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Die Feuerdämonen
Die Bruchstücke des zersprungenen Gargoyles
verschmolzen wieder miteinander zu einer Gesteinsmasse, in der sich
kleine Gargoyle-Mäuler bildeten, die zischende Laute ausstießen.
»All die Kraft … sie ist fort … Ich bin so schwach … Ah …«
Wieder empfing Gorian einen Schwall chaotischer Gedanken. Dann sah
er Bilder vor seinem inneren Auge, Szenen aus Ar-Dons Erinnerung,
die ihm womöglich erklären sollten, was geschehen war. »Flog aus
dem Frostreich … Folgte dir … Erreichte diese Berge, geriet in
Gefangenschaft der Fledermenschen durch magischen Bann … Sollte
geopfert werden bei einem mächtigen Ritual …«
Gorian sah im Geiste Fledermenschen mit Fackeln,
die rhythmisierte Zisch- und Schnalzlaute von sich gaben. Sie
schwenkten die Fackeln, während Ar-Don von einer offenbar unter
ihrem Bann stehenden Wildseilschlange zusammengeschnürt wurde,
wobei eine Lichtaura den Gargoyle umgab. Immer wieder schossen
grelle Blitze in das Gestein auf der anderen Seite der Schlucht,
woraufhin dort rot leuchtende Linien erschienen, hell strahlende
Zeichnungen, die wie Ausschnitte aus dem großen, glutvollen
Adergeflecht wirkten, das dort nun zu sehen war. Allerdings
verblassten sie immer wieder. Für sich genommen wirkten sie wie
sehr komplizierte, verschnörkelte magische Symbole.
»Die Fledermenschen haben die Feuerdämonen
gerufen?«, entfuhr es Gorian, und ihm war gar nicht bewusst, dass
er laut sprach. »Das sind doch ihre schlimmsten Feinde aus der
Vergangenheit.«
»Dämonen des Feuers und der Tiefe …
Schlimmste Feinde der Fledermenschen … Gerufen vom
Greifenreiter-König Song Mol, der ihrer nicht mehr Herr und Räuber
fremder Magie wurde …«
»Du kennst diese Legende?«
»Keine Legende … Wahrheit darin ist … so
grausame Wahrheit … Aber Vergangenheit spielt keine Rolle mehr …
Die Mächte des Chaos sind entfesselt … Die Dämonen des Feuers
werden die Wüste erneut schwärzen … Meine Kraft, die mir genommen
wurde, hat dazu beigetragen … Viel zu spät jetzt … Nicht mehr
ungeschehen zu machen …«
Der Gargoyle hatte beinahe seine alte Gestalt
zurückgewonnen, wofür er die Körpersubstanz, die er zuvor verloren
hatte, wieder in sich aufnahm. Noch wirkte sein Körper sehr
unsymmetrisch. Die Flügel waren unterschiedlich groß, und ihre
Anzahl variierte immer wieder. Manchmal wucherten auch zusätzliche
Gliedmaßen und Köpfe aus seinem steinernen Leib, nur um kurz danach
wieder zu verschwinden. »Fledermenschen fürchten nichts so sehr
wie Feuerdämonen … Wissen genau, dass es unmöglich für sie ist, sie
zurück in die Tiefe zu bannen … Wissen aber auch, dass Feuerdämonen
stärkster Gegner für noch verheerenderen Feind, der sich nähert
…«
»Morygor«, murmelte Gorian. »Also doch.« Deshalb
hatten die Fledermenschen ihre Schluchten verlassen und sich
davongemacht. Und deswegen hatten sie auch um jeden Preis zu
verhindern versucht, dass Gorian und seine Begleiter Ar-Don aus dem
Bann befreiten.
»Ja, Morygor«, betätigte Ar-Don. »Mein
Tod hätte einen Sinn
gehabt. Beinahe wäre selbst ich, der eigentlich nicht sterben
kann, zu einem leblosen Stück Stein geworden … Aber mir blieb genug
Kraft, um nicht ein erinnerungsloser Fels zu werden … Immer noch
Ar-Don! Immer noch ist die Qual von Meister Domrich in meinen
Gedanken … und der Wunsch, Morygor zu töten. Aber es war sehr knapp
… Und jetzt wirst du mich tragen müssen. Lass uns aufbrechen. Der
Bann ist aufgehoben, keine Magie wird mehr von mir in das Gestein
übertragen, um den Feuerdämonen den Weg zu ebnen, wie es die
Fledermenschen planten. Doch sie sind unerfahrene, primitive
Magier. Die Macht in der Erde wird sich von allein befreien, und
wenn wir uns nicht beeilen, wird sie uns vollkommen verschlingen,
so wie dies mit unseren nahenden Feinden geschehen wird
…«
Mit einem Satz sprang er plötzlich auf, wobei sich
mehrere lange, an Affenarme erinnernde Gliedmaßen aus seinem
steinernen Körper bildeten, der auf einmal eine grünlich
schimmernde Farbe annahm. Im nächsten Moment klammerte er sich an
Gorian fest.
»Trag mich … Denn ich bin schwach! So wie ich
dich trug, über die Eiswüste, die einst die See an der Küste bei
Orxanor war … Die Schlacht zwischen Feuer und Eis steht bevor, und
ich kann niemandem raten, zwischen jenen Mächten zu verweilen, die
um die Herrschaft ringen werden …«
Der herzschlagartige Rhythmus, der aus der Erde
kam, wurde immer heftiger. Die Glutadern hatten sich so weit
verzweigt, dass jede Handbreit des Felsgesteins von kleinsten
Verästelungen durchzogen war. Das rote Licht, das von all diesen
glühenden Linien ausging, überstrahlte selbst den ersten Schimmer
der Morgensonne, der über der Schlucht bereits den neuen Tag
ankündigte.
»Ein Ordensschüler, der sich fürsorglich um einen
geflügelten Steindämon kümmert. Wer hätte das gedacht«, spottete
Torbas, während er Gorian betrachtete, an dessen Oberkörper sich
Ar-Don festgeklammert hatte wie ein Affe. Zu Gorians Überraschung
war der Gargoyle sehr leicht. »Ich hoffe nur, du bereust es nicht
irgendwann, dieses Biest gerettet zu haben.«
»Man weiß nie, wie lange eine Freundschaft hält«,
gab Gorian zurück.
»Siehst du, genau das ist der Punkt. Ich glaube
nämlich nicht, dass diese Kreatur wirklich zu schätzen weiß, was du
für sie tust.«
»Und das, was Ar-Don für mich getan hat?«
»Mag der Verborgene Gott wissen, aus welchen
Motiven heraus er damals handelte.«
Mit diesen Worten warf Torbas seine Seilschlange
empor. Das dienstbare Wesen zierte sich diesmal allerdings. Es
stieß einen tiefen Zischlaut aus und weigerte sich, das Kopfende
irgendwo an dem rot geäderten Gestein haften zu lassen. Es fiel
zurück, und Torbas fing es wieder auf. Erst beim zweiten Versuch
gehorchte die Schlange.
Gorian steckte Rächer zurück und schnallte sich den
Gürtel mit der Schwertscheide um die Hüfte, damit er Ar-Don auf den
Rücken nehmen konnte. Dann schwang er seine Seilschlange empor und
machte die gleiche Erfahrung wie Torbas. Den Seilschlangen waren
die pulsierenden Adern im Gestein offenbar nicht geheuer. Drei
Versuche brauchte Gorian, bis seine Seilschlange an der Felswand
haften blieb, um ihn emporzuziehen.
Die Berührung mit dem rot schimmernden Adergeflecht
hatte keinerlei Auswirkungen auf Tier und Mensch. Es zischte nur
manchmal leise, wenn sich Gorian mit den Stiefelsohlen vom Fels
abstieß. Allerdings spürte Gorian sehr deutlich, wie die magische
Kraft der Feuerdämonen zunahm.
Er glaubte sogar hin und wieder, einzelne Gedanken wahrzunehmen,
auch wenn er mit ihnen nicht viel anfangen konnte, denn sie waren
einfach zu fremdartig.
»Feuerdämonen sind noch nicht vollständig
befreit«, empfing er dafür eine stumme, aber gut verständliche
Botschaft von Ar-Don, der wohl Gorians Verwirrung erkannt hatte.
»Größter Teil ihrer Zerstörungskraft ist noch im Verborgenen …
wird aber schneller hervortreten, als uns lieb sein kann
…«
Es dauerte nicht lange, bis die Seilschlangen
sowohl Torbas als auch Gorian aus der tiefen Erdspalte emporgehoben
hatten. Sie befanden sich wieder auf dem Felsplateau und mussten
feststellen, dass auch hier das Gestein bereits von einem Geäst aus
rot schimmernden Adern durchzogen war, das sich auch noch immer
weiter verzweigte.
»Es erfasst nach und nach den ganzen Berg«, sagte
Torbas. »Und es wird sich weiter durch das Gestein fressen, bis es
schließlich Felsenburg erreicht.«
»Wenn es in dieser Geschwindigkeit fortschreitet,
dauert das nicht mehr lang«, befürchtete Gorian.
Torbas nickte mit düsterer Miene. Er ließ den Blick
schweifen. Der pulsierende, dumpfe Klang, der an einen Herzschlag
erinnerte, drang stampfend aus mindestens einem Dutzend weiterer
Täler und Schluchten. Hier und dort wurden bereits Felskuppen von
den roten Adern durchzogen, die im Rhythmus dieses unheimlichen
Herzens pulsierten.
»Es ist schon viel weiter fortgeschritten, als wir
dort unten ahnen konnten«, stellte Gorian fest. »Die Feuerdämonen
dringen überall durch das Gestein, und es ist nur eine Frage der
Zeit, wann die ersten von ihnen tatsächlich hervortreten.«
In der Ferne waren im Licht der aufgehenden
Morgensonne
mehrere Schwärme von Fledermenschen zu sehen, die sich entfernten.
Ihre aufgeregten Rufe verklangen zunehmend.
Ein paar wenige dieser Kreaturen kauerten noch in
der Nähe, aber die Ausbreitung des pulsierenden Adergeflechts im
Gestein scheuchte sie nach und nach auf. Dass Gorian ihr rituelles
Opfer auf dem Rücken trug und fortbrachte, schien sie nicht mehr zu
kümmern. Das Ritual war damit zwar unterbrochen, aber die Kraft,
die Ar-Don bereits entzogen worden war, reichte offensichtlich, um
die Feuerdämonen seit langer Zeit wieder zu wecken.
Auf einmal erhob sich aus diesen pulsierenden Adern
eine Gestalt, die vollkommen aus Flammen zu bestehen schien. Doch
wie die Glut in den Adern, so war auch dieses Feuer vollkommen
kalt.
Der Feuerdämon näherte sich rasch. Aus seinen
Gliedmaßen formten sich Waffen, schwertähnliche Fortsätze, mit
denen er auf Torbas einzuschlagen begann. Der wehrte sich, parierte
mit Schattenstich die blitzschnell geführten Angriffe. Immer wenn
das Sternenmetall, aus denen das Schwert geschmiedet war, die
Auswüchse des Substanz gewordenen Feuerdämons traf, ertönte ein
stöhnender Schmerzenslaut.
Torbas stieß einen Kraftschrei nach Art der
Schwertmeister aus und rammte seine Klinge tief in den Leib des
Feuerdämons. Dessen Kraft schmolz zischend dahin, er wurde kleiner
und kleiner, und schließlich war er ganz verschwunden und wieder
eins mit dem Geflecht am Boden geworden.
»Das war nur der erste. Und ein schwacher
dazu!«, lautete der Gedankenkommentar von Ar-Don. »Es werde
weitere kommen … viele … Ja, man wird ihre Zahl nicht erfassen
können, und ihre Zerstörungswut wird keine Grenzen kennen
…«
Aber wenn Gorian nicht all seine magischen Sinne
vollkommen täuschten, freute gerade der letzte Umstand den Gargoyle
ungemein.
»Lass uns bloß zusehen, dass wir von hier
fortkommen!«, sagte Torbas in grimmiger Entschlossenheit.
Gorian hatte ebenfalls sein Schwert gezogen.
Jederzeit konnte sich ein einzelner Feuerdämon aus dem
Gesamtverbund lösen und einen Überraschungsangriff starten.
Die beiden Ordensschüler eilten über das
Felsplateau und anschließend über einen schmalen Grat. Nebel stieg
aus einzelnen Tälern auf, und manchmal zuckten in den dichter
werdenden Schwaden Blitze, die nicht wie üblich von oben nach unten
zuckten, sondern in genau umgekehrter Richtung. Blutrot schossen
sie empor, setzten sich in den Dunstwolken fort, verzweigten sich
dort und bildeten hin und wieder und für ein paar Augenblicke
riesige Gestalten, die entfernt an Menschen erinnerten, mitunter
aber auch Ähnlichkeit mit vielarmigen, spinnenähnlichen Ungeheuern
hatten.
Ein Greifenschrei drang durch die kühle Morgenluft,
und als Gorian und Torbas emporblickten, sahen sie die dunklen
Umrisse des Flugtiers mitsamt dazugehöriger Gondel, die sich gegen
die noch tief stehende Sonne abhoben.
»Das ist Centros Bal!«, rief Gorian erstaunt.
»Und ich brauche nicht mal irgendwelche magischen
Sinne zu bemühen, um dir sagen zu können, dass sich Meister
Thondaril in der Gondel befindet«, ergänzte Torbas. »Wie konnten
wir auch nur für einen Augenblick annehmen, dass wir seiner
Aufmerksamkeit für länger als eine Nacht entgehen.«
»Im Moment bin ich froh, dass wir uns in dieser
Hinsicht getäuscht haben.«
»Wir werden erklären müssen, was mit Fentos Roon
geschehen ist.«
»Ich weiß.«
»Oder besser gesagt: Du wirst es erklären
müssen. Schließlich ist er dir gefolgt – so wie ich
auch.«
Seilschlangen wurden herabgelassen, als sich die
Gondel direkt über ihnen befand. Der Greif stand flatternd in der
Luft, während sich Gorian und Torbas von den Schlangen umfassen und
emporziehen ließen.
Sheera empfing sie an der offenen Gondeltür. »Seid
ihr verletzt? Braucht ihr die Hilfe einer angehenden
Heilerin?«
»Wir wohl nicht«, sagte Gorian. »Aber falls du in
deiner bisherigen Ausbildung schon mal was über die Heilung von
Gargoyles gehört hast, wäre deine Hilfe sehr willkommen.«
Sheeras Miene verdüsterte sich, als sie Ar-Don
gewahrte, der sich nach wie vor an Gorians Rücken festklammerte. Er
hatte dafür noch zwei zusätzliche und unterschiedlich lange Arme
ausgebildet, doch nachdem Gorian ihn abgesetzt hatte, bildeten sich
die überzähligen Gliedmaßen nach und nach zurück.
»Kein Heiler kann mir verlorene Kräfte
zurückgeben«, sandte er einen Gedanken offenbar nicht nur an
Gorian, sondern auch an Sheera. Zumindest schloss Gorian das aus
ihrer Reaktion.
Sie sah Gorian an, berührte ihn leicht an der
Schulter und antwortete ihm im Geiste: »Ich mache mir mehr
Sorgen um dich als um diesen Stein.«
»Mit mir ist alles in Ordnung.«
»Nein, das stimmt nicht.«
Sie legte die flache Hand genau an jene Stelle
seiner Schulter,
wo er während des Kampfes am Speerstein von Orxanor durch seinen
eigenen Dolch verletzt worden war. Gorian hatte nicht darauf
geachtet, doch offenbar war die Wunde wieder aufgerissen und hatte
erneut schwarzes Blut abgesondert. Sein Lederwams hielt das vor den
Augen der anderen verborgen, aber Sheera erkannte es
trotzdem.
Ihre Augen wurden vollkommen schwarz, so als würde
sie die pure Finsternis, die mit dem schwarzen Blut förmlich aus
seinem Körper quoll, in sich aufnehmen. Dann schloss sie die Augen.
»Du bist mit einer Macht von sehr starker und sehr fremdartiger
Magie in Berührung gekommen.«
»Das stimmt«, sagte er laut.
»Diese Wunde wird immer wieder aufreißen,
Gorian.«
Ar-Don kauerte sich unterdessen in eine Ecke. Auf
irgendeine Weise musste er weitere Körpersubstanz aufgenommen
haben, denn war er früher zumeist so groß wie eine Katze gewesen,
so hatte er jetzt die Ausmaße eines Hundes. Seine Oberfläche war
grau wie Stein, so wie damals die Stücke, in die er zerschlagen
gewesen war, als Gorian ihn von dem Bann seines Vaters Nhorich
befreite.
»Keine Sorge!«, empfing Gorian einen von
abgrundtiefer Boshaftigkeit geprägten Gedanken dieses Wesens, das
so schwer einzuschätzen war. »Der Hass wird meine Existenz
bewahren … Er ist das Gefäß meines Selbst, das aus so vielen
Einzelteilen besteht und doch mehr ist als ihre Summe.«
Dieser Gedanke mischte sich mit Bildern des
Schreckens und grauenhaften Schreien. Es handelte sich um
bruchstückhafte Erinnerungen an die Schmerzen und Qualen, die
Ar-Don und Schwertmeister Domrich, dessen Seele in ihn eingegangen
war, einst erlitten hatten und die den abgrundtiefen Hass
begründeten, den der Gargoyle gegen Morygor empfand.
Sheera war ganz auf Gorian und dessen Wunde
konzentriert und murmelte eine Heilformel. Dann öffnete sie wieder
die Augen und sagte: »Ich werde mich später genauer um deine
Verletzung kümmern müssen.«
»Gut«, murmelte Gorian.
Während Zog Yaal, der Dritte Greifenreiter Centros
Bals, etwas unschlüssig dastand, blickte Meister Thondaril
angestrengt durch das große Gondelfenster hinaus.
Gorian und Torbas hatte er bisher keines Blickes
gewürdigt, und selbst die Anwesenheit Ar-Dons schien ihm im
Augenblick gleichgültig, obwohl er ansonsten nie einen Hehl daraus
machte, dass er dem Gargoyle misstraute und ihn für eine Kreatur
Morygors mit bestenfalls zweifelhafter Loyalität hielt.
Noch immer wollte er von den beiden Ordensschülern
keine Notiz nehmen. Offenbar war das seine Art, seine Missbilligung
über ihr Verhalten zu zeigen.
»Meister …«, ergriff Gorian schließlich das Wort,
denn das Schweigen Thondarils war schlimmer, als es jede
Zurechtweisung und jeder Vorwurf hätten sein können.
»Was willst du mir sagen, was ich nicht schon
wüsste?«, unterbrach ihn Thondaril mit beinahe tonloser Stimme.
»Dass du eine gute Seele wie Fentos Roon geopfert hast, um einen
Gargoyle zu retten, von dem du nicht weißt, ob er nicht doch eines
Tages seinen ursprünglichen Plan, dich zu töten, in die Tat
umsetzen wird? Dass du dafür unsere gesamte Mission in Gefahr
gebracht hast? Dass du um ein Haar die letzte und einzige
Möglichkeit, Morygor noch zu besiegen, verschenkt hättest, weil du
dein Leben so leichtfertig für nichts und wieder nichts aufs Spiel
gesetzt hast? Ich kann in deiner Seele sehen, was geschehen ist, du
brauchst nicht ein einziges Wort darüber zu verlieren. Dein
schlechtes Gewissen macht deine Gedanken so aufdringlich und laut,
dass man sie nicht überhören kann.«
»Aber, Meister …«
»Schweig!«
»Wie könnt Ihr so etwas sagen? Wir haben in bester
Absicht …«
»Schweig, sage ich! Genau das ist am
unerträglichsten: diese Selbstgefälligkeit! Ich hatte vor allem
dich für klüger eingeschätzt und bin bitter enttäuscht. Ist dir
immer noch nicht klar, was deine Bestimmung ist und was alles von
dir abhängen könnte? Sieh ab und zu mal zum Himmel, solltest du es
vergessen haben! Da schiebt sich ein dunkler Schatten vor die
Sonne, mit dem Morygor ganz Erdenrund in eine Eiswüste verwandeln
will, und du beraubst uns fast der einzigen Hoffnung, dies zu
verhindern! Es hätte nicht viel gefehlt, und alles wäre umsonst
gewesen. Und das nur, um einen Steindämon zu retten. Es ist nicht
zu fassen!«
Gorian schluckte. Er brauchte einen Augenblick, um
sich zu fassen. »Habt Ihr vergessen, wer mich am Speerstein
gerettet hat?«, fragte er dann in einem Tonfall, dessen Ruhe und
Klarheit ihn selbst am meisten überraschte. »Und davon abgesehen
haben die Fledermenschen Ar-Don dafür benutzt, die Feuerdämonen zu
wecken, die ihnen vor langer Zeit fast selbst die Vernichtung
brachten. Sie haben das getan, damit die Feuerdämonen Morygors
eisigem Heerzug begegnen. Überall kommen sie hervor, und sie werden
sich in großer Zahl den Horden des Frostreichs
entgegenstellen.«
»Offenbar haben wir alle die magischen Fähigkeiten
der Fledermenschen unterschätzt«, gab Thondaril zu. »Aber es ist
nur ein Akt der Verzweiflung, den sie begangen haben. Ob er unserem
Vorhaben, Morygors Herrschaft zu beenden,
nützt oder es eher behindert, wird die Zukunft zeigen.« Endlich
drehte er sich herum. »Hat einer von euch beiden vielleicht mal
darüber nachgedacht, welchen Eindruck eure Handlungsweise auf Oras
Ban oder den Bibliothekar von Felsenburg macht? Aus irgendeinem
Grund zögert man, uns die Schriften herauszugeben, die wir
benötigen. Da wir nicht die Macht haben, sie uns einfach zu nehmen,
werden wir Oras Ban und den Bibliothekar überzeugen müssen, es
freiwillig zu tun, und das ist durch eure Eigenmächtigkeit nicht
gerade leichter geworden!«
Vielleicht doch, ging es Gorian durch den Sinn,
aber er behielt diesen Gedanken für sich, denn er hatte das
untrügliche Gefühl, dass dies nicht der rechte Moment war, diese
Dinge mit Thondaril zu besprechen.
Als Centros Bals Greifengondel Felsenburg
erreichte, setzte leichtes Schneegeriesel ein, ein erster Vorbote
des ewigen Winters. Die Schlacht zwischen Feuer und Eis stand kurz
bevor. Beide Seiten schienen ihre Kräfte zu sammeln.
Nachdem die Gondel in der Greifenhöhle abgesetzt
worden war und Zog Yaal die Tür öffnete, erwachte Ar-Don zu neuem
Leben, während er zuvor nur reglos in einer Ecke gehockt hatte wie
ein lebloser Gesteinsbrocken. Er trennte sich von einem Teil seiner
Körpersubstanz, ließ sie einfach als pulverisiertes grauweißes
Gestein zu Boden rieseln, bildete zwei Paar Flügel aus und schwang
sich wild flatternd empor.
Mit einem zischenden Laut, gepaart mit einem
Gedanken, der an ein erleichtertes Seufzen gemahnte, stob er durch
die Gondeltür hinaus und flatterte zur Höhlendecke empor. Die Farbe
seines Körpers veränderte sich, wurde zunächst feuerrot, dann
purpurfarben und wechselte schließlich
in ein kaltes Blau, das ihn wie eine zum Leben erweckte Skulptur
aus Eis erscheinen ließ.
Auch Thondaril und seine Schüler verließen die
Gondel, und selbst in der Greifenhöhle konnten sie den eisigen
Hauch spüren, der von draußen hereinwehte. Das war nicht nur
irgendein gewöhnlicher kühler Morgen in den Bergen, sondern der
Beginn eines neuen Eroberungsfeldzugs des Frostreichs.
»Ar-Don!«, rief Gorian und versuchte zugleich, den
Gargoyle mit einem intensiven Gedanken zu erreichen, aber er
erhielt keinerlei Antwort.
Ar-Dons Fauchen hallte in der Höhle wider, und das
Echo, das dabei entstand, klang wie höhnisches Gelächter, dann
entschwand er in einer der kleinen Nebenhöhlen zwischen den
herabhängenden Tropfsteinen.
»Er ist immer noch sehr schwach, Gorian«,
empfing er einen Gedanken Sheeras. »Du kannst es daran erkennen,
dass er einen Teil seiner Substanz aufgab und sich zwei Flügelpaare
wachsen ließ, um sich überhaupt emporschwingen zu können. Aber
seine Unabhängigkeit scheint ihm wichtiger zu sein als alles
andere.«
Gorian nickte leicht. Sie hatte vermutlich
recht.
Er fasste sich erneut ein Herz und sprach Thondaril
an. »Meister, Ihr müsst Oras Ban warnen. Der Königliche Verwalter
sollte dringend die Räumung Felsenburgs veranlassen. Jeder, der
hierbleibt, ist verloren, wenn die Feuerdämonen und die Kräfte des
Frostreichs aufeinandertreffen. Und dass genau dies geschehen wird,
werdet Ihr sicherlich nicht leugnen wollen.«
Thondaril blieb stehen, drehte sich sehr langsam
um, doch der Blick, mit dem er Gorian bedachte, war unergründlich.
Sosehr er sich auch über ihn und Torbas ärgern mochte, kein
einziger Gedanke drang davon nach außen. Ein Musterbeispiel
an Selbstbeherrschung und Abschirmung, erkannte Gorian halb
bewundernd, halb schaudernd.
»Es ist erfreulich, dass du beginnst, die Folgen
deiner Taten zu bedenken«, erklärte Thondaril kühl.
»Meister, Euer Groll gegenüber Torbas und mir ist
nur zu verständlich. Aber wenn jemand Oras Ban überzeugen kann,
dann seid Ihr es. Und Ihr solltet auch versuchen, noch einmal mit
dem Bibliothekar zu sprechen. Denn die magischen Schriften, die er
verwaltet, werden ebenfalls vernichtet werden, wenn sie in
Felsenburg verbleiben. Noch ist vielleicht Zeit, etwas zu
unternehmen und alles zu retten, die Bewohner Felsenburgs ebenso
wie die geraubten Schriften der Caladran.«
»Sage mir nicht, was ich zu tun habe, Schüler!«,
gab Thondaril reserviert zurück, dann deutete er zu dem Greifen,
der neben der Gondel gelandet war und seine Flügel auf dem
löwenartigen Rücken zusammengefaltet hatte. Centros Bal saß noch
auf seinem Reittier und tätschelte ihm den Hals. Der Greif wirkte
unruhiger als sonst, fauchende Zischlaute drangen aus dem halb
geöffneten Schnabel, und Centros Bal tat alles, das Tier zu
besänftigen. Vielleicht hatte der Anblick der überall aus dem Boden
drängenden Feuerdämonen die uralte Erinnerung seiner Vorfahren in
ihm wachgerufen, an jene Zeit, in der die Greifen nur durch das
Bündnis mit den Menschen überlebt hatten und die Feuerdämonen zwar
zunächst ihre Verbündeten, dann aber ihre schlimmsten Feinde
gewesen waren. »Du selbst hast noch eine bittere Pflicht vor dir,
Gorian«, fuhr Thondaril fort. »Du und Torbas, denn Fentos Roon
wurde das Opfer eurer beider Leichtfertigkeit. Wir können froh
sein, wenn Centros Bal noch bereit ist, uns zu den Inseln der
Caladran zu fliegen. Danach, Schüler, darfst du mir gern helfen,
Oras Ban zu überzeugen. Und
vielleicht ist uns das Schicksal sogar so gnädig, dass wir noch
einmal die Möglichkeit erhalten, unser Anliegen dem Bibliothekar
vorzutragen, obwohl ich bei ihm den Eindruck hatte, dass ihm sein
alter Hass wichtiger ist als die Zukunft. Offenbar wird einem die
Zukunft gleichgültig, wenn man schon so lange gelebt hat.«
Nach diesen Worten verließ Thondaril die Höhle.
Gorian gesellte sich zu Torbas, der mit Sheera noch bei der Gondel
stand, und zu dritt warteten sie, bis Centros Bal und sein Dritter
Greifenreiter Zog Yaal mit den Greifen fertig waren.
Gorian machte keine Umschweife. Er erzählte in
knappen Worten, was Fentos Roon zugestoßen war.
Das Gesicht des Nordfahrers blieb unbewegt. »Ich
habe mir etwas in der Art schon gedacht, als wir nur dich und
Torbas in den Bergen entdeckten«, sagte er. »Und selbst, wenn er
noch irgendwo dort zu finden gewesen wäre, hätte ich nicht mehr
nach ihm suchen können, denn die Feuerdämonen haben meinen Greifen
halb wahnsinnig gemacht. Fentos Roon war für mich mehr als nur ein
Greifenreiter in meinen Diensten. Ich bin seit meiner Jugend mit
seinem Vater eng befreundet, und ich weiß noch nicht, wie ich ihm
den Tod seines Sohnes begreiflich machen soll.«
»Es tut mir sehr leid.«
»Du trägst nicht mehr Schuld an seinem Ende als er
selbst. Ein risikofreudiger junger Mann, der sich von einem anderen
ebenso risikofreudigen Jungen zu einem gefährlichen Abenteuer
überreden ließ – so was geht leider nicht immer gut aus.«
»Wir haben alles versucht, um ihn zu
schützen.«
»Das weiß ich. Aber dies sei dir gesagt, Gorian:
Ich bewundere, was du am Speerstein getan hast, doch wenn du den
Herrscher des Frostreichs besiegen willst, wirst du
deine Leichtsinnigkeit ablegen müssen. Verlass dich nicht darauf,
dass dich das Schicksal oder der Verborgene Gott oder welche Macht
auch immer dich auserwählt haben mag, bedingungslos schützt. In
dieser Hinsicht hat sich schon so mancher getäuscht.«
»Solche Gedanken sind mir fremd«, entgegnete
Gorian.
Ein mattes Lächeln hellte das Gesicht des
Nordfahrers auf. »Eigenartig. Niemand anderem mit vergleichbarem
Talent würde ich das glauben. Dir schon. Keine Ahnung warum, aber
so ist es nun mal.« Centros Bal legte Gorian eine Hand auf die
Schulter. »Fentos Roon wird nicht der letzte deiner Gefährten sein,
der in deinem Kampf gegen das Frostreich sein Leben lässt. Das ist
nicht zu ändern. Nenn es Schicksal oder den Lauf der Dinge oder
meinetwegen den Willen des Verborgenen Gottes, wenn dich das
erleichtert. Aber bedenke immer, dass alle, die dich begleiten,
schwächer sind als du, dass sie nicht die gleichen Fähigkeiten und
Talente haben und auch nicht das Privileg, dass Morygor sie
fürchtet.«
»Können wir dann immer noch davon ausgehen, dass
Ihr uns zu den Inseln der Caladran bringen werdet?«, fragte
Torbas.
Der Nordfahrer sah ihn an, und die Wärme wich aus
seinem Blick. Ohne zu antworten setzte er sich in Bewegung und
schritt davon, gefolgt von Zog Yaal. »Ich muss dir noch viel
beibringen«, hörte Gorian den Nordfahrer zu dem jungen
Greifenreiter sagen, als wäre nichts gewesen. »In Zukunft wirst
auch du dem riesigen Löwenvogelmischling deinen Willen aufzwingen
müssen.«
»Mal ehrlich, ich war doch nicht etwa
undiplomatisch, oder?«, fragte Torbas seine Mitschüler, als die
beiden Greifenreiter die Höhle verlassen hatten.