5
Schatten über Felsenburg
Die Stunden gingen dahin, und Centros Bals
Greifengondel ließ schließlich das zerklüftete Gebirge im Südwesten
Gryphlands hinter sich. Bis zum mittelgryphländischen Bergrücken
erstreckte sich eine öde Senke Hunderte von Meilen weit, wie Gorian
sie noch nie zuvor gesehen hatte. Eine Wüste aus schwarzem, sehr
feinem Staub, der hin und wieder vom Wind zu säulenartigen Wirbeln
aufgeweht wurde. Die Staubsäulen hatten Ähnlichkeit mit wandelnden
Schattenpfadgängern, kurz bevor sie an ihrem Zielort
verstofflichten. Auch türmte der Wind den schwarzen Staub zu
gewaltigen Wanderdünen auf.
»Scheint so, als wäre an den Legenden von den
Feuerdämonen tatsächlich etwas dran, so verbrannt, wie das hier
aussieht«, äußerte Torbas mit gerunzelter Stirn, während er
angestrengt aus einem der verglasten Fenster blickte.
»In Gryphenklau nennt man die Senke zwischen den
Gebirgen auch die Aschewüste«, bestätigte Fentos Roon. »Hier lebt
niemand. Es gibt keinen Ort in ganz Ost-Erdenrund, der so vom Tod
gezeichnet ist wie dieses Land.«
Auf einmal war ein durchdringender ächzender Laut
zu hören, der wie das Räuspern einer riesenhaften Kreatur
klang.
»Der Greif!«, kommentierte Fentos Roon. »Die Tiere
reagieren
empfindlich auf den feinen Aschestaub, der hier ständig
aufgewirbelt wird. Mein Herr wird den Greifen höher steigen
lassen.«
Tatsächlich war gleich darauf der heftigere
Flügelschlag des Greifen zu spüren, denn die Gondel geriet dabei
leicht in Schwankungen.
Auch den Seilschlangen schien der Aschestaub nicht
zu behagen, denn sie zischelten protestierend.
Nur hin und wieder waren am Horizont einzelne
Greifenreiter zu sehen, die das unwirtliche Land ebenfalls so
schnell wie möglich zu überqueren suchten. Sie lebten zumeist in
den vereinzelten Residenz-Höhlen, die es in den schroffen
Felsmassiven des mittelgryphländischen Bergrückens gab.
Fentos Roon machte einen besorgten Eindruck. Er sah
immer wieder aus dem Fenster und sagte schließlich: »Ich kann nur
hoffen, dass es meinem Herrn gelingt, den Greifen zu größerer Eile
anzutreiben. Die Dämmerung bricht bald herein …«
Tatsächlich wurde der Flügelschlag des Greifen
etwas kräftiger, und die Fluggeschwindigkeit nahm leicht zu.
Schließlich erreichten sie die ersten Ausläufer des Berglandes, an
dessen Nordwestseite sich Felsenburg befand.
Sie ließen die Aschewüste hinter sich und
überflogen wieder stark zerklüftetes Land. Die Felsmassive ragten
noch ein Stück höher auf als in dem weiter südlich gelegenen
Bergland, und die Schluchten schienen noch tiefer.
Der Greif stieß immer wieder stöhnende Laute aus.
Sie befanden sich in einer Höhe, in denen Greife nicht gern flogen,
weil die Luft für sie zu dünn wurde, wie Fentos Roon den anderen
erklärte.
Und dann waren da auch noch die alten Feinde der
Greifen, die man immer öfter als dunkle Schatten aus den finsteren
Felsspalten emporschweben sah. Aus der Ferne war nicht viel von
ihnen zu erkennen, nur dass ihre Körper eine bizarre Mischung
zwischen Mensch und Fledermaus waren. Auf ihren Lederschwingen
glitten sie durch die schattigen Bereiche der Täler. Offenbar waren
sie mit Speeren bewaffnet und mit im Wind flatternden dunklen
Gewändern bekleidet.
»Sie sehen aus wie missgestaltete Menschenkinder
mit fellbedeckten, spitzohrigen Köpfen und Fledermausflügeln auf
den Rücken«, erklärte Fentos Roon. »Stehen sie aufrecht, reichen
einem selbst die größten von ihnen kaum bis zur Hüfte. Dennoch
sollte man sich vor ihnen in Acht nehmen. Vor allem, wenn sie in
Schwärmen auftreten. Die Spitzen ihrer Speere sind aus
Obsidian.«
»Und was hält sie davon ab, über eine einsame
Greifengondel wie die unsere herzufallen?«, fragte Gorian.
»Vor allem ihre Abneigung gegen Licht und Feuer«,
gab Centros Bals Zweiter Greifenreiter Auskunft. »Sie fürchten das
Licht der Sonne ebenso wie das Feuer aus den Tiefen der Erde, denn
ihr eigentliches Element ist die Dunkelheit der Felsschluchten,
Erdspalten und Höhlen. Selbst die Helligkeit des Mondes hält sie
manchmal schon davon ab, aus ihren Löchern zu kommen.«
»Wären sie dann nicht ideale Verbündete für
Morygor?«, warf Torbas ein. »Wenn der Schattenbringer die Sonne zur
Gänze verdeckt, dürfte das doch genau nach dem Geschmack dieser
geflügelten Plagegeister sein, oder?«
»Das Eis würde auch ihren Lebensraum durchdringen«,
gab Sheera zu bedenken. »Ihre Schluchten würden unter Gletschern
begraben werden.«
Torbas zuckte mit den Schultern. »Dafür herrschte
aber ewige Nacht, sie bräuchten nie wieder das Licht des Tages
zu fürchten und sich nicht mehr in ihren Erdspalten zu
verkriechen.«
Als sie die Gebirgszüge überquerten, wurde es auch
in der Gondel kalt. Die Gipfelregionen der Berge waren mit einer
dünnen Schicht aus Schnee und Eis bedeckt, die im Licht der
untergehenden Sonne ein einmaliges Farbenspiel bot.
Dann erreichten sie die Nordosthänge des
mittelgryphländischen Bergrückens und sahen Felsenburg.
Es handelte sich um einen einzelnen säulenartig
emporragenden und nahezu zylinderförmigen Felsen. An seinem Gipfel
befand sich ein Plateau, das von zinnenbewehrten Mauern umgrenzt
wurde, und je mehr sie sich dem Säulenfelsen näherten, desto
deutlicher erkannten sie, dass mindestens das obere Drittel des
Massivs auf ähnliche Weise bewohnt war wie die Felsen von
Gryphenklau: Überall waren die zum Teil mit Toren verschlossenen
Zugänge von Wohnhöhlen zu sehen, größer als die Stadttore von
Segantia oder Toque, und es gab auch Einflugkavernen für ankommende
Greifen, wie Fentos Roon erklärte. Vor den Höhleneingängen befanden
sich mitunter kleine Vorsprünge und offenbar künstlich angelegte
Plateaus, die denen in Gryphenklau ähnelten.
Das Gelände um die Felsensäule herum war flach und
öde. Eine schwarze Wüste, offenbar ebenfalls geschaffen durch den
verheerenden Brand, den die Feuerdämonen der Legende nach
verursacht hatten. Allerdings gab es fast keinen Staub. Anders als
in der Aschewüste hatte ihn wohl der beständig wehende Wind
abgetragen und nichts als kahles schwarzes Gestein
zurückgelassen.
Am westlichen Horizont erstreckte sich ein
Gebirgsausläufer, hinter dem die Sonne mit ihrem ewigen
schattenhaften
Begleiter bereits zu zwei Dritteln verschwunden war. Da schossen
bei der Burg auf einmal Flammen aus einem Dutzend in den Himmel
ragender Steinsäulen.
»Ich nehme an, das soll die Fledermenschen auf
Distanz halten«, sagte Gorian und sah Fentos Roon dabei an.
Dieser nickte. »Es soll sie daran erinnern, dass es
ihnen schlecht bekommt, wenn sie die Autorität des jeweiligen
Königs von Gryphland in Zweifel ziehen.«
»Und? Erweisen sie sich als gute Untertanen, seit
so viele ihrer Vorfahren von den Feuerdämonen vernichtet wurden?«,
fragte Torbas leicht spöttisch. »Oder ist es nur eine Frage der
Zeit, bis sie vielleicht den Aufstand wagen?«
»Wer weiß«, murmelte Fentos Roon.
Der Greif flog mitsamt seiner Gondel durch das Tor
einer Einflugkaverne. Sie gelangten in eine Höhle, in der so manche
Kathedrale Platz gefunden hätte. Dutzende von Greifen waren dort
untergebracht. Manche stießen schrille Schreie aus, als sie auf den
Neuankömmling aufmerksam wurden, woraufhin sie von den
Greifenpflegern mit lauten Rufen zurechtgewiesen wurden. Die Echos
all dieser Laute ergaben einen Höllenlärm, sodass man für einige
Zeit selbst innerhalb der Gondel sein eigenes Wort nicht verstehen
konnte.
Die Gondel setzte bei einem der künstlich
eingeebneten freien Plätze auf. Die Seilschlangen erschlafften, und
der Greif landete mit heftigem Flügelschlag neben der Gondel.
Fentos Roon öffnete die Tür, und die Passagiere
folgten Thondaril hinaus in die Einflugkaverne, während Centros Bal
vom Rücken seines Reittiers stieg.
»Alles, was hier noch zu tun ist, können meine
Männer erledigen«, sagte er und öffnete seinen Lederanzug ein
Stück, denn in der Höhle war es verhältnismäßig warm, was
sicherlich an der Anwesenheit so vieler Greifen lag, deren Körper
förmlich dampften.
Ein Hauptmann und fünf bewaffnete Wachleute
empfingen sie. Offenbar hatte man das Nahen des Greifen bereits
beobachtet und ihr Eintreffen erwartet.
»Wir haben hier nicht häufig Besuch«, erklärte der
Hauptmann. »Öfter als einmal im Monat verirrt sich kaum mal ein
Greifenreiter hierher, und dann handelt es sich zumeist um den
königlichen Steuereintreiber.«
»Das mag daran liegen, dass man eine Genehmigung
braucht, um Felsenburg überhaupt anfliegen zu dürfen«, äußerte
Meister Thondaril, »und diese Dokumente werden offenbar nicht allzu
großzügig vergeben.«
Der Hauptmann war im ersten Moment verwirrt, was
wohl daran lag, dass Thondarils Worte von dem Sprechstein auf
seiner Brust wispernd übersetzt wurden. Diese Form der
Basilisken-Magie war an einem so abgelegenen Ort wie Felsenburg
offenbar noch weitaus ungewöhnlicher als in dem vergleichsweise
weltläufigen Gryphenklau.
»Dafür gibt es gute Gründe«, antwortete er
schließlich. »Und ich hoffe, dass Ihr es nicht gewagt habt, in
Felsenburg einzufliegen, ohne ein entsprechendes Schriftstück bei
Euch zu tragen.« Er streckte fordernd die Hand aus.
»Das Dokument, das mir der König ausgestellt hat,
ist nur für den Verwalter persönlich bestimmt«, erwiderte Thondaril
in einem Tonfall, der an der Grenze zur Schroffheit lag. Er zog das
versiegelte Dokument hervor, zeigte es dem Hauptmann und fuhr dann
fort: »Das Siegel mögt Ihr erkennen – der Inhalt aber ist nur für
die Augen des ehrwürdigen Oras Ban bestimmt.«
»Seht meine Augen als die des Verwalters an«,
entgegnete
der Hauptmann sichtlich verärgert. »So handhaben wir es hier auf
Felsenburg.«
Doch Thondaril ließ die Hand mit dem Dokument
sinken und hielt ihm stattdessen die andere mit den zwei
Meisterringen hin. »Seht Ihr dies? Vom Meister der Magie und des
Schwertes wird man wohl selbst an diesem entlegenen Ort gehört
haben. Wollt Ihr an meinen Worten zweifeln und Euch damit gegen den
Willen des Königs von Gryphland stellen?«
Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Ihr seid jener
zweifache Meister, den man Thondaril nennt und über den man sich
überall die heldenhaftesten Geschichten erzählt?«
»Der bin ich.«
»Es soll wenige geben, die Magie und Schwert so
beherrschen wie Ihr.« Er verneigte sich leicht. »Mein Name ist Bram
Segg, und ich werde Euch gern zum Verwalter führen.«
»Dann lasst uns keine Zeit verlieren, denn unser
aller Feind Morygor verzeiht kein Zögern.«
Hauptmann Bram Segg führte sie einen engen
Treppengang hinauf bis auf einen Turm, von dem aus man eine viele
Meilen weite Aussicht in alle Richtungen hatte.
Ein Mann mit pergamentartiger faltiger Haut stand
an den Zinnen und blickte angestrengt durch ein Rohr zum Himmel. Er
trug ein bis zum Boden reichendes Gewand, das so grau war wie sein
Gesicht. Kein einziges Haar hatte er noch auf dem Kopf, und seine
sehr hageren Züge mit den vorstehenden Wangenknochen erinnerten an
einen Totenschädel.
Der König in Gryphenklau hatte den Verwalter von
Felsenburg als einen uralten Mann beschrieben. Dies musste er wohl
sein.
Er drehte sich herum, wobei er das Rohr losließ,
durch
das er geblickt hatte; es war auf einem dreifüßigen Ständer aus
Holz befestigt. »Ich habe Euch beobachtet, seit Ihr mit Eurem
Greifen über die Berggipfel kamt«, erklärte er, dann deutete er auf
das Rohr. »Diese Erfindung der westreichischen Seefahrer ermöglicht
es, weit entfernte Dinge wie aus der Nähe zu betrachten, und das
ganz ohne Magie!«
»Ich will ohne Umschweife zum Thema kommen, Oras
Ban«, sagte Thondaril, und der Sprechstein auf seiner Brust
übersetzte seine Worte, während er dem Verwalter das Dokument des
Königs überreichte. »Aus dem Norden droht eine furchtbare Gefahr,
und wenn wir nicht schnell handeln, wird es keine Rettung mehr
geben.«
Oras Ban nahm das Dokument, brach das Siegel und
las dann aufmerksam, wobei sich eine tiefe Furche auf seiner Stirn
bildete. Gorian fiel auf, dass er trotz der unverkennbaren Zeichen
des Alters keineswegs gebrechlich wirkte. Seine Bewegungen waren
die eines Jahrzehnte jüngeren Mannes, während sein Gesicht das
eines hochbetagten Greises war, der die Grenze der menschlichen
Lebensspanne bereits erreicht hatte.
»Ich will nicht behaupten, dass mir gefällt, was
hier steht«, erklärte er und gab Thondaril das Dokument zurück.
»Ihr seid ein bekannter Mann, und wenn der König Euch vertraut, so
habe ich keinen Anlass, dies nicht zu tun. Und dennoch sträubt sich
alles in mir, einem Fremden Zugriff auf jene wertvollen Dokumente
zu gewähren, die der kostbarste Schatz unseres Reiches sind.«
In diesem Augenblick erfüllte ein schrilles
Geschrei die Luft.
Die Sonne war soeben gänzlich versunken, doch im
fahlen Mondlicht war der dunkle Umriss eines Greifen zu sehen,
der über die schneebedeckten Gipfel flog und es offenbar sehr
eilig hatte.
»Ein Greif ohne Reiter?«, wunderte sich Torbas.
»Muss eines der letzten wildlebenden Exemplare sein.«
Auf einmal schossen aus einem der dunklen Schlünde
zwischen den Felsmassiven erst Dutzende, dann Hunderte von
Fledermenschen, dabei sehr hohe Töne ausstoßend, die sogar noch bis
zu der kleinen Gruppe auf dem Turm Felsenburgs drangen.
Im nächsten Moment trafen mehrere Speere mit
Obsidian-Spitzen den löwenartigen Körper des Greifen. Das Tier
hackte mit seinem gewaltigen Schnabel nach den Angreifern,
flatterte hastig mit den Flügeln, schlug mit allen vier Tatzen wie
von Sinnen um sich und taumelte durch die Luft. Seine spitzen
Krallen erwischten ein paar der Fledermenschen, die tödlich
verwundet in die Tiefe trudelten.
Dann aber stürzte sich eine ganze Traube von
Fledermenschen ohne Rücksicht auf eigene Verluste auf den
Wildgreifen, und weitere Speere stießen in den Leib der riesigen
Kreatur oder rissen die Flügel des Greifen auf. Mit
durchdringendem, von den Berghängen widerhallendem Gebrüll stürzte
der Greif mitsamt seinen Angreifern in eine der vielen Schluchten,
wo sein Schrei verklang.
»Sie sind zahlreicher geworden und trauen sich
immer häufiger aus ihren Erdspalten«, sagte Oras Ban in düsterem
Tonfall. »Früher hätten sie sich so kurz nach Sonnenuntergang und
bei derart hellem Mondschein nicht hervorgewagt. Inzwischen zeigen
sie sogar kaum noch Angst vor dem Licht.«
»Worauf führt Ihr diese Veränderung zurück?«,
fragte Gorian.
Oras Ban horchte auf, denn Gorian hatte
Gryphländisch
gesprochen, dann antwortete er: »Weil sie immer zahlreicher
werden, ist ihre Nahrung knapp geworden, das wird es sein. Eines
Tages werden unsere Flammensäulen sie nicht mehr daran hindern,
auch Felsenburg heimzusuchen.«
Da geschah es – eine Gedankenbotschaft erreichte
Gorian, auch wenn sie sehr schwach war: »Ar-Don … braucht Hilfe
… gefangen …!«
»Wo bist du?«, fragte Gorian in
Gedanken.
»Dunkel … alles dunkel … Ar-Don umgibt
Finsternis … Ah, die Qual …«
»Ist Eurem jungen Begleiter nicht gut?«
Gorian blickte auf und sah das Stirnrunzeln auf
Oras Bans Gesicht.
Seine Augen waren nicht schwarz geworden, das hätte
Gorian gemerkt. Er hätte die entsprechende magische Anspannung
gespürt.
»Er sieht ganz blass aus«, fuhr Oras Ban fort, dann
wandte er sich an Thondaril: »Nun, ich nehme an, dass sich auch die
anderen Mitglieder Eurer Gruppe zunächst einmal von den
Reisestrapazen erholen sollten.«
»Eine Reise in einer komfortablen Greifengondel
sehe ich keineswegs als besondere Strapaze an«, lehnte der
Ordensmeister das Angebot ab. »Wenn nichts dagegen spricht, soll
man uns gleich zum Aufbewahrungsort der Caladran-Werke führen,
damit wir daraus eine Schrift aussuchen, die sich als
Versöhnungsgeschenk eignet. Das Dokument des Königs gibt mir das
Recht dazu.«
Die Augen des Königlichen Verwalters wurden schmal.
Es war unverkennbar, dass ihm Thondarils befehlender Tonfall nicht
gefiel.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren, ehrenwerter Oras
Ban«, drängte Thondaril – und Gorian konnte sich nicht erinnern,
den zweifachen Ordensmeister schon einmal so ungeduldig erlebt zu
haben. »Die Lage ist verzweifelt. Selbst bei allergrößter Eile
besteht die Gefahr, dass wir das Bündnis mit den Caladran zu spät
schmieden, weil sich Morygors Frostreich inzwischen bis an die
Südküste Ost-Erdenrunds ausgebreitet hat und der Schattenbringer
das Sonnenlicht vollkommen verschlingt.«
»Ich schlage vor, Ihr bezieht zunächst einmal Eure
Quartiere«, antwortete Oras Ban verstimmt. »Ihr, Meister Thondaril,
und Euer gesamtes Gefolge seid meine Gäste, und es soll Euch an
nichts fehlen. Was Euer Anliegen betrifft, so werde ich darüber
beraten.«
»Beraten?«, fragte Thondaril verständnislos. »Ich
habe hier ein von Demris Gon gesiegeltes Dokument! Der Befehl des
Königs ist unmissverständlich! Wollt Ihr etwa den Willen Eures
Herrschers missachten?«
»Keinesfalls, Meister Thondaril«, erwiderte Oras
Ban dünnlippig. »Aber Ihr müsst Verständnis dafür haben, dass ich
zunächst mit dem Bibliothekar sprechen möchte. Ich versichere Euch,
Euch nicht zu lange warten zu lassen.«
Nach diesen Worten kommandierte er Hauptmann Bram
Segg dazu ab, den Gästen ihre Quartiere zu zeigen.
Es waren einfache Wohnhöhlen, die in mancherlei
Hinsicht den Zellen in der Ordensburg ähnelten. Aber das lag nicht
daran, dass man den Gästen die Möglichkeit zur geistigen Versenkung
und Sammlung der inneren Kräfte geben wollte, sondern war aus rein
baulichen und architektonischen Gründen so, schließlich hatte man
all diese Räume in den Fels schlagen müssen.
Damit dennoch Tageslicht in die Kammern drang, gab
es ein ausgeklügeltes System von schmalen Schächten und
Spiegeln. Auf diese Weise fiel am Tage Licht durch Deckenöffnungen
in die sehr einfach eingerichteten Räume und wurde von
fluoreszierenden Steinen aufgenommen, die es in der Nacht wieder
abgaben. Wollte man sich zur Ruhe legen, konnte man den
fluoreszierenden Stein mit einem blickdichten Tuch abdecken, das
dafür bereitlag.
Gorian und Torbas mussten sich einen der wenigen
größeren Räume teilen, alle anderen bekamen Einzelquartiere
zugewiesen. Gorian war das nur recht. Vielleicht konnten die
Gespräche, die sie unweigerlich führen würden, eine Brücke zwischen
ihnen spannen, damit sie jene unsichtbare Kluft überschreiten
konnten, die sie beide seit ihrer Rückkehr aus dem Frostreich
trennte.
»Ich habe eine Botschaft von Ar-Don empfangen«,
berichtete er seinem Gefährten, als sie schließlich allein in ihrem
Quartier waren. »Er braucht Hilfe. Ich weiß, dass er irgendwo
gefangen gehalten und schrecklich gequält wird.«
»Dann wird ihn Morygor wieder in seine Gewalt
gebracht haben«, war Torbas überzeugt.
»Das befürchtete auch Thondaril schon.«
»Aber du bist anderer Ansicht?«
Gorian zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir
eigentlich sicher, dass er hier ganz in der Nähe ist.«
Torbas runzelte die Stirn, dann wechselte er
scheinbar das Thema. »Ich fürchte, dass wir uns länger als geplant
auf Felsenburg aufhalten werden. Der Verwalter ist offenbar nicht
gewillt, sich so ohne Weiteres Thondarils Autorität zu beugen. Das
Dokument König Demris Gons scheint ihn mehr zu verärgern denn
gefügig zu machen.« Er ließ sich auf die schmale Pritsche nieder.
»Ich fürchte also, du wirst Zeit genug haben, herauszufinden, ob
dein Verdacht bezüglich des Gargoyles stimmt.«
Gorian nickte und sah Torbas geradewegs an, der
seinem Blick bisher ausgewichen war. »Ich brauche vielleicht deine
Hilfe.«
Torbas verzog den Mund, und Gorian fragte sich, wie
er diesen Gesichtsausdruck deuten sollte. War das Spott?
Verbitterung? Vielleicht von beidem etwas und dazu noch ein paar
weitere Nuancen, die Gorian ebenso wenig gefielen.
»Hilfe? Du?«, fragte Torbas schließlich. »Welche
Art von Hilfe könnte jemand mit deinen außerordentlichen
Fähigkeiten denn benötigen?«
»Ich meine es sehr ernst, Torbas.«
Torbas schmälerte die Augen. »Ich ebenfalls,
Gorian. Aber du redest so, als würdest du daran zweifeln, dich
weiterhin auf mich verlassen zu können. Wenn dein Plan nicht bar
jeder Vernunft ist, werde ich dir helfen. Und wahrscheinlich selbst
dann, wenn dein Vorhaben vollkommen verrückt sein sollte.«
»Gut zu wissen«, murmelte Gorian.
Im nächsten Moment gesellte sich Sheera zu ihnen.
Sie bewohnte eine Wohnhöhle am Ende des Gangs. »Meister Thondaril
möchte, dass ihr zwei euch bereit macht.«
»Bereit? Wofür?«, fragte Torbas erstaunt.
»Oras Ban gibt ein Bankett zu unseren Ehren«,
erklärte Sheera. »Und danach, so hat er Meister Thondaril
ausrichten lassen, wird man uns in die Bibliothek führen.«
»Hast du inzwischen eine Ahnung, wer dieser
geheimnisvolle Bibliothekar sein könnte, den Oras Ban erwähnte, und
was er hier zu sagen hat?«, fragte Gorian.
Sheera schüttelte den Kopf. »Nein, und ich bin
überzeugt, dass nicht einmal Thondaril dies weiß. Aber vielleicht
lernen wir ihn auf dem Bankett kennen.«
Hauptmann Bram Segg führte Gorian, Sheera und
Torbas durch eine Vielzahl von Gängen und über mehrere Treppen auf
den Burghof und von dort in den hoch aufragenden Palas von
Felsenburg, in dem sie nochmals mehr als hundert Stufen
emporsteigen mussten.
Schließlich traten sie in einen großen Saal, dessen
hohe Fenster voll verglast waren und durch die sie den flackernden
Schein sahen, den die Leuchtfeuer von Felsenburg hinaus in die
Nacht sandten und der beinahe bis zu den Felsen des nahen Gebirges
reichte und sich dann mit dem fahlen Licht des Mondes
mischte.
Der Bankettraum hingegen wurde nur von ein paar
Kerzenständern auf den Tischen spärlich beleuchtet. Offenbar wollte
man dadurch verhindern, dass sich die Gäste ständig in den nach
Westreicher Standard verglasten Fenstern spiegelten und kein Blick
ins Freie möglich war.
Tatsächlich standen die meisten Anwesenden auch vor
den Fenstern, darunter Thondaril und Centros Bal. Der Kommandant
der Burgwache erklärte gerade, dass man in den letzten Tagen
erstmals größere Gruppe von Fledermenschen beobachtet hatte, die
sich zu Schwärmen zusammengeschlossen hatten und davongeflogen
waren. »Immer zahlreicher wagen sie sich aus ihren Spalten. Aber
das wirklich Verwunderliche ist, dass sie nicht mehr
zurückkehren.«
»In welche Richtung sind sie verschwunden?«, wollte
Thondaril wissen.
»Sie flogen über die Berge«, antwortete ihm der
Kommandant, ein Mann mit rot durchsetztem Haar, was in Gryphland
durchaus keine Seltenheit war, »und ein paar Greifenreiter sahen
sie anschließend über den südöstlichen Teil der Aschewüste ziehen,
auf die Grenze nach Melagosien zu.«
»Heißt das, sie flogen auch am Tage?«, fragte
Thondaril erstaunt.
»So ist es«, bestätigte der rothaarige Kommandant.
»Und das, obwohl sie normalerweise nichts so sehr fürchten wie das
Licht. Aber im Grenzland gibt es kleinere Waldgebiete, und
angeblich kauerten dort Tausende von Fledermenschen in den
besonders hellen Mittagsstunden im Schatten der Bäume. Allerdings
fand man auch einige von ihnen tot auf dem Weg dorthin. Offenbar
war es das Sonnenlicht, das sie verenden ließ.«
»Was kann es sein, das ihnen dermaßen wichtig ist,
dass sie darüber jeden Sinn für Gefahr verlieren?«, fragte sich
Thondaril.
»Man könnte fast meinen, dass sie vor irgendetwas
flüchten.«
Auf einmal spürte Gorian erneut Ar-Dons
verzweifelte Gedanken – wobei der Begriff Gedanke kaum noch
auf die chaotische Flut von Worten, Bildern und Empfindungen
zutraf. Keine einzige auch nur annähernd klare Botschaft ließ sich
darin erkennen. Für einen Moment sah Gorian den Mond vor seinem
inneren Auge – und davor einen Schwarm von Fledermenschen, die sich
als dunkle Schatten gegen das fahle Licht des Nachtgestirns
abhoben.
Die Szenerie glich exakt dem, was durch die Fenster
des Bankettraums zu beobachten war. Allerdings war der Blickwinkel
ein anderer. Es war, als ob jemand aus der Tiefe einer Schlucht
heraus in den Nachthimmel blickte. Konnte das sein? Befand sich
Ar-Don in einem dieser finsteren Gräben zwischen den
Felsmassiven?
Gorian lauschte mit seinen magischen Sinnen
aufmerksam in sich hinein, achtete auf jeden fremden Gedanken, auf
jede Empfindung, die ihm eigenartig vorkam. Aber da
war nichts, was ihm Antworten auf seine Fragen gegeben
hätte.
Aber einer solchen bedurfte es auch gar nicht.
Ar-Don befand sich ganz in der Nähe, irgendwo in den Schluchten am
Nordrand des mittelgryphländischen Bergrückens, und Gorians
Entschluss stand in diesem Augenblick unumstößlich fest.
Ich werde dir helfen – Freund!
Auf welche Weise, davon hatte er allerdings noch
nicht einmal eine vage Vorstellung.
Oras Ban betrat als Letzter den Bankettraum, dann
wurde zu Tisch gebeten. Thondaril wurde ein Stuhl unmittelbar neben
dem Königlichen Verwalter zugewiesen, und auch Gorian, Torbas und
Sheera wurden ganz in seiner Nähe platziert. Centros Bal und Fentos
Roon hingegen mussten sich deutlich entfernt von Oras Ban
niederlassen, was wohl darin begründet lag, dass er den
Greifenreitern keine wirkliche Bedeutung zumaß.
Diener in bunter Livree trugen die Speisen auf,
Mägde in schwingenden Kleidern und mit kunstvoll aufgestecktem Haar
schenkten die Getränke ein.
Gorian musste zugestehen, dass sich die Gastgeber
alle Mühe gaben, es ihnen an nichts fehlen zu lassen. Es gab viel
Fleisch, und auf Gorians Nachfrage hin, um welche Tierart es sich
dabei handelte, antwortete ihm der Verwalter: »Wüstenvögel. Es gibt
sie zu Tausenden.« Er wandte sich an Thondaril. »Den Angehörigen
Eures Ordens sagt man nach, dass sie aufgrund magischer Hilfsmittel
stets gut informiert sind …«
»Das kann man mit Fug und Recht behaupten«, gab
Thondaril zu.
Oras Bans Tonfall wurde sehr ernst, sein Blick
fixierte den Gast geradezu. »Wo steht der Feind?«
»Über das Handlichtlesen stehe ich ständig mit
anderen Ordensmeistern in Verbindung«, erklärte Thondaril. »Möchtet
Ihr sehen, wie die Lage ist?«
»Nun, wenn Ihr das möglich machen könntet …«
»Nichts leichter als das. Und ich denke zudem, eine
solche Demonstration wäre für jeden hier im Raum
interessant.«
Thondaril erhob sich, und plötzlich waren alle
Augen auf ihn gerichtet. Er legte die Handflächen mit den
Handkanten gegeneinander, sodass sie an ein aufgeschlagenes Buch
erinnerten, und murmelte ein paar Worte in alt-nemorischer Sprache.
Ein Lichtschimmer bildete sich in seinen Handflächen und wurde
größer und heller. Thondaril ließ ihn ein Stück emporschweben, und
es hatte den Eindruck, als würde er ihn allein mit seinem Blick
kontrollieren.
Dann machte er eine Bewegung mit den Händen,
woraufhin eine Lichtsphäre entstand, die so groß war wie eines der
Gemälde, die einst in der Kathedrale von Toque zu finden gewesen
waren, bevor der Feind dieses außergewöhnliche Bauwerk
zerstörte.
»Diese Bilder, die ich Euch jetzt zeige«, sprach
der zweifache Meister, »habe ich kurz vor unserer Ankunft von
meinen Ordensbrüdern in Garilanien empfangen. Sie werden Euch die
Dringlichkeit der Lage verdeutlichen.«
In der Lichtsphäre waren Gebiete mit fruchtbaren
Feldern zu sehen. Dann tauchte am Horizont eine graue Wand auf, die
zunächst wie eine Nebelbank wirkte. In Wahrheit aber war es eine
Gletscherfront, die haushoch über das Land walzte und alles unter
sich begrub, mit einer Fließgeschwindigkeit, die an Harz oder Sirup
erinnerte.
»Dies sind die Tiefebenen von Garilanien«, erklärte
Thondaril. »Dass Ihr dort keinen einzigen Bewohner mehr seht,
liegt daran, dass jeder, der noch dazu in der Lage war, längst
geflohen ist, nachdem sich herumsprach, wie die Kathedrale von
Toque unterging.«
Er zeigte auch Bilder von diesem Ereignis, denn er
ging wohl davon aus, dass es auf seine Gastgeber weit größeren
Eindruck machte, wenn sie sahen, wie eines der bekanntesten und
größten Bauwerke des gesamten Heiligen Reichs zerstört wurde, als
wenn in einem fernen Herzogtum nur ein paar Bauern ihre Felder
verloren.
»Garilanien ist weit«, sagte Oras Ban. »Und Toque
…« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein Ort, den hier
niemand je gesehen hat.«
»Alles, was jenseits der schwarzen Steinwüste
und der mitulischen Grenze liegt, scheint für ihn weit weg zu
sein«, erreichte Gorian ein Gedanke Sheeras.
»Kein Wunder, wenn er hier nie
wegkommt.«
»Du denkst an Ar-Don …«
»Nicht jetzt!«
Gorian brach die gedankliche Verbindung zu ihr ab.
Dass sie so leicht erkannt hatte, was ihn im Moment so brennend
beschäftigte, gefiel ihm nicht. Es war nicht so, dass er sie von
seinen Überlegungen ausschließen wollte, aber er musste sich
zunächst selbst darüber klar werden, was zu tun war. Davon
abgesehen befürchtete er auch, dass sie versuchen würde, ihn von
seinem Plan abzubringen, der gerade erst in seinen Hirnwindungen
Gestalt anzunehmen begann.
Thondaril erklärte den Bankettgästen weiterhin die
verzweifelte Lage, in der sich das Heilige Reich befand, und welche
Gefahr in Kürze auch Mitulien und Gryphland drohte, denn es gab
keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Expansion von Morygors
Frostreich auch nur zeitweilig zum Stillstand gekommen war. »Es ist
bedauerlich, dass der
Bibliothekar nicht ebenfalls anwesend ist, damit auch er sich ein
Bild von der drohenden Katastrophe machen kann«, sagte er
schließlich an den Königlichen Verwalter von Felsenburg gerichtet.
»Es wäre gewiss auch für ihn sehr lehrreich.«
»Daran zweifle ich nicht«, antwortete Oras Ban.
»Aber er ist nun einmal nicht sehr gesellig. Genau genommen
verabscheut er gemeine Gesellschaft und vergräbt sich lieber in
seinen Bibliothekshöhlen.«
Und Hauptmann Bram Segg ergänzte: »Ich schätze, in
den letzten Jahren hat er nicht einmal das Tageslicht zu Gesicht
bekommen.«
»Und so glaubt Ihr, dass es ihm auch nichts
ausmacht, wenn die Sonne demnächst vollständig vom Schattenbringer
verdeckt wird, meint Ihr das, Hauptmann?«, sagte Meister Thondaril
mit galligem Unterton. »Dann richtet ihm aus, dass er sich falsche
Vorstellungen macht. Der Felsenturm und diese Burg werden der Macht
der Kälte kaum länger standhalten als ein gewöhnlicher Grashalm auf
den Feldern von Garilanien. Und auch wenn die Gletscher in dieser
Gegend schwächer sein sollten, weil es hier kaum Wasser gibt, das
gefrieren kann, so werden die Leviathane kommen und alles
niederwalzen. Wenn wir die Caladran nicht günstig stimmen, sodass
sie ihre Magie in unsere Dienste stellen, werden wir alle
sterben.«
Thondaril deutete in Richtung der Fenster.
Inzwischen hatten die Diener ein paar mehr Leuchter entzündet,
sodass auf dem Glas die Spiegelbilder der Versammelten zu sehen
waren, aber die Fledermenschen, die über den Bergen kreisten, waren
im hellen Mondlicht dennoch deutlich zu erkennen. »Wer weiß,
vielleicht haben jene so unruhig durch die Nacht schwirrenden
Geschöpfe schon längst erkannt, was
hier bevorsteht. Vielleicht sind sie deshalb auf der Flucht über
die Berge, und sie schreckt nicht einmal die Trostlosigkeit der
Aschewüste und das Licht des Tages!«
Thondaril verstummte, und tiefes Schweigen machte
sich im Bankettsaal breit, sodass trotz der großen Entfernung das
Rascheln der Tausenden von Fledermenschenflügel und die schrillen
Rufe der unheimlichen Wesen zu hören waren. Es wirkte wie ein
mahnender Chor, und Gorian konnte den Anwesenden durchaus ansehen,
dass sie beeindruckt waren.
Nur für Oras Ban schien das nicht zu gelten. Seine
Züge wirkten starr und kalt, als er wieder das Wort ergriff.
»Obgleich Ihr bereits zweifacher Meister seid, scheint Euch die
Ungeduld der Jugend nicht verlassen zu haben, werter Thondaril.
Doch man sagt, in der Ruhe liege die Kraft. Will man das Richtige
tun, muss man sich die Zeit nehmen, seine Entscheidungen zu
bedenken, und darf sich nicht wie Ihr von der Furcht treiben
lassen.«
»Es ist nicht die Furcht, die mich treibt, sondern
die Sorge«, widersprach der Ordensmeister in deutlich verhaltenem
Tonfall, denn er hatte begriffen, dass er den Königlichen Verwalter
durch ungestüme Forderungen nicht auf seine Seite ziehen konnte.
»Hierher wird sich kein Flüchtling verirren, weil zwischen
Felsenburg und der mitulischen Grenze die verbrannte Einöde liegt.
Aber Petaa quillt bereits vor Menschen über, dass die Stadtmauern
zu bersten drohen, und unzählige Flüchtlinge verstopfen die Straßen
und Wege in den südlichen Herzogtümern des Heiligen Reichs.« Er
ließ in der Sphäre ein paar Bilder davon erscheinen, die ihm von
anderen des Handlichtlesens mächtigen Ordensmeistern gesandt worden
waren.
Doch während alle anderen im Raum gebannt darauf
starrten, warf Oras Ban nicht einmal einen Blick dorthin, sondern
sagte unbeeindruckt von dem geballten menschlichen Leid, das
Thondaril der Versammlung vorführte: »Unsere Abgeschiedenheit ist
in diesem Fall unser Privileg.«
Thondaril ließ die Lichtsphäre verschwinden, wobei
seine Augen für einen Moment ganz schwarz wurden. Für Gorian ein
Zeichen, dass er sich sehr angestrengt hatte und sich nun durch
Magie wieder Kräfte zuführte.
Doch es war sicherlich nicht das Erzeugen und
Aufrechterhalten der Sphäre, das ihn so mitgenommen hatte, sondern
die Erkenntnis, wie wenig sein Gegenüber das weitere Schicksal ganz
Ost-Erdenrunds kümmerte.
Der Verwalter Felsenburgs hatte für seine Gäste
ein wahres Festmahl auftischen lassen, doch der Appetit war
Thondaril gründlich vergangen. Gorian aber fiel auf, dass auch Oras
Ban keinen einzigen Bissen zu sich nahm. Besteck und Geschirr, die
an seinem Platz standen, blieben bis zum Schluss unberührt.
Schließlich brachte einer der Diener ein Glas mit
einer bläulich schimmernden Flüssigkeit, das Oras Ban in einem Zug
leerte.
»Ein interessantes Getränk, dass Ihr da zu Euch
nehmt«, äußerte Gorian, woraufhin ihm der Verwalter einen
unangenehm durchdringenden Blick zuwarf. In seiner Ausbildung zum
Heilmeister des Ordens stand Gorian zwar noch am Anfang, aber er
hatte bereits genug gelernt, um zu erkennen, dass dieses Gebräu
über ganz besondere Eigenschaften verfügte, die in dieser
Intensität nur wenige Heiltränke aufwiesen. Er spürte die
eigentümliche Magie, die von diesem Trank ausging, obwohl der
Verwalter das Glas längst geleert hatte.
»Dein Gespür für Magie trügt dich nicht«,
empfing er Sheeras Gedanken, die natürlich weit mehr von diesen
Dingen verstand.
Die Züge des Verwalters verzerrten sich zu einem
kalten Lächeln. »Für jeden anderen wäre dieser Trank pures Gift –
mich hält er am Leben. Solche Paradoxien sind ein wichtiger
Bestandteil jeder Existenz und nur scheinbar ein Widerspruch.« Sein
Blick wirkte auf einmal in sich gekehrt, und ein Ausdruck der Qual
legte sich auf sein Gesicht. Eine Qual, die Gorian sich nicht
erklären konnte.
In diesem Augenblick betrat ein Diener den Raum. Er
ging geradewegs zu Oras Ban und flüsterte diesem etwas ins
Ohr.
Daraufhin wandte sich der Königliche Verwalter
wieder an Meister Thondaril. »Der Bibliothekar würde Euch doch noch
heute Abend empfangen.«
Thondaril erhob sich sogleich, ungeachtet jeglicher
Etikette. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Lasst mich zu ihm
führen!«
Oras Ban gab dem Diener einen Wink. »Bring ihn in
das Bibliotheksgewölbe!«
Thondaril war leicht irritiert, als der Diener
zunächst keinerlei Anstalten machte, dem Befehl Folge zu leisten.
»Worauf wartest du?«, fragte er, und sein Sprechstein übersetzte
die Worte.
»Verzeiht, Meister, aber der Bibliothekar legt Wert
auf die Anwesenheit der drei Schüler, die Euch begleiten.«
Gorian fragte sich, woher der Bibliothekar von
ihnen wusste. Nun, vielleicht hatte er sich über Thondaril und sein
Gefolge genauer in Kenntnis setzen lassen, bevor er sich
entschieden hatte, den Ordensmeister zu empfangen.
Gorian, Torbas und Sheera standen ebenfalls auf,
verbeugten
sich artig vor dem Verwalter von Felsenburg und folgten
Thondaril.
Der Diener führte die Gruppe aus dem Bankettraum,
durch eine Tür, die ihnen vorher seltsamerweise nicht aufgefallen
war, als wäre sie zuvor von einem Illusionszauber verborgen
gewesen. Ein Druck mit der Hand auf eine bestimmte Stelle setzte
einen ausgeklügelten Mechanismus in Gang und öffnete sie.
In dem Gang dahinter erwartete sie ein Wachmann,
bis auf die Zähne bewaffnet und das Gesicht unter einer Maske aus
messingfarbenem Metall verborgen, das aber offenbar seine Züge auf
einzigartige Art nachformte. Gorian hatte noch keinen Schmied etwas
Vergleichbares herstellen sehen, selbst seinen Vater nicht, der ja
auch ein Meister der Schmiedekunst gewesen war und sich sogar
getraut hatte, magisch aufgeladenes Sternenmetall zu
verarbeiten.
Der Maskierte trug zudem einen Harnisch aus dem
gleichen Metall, und aus dem bestand auch die Fibel, die seinen
Umhang hielt. In den Scheiden seines Waffengehänges steckten ein
Schwert mit relativ kurzer und sehr breiter Klinge und ein
gebogener Dolch, und in der rechten Hand hielt er eine Öllampe, von
der ein eigenartiger Geruch ausging.
»Caladran-Öl!«, empfing Gorian einen
Gedanken Sheeras; sie war sich dessen absolut sicher.
Caladran-Öl wurden alle möglichen wundersamen
Eigenschaften zugeschrieben, darunter auch Heilwirkungen. Niemand
wusste, woraus genau es sich zusammensetzte, geschweige denn, wie
es hergestellt wurde. Bisweilen, wenn sie die Häfen des Heiligen
Reichs aufsuchten, tauschten die Caladran dieses begehrte Gut gegen
andere kostbare Waren, dennoch war Caladran-Öl in ganz
Ost-Erdenrund so selten
und wertvoll, dass es kaum vorstellbar war, dass es jemand in
einer Öllampe einfach abbrennen ließ.
Wortlos drehte sich der Maskierte um, um die Gruppe
zu führen. Ihm folgten zuerst der Diener, dann Thondaril und Torbas
und schließlich Gorian und Sheera. Die Tür schloss sich hinter
ihnen wie von Zauberhand.
In den Wänden des Korridors waren Spiegel
eingelassen, die dafür sorgten, dass das Licht der einen Öllampe in
der Hand des Maskierten ausreichte, den Gang vollständig zu
erhellen, denn ihr Schein wurde dutzendfach widergespiegelt.
Schließlich gelangten sie an eine enge
Wendeltreppe, die endlos in die Tiefe zu führen schien.
Eine eigenartige Aura schien alles zu erfüllen.
Eine Kraft, die vielleicht magischen Ursprungs war und größte
Ähnlichkeit hatte mit …
Morygors Aura!
Die Erkenntnis traf Gorian wie ein Schlag, und er
blieb stehen. Der Maskierte bemerkte es und sagte: »Es besteht kein
Anlass zur Furcht.«
Thondaril warf Gorian einen Blick zu, der diesem
sagte, dass auch der Meister der Magie und des Schwertes spürte,
was Gorian empfand. Torbas wirkte nur leicht verwirrt, und Gleiches
galt für Sheera, die zwar mit Sicherheit seinen heftigen Gedanken
mitbekommen hatte, ihn aber offenbar nicht zu deuten wusste.
Spürten sie denn nicht, was hier unten lauerte?
Waren ihre magischen Sinne so taub und unempfindlich, dass sie
nicht erkannten, welch gefährliche Macht sich hier
manifestierte?
Gorian fühlte sich wie gelähmt. Er dachte an den
Kampf am Speerstein und wie Morygors üble Aura die ganze Zeit
über auf seiner Seele gelastet hatte. Es war wohl doch kein
Zufall, dass er der Einzige gewesen war, der dieser Macht hatte
widerstehen und bis zum Speerstein hatte vordringen können.
Doch auch Thondaril spürte offenbar die unheimliche
Kraft, die an diesem Ort herrschte, doch sie ängstigte ihn
nicht.
»Es ist ähnlich, Gorian – aber nicht dasselbe«,
antwortete er auf Gorians unausgesprochene Frage.
»Aber wie kann das sein?«
»Es ist Caladran-Magie. Vielleicht ist sie in
manchen der Schriften so stark, dass sie bis hierher ausstrahlt,
ich weiß es nicht.«
Der Maskierte hüllte sich dazu in Schweigen,
während der Diener einen ähnlich irritierten Eindruck machte wie
Torbas und Sheera.
»Mir scheint, der Maskenmann redet nicht mit
jedem«, murmelte Torbas, doch sein Sprechstein schwieg, sodass
seine Worte nicht übersetzt wurden. Es war zwar Basilisken-Magie,
die den Steinen ihre Kräfte verlieh, doch die unterschied sich
nicht so sehr von der Magie des Ordens, dass sich ein Sprechstein
nicht mit den Gedankenbefehlen eines angehenden Schwertmeisters
beeinflussen ließ, und Torbas hatte wohl herausgefunden, wie er den
seinen kontrollieren konnte.
Der Maskierte und der Diener führten sie
schließlich an eine schwere Holztür. Dahinter befand sich ein
Gewölbe, dessen Wände bis zur Decke mit Regalen voller Bücher und
Schriftrollen bedeckt waren. Dicke Folianten reihten sich
nebeneinander, die Regale waren aus dem Holz des Trockenbaums
gefertigt. Der Sinn lag auf der Hand: Das Trockenbaumholz
entzog seiner Umgebung Feuchtigkeit und verhinderte, dass die
Schriften schimmelten.
An einem groben Holztisch mit einem brennenden
Kerzenleuchter saß eine hochgewachsene Gestalt in einer Kutte und
wirkte wie eine Verkörperung des Todes selbst. Das flackernde Licht
der Kerzen tanzte über den dunkelgrauen Stoff, aber der Bereich
unter der tief herabgezogenen Kapuze blieb im Schatten
verborgen.
Der Diener verneigte sich und sagte ein paar Worte
auf Gryphländisch, während der Maskierte wie eine Statue dastand.
Gorian erheischte endlich einen Blick auf seine Augen in den
schmalen Sehschlitzen der Metallmaske. Sie wirkten unnatürlich
starr.
Der Kuttenträger hob eine knorrige, bleiche Hand
und erklärte: »Ich habe Euch erwartet.«
Seine Worte wirkten auf Gorian arrogant, ja, fast
großspurig, aber immerhin sprach er akzentfreies Heiligreichisch
ohne einen klanglichen Hinweis darauf, in welchem der Herzogtümer
er diese Sprache erlernt haben mochte.
»Seid Ihr der Bibliothekar?«, fragte
Thondaril.
»Der bin ich.«
»Wie ist Euer Name?«
»Gehört Ihr nicht einem Orden an, dessen Gründer
seinen Namen einst als Zeichen der Bescheidenheit ablegte? Ich gebe
zu, ich hatte weniger edle Motive. Im Gegenteil, ich verlor meinen
Namen nicht einmal aus freien Stücken. Wie auch immer, ich trage
zurzeit keinen. Nennt mich also, wie immer es Euch beliebt.«
Thondaril machte einen Schritt nach vorn. Da
stöhnte der namenlose Bibliothekar plötzlich auf und fuhr sich mit
seiner klauenartigen Hand an den Kopf. Ein weiterer Laut folgte,
der wie ein nur mühsam unterdrückter Schmerzensruf klang.
»Ich bitte Euch, nicht weiterhin so rücksichtslos zu sein und
derart hart aufzutreten«, beschwerte er sich. »Ich habe Eure
Schritte schon gehört, lange bevor Ihr hierher herabgestiegen
seid.«
»Ihr scheint mir sehr empfindlich«, sagte
Thondaril.
»Empfindlichkeit ist die Kehrseite der
Feinsinnigkeit«, erwiderte der Namenlose.
Thondaril ging nicht weiter darauf ein. »Lasst mich
Euch erklären, weshalb wir hier sind.«
Doch der Namenlose winkte ab. »Das ist nicht nötig,
ich weiß es längst. Eure Stimmen waren so aufdringlich wie Eure
Gedanken. Sie dröhnten durch diese Mauern und hallten so stark
wider, dass es kaum zu ertragen war.« Mit diesen Worten klappte er
den ledergebundenen Folianten zu, der zuvor aufgeschlagen vor ihm
auf dem Tisch gelegen hatte.
Gorian hatte einen kurzen Blick darauf werfen und
immerhin erkennen können, dass es Elbenrunen waren, mit denen die
Seiten fein säuberlich und mit filigraner Handschrift beschrieben
waren. Es handelte sich also um kein Buch, das mit einer
Druckpresse hundertfach vervielfältigt worden war, sondern um ein
wertvolles Einzelstück, selbst dann noch, wenn es sich um eine
Kopie handelte, denn ein einzelner Schreiber hatte daran vermutlich
mehrere Jahre gearbeitet.
Der Namenlose erhob sich, nahm den Folianten, ging
zu einem Regal in der Nähe und schob ihn in eine Lücke zwischen den
anderen wertvollen Büchern, die in diesem Gewölbe aufbewahrt
wurden.
»Ich bin im Besitz eines Dokuments, das mich
ermächtigt, mir jede Schrift aushändigen zu lassen, die ich aus
Eurer Bibliothek erwähle«, erklärte Thondaril mit spürbarer
Ungeduld. Er holte das Dokument hervor und reichte es dem
Namenlosen.
Dieser aber machte keine Anstalten, es
entgegenzunehmen, sondern fragte nur: »Was soll ich damit?«
»Dieses Schriftstück verpflichtet Euch ebenso wie
den Königlichen Verwalter von Felsenburg, unseren Forderungen Folge
zu leisten.«
»Ich fühle mich an derartige Verpflichtungen nicht
gebunden. Insofern hat dieses Schriftstück für mich keine
Bedeutung.«
Thondaril lag eine scharfe Entgegnung auf der
Zunge, aber der Namenlose hob die Hand und bedeutete ihm zu
schweigen.
»Ich weiß, was Ihr sagen wollt. Und ich weiß, was
Euer Plan ist. Ihr wollt zu den Inseln der Caladran und sie mit
einem Geschenk aus dieser Bibliothek als Bündnispartner gegen
Morygor gewinnen.«
»Und was ist dagegen einzuwenden?«
»Nichts – außer dass Ihr Euch vielleicht falsche
Vorstellungen von den Caladran macht.«
»Das lasst getrost meine Sorge sein!«
»Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt sie damit dazu
bewegen, ihren Hass und ihre Verachtung aufzugeben? Die Caladran
sind nachtragend und selbstsüchtig. Sie interessieren sich einzig
und allein für ihre eigenen Interessen und für sonst gar nichts.
Was mit dem Rest Erdenrunds geschieht, ist ihnen so gleichgültig
wie nur irgendetwas.«
»Ihr sprecht über Euer eigenes Volk, nicht wahr?«,
mischte sich Gorian ein, und er sagte es mit ruhiger, klarer
Stimme.
Für einige Augenblicke herrschte tiefes Schweigen.
Der Namenlose starrte Gorian an, und der junge Ordensschüler
spürte, wie eine fremde Kraft seinen Geist zu durchforschen
versuchte.
Dann trat der Namenlose auf Gorian zu, dessen Augen
schwarz wurden, denn er musste sich aufs Höchste konzentrieren, um
dem geistigen Einfluss seines Gegenübers standzuhalten. »Was
geschieht, geschieht«, sagte der Bibliothekar. »Ich habe die
Hoffnungen, die Linien des Schicksals nachhaltig beeinflussen zu
können, vor langer Zeit aufgegeben.«
»In Bälde wird auch dieser Ort ein Teil des
Frostreichs werden«, hielt Gorian dagegen. »Kümmert Euch das auch
nicht? Wollt Ihr ohne Gegenwehr untergehen?«
»Du bist jung, und deine Natur als Mensch verwehrt
es dir, wirklich alt und weise zu werden. So wird dir die Gnade
vollkommener Gleichgültigkeit kaum je zuteilwerden.«
Zu Thondarils Überraschung und der seiner
Mitschüler sagte Gorian, ohne dass sich dabei seine Stimmlage
veränderte: »Ihr seid jener Caladran, den man den Namenlosen
Renegaten nennt. Ich spüre Eure Magie, Eure Aura, die der Morygors
so sehr ähnelt. Und es ist nicht der innere Frieden, den Ihr
gefunden habt. Nein, das Mitgefühl, das Euch zum Ausgestoßenen
machte, erstarb in all den Jahren. Nicht einmal Euer eigenes
Schicksal kümmert Euch noch.«
»Das liegt daran, dass ich die Vergänglichkeit
allen Seins und die Vergeblichkeit aller Taten erkannte, junger
Freund«, erwiderte der Namenlose und schlug die Kapuze seiner Kutte
zurück. Tatsächlich kam darunter der Kopf eines Caladran zum
Vorschein. Die Haut war bleich, fast wie bei einem Toten, und zwei
spitze Ohren stachen durch das schlohweiße Haar. Er hob eine Hand,
in der ein grelles Licht entflammte. Es wurde bläulich und beschien
Gorians Gesicht. »So viel Kraft bei einem, der kein Abkömmling der
Caladran ist. Das ist ungewöhnlich.«
Wieder hatte Gorian das Gefühl, dass ein fremder
Geist seine Seele zu erforschen versuchte, und diesmal konnte er
nichts dagegen ausrichten.
Thondaril wollte eingreifen, doch als er sich in
Bewegung setzte, richtete der Namenlose die freie Hand in seine
Richtung, und der Meister der Magie und des Schwertes
erstarrte.
Dann verlosch das bläuliche Licht.
Der Namenlose senkte die Arme. »Ich weiß jetzt
vieles, was mir bisher verborgen war. Und ich werde dieses Wissen
in meine Entscheidungen mit einbeziehen.«
»Entscheidungen?«, ereiferte sich Thondaril, der
wieder Herr seiner selbst war. Seine ebenfalls schwarz gewordenen
Augen zeigten an, dass er seine magischen Kräfte konzentrierte, um
gegen weitere Beeinflussungsversuche des Namenlosen gewappnet zu
sein. »Was gibt es da noch zu entscheiden?«
»Ihr seid ein Mensch«, entgegnete der Namenlose mit
leiser, ruhiger Stimme. »Die Caladran nennen euch ›Söhne des
Todes‹, denn der Tod hält euch in seinen Klauen, noch bevor ihr
euch eurer selbst bewusst werdet. Daher rührt auch eure Ungeduld.
Aber ich habe nicht die Absicht, mich davon zu vorschnellen
Entschlüssen treiben zu lassen, sondern werde die wichtigen
Entscheidungen, die anstehen, mit Bedacht treffen.«
»Von welchen Entscheidungen sprecht Ihr?«, mischte
sich Gorian wieder ein.
Der Namenlose wandte fast provozierend langsam den
Kopf. Gorian fiel auf, dass seine Augen nicht goldfarben waren, wie
es bei den meisten Caladran der Fall war, sondern dunkel, fast
schwarz. Ein hintergründiges Lächeln spielte um seinen dünnlippigen
Mund.
»Der Schüler stellt die richtigen Fragen, ganz so,
wie es sein sollte«, murmelte er. »So höre denn die Antwort: Ich
werde sehen, welche Wege und Wahrscheinlichkeiten in der
Zukunft mit deinem Namen verknüpft sind und ob die Möglichkeit
besteht, dass du der Stein sein könntest, der ins Auge des Riesen
trifft und ihn zu Fall bringt.«
»Morygor befürchtet dies.«
»Die Befürchtungen eines anderen sind für mich kein
Maßstab. Morygor hat selbst so viel Furcht verbreitet, dass sie
manchmal auf ihn zurückschlägt, so wie eine Schlange ihr eigenes
Gift einnimmt, wenn sie ihre Beute verschlingt.«
»Gesetzt den Fall, Ihr kommt zu dem Schluss, dass
der Kampf gegen Morygor nicht von vornherein aussichtslos ist, seid
Ihr dann bereit, uns zu helfen?«
»Dann werde ich sehen, was zu tun ist.«
Noch etwas war Gorian aufgefallen: »Ihr sprecht von
den Caladran wie von einem Euch fremden Volk.«
»Sie wurden mir fremd, obwohl ich einer der ihren
war, denn sie haben mich verstoßen. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen
und empfinde nichts mehr für sie als pure Verachtung.«
»Ist es das, was Euch daran hindert, das Notwendige
zu tun?«, frage Gorian.
Ein Ruck ging durch die Gestalt des Namenlosen. Er
stand da, blickte Gorian auf eine Weise an, die vieles zugleich
ausdrückte: Hass mischte sich mit Abscheu und dem offensichtlichen
Erschrecken darüber, dass dieser sterbliche Jüngling ihn weit mehr
durchschaute, als ihm lieb sein konnte. Seine Nasenflügel bebten,
als er entgegnete: »Du einfältiger Sohn des Todes glaubst
vielleicht, dass du einfach nur ein paar der Caladran-Schriften zu
ihren Inseln bringen musst, um ihr Wohlwollen zu gewinnen! Aber da
bist du im Irrtum. Die Frage, welche dieser Schriften man ihnen
übergibt, ist ebenso sorgfältig zu erwägen wie die, ob dieses
Unterfangen überhaupt sinnvoll ist. Sonst wirst du keinen Frieden
stiften, sondern nur neue Gegnerschaft!«
Der Namenlose machte eine weit ausholende Geste mit
beiden Armen, wobei ein bläulicher Schein Schultern und Arme bis zu
den Ellbogen umflorte.
»Geht!«, rief er, und seine Worte dröhnten Gorian
gleichzeitig als Gedankenstimme im Kopf, sodass er sie zweifach
hörte, in der Sprache Gryphlands und in dem geheimnisvoll
klingenden Idiom der Caladran. »Geht und verschont mich mit Eurem
Geschwätz, das so flüchtig ist wie Eure gesamte Existenz, und
wartet ab, bis ich Euch rufen lasse und meine Entscheidung
verkünde!«
»Wie lange wird das dauern?«, verlangte Gorian zu
wissen.
Aber die Antwort bestand nur darin, dass sich die
Augen des Namenlosen mit einem grellen Licht füllten, das zunächst
bläulich schimmerte, dann aber weiß und so hell wurde, dass alle im
Raum die Gesichter abwandten und mit den Armen schützten, um nicht
geblendet zu werden.
Gorian schauderte für einen Moment, als er die
Stärke jener Magie spürte, die bei dem Caladran wirksam war, und
Thondaril und Torbas wichen zurück.
Gorian wollte noch etwas einwenden, aber ein sehr
eindringlicher Gedanke Sheeras hielt ihn davon ab.
»Es hat keinen Sinn. Nicht so.«