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Der Flug nach Felsenburg
Erstaunlich schnell wurde das für den Flug nach
Felsenburg nötige Dokument ausgestellt und mit dem Siegel des
Königs versehen. Es enthielt die königliche Erlaubnis, Felsenburg
überhaupt anzufliegen und dort zu landen, und wies den Verwalter
der geraubten Caladran-Schriften an, Gorian und seinen Gefährten
Zugang zu allen Räumlichkeiten und sämtlichen Schriftstücken zu
gewähren, die in der im nordöstlichen Ödland gelegenen Burg
aufbewahrt wurden. Zudem wurde darin bestätigt, dass sie das Recht
hatten, mindestens eines dieser Schriftstücke auszuwählen und
mitzunehmen.
»Der schon von meinem Vater eingesetzte Verwalter
heißt Oras Ban«, erläuterte Demris Gon. »Er ist schon sehr alt,
gilt als eigenwillig und nicht gerade umgänglich. Aber er
untersteht meiner Befehlsgewalt und wird sich Eurem Willen fügen,
wenn Ihr ihm dieses Dokument vorlegt. Doch um einen Gefallen bitte
ich Euch.«
»Wenn wir ihn erfüllen können«, sagte
Thondaril.
»Sagt ihm nicht, dass Ihr beabsichtigt, eine dieser
Schriften als Zeichen des guten Willens und zur Schmiedung eines
künftigen Bündnisses zu den Caladran zu bringen. Dafür hätte er
keinerlei Verständnis und sähe es als tiefste Schmach für Gryphland
an.«
»Wenn es uns möglich ist, werden wir es unerwähnt
lassen«, versprach Thondaril.
»Natürlich stellt mein Gemahl Euch eine königliche
Greifengondel samt Mannschaft und Reiter zur Verfügung«, mischte
sich die Königin ein, und sie sagte es direkt an Gorian gerichtet.
Sie war offenbar der Ansicht, diesem Fremden, der ihre Tochter vor
dem schon sicher geglaubten Tod bewahrt hatte, noch zu sehr viel
mehr Dank verpflichtet zu sein.
Doch noch ehe Gorian antworten konnte, ergriff
Thondaril wieder das Wort. »Wir werden uns selbst um eine
Reisegelegenheit kümmern«, sagte er freundlich. »Es stehen unruhige
Zeiten bevor, und Ihr werdet jeden Eurer Kriegsgreifen benötigen,
um Euer Land zu verteidigen.«
Später, als sie in die Höhlen der
Ordensgesandtschaft zurückgekehrt waren, verriet Thondaril den
wahren Grund dafür, dass er das Angebot der Königin abgelehnt
hatte. »Wir können zwar nicht ohne Greifen nach Felsenburg gelangen
– es sei denn, wir hätten für diese Reise durch ein extrem
unwegsames Land Monate Zeit, was, wie wir alle wissen, nicht der
Fall ist -, aber ich möchte niemanden bei mir haben, dem ich nicht
voll und ganz vertraue. Niemanden, der im Sold eines anderen steht
– und schon gar nicht jemanden, der einem Mann gehorcht, der so
wankelmütig ist wie der König von Gryphland. Wer weiß schon,
welchen Dämon ihm Morygor demnächst im Schlaf schickt, damit er das
Bündnis mit uns wieder aufkündigt.«
»Gleichgültig, an welchen seiner beiden Söhne er
sein Reich übergibt«, warf Torbas mit spöttischem Unterton ein, »er
sollte es nur möglichst bald tun. Jeder Bettler, den er im Hafen
aufgabelt, wäre ein Herrscher mit mehr Entschlusskraft.«
Gorian wandte sich an Meister Thondaril. »Wie
sollen wir aber dann zur Burg gelangen?«
»Wir nehmen die Hilfe eines Mannes in Anspruch, der
immerhin bereit war, uns ins Reich der Kälte zu fliegen. Der
gesehen hat, was denjenigen geschieht, die unter Morygors kalte
Herrschaft fallen.«
»Centros Bal«, murmelte Gorian. Er lächelte matt.
»Habe ich mir gedacht. Aber man wird ihn überzeugen müssen.«
»Darum wirst du mich begleiten, wenn ich zu ihm
gehe«, bestimmte Meister Thondaril.
Centros Bal besaß ein Haus in Port Gryphenklau. Es
lag in Sichtweite der Kaimauern und Umschlagplätze, wo die Waren
angeliefert und umgeladen wurden. Oft genug wechselten sie aber
nicht nur vom Schiff in die Greifengondel, sondern auch gleich für
einen mehr oder weniger guten Preis den Besitzer. Der gesamte Hafen
glich einer einzigen Markthandelsmeile.
Das Haus Centros Bals war zugleich ein Kontor und
beherbergte auch die Stallung für seinen Greifen. Fünf Geschosse
ragte es empor, und das kuppelförmige Dach ließ sich durch einen
ausgeklügelten Mechanismus, den ein Baumeister aus Mitulien
entworfen hatte, so weit öffnen, dass ein Greif einfliegen und
landen konnte. Im Untergeschoss war eine Zucht und Dressurschule
für Seilschlangen untergebracht; diese hilfreichen Wesen waren
schließlich für jeden Greifenreiter unentbehrlich. Insbesondere auf
ausgedehnten Reisen wie die Bernsteinflüge Centros Bals zu den
Mittlinger Inseln musste man sich auf die Tiere verlassen können,
die sich mit einem Ende um den Körper des Greifen schlangen und mit
dem anderen die Gondel hielten oder bei einem Reiterwechsel einen
Mann umfassten, um
ihn vom Gondelbalkon auf den Greifenrücken oder
zurückzuheben.
Gorian und Thondaril wurden am Eingang des Hauses
von Fentos Roon in Empfang genommen. Der zweite und selten zum
Einsatz kommende Greifenreiter in den Diensten Centros Bals
erkannte die beiden sofort wieder.
»Ihr seht ja, dass hier ein ständiges Kommen und
Gehen herrscht, aber ich bin sicher, dass Centros Bal für Euch ganz
gewiss Zeit findet«, sagte er freundlich.
»Ich hoffe, die Geschäfte deines Herrn gehen gut«,
erwiderte Thondaril.
Sie mussten zur Seite weichen, weil eine Kolonne
von Ogern, die sich im Hafen als Träger verdingten, große
Stoffballen zu den Lagerräumen brachte.
»Mein Herr kann nicht klagen«, antwortete Fentos
Roon. »Der Bernsteinverkauf in Basaleia hat – zumal durch die
Umgehung des Zwischenhandels – eine gute Summe eingebracht. Es ist
nur bedauerlich, dass sich dieses Geschäft bis auf weiteres nicht
wiederholen lässt.«
Da hatte er recht. Solange die Mittlinger Inseln
und das Meer, das sie umgab, von einem inzwischen wahrscheinlich
mannshohen Eispanzer bedeckt waren, blieb jeder weitere
Bernsteinflug ausgeschlossen. Davon abgesehen gehörte dieses Gebiet
nun zu Morygors Reich, und es war davon auszugehen, dass sich seine
dunkle magische Aura dort bereits so stark manifestiert hatte, wie
es im Bereich des Speersteins von Orxanor der Fall gewesen war.
Diese Aura veränderte jeden und machte ihn zum Untoten, wenn er
sich zu lange in ihrem Einflussbereich aufhielt und nicht die
innere Stärke aufbrachte, ihr zu widerstehen.
Ohne magische Hilfe war das eigentlich nicht
denkbar. Nur Gorian hatte es seinerzeit geschafft, zumindest bis
zum
Speerstein vorzudringen, aber auch das nur zum Preis der totalen,
todesähnlichen Erschöpfung.
Centros Bal empfing Gorian und Thondaril in der
Kanzlei seines Kontors. Der kleine, drahtige Mann mit dem grauen
Bart, der als »Nordfahrer« in ganz Ost-Erdenrund bekannt war,
schien sich ehrlich zu freuen, die beiden wiederzusehen. Er trug
seinen eng anliegenden Greifenreiter-Anzug, so als wäre er gerade
erst von einem längeren Flug zurückgekehrt.
Ein Zahlenmagier – unzweifelhaft an seinem
übergroßen kahlen und von einem Netz aus pulsierenden Adern
überzogenen Kopf als solcher zu erkennen – stand an einem
Schreibpult und murmelte Zahlen vor sich hin.
Auf dem Pult saß eine achtäugige Schreibspinne. Aus
den Enden ihrer Beine quoll Tinte, mit der sie die Angaben des
Zahlenmagiers mit einer solchen Feinheit und Akribie in eine
Tabelle eintrug, wie dies keinem menschlichen Schreiber möglich
gewesen wäre.
Gorian betrachtete die Schreibspinne einen Moment,
und sie schien mit drei oder vier ihrer Augen diesen Blick zu
erwidern, wobei sie ihre Schreibgeschwindigkeit kein bisschen
verringerte.
Centros Bal bemerkte Gorians Interesse und
lächelte. »Du hast sicher schon so ein Tier gesehen, was?«
»Ich habe davon gehört.«
»Die Schiffe aus Margorea bringen sie her, und sie
erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Und sie sind sehr
gelehrig. Aber es gibt bereits Bestrebungen der Schreibergilde, sie
zu verbieten, weil sonst niemand mehr die Mühen des
Schreibenlernens auf sich nimmt.«
»Wollen die Mitglieder der Schreibergilde sie nicht
eher deshalb verbieten, weil sie um ihre Pfründe fürchten?«,
vermutete Thondaril.
Centros Bal schüttelte den Kopf. »O nein, da liegt
Ihr falsch, werter Thondaril«, entgegnete er in bestem
Heiligreichisch. »Für eine Schreibspinne muss man den Lohn von drei
Schreibern für ein ganzes Jahr zahlen, so teuer sind die Tierchen.
Von den Kosten der Haltung ganz zu schweigen. Die Biester sind
nämlich ziemlich anspruchsvoll.«
»Aber sie schreiben schneller und machen weniger
Fehler«, erklärte der Zahlenmagier, der seine für unbeteiligte
Hörer sinnlos erscheinende Zahlenlitanei für einen Moment
unterbrach.
Centros Bal stellte ihnen den Zahlenmagier vor. Er
hieß Rastos und stammte aus Andobar, der Hauptstadt des
gleichnamigen Inselfürstentums vor der gryphländischen Küste.
Formal gehörte Andobar zum Königreich Gryphland, aber faktisch war
es schon seit jenen Tagen unabhängig, da die gryphländischen
Greifenreiter gegen die Himmelsschiffe der Caladran gekämpft
hatten. Der Fürst von Andobar hatte sich nämlich für neutral
erklärt und sich geweigert, mit seinen eigenen Greifenreitern gegen
den Feind zu Felde zu ziehen. Für manche Gryphländer hatte die
Bezeichnung Andobarianer seitdem die gleiche Bedeutung wie das Wort
Verräter.
Insbesondere den Mitgliedern der zahlreichen Gilden
von Gryphland, die eine erhebliche Macht ausübten, war Andobar und
jeder, der von dort stammte, verhasst, denn das angebliche
Gildenunwesen war in dem Inselfürstentum abgeschafft worden. Die
Fürsten von Andobar hatten damit den Handel angekurbelt und
gleichzeitig die Gilden auf dem gryphländischen Festland dazu
gezwungen, die Einfuhr so mancher Ware, die sie für bedenkliche
Konkurrenz hielten, zuzulassen.
»Rastos vertritt mich hier in Gryphenklau, wenn ich
auf
Reisen bin«, erklärte Centros Bal. »Er genießt mein vollstes
Vertrauen und hält hier meine Geschäfte am Laufen.«
»Ich habe schon von Euch gehört, Thondaril«, sagte
Rastos höflich und in geschliffenem Heiligreichisch. Dann wandte er
den ballonartigen Kopf und sah Gorian an. »Und von Euch erzählt man
sich seit Kurzem ebenfalls sehr wundersame Dinge, Meister
Gorian.«
Dass der Zahlenmagier ihn nicht nur in der
Höflichkeitsform, sondern auch noch mit Meister ansprach, war wohl
den Gerüchten geschuldet, die über die Errettung der Königstochter
in Gryphenklau kursierten.
»Verzeiht, aber ich bin noch kein Meister, sondern
ein nach wie vor gelehriger Schüler Thondarils«, gab Gorian auf
Gryphländisch zurück.
»So ist das, was Ihr für das Königshaus getan habt,
noch beeindruckender. Das ganze Land wird davon profitieren.«
»Leider vermochte niemand, den König von seinem
Hang zur Entschlusslosigkeit zu heilen«, bekannte Gorian. »Er
zögert noch, einem Bündnis gegen Morygor beizutreten, und wird nur
einen seiner Söhne zu den Verhandlungen nach Arabur
schicken.«
»Arabur? Der Kaiser des Heiligen Reichs soll sich
dort verkrochen haben und hofft vermutlich genauso, dass der
Giftkelch des Untergangs an ihm vorübergeht, wie unser eigener
König.«
»Die sind alle starr vor Schrecken«, meinte Centros
Bal. »Ich befürchte, bevor bei den Beratungen in Arabur
irgendwelche Beschlüsse gefasst werden, hat sich eine Eisschicht
über ganz Ost-Erdenrund gelegt.«
»Ihr habt die Schrecken von Morygors Reich mit
eigenen Augen gesehen«, sagte Thondaril zu dem Nordfahrer. »Darum
sollte Euch mehr als allen anderen klar sein, dass etwas
getan werden muss und wir nicht auf die Entscheidungen der
Mächtigen warten können.«
Centros Bal atmete tief durch. »Ihr braucht
jemanden, der Euch fliegt, Meister Thondaril? Seid Ihr deswegen
hier?«
»Ihr sollt es nicht umsonst tun. Der Orden verfügt
noch immer über gewaltige Mittel, auch außerhalb des Heiligen
Reichs, sodass Ihr sicher sein könnt, einen fürstlichen Lohn zu
erhalten.«
Der hagere, kleine Mann, dessen Alter schwer zu
schätzen war, lachte meckernd. »Wenn die Leviathane erst die
Südküste Gryphlands oder Laramonts erreichen und alles
niederwalzen, wird niemand mehr irgendeinen Lohn einfordern können,
gleichgültig wie hoch oder fest versprochen er sein möchte. Und
selbst wenn der Orden noch Schatzkammern in Andobar oder vielleicht
sogar im fernen Margorea unterhält, um auch für die größtmögliche
Katastrophe gewappnet zu sein, das Eis wird irgendwann auch bis
dorthin reichen; das Laramontische Meer ist so wenig ein Hindernis,
wie es andere Meere zuvor gewesen sind.«
Thondaril ging auf die Einwände des Greifenreiters
erst gar nicht ein, sondern erklärte: »Ich brauche jemanden, der
uns nach Felsenburg fliegt. Und ich möchte, dass Ihr das
tut.«
»Ich war schon dort«, bekannte Centros Bal. Er
deutete auf die Schreibspinne, die die Unterhaltung aufmerksam zu
verfolgen schien, während sie gleichzeitig Kopien von Listen
anfertigte, und das mit einer Geschwindigkeit, zu der auch der
beste menschliche Schreiber niemals fähig gewesen wäre. »Ich habe
ein halbes Dutzend Schreibspinnen an den Königlichen Verwalter von
Felsenburg verkauft. Da ich aufgrund der abgenommenen Menge einen
guten Preis bei meinem margoreanischen Schreibspinnenzüchter bekam,
habe ich mir selbst auch eine geleistet, obwohl mir das sonst zu
teuer gewesen wäre.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber die Biester
amortisieren sich, sag ich Euch.«
»Ihr würdet uns also nach Felsenburg fliegen?«,
vergewisserte sich Thondaril. Ȇber den Preis werden wir gewiss
einig.«
»Wann wollt Ihr aufbrechen?«
»Am liebsten noch heute.«
»Morgen früh sind mein Greif und ich für Euch
bereit.«
»Einverstanden.«
»Aber von Felsenburg aus wird die Reise dann
weitergehen«, mischte sich Gorian ein.
»Nicht!« Er konnte die Mahnung Thondarils
fast körperlich spüren. Offenbar hatte der zweifache Ordensmeister
keineswegs die Absicht, Centros Bal bereits zu diesem Zeitpunkt
voll und ganz einzuweihen.
Aber irgendein Gefühl sagte Gorian, dass dies hier
und jetzt ausgesprochen werden musste. Und so tat er es. »Von
Felsenburg aus sollt Ihr uns geradewegs zu den Inseln der Caladran
bringen.«
Centros Bal reagierte so, wie Thondaril es offenbar
befürchtet hatte. Der Greifenreiter wurde trotz einer von der Sonne
gebräunten Haut plötzlich so bleich wie die schmucklose Wand hinter
ihm. »Nein«, sagte er hart und klar. »Alles, nur das nicht! Der
ganze Schatz des Ordens reicht nicht aus, dass ich dorthin fliege,
wo man die Greifenreiter hasst wie sonst nirgends.«
»Ihr sollt es auch nicht des Silbers wegen tun, das
Euch der Orden zahlen wird, Centros Bal«, entgegnete Gorian auf
Gryphländisch. »Tut es aus der Notwendigkeit heraus, dass sich alle
Kräfte gegen den gemeinsamen Feind vereinen müssen. Tut es, weil
die Magie der Caladran vielleicht die
einzige Möglichkeit ist, Morygor noch aufzuhalten.« Mit diesen
Worten zog er Sternenklinge hervor.
Der hagere Greifenreiter wirkte irritiert, als
Gorian ihm die Klinge vor das Gesicht hielt, sodass er sie genau
betrachten konnte.
»Der beiden Schwerter meines Vaters wegen war ich
am Speerstein und wäre dort um ein Haar gestorben«, fuhr Gorian
fort. »Und die Gefahr, die Ihr bei diesem Unternehmen auf Euch
genommen habt, war keineswegs geringer. Nun brauchen wir abermals
einen Greifenreiter mit Eurem Mut und Eurer
Unerschrockenheit.«
Centros Bal schwieg eine Weile. Er kratzte sich am
Kinn, und auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet.
»Ich könnte Euch von Felsenburg aus direkt nach Havalan fliegen«,
sagte er schließlich in gedämpftem Tonfall. »Die Westreicher
pflegen traditionell gute Beziehungen zu den Caladran, und Ihr
werdet sicher schnell eine Galeere finden, die Euch ans Ziel
bringt.«
»Ich hatte gehofft, Ihr wüsstet, wie mächtig unser
Feind ist und dass die verrinnende Zeit sein größter Verbündeter
ist«, sagte Gorian. »Abgesehen davon muss es ein Greifenreiter
sein, der uns zu den Caladran begleitet. Wir wollen eine der
gestohlenen Schriften zurückbringen, und dieses Signal wird nur
dann richtig verstanden werden, wenn ein Gryphländer zugegen
ist.«
»Dann sollte das besser ein Gesandter des Königs
oder noch besser einer der Kronprinzen sein.«
»Meint Ihr die beiden Jünglinge, die sich
gegenseitig belauern wie Oger-Ringer auf dem Jahrmarkt und nur
hoffen und darauf warten, dass einer von ihnen nicht am Hof ist,
wenn der König stirbt, sodass der andere dann die Macht an sich
reißen kann?« Gorian schüttelte den Kopf. »Ihr habt
keinen Rang und kein Amt, und doch seid Ihr ein wesentlich
besserer Botschafter Eures Landes. Ihr seid der Nordfahrer, und man
wird selbst auf den Caladran-Inseln von Euch gehört haben.« Er
atmete tief durch und steckte das Schwert wieder ein. »Sollten wir
uns in Euch getäuscht haben, wäre dies sehr bedauerlich, denn es
dürfte kaum jemanden geben, der Euch auf diesem Flug ersetzen
könnte.«
»Manche Dinge muss auch ein Kaufmann um der Ehre
willen tun«, mischte sich Rastos ein.
Centros Bal verzog das Gesicht. »Normalerweise
würde ich nicht viel darauf geben, wenn ausgerechnet ein
Zahlenmagier aus dem Land der Andobarianer-Verräter so etwas sagt.
Es sei denn, sein Name ist Rastos.« Mit einer ruckartigen Bewegung
wandte er sich Thondaril zu und sagte auf Heiligreichisch: »Er mag
noch kein Meister des Ordens sein, aber ein Meister der
Überredungskunst ist dieser junge Mann allemal. Wahrlich, dieses
Talent würde ich mir bei manchem meiner Angestellten wünschen, die
ich für teures Silber bezahle, um meine Waren an den Mann zu
bringen.«
Thondaril hob die Augenbrauen. »Heißt das …?«
»Morgen früh bei Sonnenaufgang! Und seid bitte
pünktlich, Meister Thondaril, damit wir am Abend in Felsenburg
sind!«
Am Abend vor dem Aufbruch suchte Gorian seinen
Mentor in dessen Zelle in der Ordensgesandtschaft von Gryphenklau
auf.
Thondaril beendete gerade seine Übungen zur
geistigen Versenkung. Seine Augen waren vollkommen schwarz und
blieben es zunächst – ein Zeichen dafür, wie sehr er die Alte Kraft
in sich gesammelt und konzentriert hatte.
Mit verschränkten Beinen und gegen die Schläfen
gepressten
Daumen und Zeigefingern saß er auf der einfachen Pritsche.
»Wenn ich ungelegen komme, dann…«, begann Gorian
und wollte schon wieder gehen.
»Dann hätte ich dich nicht hereingebeten«, sagte
der zweifache Meister und ließ die Hände sinken. »Wir haben in der
Tat miteinander zu reden. Und das sollten wir tun, ehe wir
aufbrechen.«
Es hatte sich für sie, seit sie das Haus des
Greifenreiters verlassen hatten, nicht mehr die Gelegenheit für ein
Gespräch unter vier Augen ergeben.
»Meister, es tut mir leid, dass ich gegenüber
Centros Bal derart vorgeprescht bin, obwohl Ihr mich ermahntet und
…«
»Du hast eine sehr verharmlosende Weise, das
auszudrücken«, fiel Thondaril ihm ins Wort und erhob sich.
»Ich war überzeugt, das Richtige zu tun.«
»Eine solche Überzeugung ist oft genug der Keim des
Irrtums. Du hast Glück gehabt, dass sich die Angelegenheit in
unserem Sinn entwickelt hat. Aber es hätte auch anders kommen
können.« Thondaril atmete tief aus. »Stell dir vor, Centros Bal
hätte abgelehnt. So viel Auswahl an Greifenreitern, denen wir
trauen können, haben wir nicht. Wir hätten ihn auch später noch
bitten können, uns zu den Caladran-Inseln zu fliegen, zu einem
Zeitpunkt, da er die Notwendigkeit dazu womöglich eher eingesehen
hätte. Notfalls hätte ich seinen Willen manipuliert, und da er über
keine magischen Fähigkeiten verfügt, wäre das auch nicht allzu
schwer gewesen.«
»Damit hättet Ihr gegen die Regeln des Ordens
verstoßen.«
»In dieser außergewöhnlichen Lage hätte ich das
akzeptiert.«
»Ich gehe lieber den direkten Weg, Meister
Thondaril. Ich will mich nicht verstellen. Ich will niemandem mit
Magie meinen Willen aufzwingen und damit die Ordensregeln brechen.
Und den Caladran wäre bestimmt auch aufgefallen, dass der
Greifenreiter, der uns begleitet, dies nicht freiwillig tut,
sondern weil er beeinflusst wird.«
Thondaril erhob sich. »Deine Haltung ist ehrenwert.
Und der direkte Weg, wie du es ausgedrückt hast, hat sicher manches
für sich. Aber hin und wieder ist es eben einfach nicht möglich,
sich an alle Regeln zu halten, weil wir dadurch zu viele Risiken
eingehen würden und letztlich das gefährden, was uns wichtig ist.
Deine Ehrlichkeit und Offenheit hat dich diesmal ans Ziel gebracht,
sie hätte dich aber auch davon entfernen können, und das wäre in
diesem Fall verhängnisvoll gewesen. Die Dinge sind nicht immer
schwarz oder weiß, sondern zumeist grau. Aber das wirst du
hoffentlich noch lernen.«
Nach seiner Rede wandte sich Thondaril dem kleinen
Tisch in der Zelle zu, auf dem außer einem aufgeschlagenen Exemplar
der Ordens-Axiome noch eine kleine Ledertasche lag, die der Meister
des Schwertes und der Magie ansonsten stets an seinem Gürtel
trug.
Er griff in die Tasche, und Gorian erkannte sofort,
was er da hervorholte. Es war der Ring eines Meisters, wie
Thondaril selbst ihn zweifach am Finger trug.
»Der Orden ist ja derzeit damit beschäftigt, sich
zu rekonstituieren«, sagte Thondaril mit ruhiger Stimme. »Unser
Hochmeister entpuppte sich als Verräter, und von dem Verlust der
Ordensburg werden wir uns lange nicht erholen. Aber inzwischen gibt
es ein neu gebildetes Entscheidungskonvent, dem auch ich angehöre,
und mittels Handlichtlesen ist es uns möglich, auch über große
Entfernungen
hinweg miteinander zu kommunizieren.« Thondaril hielt Gorian den
Meisterring hin. »Den Mitgliedern des Entscheidungskonvents wurde
die Autorität verliehen, aus eigenem Ermessen Meisterringe an ihre
Schüler zu vergeben. Und ich bin der Auffassung, dass du dir deinen
verdient hast. Mag sein, dass dir noch vieles fehlt, aber das wird
dich die Zeit lehren. Dass es dir gelang, die Schwerter deines
Vaters zurückzugewinnen, ist meines Erachtens Beweis genug für
deine Fähigkeiten, daher ernenne ich dich hiermit zum
Schwertmeister des Ordens der Alten Kraft, sofern du bei der
Allmacht des Verborgenen Gottes schwörst, dein Talent und dein
Wissen niemals im Geist des Bösen anzuwenden, die Axiome des Ordens
zu achten und zur Verteidigung des Heiligen Reichs
beizutragen.«
Gorian war mehr als nur überrascht. Wie lange hatte
er davon geträumt. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie es
sein würde, wenn er eines Tages zum Schwertmeister ernannt
wurde.
Nun war es so weit – allerdings unter Umständen,
die ganz anders waren, als er es sich gedacht hatte.
»Ich schwöre es!«, sagte er eilig. »Der Verborgene
Gott sei mein Helfer, sofern ich mit meinem Talent der seine
bin!«
Seine Worte entsprachen der traditionellen
Antwortformel. Sie stammte noch aus der Zeit des legendären Ersten
Meisters, als dieser die ersten Gefolgsleute mit der Meisterwürde
versah.
Thondaril steckte Gorian den Ring an die Hand. »Du
wirst dir gewiss einen anderen Rahmen für diese Zeremonie
vorgestellt haben. Den kann ich dir angesichts unserer Lage leider
nicht bieten.«
»Das schmälert nicht die Bedeutung, die dieser
Augenblick für mich hat«, erklärte Gorian.
»Was die anderen Meistertitel angeht, deren
Erreichen du dir ja in aller Ernsthaftigkeit vorgenommen hattest
…«
»Ich werde mich gedulden«, versprach Gorian.
»Das wirst du müssen«, nickte Thondaril. »Und ich
möchte dich diesbezüglich auch noch einmal ermahnen, um dich von
gefährlichen Selbstversuchen abzuhalten, insbesondere hinsichtlich
der Schattenpfadgängerei. Der Angriff, dem du im Gemach der
Königstochter ausgesetzt warst, hat dich in die Zwischenwelt der
Schattenpfade gerissen, und du kannst von Glück sagen, sie ohne
Schaden an Geist und Körper wieder verlassen zu haben.«
»Ich habe die Kraft des Totenalbs in mich
aufgenommen«, erklärte Gorian. »So habe ich ihn getötet – durch
Entziehung seiner Kraft. Es war genau das Gegenteil von dem, was
man einen Schwertschüler lehrt.«
»Dass du diese Kraft aufgenommen hast, rettete
vermutlich dein Leben, denn jemand, der nicht genug über die
Schattenpfade weiß, endet schon nach kurzem Aufenthalt in jener
Zwischenwelt als vorzeitig gealterter Greis, dem jegliche
Lebenskraft fehlt.« Noch einmal ermahnte er den neuen
Schwertmeister und sprach mit großer Eindringlichkeit: »Komm also
nicht auf die Idee, eigene Schritte in diese Richtung unternehmen
zu wollen, nur weil dir im Moment ein Lehrmeister fehlt, der dir
zeigen könnte, wie man auf den Schattenpfaden zu wandeln vermag,
ohne Schaden zu nehmen. Hast du verstanden?«
»Jedes Wort. Und ich verspreche, nicht unbedacht zu
handeln.«
Es war Thondaril nicht anzumerken, ob ihn die
Versicherungen seines Schülers wirklich restlos überzeugten. »Gut.
Es wird dir sicherlich noch möglich sein, auch die Ausbildung in
den anderen Ordenshäusern fortzusetzen. Vorausgesetzt,
es gelingt uns irgendwie, Morygors Horden zumindest für einige
Zeit aufzuhalten.«
Gorian hatte noch ein Anliegen. »Ich möchte Euch
gewiss keine Ratschläge erteilen, Meister …«, begann er und suchte
ganz offensichtlich nach den richtigen Worten.
»Das würde sich auch nicht geziemen«, erwiderte
Thondaril. »Allerdings sagen die Axiome, dass die Wahrheit keinen
Rang kennt. Und davon abgesehen bist du jetzt ein Meister wie ich.
Dass du aber noch lange und in vielem auf den Rat des Erfahreneren
hören solltest, ist natürlich eine andere Sache.«
Gorian nickte. Der Meisterring an seinem Finger
drückte noch. »Meister Thondaril, da Ihr mich in den Rang eines
Meisters erhoben habt, solltet Ihr auch Torbas diese Ehre
zuteilwerden lassen.«
Thondaril hob die Augenbrauen. »So?«
»Er ist mir nicht nur ebenbürtig, sondern
überlegen. Zwar gebe ich es ungern zu, aber in allen Übungskämpfen,
in denen wir uns in letzter Zeit gemessen haben, und das waren
viele, hat er mich besiegt, und hinsichtlich des magischen Talents
dürfte er mir gleichwertig sein.«
»Und doch warst du es, der zum Speerstein gelangte,
nicht er.«
»Mit Verlaub, Meister Thondaril, aber auch Ihr
konntet mir nicht bis dorthin folgen.«
»Morygors Aura war zu stark.«
»Meister, ich bitte Euch inständig, Torbas den Ring
nicht zu versagen. Er hat ihn ebenso verdient wie ich.«
»Du bist jetzt ein Meister und hast das Recht, dir
Schüler zu suchen und sie auszubilden. Zumindest den Regeln des
Ordens nach ist das so, auch wenn ich dir zum gegenwärtigen
Zeitpunkt dringend davon abrate. Aber du wirst
niemals das Recht haben, meine Entscheidungen anzuzweifeln oder
darüber zu befinden, wen ich zum Meister ernennen soll und wen
nicht!« Die Furchen auf Thondarils Stirn waren tief geworden, und
sein Gesicht, das ohnehin wie aus Stein gemeißelt wirkte, glich
einer abweisenden Maske.
Vielleicht bin ich zu weit gegangen, dachte
Gorian.
»O ja, das bist du!«, erreichte ihn ein
Gedanke Thondarils. »Geh jetzt!«
Gorian nahm den Meisterring wieder von seinem
Finger und legte ihn auf den Tisch. »Gebt ihn mir in dem
Augenblick, da Ihr auch Torbas für würdig befindet, Meister.«
»Du bist ein Narr!«
»Möglicherweise. Aber Torbas und ich sind
Gefährten. Ich habe ihm eines der Schwerter meines Vaters gegeben
und werde auf ihn angewiesen sein. Wenn einer von uns ein Meister
ist, während der andere Schüler bleibt, werden wir niemals den
nötigen Zusammenhalt wiederfinden, den wir benötigen.«
Thondaril schwieg einen Moment.
»Wiederfinden?«, fragte er dann in Gedanken, und der Blick,
mit dem er Gorian bedachte, war so durchdringend, dass dieser
glaubte, der zweifache Ordensmeister könnte bis auf den Grund
seiner Seele sehen. »Was ist zwischen euch vorgefallen?«, hakte
Thondaril unerbittlich nach.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gorian. »Ich weiß
nur, dass nichts mehr so ist, wie es sein sollte, seit wir aus dem
Frostreich zurückgekehrt sind. Sollte Torbas nun auch noch diesen
Ring an meinem Finger sehen, wäre das womöglich der entscheidende
Schnitt, der das Band zwischen uns völlig durchtrennt. Doch das
darf nicht geschehen. Es würde uns entzweien.«
Gorian atmete laut aus. Er fürchtete sich vor
Thondarils Antwort.
Die bestand zunächst in einem nachdenklichen
Schweigen. Dann nahm er den Ring und steckte ihn zurück in die
Tasche. »Die Nacht ist kurz. Du solltest das, was von ihr geblieben
ist, zum Schlafen nutzen … Schüler!«
Am nächsten Morgen standen Gorian und Sheera auf
dem Felsplateau der Gesandtschaftshöhle und beobachteten, wie sich
unten in Port Gryphenklau der Greif von Centros Bal in die Lüfte
erhob. Die Gondel war mit einer deutlich höheren Anzahl von
Seilschlangen gesichert, als es Gorian vom letzten Flug mit dem
Nordlandfahrer in Erinnerung hatte.
»Vielleicht erwartet er besondere Schwierigkeiten
auf dieser Reise«, lautete Sheeras Vermutung, die Gorians Gedanken
las. »In meiner oquitonischen Heimat erzählt man sich allerlei
Geschichten über das Landesinnere von Gryphland.«
»Es gelangen nicht viele Fremde dorthin, und
unbekannte Gebiete eignen sich immer für Schreckensgeschichten«,
gab Gorian zurück.
Sie sah ihn von der Seite her an und schien zu
spüren, dass ihn irgendetwas sehr stark beschäftigte, aber sie
sandte ihm nicht einmal einen fragenden Gedanken – und dafür war er
ihr in diesem Augenblick sehr dankbar. Nein, was sich am
vergangenen Abend in Meister Thondarils Zelle abgespielt hatte,
sollte zwischen ihm und seinem Meister bleiben. Für alle Zeiten.
Vor allem Torbas durfte nie davon erfahren.
Auch Thondaril, Torbas und Aarad traten ins Freie.
Eigentlich hatte Gorian erwartet, dass der Heiler als besonderer
Kenner des Landes sie nach Felsenburg begleiten würde. Aber Aarad
hatte offensichtlich andere Pläne, denn
er trug nicht einmal eine Waffe, geschweige denn irgendwelches
Gepäck bei sich.
»Meister Aarad wird leider nicht mitkommen«,
erklärte Thondaril seinen Schülern. »Wir sind zu dem Schluss
gelangt, dass jemand am Hof bleiben sollte, falls sich das Befinden
der Königstochter überraschend wieder verschlechtern sollte. Sie
ist noch geschwächt, und sollte ihr Gesundheitszustand plötzlich
wieder umschlagen, kann sich das erheblich auf unser Bündnis mit
Demris Gon auswirken.«
Centros Bals Greif erreichte das Felsplateau, und
die Gondel sank herab, bis sie sanft aufsetzte.
Fentos Roon, der Zweite Greifenreiter, öffnete
ihnen die Gondeltür, und Gorian und seine Gefährten stiegen ein.
Die Seilschlangen strafften sich und stießen dabei ein Zischen aus,
dann hob sich die Gondel wieder. Als Gorian wenig später aus einem
der verglasten Fenster sah, schwebten sie bereits hoch über
Gryphenklau.
»Ich bin gespannt, ob uns die Schriften von
Felsenburg wirklich helfen«, hörte er Torbas neben sich sagen. »Ich
habe da so meine Zweifel. Schon deswegen, weil niemand von uns die
Caladran-Sprache beherrscht.«
»Nun, ich verfüge zumindest über gewisse
Grundkenntnisse«, erklärte Thondaril. »Und die Schrift beherrsche
ich gut genug, um den Wert eines Buches oder einer Schriftrolle
einigermaßen ermessen zu können.«
»Habt Ihr je die Magie der Caladran ausprobiert?«,
fragte Gorian interessiert.
»Das zu versuchen kann ich keinem empfehlen.
Zumindest niemandem, der sie nicht wirklich beherrscht, und das
sind wohl nur die Caladran selbst. Und auch die haben angeblich
viel von ihrem früheren Wissen verloren.«
»Man sagt, die goldäugigen Spitzohren vermochten
früher
sogar mit ihren Himmelsschiffen zu den Sternen zu fliegen«, sagte
Torbas. »Aber dieser Teil ihrer Magie scheint wohl auch in
Vergessenheit geraten zu sein …«
Stunden gingen dahin, in denen sie über das
zerklüftete Innere Gryphlands flogen. Der Verborgene Gott musste
diese Landschaft in einer Laune unbändigen Zorns geschaffen haben.
Schroffe, wie Messer aus geschliffenem Stein in die Höhe ragende
Felsmassive wechselten sich mit tiefen, schmalen Schluchten ab, in
denen ewiger Schatten herrschte.
In vielen der Felsmassive befanden sich die
Wohnhöhlen einzelner Greifenreiter und ihres Gefolges, wie Fentos
Roon ihnen erklärte. Er, der Zweite Greifenreiter Centros Bals,
schien gar nicht mehr damit zu rechnen, auf diesem Flug überhaupt
zum Einsatz zu kommen. Jedenfalls trug er keinen der gefütterten
Greifenreiteranzüge aus Leder, die in besonderer Weise vor der
Höhenkälte schützten, sondern ein gewöhnliches Wams und eine eng
anliegende Hose.
Der Dritte Greifenreiter hörte der Unterhaltung nur
interessiert zu. Gorian kannte ihn nicht. Es handelte sich
jedenfalls nicht um denselben jungen Mann, der den Flug zum
Speerstein von Orxanor als zweiter Ersatzmann mitgemacht
hatte.
Später erfuhr Gorian, dass er Zog Yaal hieß und ein
absoluter Anfänger in der Kunst der Greifenreiterei war. Im
Gegensatz zu seinem Vorgänger jedoch hatte er keinerlei Bedenken,
einen Flug zu den Inseln der Caladran zu unternehmen.
Zog Yaal war ein schweigsamer junger Mann, dem das
dunkle Haar bis zu den Augenbrauen in die Stirn fiel. Auch als
Torbas ihn ansprach, antwortete er nur das Nötigste.
Fentos Roon hingegen war äußerst redselig und
erzählte auch, warum es seinem Herrn so wichtig war, dass sie
Felsenburg noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichten. »Es ist
wegen den Fledermenschen. Sie kommen des Nachts aus dem Schatten
der tiefen Erdspalten.«
»Auch hier, so nahe Gryphenklaus?«, fragte Sheera
und runzelte die Stirn.
»Ja, aber hier gibt es nur noch sehr wenige von
ihnen, und das sind auch Einzelgänger, die nicht in Rudeln
auftreten«, gab Fentos Roon zu. »Im Nordwesten jedoch sind sie sehr
zahlreich. Zwischen Mittelgryphland und der Grenze nach Mitulien
erstrecken sich weite öde Gebiete, wo sie in sehr tiefen Schluchten
hausen. Dieses Land gehört zwar offiziell noch zum
Greifenreiter-Reich, aber kein gryphländischer König hat dort je
wirklich geherrscht, auch wenn sich das jeder Mensch und jeder
Greif wünschen mag.«
»Wieso sich jeder menschliche Bewohner dieses
Landes das wünscht, leuchtet mir ein«, bekannte Torbas. »Aber wieso
erwähnst du die Greifen? Auf deren Wünsche wird doch hierzulande
kaum Rücksicht genommen. Ich meine, zumindest habe ich noch nie
davon gehört, dass ein Greifenreiter sein Reittier gefragt hätte,
ob das Reiseziel seinen Wünschen entspräche oder die Gondel nicht
zu schwer sei.« Er lachte kurz auf, aber sein Humor fand bei keinem
der anderen Anklang.
»Ich kann dir sagen, weshalb sich die Greifen
nichts sehnlicher wünschten, als dass ein starker gryphländischer
König diese Gebiete beherrschte«, sagte Fentos Roon sehr ernst, und
sein Tonfall machte deutlich, dass man hierzulande keine Witze über
diese Angelegenheit riss. »Die Fledermenschen jagen sie. Das ist
der Hauptgrund dafür, dass die Anzahl der wilden Greifen im
Landesinneren immer mehr
zurückgeht. Vor langer Zeit tobte der Legende nach ein Krieg
zwischen Fledermenschen und Greifen. Letzteren fehlte die Schläue
ihrer Gegner, und so waren sie im Nachteil und wären beinahe
ausgerottet worden. Daher schlossen sie einen Pakt mit den
Menschen, die sich bereits an der Küste angesiedelt hatten und
bisher vergeblich versuchten, ins Landesinnere vorzudringen. Die
Greifen boten den Menschen ihre Dienste an, und im Gegenzug machten
die Menschen aus den Greifen eine Streitmacht, die sich gegen die
Fledermenschen behaupten konnte.«
»Und auf diese Weise wurden die Fledermenschen
besiegt?«, fragte Torbas.
»Nein«, widersprach Fentos Roon. »Es war einer der
ersten Könige Gryphlands, der dafür verantwortlich war. Er reiste
einst zu den Inseln der Caladran, denn in jener Zeit gab es noch
keine Feindschaft zwischen unseren Ländern …«
»Was auf ein Bündnis in der Zukunft hoffen lässt«,
warf Sheera ein.
Fentos Roon wiegte skeptisch den Kopf. »Um das zu
beurteilen, sollte man das Ende der Geschichte kennen.«
Gorian hob die Augenbrauen. »Dann spannt uns nicht
länger auf die Folter«, verlangte er auf Gryphländisch; bisher war
die Unterhaltung auf Heiligreichisch geführt worden, das auch
Fentos Roon gut beherrschte.
»Dieser König hieß Song Mol«, fuhr Fentos Roon
fort, »und wurde zu einer Sagengestalt, um die sich alle möglichen
furchtbaren Geschichten ranken und mit der man bei uns kleine
Kinder erschreckt.«
»Was hat er getan?«
»Er brachte von den Inseln der Caladran einen
Zauber mit, um die Fledermenschen dort zu bekämpfen, wohin
ihnen niemand folgen mochte – in den tiefsten Schattenschlünden
der gryphländischen Gebirgszüge. Er hatte den Caladran den Zauber
geraubt, und die Legendenerzähler in Port Gryphenklau nennen es den
ersten Zauberraub.«
»So gab es also noch einen zweiten?«, fragte
Gorian.
Fentos Roon nickte nur, um dann seine Geschichte
weiterzuerzählen: »Mit dem Zauber, den Song Mol von den Inseln der
Caladran mitbrachte, beschwor er die Feuerdämonen, die in den
Tiefen der Erdspalten schliefen und nur daraus hervorkommen, wenn
sie auf die richtige Weise gerufen werden. Genau das tat Song
Mol.«
»Also war er in der Lage, die Magie der Caladran
anzuwenden, obwohl er ein Mensch war?«, staunte Gorian.
»Das ist nur eine Legende«, mischte sich Thondaril
ein, der sehr wohl ahnte, warum Gorian dieser Punkt so wichtig war.
»Ihren Wahrheitsgehalt können wir nicht überprüfen.«
»Die Feuerdämonen quollen aus den Erdspalten«,
erzählte Fentos Roon, »und da sie die Tiefenbereiche der Schluchten
als ihr eigenes Reich ansahen, vernichteten sie die Fledermenschen
dort. Manchen von ihnen gelang zwar die Flucht, und sie kehrten
später zurück. Aber seit jenen Tagen sind sie für den König von
Gryphland keine ernstzunehmenden Gegner mehr. Allerdings hatte die
Sache einen Haken. Die Feuerdämonen ließen sich nämlich nicht
wieder bannen. Sie verweigerten Song Mol den Gehorsam und
verwüsteten das Land. Die Gebiete zwischen Felsenburg und der
mitulischen Grenze waren einst fruchtbar und ebenso das Tal
zwischen den südlichen Bergen und dem mittelgryphländischen
Bergrücken. Nun wächst dort nichts mehr. Die Feuerdämonen wüteten
immer weiter und drohten das ganze Königreich zu vernichten. Song
Mols Kenntnisse der Caladran-Magie aber waren lückenhaft und
reichten einfach
nicht aus, die Kreaturen wieder zu bannen. So blieb ihm nichts
anderes übrig, als erneut zu den Caladran zu fliegen, um Abbitte zu
leisten und sie um Hilfe anzuflehen. Doch die Caladran wiesen ihn
zurück. Es kümmerte sie nicht, dass viele Gryphländer durch die
Feuerdämonen ihr Leben verloren. Der Untergang des Königreichs wäre
die gerechte Strafe dafür, dass Song Mol den Zauber gestohlen hatte
…«
»Du hast fürwahr ein Talent zum
Geschichtenerzählen«, unterbrauch ihn Torbas, und in seinen Worten
schwangen sowohl Spott als auch Anerkennung mit. »Auf jeden Fall
würdest du damit dein Auskommen in den Straßen von Port Gryphenklau
finden, sollte dein Herr eines Tages zu der Ansicht gelangen, auf
einen Zweiten Greifenreiter verzichten zu können, der ja ohnehin
kaum zum Einsatz kommt.«
»Diese Geschichten kennt in Gryphland jedes Kind«,
erwiderte Fentos Roon. »Wer damit Geld verdienen will, indem er sie
an Straßenecken erzählt, muss sie schon sehr gut auszuschmücken
wissen, um noch irgendein Greifenküken aus dem Bau zu
locken.«
»Offenbar gelang es den Feuerdämonen nicht, das
ganze Greifenreiter-Reich zu zerstören«, mischte sich Gorian ein.
»Was hat sie aufgehalten?«
»Es war ein Caladran«, antwortete Fentos Roon.
»Niemand kennt seinen Namen, die Legenden nennen ihn nur den
Namenlosen Renegaten, und sicherlich war es nicht nur sein ihn
plagendes Gewissen, das ihn so handeln ließ, sondern er war aus
irgendeinem Grund ein Verfemter seines Volkes. Jedenfalls beging er
den zweiten Zauberraub und brachte dem König von Gryphland eine
Anzahl sehr wertvoller magischer Schriften.«
»Ich nehme mal an, dass der Namenlose Renegat die
Caladran-Magie richtig anzuwenden wusste und die Feuerdämonen
bannte«, warf Sheera ein.
»Ja«, bestätigte Fentos Roon, »so war es.«
»Aber der Raub dieser magischen Schriften…«, begann
Gorian.
Fentos Roon nickte. »… war der Beginn der ewigen
Feindschaft zwischen Caladran und Greifenreitern. Die Caladran
verlangten ihre Rückgabe und die Auslieferung des Namenlosen
Renegaten. Song Mol lehnte dies ab.«
»Was wurde aus dem Namenlosen Renegaten?«, wollte
Gorian wissen.
Fentos Roon hob die Schultern. »Es gibt Dutzende
sich teils heftig widersprechender Geschichten über sein weiteres
Schicksal. Wahrscheinlich ist keine von ihnen wahr.«
In diesem Augenblick spürte Gorian einen Schmerz,
der wie ein Messer durch seinen Kopf fuhr.
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass
dieser Schmerz von einer Gedankenstimme ausgelöst wurde, die
ungeheuer schrill in seinem Schädel widerhallte und von einem
Schwall völlig ungeordneter Bilder begleitet wurde, Farben, Formen
und Eindrücke, zwischen denen es keinerlei Zusammenhang zu geben
schien und die schließlich in einem bunten, immer dunkler werdenden
Strudel verwischten.
Seine Augen wurden schwarz, er presste Daumen und
Zeigefinger beider Hände gegen die Schläfen.
Sheera berührte ihn an der Schulter, aber das bekam
er kaum mit. Auch ihren fragenden Gedanken nahm er nur wie ein sehr
fernes Echo wahr.
»Was ist?«
Dann war es plötzlich vorbei. Sheera sah ihn an,
und er erwiderte den Blick.
Er versuchte sich an Einzelheiten aus dem
chaotischen Bilderschwall zu erinnern, an irgendetwas, das ihm
vielleicht Aufschluss darüber geben konnte, mit welchem Geist er
soeben in Verbindung gestanden hatte.
Da sah er etwas vor seinem inneren Auge, das ihm
wie eine Erinnerung schien: Ein etwa katzengroßes geflügeltes Wesen
mit einer Haut wie aus Stein flog über eine verschneite eisige
Ödnis und hielt ihn mit seinen übergroßen Klauen am Wams
gepackt.
Doch es waren nicht seine eigenen Erinnerungen, wie
Gorian sofort klar war, denn er war zu diesem Zeitpunkt bewusstlos
gewesen.
»Es war Ar-Don«, murmelte er Sheera zu. Er war sich
vollkommen sicher: Es war der Gargoyle, der sich nach langer Zeit
wieder bei ihm gemeldet hatte.
Er hatte ihm während des Kampfes am Speerstein von
Orxanor beigestanden und ihn schließlich zurück zu seinen Gefährten
gebracht. Seither war Ar-Don spurlos verschwunden, und das, obwohl
er Gorian zuvor stets überallhin gefolgt war.
In Gryphenklau hatte Gorian immer wieder mithilfe
seiner magischen Sinne versucht, Verbindung zu ihm aufzunehmen.
Manchmal hatte er geträumt, dass der zwielichtige, höchst
eigenwillige und bisweilen zur Grausamkeit neigende Gargoyle des
Nachts durch ein offenes Fenster hereingeflogen kam, wie es in der
Vergangenheit des Öfteren geschehen war. Aber nichts dergleichen
hatte sich ereignet.
Gorian hatte nach langem Zögern Thondaril darauf
angesprochen, der Ar-Don stets mit großem Misstrauen begegnet war.
»Mag sein, dass er dir das Leben gerettet hat«, hatte ihm der
zweifache Ordensmeister geantwortet. »Aber
du musst immer damit rechnen, dass er eines Tages erneut unter den
Einfluss Morygors gerät, mag er seinen ehemaligen Herrn auch noch
so hassen.«
Auch Thondaril hatte den Namen vernommen, den
Gorian der Ordensschülerin zugeflüstert hatte, und fragte: »Er hat
dir eine Botschaft geschickt?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Was war der Inhalt?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich Ar-Don
in allergrößter Not befinden muss, denn ich empfand tiefste Qual
und höchste Verzweiflung.«
»Dann sei besonders vorsichtig, sollte er dir
irgendwann wieder begegnen«, riet Thondaril.
»Warum sagt Ihr das, Meister?«
»Ahnst du es wirklich nicht? Es könnte sein, dass
die Qualen, die diese Kreatur erleidet, ihr in den Folterkellern
von Morygors Frostfeste zugefügt werden, weil unser Feind ihn
gerade erneut zu seinem Werkzeug macht. Also hüte dich vor
ihm!«