
»Was ist?«
Dann war es plötzlich vorbei. Sheera sah ihn an, und er erwiderte den Blick.
Er versuchte sich an Einzelheiten aus dem chaotischen Bilderschwall zu erinnern, an irgendetwas, das ihm vielleicht Aufschluss darüber geben konnte, mit welchem Geist er soeben in Verbindung gestanden hatte.
Da sah er etwas vor seinem inneren Auge, das ihm wie eine Erinnerung schien: Ein etwa katzengroßes geflügeltes Wesen mit einer Haut wie aus Stein flog über eine verschneite eisige Ödnis und hielt ihn mit seinen übergroßen Klauen am Wams gepackt.
Doch es waren nicht seine eigenen Erinnerungen, wie Gorian sofort klar war, denn er war zu diesem Zeitpunkt bewusstlos gewesen.
»Es war Ar-Don«, murmelte er Sheera zu. Er war sich vollkommen sicher: Es war der Gargoyle, der sich nach langer Zeit wieder bei ihm gemeldet hatte.
Er hatte ihm während des Kampfes am Speerstein von Orxanor beigestanden und ihn schließlich zurück zu seinen Gefährten gebracht. Seither war Ar-Don spurlos verschwunden, und das, obwohl er Gorian zuvor stets überallhin gefolgt war.
In Gryphenklau hatte Gorian immer wieder mithilfe seiner magischen Sinne versucht, Verbindung zu ihm aufzunehmen. Manchmal hatte er geträumt, dass der zwielichtige, höchst eigenwillige und bisweilen zur Grausamkeit neigende Gargoyle des Nachts durch ein offenes Fenster hereingeflogen kam, wie es in der Vergangenheit des Öfteren geschehen war. Aber nichts dergleichen hatte sich ereignet.
Gorian hatte nach langem Zögern Thondaril darauf angesprochen, der Ar-Don stets mit großem Misstrauen begegnet war. »Mag sein, dass er dir das Leben gerettet hat«, hatte ihm der zweifache Ordensmeister geantwortet. »Aber du musst immer damit rechnen, dass er eines Tages erneut unter den Einfluss Morygors gerät, mag er seinen ehemaligen Herrn auch noch so hassen.«
Auch Thondaril hatte den Namen vernommen, den Gorian der Ordensschülerin zugeflüstert hatte, und fragte: »Er hat dir eine Botschaft geschickt?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Was war der Inhalt?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich Ar-Don in allergrößter Not befinden muss, denn ich empfand tiefste Qual und höchste Verzweiflung.«
»Dann sei besonders vorsichtig, sollte er dir irgendwann wieder begegnen«, riet Thondaril.
»Warum sagt Ihr das, Meister?«
»Ahnst du es wirklich nicht? Es könnte sein, dass die Qualen, die diese Kreatur erleidet, ihr in den Folterkellern von Morygors Frostfeste zugefügt werden, weil unser Feind ihn gerade erneut zu seinem Werkzeug macht. Also hüte dich vor ihm!«