Interview mit dem
Flugpsychologen Reiner W. Kemmler:
»Ein bisschen
mehr Humor wäre schön«

Wie gefährlich sind Kommunikationspannen in Flugzeugen? Was sollte ein Pilot den Passagieren sagen und was nicht? Im Interview erklärt Psychologe Reiner W. Kemmler, was Flugprofis von dem römischen Feldherr Julius Cäsar lernen können – und berichtet von seinem lustigsten Flugerlebnis.

Frage: Herr Kemmler, warum fällt es Piloten schwer, in schwierigen Situationen die richtigen Worte gegenüber den Passagieren zu finden?

Reiner W. Kemmler: Die Cockpitarbeit zeichnet sich durch eine ganz bestimmte Kultur aus. Die Kommunikation zwischen Pilot und Co-Pilot muss offen, kritisch und zu hundert Prozent ehrlich sein. Wird das nicht eingehalten, wird es gefährlich. Wenn Sie jedoch als guter, braver Cockpit-Mitarbeiter auch mit den Passagieren ganz ehrlich kommunizieren, dann haben Sie ein Problem.

Frage: Ist es zu viel Ehrlichkeit, wenn ich als Pilot sage: »Da stand ein A380 auf der Landebahn, deshalb musste ich durchstarten«?

Kemmler: Das würde ich als Kapitän niemals sagen, weil sich dann jeder denkt: »Mann, haben wir Glück gehabt.« Manche Piloten glauben aber, dass sie durch die ausführliche Schilderung einer solchen Situation einen besonders professionellen und kompetenten Eindruck machen. So nach dem Motto: »Herr Lehrer, im Klo war das Licht noch an, aber ich hab’s schon ausgemacht.«

Frage: Reine Prahlerei also, wie toll man die Situation im Griff hat?

Kemmler: Ein junger, dynamischer Co-Pilot, der gerne zeigt, was er kann, spricht vermutlich anders als ein älterer Kapitän, der mit sonorer Stimme sagt: »Wir haben durchgestartet, das haben Sie alle gemerkt. Wir landen zehn Minuten später und bitten Sie um Verständnis.«

Frage: Ein Pilot ist nicht verpflichtet, den Passagieren jedes Notlämpchen oder jede bevorstehende Turbulenz zu melden. Was muss kommuniziert werden?

Kemmler: Zum Beispiel wenn eine Notlandung bevorsteht und die Crew den Passagieren konkrete Handlungsanweisungen geben muss – Schuhe ausziehen, ein Kissen nehmen, die Sauerstoffmaske überziehen. Sonst bräuchte man eigentlich nicht zu kommunizieren. Natürlich ist es aber gut, wenn der Kapitän etwa Turbulenzen vorher ankündigt und alle bittet, sich anzuschnallen. Aber schon da kann man viel falsch machen.

Frage: Zum Beispiel?

Kemmler: Wenn er sagt: »Meine Damen und Herren, Sie haben gemerkt, es wackelt ein wenig, aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir umfliegen das Gewitter.«

Frage: Klingt doch so weit ganz vernünftig.

Kemmler: Eben nicht. In dem Moment, wo Sie »keine Angst« oder »keine Sorge« sagen, setzen Sie in den Köpfen genau das in Gang, was Sie nicht wollen. Leuten, die latent Angst haben, genügt das Stichwort, und sie klammern sich am Sitz fest. Als Pilot müssen Sie so reden, dass die Passagiere immer ein positives Bild von der Situation haben – doch das wird in der Cockpit-Ausbildung nicht geschult.

Frage: Und wie sollte man den Satz richtig sagen?

Kemmler: Bevor ich diese Nachricht weitergebe, würde ich erst mal die Flugbegleiter bitten, darauf zu achten, dass alle angeschnallt sind. Dann würde ich so etwas sagen wie: »Wir umfliegen die vor uns liegende Gewitterfront und verlieren dadurch fünf Minuten, aber die holen wir locker wieder rein.«

Frage: Wenn es mal wirklich kritisch wird in der Luft – hat dann der Kapitän nicht andere Sorgen als die perfekte Wortwahl?

Kemmler: Wenn die Piloten etwa ein Durchstartmanöver fliegen, haben die alle Hände voll zu tun und können nicht sofort und mit optimaler Einstellung auf die Kundschaft kommunizieren. Auch untereinander redet man da nur noch in »Cäsarsprache«: Veni, vidi, vici, ganz kurze, klare Sätze.

Frage: Müssten dann nicht die servicegeschulten Flugbegleiter für die Beruhigung der Passagiere sorgen?

Kemmler: Nun, im Notfall muss auch die Kabinenbesatzung umschalten auf Krisenkommunikation. Das geht nur noch in Militärsprache. Wenn eine Notlandung bevorsteht, können die keine Rücksicht mehr nehmen auf individuelle Befindlichkeiten. Das wirkt auf manche Fluggäste sehr irritierend, weil sie vorher so liebevoll umsorgt wurden.

Frage: Nehmen wir doch mal an, ein Pilot stellt einen schweren Schaden fest und bereitet sich auf eine Notlandung vor. Wie sollte er es den Passagieren sagen?

Kemmler: »Meine Damen und Herren, wir haben einen Triebwerkausfall und werden in einer Viertelstunde notlanden.« Sie müssen klar kommunizieren, ohne Begründungen, ohne Andeuten von möglichen Folgen. Nicht nur aus Zeitgründen, sondern auch, weil die Leute sich sonst mehr Gedanken machen und dann nicht mehr so konzentriert sind.

Frage: Wie wichtig ist die Stimmlage?

Kemmler: Wenn Sie mit piepsiger Stimme reden, löst das Angst aus, weil jeder weiß, dass die Stimme unter Stress höher wird. Ein erfahrener Pilot wird in vielen Fällen mit einer tieferen Stimme reden als ein unerfahrener. Berühmt sind Funksprüche des Testfliegers und Militärpiloten Chuck Yeager. Der hat, als ihm bereits die Maschine um die Ohren flog, mit sonorer Stimme gemeldet: »I’ve got a problem here.« Das sind dann die echten Meisterflieger. So etwas kann man von einem jungen, unerfahrenen Piloten nicht erwarten.

Frage: Wie werden Ansagen in der Ausbildung trainiert?

Kemmler: Es gibt spezielle Seminare, wo Piloten mit Profi-Sprechern und Schauspielern ihre Ansagen trainieren. Sie können das auch im Simulator üben. Doch auf die eigenen Emotionen während eines Notfalls kann man sich nur schwer vorbereiten.

Frage: Noch wichtiger als die kundenfreundliche Ansprache der Passagiere ist für die Sicherheit vermutlich, dass Pilot, Co-Pilot und Tower effizient kommunizieren.

Kemmler: Da gibt es phantastische Geschichten über missverständliche Kommunikation. Der Pilot bittet um die Starterlaubnis, der Tower-Mitarbeiter will wissen, an welchem Gate das Flugzeug ist. Er fragt: »Where are you sitting?« – »Wo sitzen Sie?« – und erhält als Antwort: »I’m sitting left in front of the aircraft.« – »Ich sitze vorne links im Flugzeug.« Das ist echt passiert.

Frage: Wie gefährlich sind Kommunikationspannen für die Luftfahrt?

Kemmler: In einer Studie mit 2000 Piloten haben wir herausgefunden, dass die Hauptfehlerkombination, die zu kritischen Situationen führt, so aussieht: Zunächst gibt es von den Piloten nicht beeinflussbare operationale Umstände, wie zum Beispiel das Wetter. Dazu kommt ein Fehler eines Cockpit-Mitarbeiters und dann als Turbo-Faktor eine misslungene Verständigung. Die vervielfacht die Gefährlichkeit der Situation um ein Fünffaches. So entstehen fast 40 Prozent aller kritischen Situationen.

Frage: Müsste Kommunikation noch stärker geschult werden in der Ausbildung?

Kemmler: Da müsste wesentlich mehr getan werden. Die interpersonale Verständigung ist bis heute nicht so gut geregelt wie der Umgang mit der Maschine. Da gibt es keine Checklisten. Zwar gibt es Regeln und Trainings, aber keine Prüfungen, bei denen man durchfallen könnte. Dabei müssten unbedingt auch die Kommunikationsfähigkeiten der Crew-Mitglieder beurteilt werden. Wogegen sich die Piloten wehren, denn ihre Stärke liegt im technischen Bereich.

Frage: Manche Piloten haben trotzdem reichlich Humor. Vor allem bei amerikanischen und australischen Fluglinien hört man erheblich öfter lustige Ansagen der Mitarbeiter als bei europäischen – woran liegt das?

Kemmler: Das ist ein kultureller Unterschied. Dort herrscht eine Lässigkeit, die für uns Mitteleuropäer sehr angenehm und entspannend ist.

Frage: Was war Ihr lustigster Flug?

Kemmler: Ich kann mich an einen Flug mit Southwest Airlines von Phoenix nach Los Angeles erinnern. Da versprach die Crew erst, dass wir auf jeden Fall pünktlich ankommen würden. Dann deutete sich aber doch eine Verspätung an, und der Flugbegleiter bot an, zur Entschädigung für ein bisschen Unterhaltung zu sorgen. Er fing an, einen Blues-Song zu trällern und tanzte dazu, und die Leute waren hin und weg. So etwas könnte man sich hierzulande nicht vorstellen.

Frage: Ist das nicht zu viel Humor für flugängstliche Passagiere?

Kemmler: Solche Slapstick-Einlagen können Sie in unserer Kultur einfach nicht bringen. Denn manche, die Angst haben und sich völlig verklemmt in den Sitz zwängen, denken dann, sie würden nicht ernst genommen. Humor im Flugzeug sollte nie zu hintersinnig oder intellektuell sein, sondern sich auf einer einfachen Ebene abspielen. Sonst fühlen sich diejenigen, die den Witz nicht verstehen, auf den Arm genommen. Trotzdem: Ein bisschen mehr Humor in Flugzeugen wäre schön.

Frage: Gerade bei so Standards wie der Sicherheitseinführung freut man sich doch als Vielflieger, wenn es mal ein bisschen Abwechslung gibt.

Kemmler: Wenn Worte heruntergerattert werden, haben sie keine Wirkung. Normabweichungen sind immer gut. Selbst wenn der Ansagentext standardisiert ist, hätte man noch den kleinen Spielraum, vorher zu sagen: »Und jetzt kommt eine besonders interessante Ansage, ich kann es Ihnen versprechen«, und dann kommt die völlig normale Standarddurchsage. Aber die Leute sagen: »Das hat er aber nett gemacht.«

Frage: Eine Normabweichung der eher misslungenen Art war diese Durchsage: »Hier leuchtet eine rote Lampe, ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, deshalb kehren wir um.« Braucht so ein Pilot Nachhilfe in Sachen Krisenkommunikation?

Kemmler: Das ist genau dieser Kulturunterschied zwischen Cockpit und Passagieren: Der Pilot ist komplett ehrlich. Und will mit dem Satz ausdrücken, dass er extrem sicherheitsorientiert ist und den Passagieren zuliebe kein Risiko eingeht: »Für euch tu ich alles, für euch kehr ich um.« Aber das wird keiner der Passagiere so verstehen.

Zur Person: Reiner W. Kemmler

Der Diplom-Psychologe Reiner W. Kemmler, Jahrgang 1940, war leitender Referent für Luftfahrtpsychologie bei der Lufthansa. Seine Forschungsschwerpunkte sind Flugunfallanalysen, Trainings- und Therapieprogramme für Piloten sowie die Rehabilitation und Prävention gesundheitlicher Störungen bei fliegendem Personal. Er betreibt eine flugpsychologische Praxis in Mörfelden bei Frankfurt.