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Schatten über Felsenburg
Die Stunden gingen dahin, und Centros Bals Greifengondel ließ schließlich das zerklüftete Gebirge im Südwesten Gryphlands hinter sich. Bis zum mittelgryphländischen Bergrücken erstreckte sich eine öde Senke Hunderte von Meilen weit, wie Gorian sie noch nie zuvor gesehen hatte. Eine Wüste aus schwarzem, sehr feinem Staub, der hin und wieder vom Wind zu säulenartigen Wirbeln aufgeweht wurde. Die Staubsäulen hatten Ähnlichkeit mit wandelnden Schattenpfadgängern, kurz bevor sie an ihrem Zielort verstofflichten. Auch türmte der Wind den schwarzen Staub zu gewaltigen Wanderdünen auf.
»Scheint so, als wäre an den Legenden von den Feuerdämonen tatsächlich etwas dran, so verbrannt, wie das hier aussieht«, äußerte Torbas mit gerunzelter Stirn, während er angestrengt aus einem der verglasten Fenster blickte.
»In Gryphenklau nennt man die Senke zwischen den Gebirgen auch die Aschewüste«, bestätigte Fentos Roon. »Hier lebt niemand. Es gibt keinen Ort in ganz Ost-Erdenrund, der so vom Tod gezeichnet ist wie dieses Land.«
Auf einmal war ein durchdringender ächzender Laut zu hören, der wie das Räuspern einer riesenhaften Kreatur klang.
»Der Greif!«, kommentierte Fentos Roon. »Die Tiere reagieren empfindlich auf den feinen Aschestaub, der hier ständig aufgewirbelt wird. Mein Herr wird den Greifen höher steigen lassen.«
Tatsächlich war gleich darauf der heftigere Flügelschlag des Greifen zu spüren, denn die Gondel geriet dabei leicht in Schwankungen.
Auch den Seilschlangen schien der Aschestaub nicht zu behagen, denn sie zischelten protestierend.
Nur hin und wieder waren am Horizont einzelne Greifenreiter zu sehen, die das unwirtliche Land ebenfalls so schnell wie möglich zu überqueren suchten. Sie lebten zumeist in den vereinzelten Residenz-Höhlen, die es in den schroffen Felsmassiven des mittelgryphländischen Bergrückens gab.
Fentos Roon machte einen besorgten Eindruck. Er sah immer wieder aus dem Fenster und sagte schließlich: »Ich kann nur hoffen, dass es meinem Herrn gelingt, den Greifen zu größerer Eile anzutreiben. Die Dämmerung bricht bald herein …«
Tatsächlich wurde der Flügelschlag des Greifen etwas kräftiger, und die Fluggeschwindigkeit nahm leicht zu. Schließlich erreichten sie die ersten Ausläufer des Berglandes, an dessen Nordwestseite sich Felsenburg befand.
Sie ließen die Aschewüste hinter sich und überflogen wieder stark zerklüftetes Land. Die Felsmassive ragten noch ein Stück höher auf als in dem weiter südlich gelegenen Bergland, und die Schluchten schienen noch tiefer.
Der Greif stieß immer wieder stöhnende Laute aus. Sie befanden sich in einer Höhe, in denen Greife nicht gern flogen, weil die Luft für sie zu dünn wurde, wie Fentos Roon den anderen erklärte.
Und dann waren da auch noch die alten Feinde der Greifen, die man immer öfter als dunkle Schatten aus den finsteren Felsspalten emporschweben sah. Aus der Ferne war nicht viel von ihnen zu erkennen, nur dass ihre Körper eine bizarre Mischung zwischen Mensch und Fledermaus waren. Auf ihren Lederschwingen glitten sie durch die schattigen Bereiche der Täler. Offenbar waren sie mit Speeren bewaffnet und mit im Wind flatternden dunklen Gewändern bekleidet.
»Sie sehen aus wie missgestaltete Menschenkinder mit fellbedeckten, spitzohrigen Köpfen und Fledermausflügeln auf den Rücken«, erklärte Fentos Roon. »Stehen sie aufrecht, reichen einem selbst die größten von ihnen kaum bis zur Hüfte. Dennoch sollte man sich vor ihnen in Acht nehmen. Vor allem, wenn sie in Schwärmen auftreten. Die Spitzen ihrer Speere sind aus Obsidian.«
»Und was hält sie davon ab, über eine einsame Greifengondel wie die unsere herzufallen?«, fragte Gorian.
»Vor allem ihre Abneigung gegen Licht und Feuer«, gab Centros Bals Zweiter Greifenreiter Auskunft. »Sie fürchten das Licht der Sonne ebenso wie das Feuer aus den Tiefen der Erde, denn ihr eigentliches Element ist die Dunkelheit der Felsschluchten, Erdspalten und Höhlen. Selbst die Helligkeit des Mondes hält sie manchmal schon davon ab, aus ihren Löchern zu kommen.«
»Wären sie dann nicht ideale Verbündete für Morygor?«, warf Torbas ein. »Wenn der Schattenbringer die Sonne zur Gänze verdeckt, dürfte das doch genau nach dem Geschmack dieser geflügelten Plagegeister sein, oder?«
»Das Eis würde auch ihren Lebensraum durchdringen«, gab Sheera zu bedenken. »Ihre Schluchten würden unter Gletschern begraben werden.«
Torbas zuckte mit den Schultern. »Dafür herrschte aber ewige Nacht, sie bräuchten nie wieder das Licht des Tages zu fürchten und sich nicht mehr in ihren Erdspalten zu verkriechen.«
Als sie die Gebirgszüge überquerten, wurde es auch in der Gondel kalt. Die Gipfelregionen der Berge waren mit einer dünnen Schicht aus Schnee und Eis bedeckt, die im Licht der untergehenden Sonne ein einmaliges Farbenspiel bot.
Dann erreichten sie die Nordosthänge des mittelgryphländischen Bergrückens und sahen Felsenburg.
Es handelte sich um einen einzelnen säulenartig emporragenden und nahezu zylinderförmigen Felsen. An seinem Gipfel befand sich ein Plateau, das von zinnenbewehrten Mauern umgrenzt wurde, und je mehr sie sich dem Säulenfelsen näherten, desto deutlicher erkannten sie, dass mindestens das obere Drittel des Massivs auf ähnliche Weise bewohnt war wie die Felsen von Gryphenklau: Überall waren die zum Teil mit Toren verschlossenen Zugänge von Wohnhöhlen zu sehen, größer als die Stadttore von Segantia oder Toque, und es gab auch Einflugkavernen für ankommende Greifen, wie Fentos Roon erklärte. Vor den Höhleneingängen befanden sich mitunter kleine Vorsprünge und offenbar künstlich angelegte Plateaus, die denen in Gryphenklau ähnelten.
Das Gelände um die Felsensäule herum war flach und öde. Eine schwarze Wüste, offenbar ebenfalls geschaffen durch den verheerenden Brand, den die Feuerdämonen der Legende nach verursacht hatten. Allerdings gab es fast keinen Staub. Anders als in der Aschewüste hatte ihn wohl der beständig wehende Wind abgetragen und nichts als kahles schwarzes Gestein zurückgelassen.
Am westlichen Horizont erstreckte sich ein Gebirgsausläufer, hinter dem die Sonne mit ihrem ewigen schattenhaften Begleiter bereits zu zwei Dritteln verschwunden war. Da schossen bei der Burg auf einmal Flammen aus einem Dutzend in den Himmel ragender Steinsäulen.
»Ich nehme an, das soll die Fledermenschen auf Distanz halten«, sagte Gorian und sah Fentos Roon dabei an.
Dieser nickte. »Es soll sie daran erinnern, dass es ihnen schlecht bekommt, wenn sie die Autorität des jeweiligen Königs von Gryphland in Zweifel ziehen.«
»Und? Erweisen sie sich als gute Untertanen, seit so viele ihrer Vorfahren von den Feuerdämonen vernichtet wurden?«, fragte Torbas leicht spöttisch. »Oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie vielleicht den Aufstand wagen?«
»Wer weiß«, murmelte Fentos Roon.
 
Der Greif flog mitsamt seiner Gondel durch das Tor einer Einflugkaverne. Sie gelangten in eine Höhle, in der so manche Kathedrale Platz gefunden hätte. Dutzende von Greifen waren dort untergebracht. Manche stießen schrille Schreie aus, als sie auf den Neuankömmling aufmerksam wurden, woraufhin sie von den Greifenpflegern mit lauten Rufen zurechtgewiesen wurden. Die Echos all dieser Laute ergaben einen Höllenlärm, sodass man für einige Zeit selbst innerhalb der Gondel sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
Die Gondel setzte bei einem der künstlich eingeebneten freien Plätze auf. Die Seilschlangen erschlafften, und der Greif landete mit heftigem Flügelschlag neben der Gondel.
Fentos Roon öffnete die Tür, und die Passagiere folgten Thondaril hinaus in die Einflugkaverne, während Centros Bal vom Rücken seines Reittiers stieg.
»Alles, was hier noch zu tun ist, können meine Männer erledigen«, sagte er und öffnete seinen Lederanzug ein Stück, denn in der Höhle war es verhältnismäßig warm, was sicherlich an der Anwesenheit so vieler Greifen lag, deren Körper förmlich dampften.
Ein Hauptmann und fünf bewaffnete Wachleute empfingen sie. Offenbar hatte man das Nahen des Greifen bereits beobachtet und ihr Eintreffen erwartet.
»Wir haben hier nicht häufig Besuch«, erklärte der Hauptmann. »Öfter als einmal im Monat verirrt sich kaum mal ein Greifenreiter hierher, und dann handelt es sich zumeist um den königlichen Steuereintreiber.«
»Das mag daran liegen, dass man eine Genehmigung braucht, um Felsenburg überhaupt anfliegen zu dürfen«, äußerte Meister Thondaril, »und diese Dokumente werden offenbar nicht allzu großzügig vergeben.«
Der Hauptmann war im ersten Moment verwirrt, was wohl daran lag, dass Thondarils Worte von dem Sprechstein auf seiner Brust wispernd übersetzt wurden. Diese Form der Basilisken-Magie war an einem so abgelegenen Ort wie Felsenburg offenbar noch weitaus ungewöhnlicher als in dem vergleichsweise weltläufigen Gryphenklau.
»Dafür gibt es gute Gründe«, antwortete er schließlich. »Und ich hoffe, dass Ihr es nicht gewagt habt, in Felsenburg einzufliegen, ohne ein entsprechendes Schriftstück bei Euch zu tragen.« Er streckte fordernd die Hand aus.
»Das Dokument, das mir der König ausgestellt hat, ist nur für den Verwalter persönlich bestimmt«, erwiderte Thondaril in einem Tonfall, der an der Grenze zur Schroffheit lag. Er zog das versiegelte Dokument hervor, zeigte es dem Hauptmann und fuhr dann fort: »Das Siegel mögt Ihr erkennen – der Inhalt aber ist nur für die Augen des ehrwürdigen Oras Ban bestimmt.«
»Seht meine Augen als die des Verwalters an«, entgegnete der Hauptmann sichtlich verärgert. »So handhaben wir es hier auf Felsenburg.«
Doch Thondaril ließ die Hand mit dem Dokument sinken und hielt ihm stattdessen die andere mit den zwei Meisterringen hin. »Seht Ihr dies? Vom Meister der Magie und des Schwertes wird man wohl selbst an diesem entlegenen Ort gehört haben. Wollt Ihr an meinen Worten zweifeln und Euch damit gegen den Willen des Königs von Gryphland stellen?«
Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Ihr seid jener zweifache Meister, den man Thondaril nennt und über den man sich überall die heldenhaftesten Geschichten erzählt?«
»Der bin ich.«
»Es soll wenige geben, die Magie und Schwert so beherrschen wie Ihr.« Er verneigte sich leicht. »Mein Name ist Bram Segg, und ich werde Euch gern zum Verwalter führen.«
»Dann lasst uns keine Zeit verlieren, denn unser aller Feind Morygor verzeiht kein Zögern.«
 
Hauptmann Bram Segg führte sie einen engen Treppengang hinauf bis auf einen Turm, von dem aus man eine viele Meilen weite Aussicht in alle Richtungen hatte.
Ein Mann mit pergamentartiger faltiger Haut stand an den Zinnen und blickte angestrengt durch ein Rohr zum Himmel. Er trug ein bis zum Boden reichendes Gewand, das so grau war wie sein Gesicht. Kein einziges Haar hatte er noch auf dem Kopf, und seine sehr hageren Züge mit den vorstehenden Wangenknochen erinnerten an einen Totenschädel.
Der König in Gryphenklau hatte den Verwalter von Felsenburg als einen uralten Mann beschrieben. Dies musste er wohl sein.
Er drehte sich herum, wobei er das Rohr losließ, durch das er geblickt hatte; es war auf einem dreifüßigen Ständer aus Holz befestigt. »Ich habe Euch beobachtet, seit Ihr mit Eurem Greifen über die Berggipfel kamt«, erklärte er, dann deutete er auf das Rohr. »Diese Erfindung der westreichischen Seefahrer ermöglicht es, weit entfernte Dinge wie aus der Nähe zu betrachten, und das ganz ohne Magie!«
»Ich will ohne Umschweife zum Thema kommen, Oras Ban«, sagte Thondaril, und der Sprechstein auf seiner Brust übersetzte seine Worte, während er dem Verwalter das Dokument des Königs überreichte. »Aus dem Norden droht eine furchtbare Gefahr, und wenn wir nicht schnell handeln, wird es keine Rettung mehr geben.«
Oras Ban nahm das Dokument, brach das Siegel und las dann aufmerksam, wobei sich eine tiefe Furche auf seiner Stirn bildete. Gorian fiel auf, dass er trotz der unverkennbaren Zeichen des Alters keineswegs gebrechlich wirkte. Seine Bewegungen waren die eines Jahrzehnte jüngeren Mannes, während sein Gesicht das eines hochbetagten Greises war, der die Grenze der menschlichen Lebensspanne bereits erreicht hatte.
»Ich will nicht behaupten, dass mir gefällt, was hier steht«, erklärte er und gab Thondaril das Dokument zurück. »Ihr seid ein bekannter Mann, und wenn der König Euch vertraut, so habe ich keinen Anlass, dies nicht zu tun. Und dennoch sträubt sich alles in mir, einem Fremden Zugriff auf jene wertvollen Dokumente zu gewähren, die der kostbarste Schatz unseres Reiches sind.«
In diesem Augenblick erfüllte ein schrilles Geschrei die Luft.
 
Die Sonne war soeben gänzlich versunken, doch im fahlen Mondlicht war der dunkle Umriss eines Greifen zu sehen, der über die schneebedeckten Gipfel flog und es offenbar sehr eilig hatte.
»Ein Greif ohne Reiter?«, wunderte sich Torbas. »Muss eines der letzten wildlebenden Exemplare sein.«
Auf einmal schossen aus einem der dunklen Schlünde zwischen den Felsmassiven erst Dutzende, dann Hunderte von Fledermenschen, dabei sehr hohe Töne ausstoßend, die sogar noch bis zu der kleinen Gruppe auf dem Turm Felsenburgs drangen.
Im nächsten Moment trafen mehrere Speere mit Obsidian-Spitzen den löwenartigen Körper des Greifen. Das Tier hackte mit seinem gewaltigen Schnabel nach den Angreifern, flatterte hastig mit den Flügeln, schlug mit allen vier Tatzen wie von Sinnen um sich und taumelte durch die Luft. Seine spitzen Krallen erwischten ein paar der Fledermenschen, die tödlich verwundet in die Tiefe trudelten.
Dann aber stürzte sich eine ganze Traube von Fledermenschen ohne Rücksicht auf eigene Verluste auf den Wildgreifen, und weitere Speere stießen in den Leib der riesigen Kreatur oder rissen die Flügel des Greifen auf. Mit durchdringendem, von den Berghängen widerhallendem Gebrüll stürzte der Greif mitsamt seinen Angreifern in eine der vielen Schluchten, wo sein Schrei verklang.
»Sie sind zahlreicher geworden und trauen sich immer häufiger aus ihren Erdspalten«, sagte Oras Ban in düsterem Tonfall. »Früher hätten sie sich so kurz nach Sonnenuntergang und bei derart hellem Mondschein nicht hervorgewagt. Inzwischen zeigen sie sogar kaum noch Angst vor dem Licht.«
»Worauf führt Ihr diese Veränderung zurück?«, fragte Gorian.
Oras Ban horchte auf, denn Gorian hatte Gryphländisch gesprochen, dann antwortete er: »Weil sie immer zahlreicher werden, ist ihre Nahrung knapp geworden, das wird es sein. Eines Tages werden unsere Flammensäulen sie nicht mehr daran hindern, auch Felsenburg heimzusuchen.«
Da geschah es – eine Gedankenbotschaft erreichte Gorian, auch wenn sie sehr schwach war: »Ar-Don … braucht Hilfe … gefangen …!«
»Wo bist du?«, fragte Gorian in Gedanken.
»Dunkel … alles dunkel … Ar-Don umgibt Finsternis … Ah, die Qual …«
»Ist Eurem jungen Begleiter nicht gut?«
Gorian blickte auf und sah das Stirnrunzeln auf Oras Bans Gesicht.
Seine Augen waren nicht schwarz geworden, das hätte Gorian gemerkt. Er hätte die entsprechende magische Anspannung gespürt.
»Er sieht ganz blass aus«, fuhr Oras Ban fort, dann wandte er sich an Thondaril: »Nun, ich nehme an, dass sich auch die anderen Mitglieder Eurer Gruppe zunächst einmal von den Reisestrapazen erholen sollten.«
»Eine Reise in einer komfortablen Greifengondel sehe ich keineswegs als besondere Strapaze an«, lehnte der Ordensmeister das Angebot ab. »Wenn nichts dagegen spricht, soll man uns gleich zum Aufbewahrungsort der Caladran-Werke führen, damit wir daraus eine Schrift aussuchen, die sich als Versöhnungsgeschenk eignet. Das Dokument des Königs gibt mir das Recht dazu.«
Die Augen des Königlichen Verwalters wurden schmal. Es war unverkennbar, dass ihm Thondarils befehlender Tonfall nicht gefiel.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren, ehrenwerter Oras Ban«, drängte Thondaril – und Gorian konnte sich nicht erinnern, den zweifachen Ordensmeister schon einmal so ungeduldig erlebt zu haben. »Die Lage ist verzweifelt. Selbst bei allergrößter Eile besteht die Gefahr, dass wir das Bündnis mit den Caladran zu spät schmieden, weil sich Morygors Frostreich inzwischen bis an die Südküste Ost-Erdenrunds ausgebreitet hat und der Schattenbringer das Sonnenlicht vollkommen verschlingt.«
»Ich schlage vor, Ihr bezieht zunächst einmal Eure Quartiere«, antwortete Oras Ban verstimmt. »Ihr, Meister Thondaril, und Euer gesamtes Gefolge seid meine Gäste, und es soll Euch an nichts fehlen. Was Euer Anliegen betrifft, so werde ich darüber beraten.«
»Beraten?«, fragte Thondaril verständnislos. »Ich habe hier ein von Demris Gon gesiegeltes Dokument! Der Befehl des Königs ist unmissverständlich! Wollt Ihr etwa den Willen Eures Herrschers missachten?«
»Keinesfalls, Meister Thondaril«, erwiderte Oras Ban dünnlippig. »Aber Ihr müsst Verständnis dafür haben, dass ich zunächst mit dem Bibliothekar sprechen möchte. Ich versichere Euch, Euch nicht zu lange warten zu lassen.«
Nach diesen Worten kommandierte er Hauptmann Bram Segg dazu ab, den Gästen ihre Quartiere zu zeigen.
 
Es waren einfache Wohnhöhlen, die in mancherlei Hinsicht den Zellen in der Ordensburg ähnelten. Aber das lag nicht daran, dass man den Gästen die Möglichkeit zur geistigen Versenkung und Sammlung der inneren Kräfte geben wollte, sondern war aus rein baulichen und architektonischen Gründen so, schließlich hatte man all diese Räume in den Fels schlagen müssen.
Damit dennoch Tageslicht in die Kammern drang, gab es ein ausgeklügeltes System von schmalen Schächten und Spiegeln. Auf diese Weise fiel am Tage Licht durch Deckenöffnungen in die sehr einfach eingerichteten Räume und wurde von fluoreszierenden Steinen aufgenommen, die es in der Nacht wieder abgaben. Wollte man sich zur Ruhe legen, konnte man den fluoreszierenden Stein mit einem blickdichten Tuch abdecken, das dafür bereitlag.
Gorian und Torbas mussten sich einen der wenigen größeren Räume teilen, alle anderen bekamen Einzelquartiere zugewiesen. Gorian war das nur recht. Vielleicht konnten die Gespräche, die sie unweigerlich führen würden, eine Brücke zwischen ihnen spannen, damit sie jene unsichtbare Kluft überschreiten konnten, die sie beide seit ihrer Rückkehr aus dem Frostreich trennte.
»Ich habe eine Botschaft von Ar-Don empfangen«, berichtete er seinem Gefährten, als sie schließlich allein in ihrem Quartier waren. »Er braucht Hilfe. Ich weiß, dass er irgendwo gefangen gehalten und schrecklich gequält wird.«
»Dann wird ihn Morygor wieder in seine Gewalt gebracht haben«, war Torbas überzeugt.
»Das befürchtete auch Thondaril schon.«
»Aber du bist anderer Ansicht?«
Gorian zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir eigentlich sicher, dass er hier ganz in der Nähe ist.«
Torbas runzelte die Stirn, dann wechselte er scheinbar das Thema. »Ich fürchte, dass wir uns länger als geplant auf Felsenburg aufhalten werden. Der Verwalter ist offenbar nicht gewillt, sich so ohne Weiteres Thondarils Autorität zu beugen. Das Dokument König Demris Gons scheint ihn mehr zu verärgern denn gefügig zu machen.« Er ließ sich auf die schmale Pritsche nieder. »Ich fürchte also, du wirst Zeit genug haben, herauszufinden, ob dein Verdacht bezüglich des Gargoyles stimmt.«
Gorian nickte und sah Torbas geradewegs an, der seinem Blick bisher ausgewichen war. »Ich brauche vielleicht deine Hilfe.«
Torbas verzog den Mund, und Gorian fragte sich, wie er diesen Gesichtsausdruck deuten sollte. War das Spott? Verbitterung? Vielleicht von beidem etwas und dazu noch ein paar weitere Nuancen, die Gorian ebenso wenig gefielen.
»Hilfe? Du?«, fragte Torbas schließlich. »Welche Art von Hilfe könnte jemand mit deinen außerordentlichen Fähigkeiten denn benötigen?«
»Ich meine es sehr ernst, Torbas.«
Torbas schmälerte die Augen. »Ich ebenfalls, Gorian. Aber du redest so, als würdest du daran zweifeln, dich weiterhin auf mich verlassen zu können. Wenn dein Plan nicht bar jeder Vernunft ist, werde ich dir helfen. Und wahrscheinlich selbst dann, wenn dein Vorhaben vollkommen verrückt sein sollte.«
»Gut zu wissen«, murmelte Gorian.
Im nächsten Moment gesellte sich Sheera zu ihnen. Sie bewohnte eine Wohnhöhle am Ende des Gangs. »Meister Thondaril möchte, dass ihr zwei euch bereit macht.«
»Bereit? Wofür?«, fragte Torbas erstaunt.
»Oras Ban gibt ein Bankett zu unseren Ehren«, erklärte Sheera. »Und danach, so hat er Meister Thondaril ausrichten lassen, wird man uns in die Bibliothek führen.«
»Hast du inzwischen eine Ahnung, wer dieser geheimnisvolle Bibliothekar sein könnte, den Oras Ban erwähnte, und was er hier zu sagen hat?«, fragte Gorian.
Sheera schüttelte den Kopf. »Nein, und ich bin überzeugt, dass nicht einmal Thondaril dies weiß. Aber vielleicht lernen wir ihn auf dem Bankett kennen.«
Hauptmann Bram Segg führte Gorian, Sheera und Torbas durch eine Vielzahl von Gängen und über mehrere Treppen auf den Burghof und von dort in den hoch aufragenden Palas von Felsenburg, in dem sie nochmals mehr als hundert Stufen emporsteigen mussten.
Schließlich traten sie in einen großen Saal, dessen hohe Fenster voll verglast waren und durch die sie den flackernden Schein sahen, den die Leuchtfeuer von Felsenburg hinaus in die Nacht sandten und der beinahe bis zu den Felsen des nahen Gebirges reichte und sich dann mit dem fahlen Licht des Mondes mischte.
Der Bankettraum hingegen wurde nur von ein paar Kerzenständern auf den Tischen spärlich beleuchtet. Offenbar wollte man dadurch verhindern, dass sich die Gäste ständig in den nach Westreicher Standard verglasten Fenstern spiegelten und kein Blick ins Freie möglich war.
Tatsächlich standen die meisten Anwesenden auch vor den Fenstern, darunter Thondaril und Centros Bal. Der Kommandant der Burgwache erklärte gerade, dass man in den letzten Tagen erstmals größere Gruppe von Fledermenschen beobachtet hatte, die sich zu Schwärmen zusammengeschlossen hatten und davongeflogen waren. »Immer zahlreicher wagen sie sich aus ihren Spalten. Aber das wirklich Verwunderliche ist, dass sie nicht mehr zurückkehren.«
»In welche Richtung sind sie verschwunden?«, wollte Thondaril wissen.
»Sie flogen über die Berge«, antwortete ihm der Kommandant, ein Mann mit rot durchsetztem Haar, was in Gryphland durchaus keine Seltenheit war, »und ein paar Greifenreiter sahen sie anschließend über den südöstlichen Teil der Aschewüste ziehen, auf die Grenze nach Melagosien zu.«
»Heißt das, sie flogen auch am Tage?«, fragte Thondaril erstaunt.
»So ist es«, bestätigte der rothaarige Kommandant. »Und das, obwohl sie normalerweise nichts so sehr fürchten wie das Licht. Aber im Grenzland gibt es kleinere Waldgebiete, und angeblich kauerten dort Tausende von Fledermenschen in den besonders hellen Mittagsstunden im Schatten der Bäume. Allerdings fand man auch einige von ihnen tot auf dem Weg dorthin. Offenbar war es das Sonnenlicht, das sie verenden ließ.«
»Was kann es sein, das ihnen dermaßen wichtig ist, dass sie darüber jeden Sinn für Gefahr verlieren?«, fragte sich Thondaril.
»Man könnte fast meinen, dass sie vor irgendetwas flüchten.«
Auf einmal spürte Gorian erneut Ar-Dons verzweifelte Gedanken – wobei der Begriff Gedanke kaum noch auf die chaotische Flut von Worten, Bildern und Empfindungen zutraf. Keine einzige auch nur annähernd klare Botschaft ließ sich darin erkennen. Für einen Moment sah Gorian den Mond vor seinem inneren Auge – und davor einen Schwarm von Fledermenschen, die sich als dunkle Schatten gegen das fahle Licht des Nachtgestirns abhoben.
Die Szenerie glich exakt dem, was durch die Fenster des Bankettraums zu beobachten war. Allerdings war der Blickwinkel ein anderer. Es war, als ob jemand aus der Tiefe einer Schlucht heraus in den Nachthimmel blickte. Konnte das sein? Befand sich Ar-Don in einem dieser finsteren Gräben zwischen den Felsmassiven?
Gorian lauschte mit seinen magischen Sinnen aufmerksam in sich hinein, achtete auf jeden fremden Gedanken, auf jede Empfindung, die ihm eigenartig vorkam. Aber da war nichts, was ihm Antworten auf seine Fragen gegeben hätte.
Aber einer solchen bedurfte es auch gar nicht. Ar-Don befand sich ganz in der Nähe, irgendwo in den Schluchten am Nordrand des mittelgryphländischen Bergrückens, und Gorians Entschluss stand in diesem Augenblick unumstößlich fest.
Ich werde dir helfen – Freund!
Auf welche Weise, davon hatte er allerdings noch nicht einmal eine vage Vorstellung.
Oras Ban betrat als Letzter den Bankettraum, dann wurde zu Tisch gebeten. Thondaril wurde ein Stuhl unmittelbar neben dem Königlichen Verwalter zugewiesen, und auch Gorian, Torbas und Sheera wurden ganz in seiner Nähe platziert. Centros Bal und Fentos Roon hingegen mussten sich deutlich entfernt von Oras Ban niederlassen, was wohl darin begründet lag, dass er den Greifenreitern keine wirkliche Bedeutung zumaß.
Diener in bunter Livree trugen die Speisen auf, Mägde in schwingenden Kleidern und mit kunstvoll aufgestecktem Haar schenkten die Getränke ein.
Gorian musste zugestehen, dass sich die Gastgeber alle Mühe gaben, es ihnen an nichts fehlen zu lassen. Es gab viel Fleisch, und auf Gorians Nachfrage hin, um welche Tierart es sich dabei handelte, antwortete ihm der Verwalter: »Wüstenvögel. Es gibt sie zu Tausenden.« Er wandte sich an Thondaril. »Den Angehörigen Eures Ordens sagt man nach, dass sie aufgrund magischer Hilfsmittel stets gut informiert sind …«
»Das kann man mit Fug und Recht behaupten«, gab Thondaril zu.
Oras Bans Tonfall wurde sehr ernst, sein Blick fixierte den Gast geradezu. »Wo steht der Feind?«
»Über das Handlichtlesen stehe ich ständig mit anderen Ordensmeistern in Verbindung«, erklärte Thondaril. »Möchtet Ihr sehen, wie die Lage ist?«
»Nun, wenn Ihr das möglich machen könntet …«
»Nichts leichter als das. Und ich denke zudem, eine solche Demonstration wäre für jeden hier im Raum interessant.«
Thondaril erhob sich, und plötzlich waren alle Augen auf ihn gerichtet. Er legte die Handflächen mit den Handkanten gegeneinander, sodass sie an ein aufgeschlagenes Buch erinnerten, und murmelte ein paar Worte in alt-nemorischer Sprache. Ein Lichtschimmer bildete sich in seinen Handflächen und wurde größer und heller. Thondaril ließ ihn ein Stück emporschweben, und es hatte den Eindruck, als würde er ihn allein mit seinem Blick kontrollieren.
Dann machte er eine Bewegung mit den Händen, woraufhin eine Lichtsphäre entstand, die so groß war wie eines der Gemälde, die einst in der Kathedrale von Toque zu finden gewesen waren, bevor der Feind dieses außergewöhnliche Bauwerk zerstörte.
»Diese Bilder, die ich Euch jetzt zeige«, sprach der zweifache Meister, »habe ich kurz vor unserer Ankunft von meinen Ordensbrüdern in Garilanien empfangen. Sie werden Euch die Dringlichkeit der Lage verdeutlichen.«
In der Lichtsphäre waren Gebiete mit fruchtbaren Feldern zu sehen. Dann tauchte am Horizont eine graue Wand auf, die zunächst wie eine Nebelbank wirkte. In Wahrheit aber war es eine Gletscherfront, die haushoch über das Land walzte und alles unter sich begrub, mit einer Fließgeschwindigkeit, die an Harz oder Sirup erinnerte.
»Dies sind die Tiefebenen von Garilanien«, erklärte Thondaril. »Dass Ihr dort keinen einzigen Bewohner mehr seht, liegt daran, dass jeder, der noch dazu in der Lage war, längst geflohen ist, nachdem sich herumsprach, wie die Kathedrale von Toque unterging.«
Er zeigte auch Bilder von diesem Ereignis, denn er ging wohl davon aus, dass es auf seine Gastgeber weit größeren Eindruck machte, wenn sie sahen, wie eines der bekanntesten und größten Bauwerke des gesamten Heiligen Reichs zerstört wurde, als wenn in einem fernen Herzogtum nur ein paar Bauern ihre Felder verloren.
»Garilanien ist weit«, sagte Oras Ban. »Und Toque …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein Ort, den hier niemand je gesehen hat.«
»Alles, was jenseits der schwarzen Steinwüste und der mitulischen Grenze liegt, scheint für ihn weit weg zu sein«, erreichte Gorian ein Gedanke Sheeras.
»Kein Wunder, wenn er hier nie wegkommt.«
»Du denkst an Ar-Don …«
»Nicht jetzt!«
Gorian brach die gedankliche Verbindung zu ihr ab. Dass sie so leicht erkannt hatte, was ihn im Moment so brennend beschäftigte, gefiel ihm nicht. Es war nicht so, dass er sie von seinen Überlegungen ausschließen wollte, aber er musste sich zunächst selbst darüber klar werden, was zu tun war. Davon abgesehen befürchtete er auch, dass sie versuchen würde, ihn von seinem Plan abzubringen, der gerade erst in seinen Hirnwindungen Gestalt anzunehmen begann.
Thondaril erklärte den Bankettgästen weiterhin die verzweifelte Lage, in der sich das Heilige Reich befand, und welche Gefahr in Kürze auch Mitulien und Gryphland drohte, denn es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Expansion von Morygors Frostreich auch nur zeitweilig zum Stillstand gekommen war. »Es ist bedauerlich, dass der Bibliothekar nicht ebenfalls anwesend ist, damit auch er sich ein Bild von der drohenden Katastrophe machen kann«, sagte er schließlich an den Königlichen Verwalter von Felsenburg gerichtet. »Es wäre gewiss auch für ihn sehr lehrreich.«
»Daran zweifle ich nicht«, antwortete Oras Ban. »Aber er ist nun einmal nicht sehr gesellig. Genau genommen verabscheut er gemeine Gesellschaft und vergräbt sich lieber in seinen Bibliothekshöhlen.«
Und Hauptmann Bram Segg ergänzte: »Ich schätze, in den letzten Jahren hat er nicht einmal das Tageslicht zu Gesicht bekommen.«
»Und so glaubt Ihr, dass es ihm auch nichts ausmacht, wenn die Sonne demnächst vollständig vom Schattenbringer verdeckt wird, meint Ihr das, Hauptmann?«, sagte Meister Thondaril mit galligem Unterton. »Dann richtet ihm aus, dass er sich falsche Vorstellungen macht. Der Felsenturm und diese Burg werden der Macht der Kälte kaum länger standhalten als ein gewöhnlicher Grashalm auf den Feldern von Garilanien. Und auch wenn die Gletscher in dieser Gegend schwächer sein sollten, weil es hier kaum Wasser gibt, das gefrieren kann, so werden die Leviathane kommen und alles niederwalzen. Wenn wir die Caladran nicht günstig stimmen, sodass sie ihre Magie in unsere Dienste stellen, werden wir alle sterben.«
Thondaril deutete in Richtung der Fenster. Inzwischen hatten die Diener ein paar mehr Leuchter entzündet, sodass auf dem Glas die Spiegelbilder der Versammelten zu sehen waren, aber die Fledermenschen, die über den Bergen kreisten, waren im hellen Mondlicht dennoch deutlich zu erkennen. »Wer weiß, vielleicht haben jene so unruhig durch die Nacht schwirrenden Geschöpfe schon längst erkannt, was hier bevorsteht. Vielleicht sind sie deshalb auf der Flucht über die Berge, und sie schreckt nicht einmal die Trostlosigkeit der Aschewüste und das Licht des Tages!«
Thondaril verstummte, und tiefes Schweigen machte sich im Bankettsaal breit, sodass trotz der großen Entfernung das Rascheln der Tausenden von Fledermenschenflügel und die schrillen Rufe der unheimlichen Wesen zu hören waren. Es wirkte wie ein mahnender Chor, und Gorian konnte den Anwesenden durchaus ansehen, dass sie beeindruckt waren.
Nur für Oras Ban schien das nicht zu gelten. Seine Züge wirkten starr und kalt, als er wieder das Wort ergriff. »Obgleich Ihr bereits zweifacher Meister seid, scheint Euch die Ungeduld der Jugend nicht verlassen zu haben, werter Thondaril. Doch man sagt, in der Ruhe liege die Kraft. Will man das Richtige tun, muss man sich die Zeit nehmen, seine Entscheidungen zu bedenken, und darf sich nicht wie Ihr von der Furcht treiben lassen.«
»Es ist nicht die Furcht, die mich treibt, sondern die Sorge«, widersprach der Ordensmeister in deutlich verhaltenem Tonfall, denn er hatte begriffen, dass er den Königlichen Verwalter durch ungestüme Forderungen nicht auf seine Seite ziehen konnte. »Hierher wird sich kein Flüchtling verirren, weil zwischen Felsenburg und der mitulischen Grenze die verbrannte Einöde liegt. Aber Petaa quillt bereits vor Menschen über, dass die Stadtmauern zu bersten drohen, und unzählige Flüchtlinge verstopfen die Straßen und Wege in den südlichen Herzogtümern des Heiligen Reichs.« Er ließ in der Sphäre ein paar Bilder davon erscheinen, die ihm von anderen des Handlichtlesens mächtigen Ordensmeistern gesandt worden waren.
Doch während alle anderen im Raum gebannt darauf starrten, warf Oras Ban nicht einmal einen Blick dorthin, sondern sagte unbeeindruckt von dem geballten menschlichen Leid, das Thondaril der Versammlung vorführte: »Unsere Abgeschiedenheit ist in diesem Fall unser Privileg.«
Thondaril ließ die Lichtsphäre verschwinden, wobei seine Augen für einen Moment ganz schwarz wurden. Für Gorian ein Zeichen, dass er sich sehr angestrengt hatte und sich nun durch Magie wieder Kräfte zuführte.
Doch es war sicherlich nicht das Erzeugen und Aufrechterhalten der Sphäre, das ihn so mitgenommen hatte, sondern die Erkenntnis, wie wenig sein Gegenüber das weitere Schicksal ganz Ost-Erdenrunds kümmerte.
 
Der Verwalter Felsenburgs hatte für seine Gäste ein wahres Festmahl auftischen lassen, doch der Appetit war Thondaril gründlich vergangen. Gorian aber fiel auf, dass auch Oras Ban keinen einzigen Bissen zu sich nahm. Besteck und Geschirr, die an seinem Platz standen, blieben bis zum Schluss unberührt.
Schließlich brachte einer der Diener ein Glas mit einer bläulich schimmernden Flüssigkeit, das Oras Ban in einem Zug leerte.
»Ein interessantes Getränk, dass Ihr da zu Euch nehmt«, äußerte Gorian, woraufhin ihm der Verwalter einen unangenehm durchdringenden Blick zuwarf. In seiner Ausbildung zum Heilmeister des Ordens stand Gorian zwar noch am Anfang, aber er hatte bereits genug gelernt, um zu erkennen, dass dieses Gebräu über ganz besondere Eigenschaften verfügte, die in dieser Intensität nur wenige Heiltränke aufwiesen. Er spürte die eigentümliche Magie, die von diesem Trank ausging, obwohl der Verwalter das Glas längst geleert hatte.
»Dein Gespür für Magie trügt dich nicht«, empfing er Sheeras Gedanken, die natürlich weit mehr von diesen Dingen verstand.
Die Züge des Verwalters verzerrten sich zu einem kalten Lächeln. »Für jeden anderen wäre dieser Trank pures Gift – mich hält er am Leben. Solche Paradoxien sind ein wichtiger Bestandteil jeder Existenz und nur scheinbar ein Widerspruch.« Sein Blick wirkte auf einmal in sich gekehrt, und ein Ausdruck der Qual legte sich auf sein Gesicht. Eine Qual, die Gorian sich nicht erklären konnte.
In diesem Augenblick betrat ein Diener den Raum. Er ging geradewegs zu Oras Ban und flüsterte diesem etwas ins Ohr.
Daraufhin wandte sich der Königliche Verwalter wieder an Meister Thondaril. »Der Bibliothekar würde Euch doch noch heute Abend empfangen.«
Thondaril erhob sich sogleich, ungeachtet jeglicher Etikette. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Lasst mich zu ihm führen!«
Oras Ban gab dem Diener einen Wink. »Bring ihn in das Bibliotheksgewölbe!«
Thondaril war leicht irritiert, als der Diener zunächst keinerlei Anstalten machte, dem Befehl Folge zu leisten. »Worauf wartest du?«, fragte er, und sein Sprechstein übersetzte die Worte.
»Verzeiht, Meister, aber der Bibliothekar legt Wert auf die Anwesenheit der drei Schüler, die Euch begleiten.«
Gorian fragte sich, woher der Bibliothekar von ihnen wusste. Nun, vielleicht hatte er sich über Thondaril und sein Gefolge genauer in Kenntnis setzen lassen, bevor er sich entschieden hatte, den Ordensmeister zu empfangen.
Gorian, Torbas und Sheera standen ebenfalls auf, verbeugten sich artig vor dem Verwalter von Felsenburg und folgten Thondaril.
Der Diener führte die Gruppe aus dem Bankettraum, durch eine Tür, die ihnen vorher seltsamerweise nicht aufgefallen war, als wäre sie zuvor von einem Illusionszauber verborgen gewesen. Ein Druck mit der Hand auf eine bestimmte Stelle setzte einen ausgeklügelten Mechanismus in Gang und öffnete sie.
In dem Gang dahinter erwartete sie ein Wachmann, bis auf die Zähne bewaffnet und das Gesicht unter einer Maske aus messingfarbenem Metall verborgen, das aber offenbar seine Züge auf einzigartige Art nachformte. Gorian hatte noch keinen Schmied etwas Vergleichbares herstellen sehen, selbst seinen Vater nicht, der ja auch ein Meister der Schmiedekunst gewesen war und sich sogar getraut hatte, magisch aufgeladenes Sternenmetall zu verarbeiten.
Der Maskierte trug zudem einen Harnisch aus dem gleichen Metall, und aus dem bestand auch die Fibel, die seinen Umhang hielt. In den Scheiden seines Waffengehänges steckten ein Schwert mit relativ kurzer und sehr breiter Klinge und ein gebogener Dolch, und in der rechten Hand hielt er eine Öllampe, von der ein eigenartiger Geruch ausging.
»Caladran-Öl!«, empfing Gorian einen Gedanken Sheeras; sie war sich dessen absolut sicher.
Caladran-Öl wurden alle möglichen wundersamen Eigenschaften zugeschrieben, darunter auch Heilwirkungen. Niemand wusste, woraus genau es sich zusammensetzte, geschweige denn, wie es hergestellt wurde. Bisweilen, wenn sie die Häfen des Heiligen Reichs aufsuchten, tauschten die Caladran dieses begehrte Gut gegen andere kostbare Waren, dennoch war Caladran-Öl in ganz Ost-Erdenrund so selten und wertvoll, dass es kaum vorstellbar war, dass es jemand in einer Öllampe einfach abbrennen ließ.
Wortlos drehte sich der Maskierte um, um die Gruppe zu führen. Ihm folgten zuerst der Diener, dann Thondaril und Torbas und schließlich Gorian und Sheera. Die Tür schloss sich hinter ihnen wie von Zauberhand.
In den Wänden des Korridors waren Spiegel eingelassen, die dafür sorgten, dass das Licht der einen Öllampe in der Hand des Maskierten ausreichte, den Gang vollständig zu erhellen, denn ihr Schein wurde dutzendfach widergespiegelt.
Schließlich gelangten sie an eine enge Wendeltreppe, die endlos in die Tiefe zu führen schien.
Eine eigenartige Aura schien alles zu erfüllen. Eine Kraft, die vielleicht magischen Ursprungs war und größte Ähnlichkeit hatte mit …
Morygors Aura!
Die Erkenntnis traf Gorian wie ein Schlag, und er blieb stehen. Der Maskierte bemerkte es und sagte: »Es besteht kein Anlass zur Furcht.«
Thondaril warf Gorian einen Blick zu, der diesem sagte, dass auch der Meister der Magie und des Schwertes spürte, was Gorian empfand. Torbas wirkte nur leicht verwirrt, und Gleiches galt für Sheera, die zwar mit Sicherheit seinen heftigen Gedanken mitbekommen hatte, ihn aber offenbar nicht zu deuten wusste.
Spürten sie denn nicht, was hier unten lauerte? Waren ihre magischen Sinne so taub und unempfindlich, dass sie nicht erkannten, welch gefährliche Macht sich hier manifestierte?
Gorian fühlte sich wie gelähmt. Er dachte an den Kampf am Speerstein und wie Morygors üble Aura die ganze Zeit über auf seiner Seele gelastet hatte. Es war wohl doch kein Zufall, dass er der Einzige gewesen war, der dieser Macht hatte widerstehen und bis zum Speerstein hatte vordringen können.
Doch auch Thondaril spürte offenbar die unheimliche Kraft, die an diesem Ort herrschte, doch sie ängstigte ihn nicht.
»Es ist ähnlich, Gorian – aber nicht dasselbe«, antwortete er auf Gorians unausgesprochene Frage.
»Aber wie kann das sein?«
»Es ist Caladran-Magie. Vielleicht ist sie in manchen der Schriften so stark, dass sie bis hierher ausstrahlt, ich weiß es nicht.«
Der Maskierte hüllte sich dazu in Schweigen, während der Diener einen ähnlich irritierten Eindruck machte wie Torbas und Sheera.
»Mir scheint, der Maskenmann redet nicht mit jedem«, murmelte Torbas, doch sein Sprechstein schwieg, sodass seine Worte nicht übersetzt wurden. Es war zwar Basilisken-Magie, die den Steinen ihre Kräfte verlieh, doch die unterschied sich nicht so sehr von der Magie des Ordens, dass sich ein Sprechstein nicht mit den Gedankenbefehlen eines angehenden Schwertmeisters beeinflussen ließ, und Torbas hatte wohl herausgefunden, wie er den seinen kontrollieren konnte.
 
Der Maskierte und der Diener führten sie schließlich an eine schwere Holztür. Dahinter befand sich ein Gewölbe, dessen Wände bis zur Decke mit Regalen voller Bücher und Schriftrollen bedeckt waren. Dicke Folianten reihten sich nebeneinander, die Regale waren aus dem Holz des Trockenbaums gefertigt. Der Sinn lag auf der Hand: Das Trockenbaumholz entzog seiner Umgebung Feuchtigkeit und verhinderte, dass die Schriften schimmelten.
An einem groben Holztisch mit einem brennenden Kerzenleuchter saß eine hochgewachsene Gestalt in einer Kutte und wirkte wie eine Verkörperung des Todes selbst. Das flackernde Licht der Kerzen tanzte über den dunkelgrauen Stoff, aber der Bereich unter der tief herabgezogenen Kapuze blieb im Schatten verborgen.
Der Diener verneigte sich und sagte ein paar Worte auf Gryphländisch, während der Maskierte wie eine Statue dastand. Gorian erheischte endlich einen Blick auf seine Augen in den schmalen Sehschlitzen der Metallmaske. Sie wirkten unnatürlich starr.
Der Kuttenträger hob eine knorrige, bleiche Hand und erklärte: »Ich habe Euch erwartet.«
Seine Worte wirkten auf Gorian arrogant, ja, fast großspurig, aber immerhin sprach er akzentfreies Heiligreichisch ohne einen klanglichen Hinweis darauf, in welchem der Herzogtümer er diese Sprache erlernt haben mochte.
»Seid Ihr der Bibliothekar?«, fragte Thondaril.
»Der bin ich.«
»Wie ist Euer Name?«
»Gehört Ihr nicht einem Orden an, dessen Gründer seinen Namen einst als Zeichen der Bescheidenheit ablegte? Ich gebe zu, ich hatte weniger edle Motive. Im Gegenteil, ich verlor meinen Namen nicht einmal aus freien Stücken. Wie auch immer, ich trage zurzeit keinen. Nennt mich also, wie immer es Euch beliebt.«
Thondaril machte einen Schritt nach vorn. Da stöhnte der namenlose Bibliothekar plötzlich auf und fuhr sich mit seiner klauenartigen Hand an den Kopf. Ein weiterer Laut folgte, der wie ein nur mühsam unterdrückter Schmerzensruf klang. »Ich bitte Euch, nicht weiterhin so rücksichtslos zu sein und derart hart aufzutreten«, beschwerte er sich. »Ich habe Eure Schritte schon gehört, lange bevor Ihr hierher herabgestiegen seid.«
»Ihr scheint mir sehr empfindlich«, sagte Thondaril.
»Empfindlichkeit ist die Kehrseite der Feinsinnigkeit«, erwiderte der Namenlose.
Thondaril ging nicht weiter darauf ein. »Lasst mich Euch erklären, weshalb wir hier sind.«
Doch der Namenlose winkte ab. »Das ist nicht nötig, ich weiß es längst. Eure Stimmen waren so aufdringlich wie Eure Gedanken. Sie dröhnten durch diese Mauern und hallten so stark wider, dass es kaum zu ertragen war.« Mit diesen Worten klappte er den ledergebundenen Folianten zu, der zuvor aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte.
Gorian hatte einen kurzen Blick darauf werfen und immerhin erkennen können, dass es Elbenrunen waren, mit denen die Seiten fein säuberlich und mit filigraner Handschrift beschrieben waren. Es handelte sich also um kein Buch, das mit einer Druckpresse hundertfach vervielfältigt worden war, sondern um ein wertvolles Einzelstück, selbst dann noch, wenn es sich um eine Kopie handelte, denn ein einzelner Schreiber hatte daran vermutlich mehrere Jahre gearbeitet.
Der Namenlose erhob sich, nahm den Folianten, ging zu einem Regal in der Nähe und schob ihn in eine Lücke zwischen den anderen wertvollen Büchern, die in diesem Gewölbe aufbewahrt wurden.
»Ich bin im Besitz eines Dokuments, das mich ermächtigt, mir jede Schrift aushändigen zu lassen, die ich aus Eurer Bibliothek erwähle«, erklärte Thondaril mit spürbarer Ungeduld. Er holte das Dokument hervor und reichte es dem Namenlosen.
Dieser aber machte keine Anstalten, es entgegenzunehmen, sondern fragte nur: »Was soll ich damit?«
»Dieses Schriftstück verpflichtet Euch ebenso wie den Königlichen Verwalter von Felsenburg, unseren Forderungen Folge zu leisten.«
»Ich fühle mich an derartige Verpflichtungen nicht gebunden. Insofern hat dieses Schriftstück für mich keine Bedeutung.«
Thondaril lag eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber der Namenlose hob die Hand und bedeutete ihm zu schweigen.
»Ich weiß, was Ihr sagen wollt. Und ich weiß, was Euer Plan ist. Ihr wollt zu den Inseln der Caladran und sie mit einem Geschenk aus dieser Bibliothek als Bündnispartner gegen Morygor gewinnen.«
»Und was ist dagegen einzuwenden?«
»Nichts – außer dass Ihr Euch vielleicht falsche Vorstellungen von den Caladran macht.«
»Das lasst getrost meine Sorge sein!«
»Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt sie damit dazu bewegen, ihren Hass und ihre Verachtung aufzugeben? Die Caladran sind nachtragend und selbstsüchtig. Sie interessieren sich einzig und allein für ihre eigenen Interessen und für sonst gar nichts. Was mit dem Rest Erdenrunds geschieht, ist ihnen so gleichgültig wie nur irgendetwas.«
»Ihr sprecht über Euer eigenes Volk, nicht wahr?«, mischte sich Gorian ein, und er sagte es mit ruhiger, klarer Stimme.
Für einige Augenblicke herrschte tiefes Schweigen. Der Namenlose starrte Gorian an, und der junge Ordensschüler spürte, wie eine fremde Kraft seinen Geist zu durchforschen versuchte.
Dann trat der Namenlose auf Gorian zu, dessen Augen schwarz wurden, denn er musste sich aufs Höchste konzentrieren, um dem geistigen Einfluss seines Gegenübers standzuhalten. »Was geschieht, geschieht«, sagte der Bibliothekar. »Ich habe die Hoffnungen, die Linien des Schicksals nachhaltig beeinflussen zu können, vor langer Zeit aufgegeben.«
»In Bälde wird auch dieser Ort ein Teil des Frostreichs werden«, hielt Gorian dagegen. »Kümmert Euch das auch nicht? Wollt Ihr ohne Gegenwehr untergehen?«
»Du bist jung, und deine Natur als Mensch verwehrt es dir, wirklich alt und weise zu werden. So wird dir die Gnade vollkommener Gleichgültigkeit kaum je zuteilwerden.«
Zu Thondarils Überraschung und der seiner Mitschüler sagte Gorian, ohne dass sich dabei seine Stimmlage veränderte: »Ihr seid jener Caladran, den man den Namenlosen Renegaten nennt. Ich spüre Eure Magie, Eure Aura, die der Morygors so sehr ähnelt. Und es ist nicht der innere Frieden, den Ihr gefunden habt. Nein, das Mitgefühl, das Euch zum Ausgestoßenen machte, erstarb in all den Jahren. Nicht einmal Euer eigenes Schicksal kümmert Euch noch.«
»Das liegt daran, dass ich die Vergänglichkeit allen Seins und die Vergeblichkeit aller Taten erkannte, junger Freund«, erwiderte der Namenlose und schlug die Kapuze seiner Kutte zurück. Tatsächlich kam darunter der Kopf eines Caladran zum Vorschein. Die Haut war bleich, fast wie bei einem Toten, und zwei spitze Ohren stachen durch das schlohweiße Haar. Er hob eine Hand, in der ein grelles Licht entflammte. Es wurde bläulich und beschien Gorians Gesicht. »So viel Kraft bei einem, der kein Abkömmling der Caladran ist. Das ist ungewöhnlich.«
Wieder hatte Gorian das Gefühl, dass ein fremder Geist seine Seele zu erforschen versuchte, und diesmal konnte er nichts dagegen ausrichten.
Thondaril wollte eingreifen, doch als er sich in Bewegung setzte, richtete der Namenlose die freie Hand in seine Richtung, und der Meister der Magie und des Schwertes erstarrte.
Dann verlosch das bläuliche Licht.
Der Namenlose senkte die Arme. »Ich weiß jetzt vieles, was mir bisher verborgen war. Und ich werde dieses Wissen in meine Entscheidungen mit einbeziehen.«
»Entscheidungen?«, ereiferte sich Thondaril, der wieder Herr seiner selbst war. Seine ebenfalls schwarz gewordenen Augen zeigten an, dass er seine magischen Kräfte konzentrierte, um gegen weitere Beeinflussungsversuche des Namenlosen gewappnet zu sein. »Was gibt es da noch zu entscheiden?«
»Ihr seid ein Mensch«, entgegnete der Namenlose mit leiser, ruhiger Stimme. »Die Caladran nennen euch ›Söhne des Todes‹, denn der Tod hält euch in seinen Klauen, noch bevor ihr euch eurer selbst bewusst werdet. Daher rührt auch eure Ungeduld. Aber ich habe nicht die Absicht, mich davon zu vorschnellen Entschlüssen treiben zu lassen, sondern werde die wichtigen Entscheidungen, die anstehen, mit Bedacht treffen.«
»Von welchen Entscheidungen sprecht Ihr?«, mischte sich Gorian wieder ein.
Der Namenlose wandte fast provozierend langsam den Kopf. Gorian fiel auf, dass seine Augen nicht goldfarben waren, wie es bei den meisten Caladran der Fall war, sondern dunkel, fast schwarz. Ein hintergründiges Lächeln spielte um seinen dünnlippigen Mund.
»Der Schüler stellt die richtigen Fragen, ganz so, wie es sein sollte«, murmelte er. »So höre denn die Antwort: Ich werde sehen, welche Wege und Wahrscheinlichkeiten in der Zukunft mit deinem Namen verknüpft sind und ob die Möglichkeit besteht, dass du der Stein sein könntest, der ins Auge des Riesen trifft und ihn zu Fall bringt.«
»Morygor befürchtet dies.«
»Die Befürchtungen eines anderen sind für mich kein Maßstab. Morygor hat selbst so viel Furcht verbreitet, dass sie manchmal auf ihn zurückschlägt, so wie eine Schlange ihr eigenes Gift einnimmt, wenn sie ihre Beute verschlingt.«
»Gesetzt den Fall, Ihr kommt zu dem Schluss, dass der Kampf gegen Morygor nicht von vornherein aussichtslos ist, seid Ihr dann bereit, uns zu helfen?«
»Dann werde ich sehen, was zu tun ist.«
Noch etwas war Gorian aufgefallen: »Ihr sprecht von den Caladran wie von einem Euch fremden Volk.«
»Sie wurden mir fremd, obwohl ich einer der ihren war, denn sie haben mich verstoßen. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen und empfinde nichts mehr für sie als pure Verachtung.«
»Ist es das, was Euch daran hindert, das Notwendige zu tun?«, frage Gorian.
Ein Ruck ging durch die Gestalt des Namenlosen. Er stand da, blickte Gorian auf eine Weise an, die vieles zugleich ausdrückte: Hass mischte sich mit Abscheu und dem offensichtlichen Erschrecken darüber, dass dieser sterbliche Jüngling ihn weit mehr durchschaute, als ihm lieb sein konnte. Seine Nasenflügel bebten, als er entgegnete: »Du einfältiger Sohn des Todes glaubst vielleicht, dass du einfach nur ein paar der Caladran-Schriften zu ihren Inseln bringen musst, um ihr Wohlwollen zu gewinnen! Aber da bist du im Irrtum. Die Frage, welche dieser Schriften man ihnen übergibt, ist ebenso sorgfältig zu erwägen wie die, ob dieses Unterfangen überhaupt sinnvoll ist. Sonst wirst du keinen Frieden stiften, sondern nur neue Gegnerschaft!«
Der Namenlose machte eine weit ausholende Geste mit beiden Armen, wobei ein bläulicher Schein Schultern und Arme bis zu den Ellbogen umflorte.
»Geht!«, rief er, und seine Worte dröhnten Gorian gleichzeitig als Gedankenstimme im Kopf, sodass er sie zweifach hörte, in der Sprache Gryphlands und in dem geheimnisvoll klingenden Idiom der Caladran. »Geht und verschont mich mit Eurem Geschwätz, das so flüchtig ist wie Eure gesamte Existenz, und wartet ab, bis ich Euch rufen lasse und meine Entscheidung verkünde!«
»Wie lange wird das dauern?«, verlangte Gorian zu wissen.
Aber die Antwort bestand nur darin, dass sich die Augen des Namenlosen mit einem grellen Licht füllten, das zunächst bläulich schimmerte, dann aber weiß und so hell wurde, dass alle im Raum die Gesichter abwandten und mit den Armen schützten, um nicht geblendet zu werden.
Gorian schauderte für einen Moment, als er die Stärke jener Magie spürte, die bei dem Caladran wirksam war, und Thondaril und Torbas wichen zurück.
Gorian wollte noch etwas einwenden, aber ein sehr eindringlicher Gedanke Sheeras hielt ihn davon ab.
»Es hat keinen Sinn. Nicht so.«