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18. Kapitel

Adrianne war überzeugt, dass Philip gegangen war. Lange blieb sie unter der Dusche stehen und ließ die heißen Wasserstrahlen auf ihre Haut prasseln. Die höllischen Kopfschmerzen, die sie gerade noch geplagt hatten, ließen nach, und das dumpfe Pochen, das wusste sie, würde mit Hilfe von Aspirin ganz verschwinden. Adrianne hatte irgendwie das Bedürfnis, sich etwas Gutes zu tun. Sorgfältig cremte sie deshalb ihren ganzen Körper mit einer duftenden Bodylotion ein und schlüpfte dann in einen bequemen Hausmantel. Sie wollte sich gemütlich auf die Terrasse legen und ihr Haar von der Sonne trocknen lassen.

Der Strand konnte warten. An diesem Morgen, beschloss sie, war es besser für sie, allein zu bleiben, ohne die lästigen Cocktail-Kellner, die ihr ständig Drinks anboten, und die übrigen Feriengäste, die neben ihr herumbrüllten, mit Wasser spritzten oder sich in der Sonne rösten ließen. Sie verbrachte den Weihnachtsmorgen immer allein, ging wohlmeinenden Freunden und gesellschaftlichen Verpflichtungen aus dem Weg. Die Erinnerungen an das letzte Weihnachten mit ihrer Mutter waren nicht mehr so klar und schmerzlich wie in früheren Jahren, doch den Anblick von glitzernden Christbaumkugeln konnte sie noch immer nicht ertragen.

Phoebe hatte stets einen weißen Engel auf die Spitze des

Weihnachtsbaumes gesetzt. Jahr für Jahr, seit ihrem ersten Weihnachtsfest in Amerika. Außer dem letzten, als sie so tief in dem schwarzen Tunnel gefangen war, dass sie sich darin verlor.

So betrachtete Adrianne die Krankheit ihrer Mutter - als einen langen, schwarzen Tunnel, ein Labyrinth von Irrwegen und Sackgassen. Sie nahm lieber zu dieser irgendwie greifbaren Vorstellung Zuflucht, und nicht zu den nackten, gefühllosen Terminologien in den Lehrbüchern über Geisteskrankheiten, die sie zur Genüge gewälzt hatte. Ja, dieses Bild war immer noch besser als all die Diagnosen und Prognosen, die ihr diverse angesehene Fachärzte in nach altem Leder riechenden Besprechungszimmern unterbreitet hatten.

Es war dieser Tunnel gewesen, der ihre Mutter im Laufe der Zeit tiefer und tiefer in sein Inneres eingesaugt hatte. Doch immer wieder hatte Phoebe die Kraft gefunden, sich aus diesem Sog zu befreien. Bis sie zu schwach geworden war - oder das Dunkel des Tunnels ihr erträglicher erschienen war als das Licht an dessen Ende.

Mag sein, dass die Zeit tatsächlich Wunden heilt, aber vergessen läßt sie einen nicht.

Adrianne fühlte sich besser, nachdem sie ihre Gefühle in Worte gekleidet hatte, obwohl sie es bereits bedauerte, Philip soviel von sich offenbart zu haben. Aber sie redete sich ein, dass es eigentlich keine Rolle spielte, da sich ihre Weg in Kürze ohnehin trennen würden und, was immer sie gesagt, was immer sie mit ihm geteilt hatte, mit der Zeit an Bedeutung verlieren würde. Wenn er freundlich zu ihr war, wo keine Freundlichkeit von ihm erwartet wurde, sei's drum. Wenn sie Verlangen gespürt hatte, wo keines existieren konnte, so würde sie darüber hinwegkommen. Zu lange hatte sie sich selbst unter Kontrolle gehabt, zu achtsam hatte sie ihre Gefühle vor anderen verborgen, als dass er daran etwas ändern konnte.

Von nun an würde sie all ihre Gedanken und Gefühle nur noch auf eine Sache konzentrieren: auf Jaquir - und auf ihre Rache.

Doch als sie die Badezimmertür öffnete, war er immer noch da, stand barfuß und ohne Hemd an der Tür und sprach in fließendem Spanisch mit einem weißbefrackten, freundlich dreinblickenden Zimmerkellner. Sie beobachtete Philip dabei, wie er ihm ein Bündel Banknoten in die Hand drückte - genug offenbar, dass der Kellner sich freuen konnte, heute gearbeitet zu haben, trotz des Feiertages.

»Buenas dias, Senora. Fröhliche Weihnachten.«

Sie machte sich nicht die Mühe, seine Annahme bezüglich ihrer Beziehung zu Philip zu korrigieren oder darauf hinzuweisen, dass Weihnachten seit Jahren alles anderes als fröhlich für sie war. Statt dessen schenkte sie ihm ein Lächeln, das ihn mindestens so erfreute wie die Pesos, die schon in seiner Tasche verschwunden waren.

»Buenas dias. Felkes Navidad«, erwiderte Adrianne seinen Gruß und wartete dann mit verschränkten Händen, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Weshalb bist du noch hier?« wollte sie von Philip wissen, als sie allein waren.

»Weil ich Hunger habe.« Langsam schlenderte er auf die Terrasse hinaus und setzte sich. Offensichtlich äußerst zufrieden mit sich und der Welt, schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein. Es gab verschiedene Mittel und Wege, das Vertrauen eines anderen zu erringen. Bei einem Vogel mit gebrochenem Flügel brauchte man dafür Geduld, Fürsorge und eine sanfte Hand. Bei einem reizbaren Pferd, das die Peitsche kennengelernt hatte, benötigte man milde Sorgfalt und musste das Risiko eingehen, von ihm getreten zu werden. Bei einer Frau brauchte es dazu ein gewisses Maß an Charme. In Adriannes Fall war er bereit, alle Möglichkeiten auszuschöpfen.

Sie folgte ihm nach draußen, die Stirn in Falten gelegt. »Vielleicht mag ich gar nicht frühstücken.«

»Kein Problem. Ich schaffe deins auch noch.«

»Oder Gesellschaft haben.«

»Ich hab' nichts dagegen, wenn du an den Strand gehst. Sahne?«

Dem duftenden Kaffee oder der warmen Morgensonne hätte sie ja noch widerstehen können. Ganz sicher sogar.

Doch dem Omelette konnte und wollte sie nicht widerstehen.

»Ja.« Mit einer Haltung, als gewähre sie ihm eine Audienz, nahm sie an dem kleinen Tisch Platz. Philips Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen.

»Wünschen Eure Hoheit Zucker?«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Wut begann wieder in ihnen aufzuflackern. Doch im nächsten Moment wurden sie wieder klar und lächelten. »Ich gebrauche meinen Titel nur bei offiziellen Anlässen oder in Gegenwart von Idioten.«

»Wie schmeichelhaft für mich.«

»Ganz und gar nicht. Ich bin immer noch am Überlegen, ob du zu den Idioten zählst oder nicht.«

»Ich gebe dir den Tag heute frei, damit du dir darüber klarwerden kannst«, konterte er und zerteilte sein Omelette. Ein würziger Geruch stieg daraus empor. Genauso war Adrianne, dachte er bei sich; außen zart und weich, doch innen feurig und voller Überraschungen. »Da ich bislang immer damit beschäftigt war, dich zu beobachten, hatte ich noch gar keine Zeit, mich dem Meer und der Sonne zu widmen.«

»Das tut mir aber unendlich leid.«

»Danke. Aber du könntest mir zumindest dabei Gesellschaft leisten.« Er bestrich einen Toast mit Erdbeermarmelade und reichte ihn ihr. »Außer du hast Angst, dich mit mir zu vergnügen.«

»Warum sollte ich?«

»Weil du weißt, dass ich mit dir schlafen möchte, und du Angst hast, dass es dir Spaß machen könnte.«

Sie biß in den Toast und versuchte, keinerlei Regung zu zeigen. »Ich habe dir doch bereits erklärt, dass ich keineswegs die Absicht habe, mit dir ins Bett zu steigen.«

»Nun, dann werden dich ein paar Stunden in der Sonne auch nicht aus dem Konzept bringen.« Als sei damit alles geregelt, konzentrierte er sich wieder auf sein Frühstück. »War das ernst gemeint, was du heute nacht gesagt hast?«

Das Omelette linderte ihre Kopfschmerzen, und die Sonne tat ihr übriges, um sie ganz verschwinden zu lassen. »Was meinst du?«

»Dass dies dein letzter Coup war.«

Sie nahm die Gabel und klopfte damit ihr Ei auf. Adrianne hatte es bislang perfekt verstanden, andere Menschen zu belügen, und dass Philip sie vielleicht durchschauen könnte, auf den Gedanken kam sie gar nicht. »Ich sagte, es war der letzte Coup in dieser Phase meiner Karriere.«

»Will heißen?«

»Genau dies.«

»Adrianne.« Jetzt war es an der Zeit, dachte er, Geduld und eine feste Hand zu demonstrieren. »Ich habe eine Verpflichtung meinen Vorgesetzten gegenüber. Und ich habe den Wunsch, dir zu helfen.« Er bemerkt sehr wohl, dass sie auf der Hut war, aber sie zog ihre Hand nicht zurück, als er die seine darüberlegte. »Wenn du aufrichtig zu mir bist, dann finde ich einen Weg, beidem gerecht zu werden. Wenn nicht, dann könnte ich bald genauso in der Tinte sitzen wie du.«

»Du wirst überhaupt nicht in der Tinte sitzen, wenn du mir die Dinge überlässt. Ich kann dir versichern, Philip, dies hier ist eine rein private Angelegenheit und etwas, was weder dich noch Interpol in irgendeiner Weise betrifft.«

»Es muss mich aber betreffen.«

»Warum?«

»Weil ich dich gern habe.« Er verstärkte den Druck seiner Hand, als ihre immer mehr zu zucken begann. »Sehr sogar.«

Es wäre ihr lieber gewesen, wenn er eine der üblichen, leicht zu ignorierenden Nettigkeiten gesagt hätte, die Männer gemeinhin von sich geben, wenn sie eine Frau attraktiv finden. Seine Worte waren zu schlicht, zu direkt und zu aufrichtig. »Anders wäre es mir lieber.«

»Mir auch, aber wir sitzen nun mal beide im selben Boot.« Er gab ihre Hand frei und widmete sich dann wieder so gelassen wie möglich seinem Frühstück. »Ich werde es dir leicht machen. Fangen wir damit an, wie du auf diese Art Broterwerb gekommen bist.«

»Du lässt mir also keine Ruhe, bis ich dir alles erzählt habe, nicht wahr?«

»Genau. Noch Kaffee?«

Sie nickte. Das spielte nun auch keine Rolle mehr, entschied sie. Abgesehen davon kannte er diese Art von Arbeit, hatte die gleichen Hochgefühle, die gleichen Empfindungen und Erfolgserlebnisse durchlebt. »Ich habe dir doch erzählt, dass meine Mutter lange Zeit krank gewesen war.«

»ja.«

»Nun, da waren Arztrechnungen, Medikamente und Behandlungen zu bezahlen. Und sie ist oft recht lange in einem Sanatorium untergebracht gewesen.«

Natürlich wusste er das. Jeder, der in den letzten zehn Jahren in Zeitschriften geblättert hatte, wusste von der Tragödie um Phoebe Spring. Dennoch wollte er die Geschichte gerne von Adrianne selbst hören, in ihren Worten und mit ihren Gefühlen. »Was fehlte ihr denn genau?«

Dies zu beantworten fiel ihr immer am schwersten. Am besten, sie erzählte es ihm gleich, dann war es heraus. »Bei ihr wurde eine manische Depression diagnostiziert. Es gab Zeiten, da redete sie wie ein Wasserfall und schmiedete die kühnsten Pläne. Dann konnte sie vor lauter überschäumender Energie nicht stillsitzen, nicht schlafen und nicht essen; es war, als habe sie ein Gift im Körper, das sie innerlich anheizte. Darauf folgte dann ein Tief. Sie sprach kein Wort, saß nur da und starrte vor sich hin, erkannte niemanden mehr, nicht einmal mich.«

Sie räusperte sich und trank einen Schluck Kaffee. Diese Erinnerungen an ihre Mutter waren die schlimmsten - wie sie neben ihr gesessen und ihre Hand gehalten hatte, mit ihr gesprochen, ja sie angefleht hatte, und als Antwort darauf nur einen leeren Blick von ihr bekam. In solchen Zeiten war sie in dem Tunnel gefangen gewesen, versucht, sich dem Dunkel und der Stille zu überlassen.

»Das muss schrecklich für dich gewesen sein.«

Sie sah ihn nicht an, konnte es nicht. Statt dessen blickte sie hinaus auf das Meer, das ruhig und so unglaublich blau unter einem wolkenlosen Himmel schimmerte. »Für sie war es schrecklich. Im Laufe der Jahre ist sie alkohol- und tablettensüchtig geworden. Es hat schon in Jaquir angefangen - Gott weiß, wie sie dort an die Pillen gekommen ist - und ist dann hier eskaliert, als sie versuchte, in Hollywood wieder Fuß zu fassen. Ich kann dir nicht sagen, ob ihre Geisteskrankheit für ihre Trunksucht verantwortlich war oder umgekehrt. Ich weiß nur, dass sie, solang es ihr möglich war, gegen beide Krankheiten ankämpfte. Doch als wir nach Kalifornien gingen, gab es dort nicht die passenden Drehbücher und Rollen für sie, und diesen Mißerfolg konnte sie nicht verkraften. Sie bekam schlechte Ratschläge, an die sie sich klammerte wie eine Ertrinkende. Ihr Agent war ein Schwein.«

Ihre Stimme wurde eine Spur härter, dehnte sich ein wenig, geriet aber nicht ins Wanken. Doch diese kleine Unsicherheit ließ Philip sofort aufhorchen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er sie fragend. »Was hat er getan? Dir angetan?«

Ihr Kopf schloss daraufhin in die Höhe. Für einen kurzen Moment waren ihre Augen glasklar, dann trübte sich ihr Blick wieder.

»Wie alt warst du damals?« fragte er vorsichtig, während sich seine Finger um die Gabel klammerten.

»Vierzehn. Es war nicht so schlimm, wie du vielleicht denkst. Mama kam zurück, bevor er mich... als ich mich gerade gegen ihn wehrte. So habe ich sie noch nie erlebt. Sie war unglaublich stark, wie die sprichwörtliche Tigerin, die ihre Jungen verteidigt.« Die Erinnerung daran schmerzte sie, daher beließ sie es bei der Andeutung. »Viel wichtiger aber ist, er hat sie heruntergezogen, sie benutzt und ausgebeutet; und meine Mutter hatte während der langen Jahre in Jaquir soviel einstecken müssen, dass sie sich nicht mehr aus diesem Sumpf herausziehen konnte.«

Er ließ es gut sein, weil er wusste, dass er ihr Vertrauen nur gewinnen konnte, wenn er sie nicht allzusehr bedrängte. »Ihr seid nicht in Kalifornien geblieben?«

»Nein, gleich nach dem Zwischenfall mit ihrem Agenten sind wir erneut nach New York gezogen. Dort ging es ihr besser, viel besser. Sie sprach davon, es wieder am Theater zu versuchen. Die Bühne. Begeistert sprach sie von den Rollenangeboten, die sie bekommen würde. Nur, es kamen keine, oder keine interessanten, doch das wusste ich damals nicht, weil ich glaubte, glauben wollte, dass nun alles gut war. Doch dann kam ich eines Tages von der Schule nach Hause, kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag, und fand sie in einem verdunkelten Zimmer sitzend vor. Sie antwortete mir nicht, als ich mit ihr sprach. Ich schüttelte sie und brüllte sie an. Nichts. Ich kann es dir gar nicht beschreiben: Es war, als sei sie innerlich schon gestorben.«

Philip schwieg, verschränkte nur seine Finger mit den ihren. Adrianne starrte auf ihre ineinander verwobenen Hände. So eine einfache Geste, sinnierte sie, die einfachste Form menschlichen Kontakts. Sie hatte nicht gewusst, wie tröstlich das sein konnte.

»Ich musste sie in ein Sanatorium geben. Es war das erstemal. Nach einem Monat war kein Geld mehr da. Daraufhin kam sie wieder nach Hause. Ich gab die Schule auf und suchte mir einen Job. Sie hat es nie gemerkt.«

Sie hätte zur Schule gehen, sich amüsieren und mit schlaksigen, jungen Burschen ausgehen müssen. »Gab es denn niemanden, keine Angehörigen, an die du dich hättest wenden können?«

»Ihre Eltern waren früh gestorben. Sie wurde von ihren Großeltern aufgezogen, die aber starben, als ich noch ein Baby war. Sie bekam eine kleinere Summe aus einer Versicherung ausbezahlt, doch das Geld wurde nach Jaquir geschickt, wo es wahrscheinlich heute noch liegt.« Sie tat diesen Teil ihrer Erzählung ab, als sei er unwichtig. »Ich hatte nichts dagegen zu arbeiten. Es machte mir sogar mehr Spaß als die Schule. Doch das wenige, das ich verdiente, reichte kaum für die Miete und das Essen, geschweige denn für Medikamente und die Behandlungen. Also begann ich zu stehlen. Und mit Erfolg.«

»Hat sie dich denn nie gefragt, woher das Geld kam?«

»Nein. Diese letzten Jahre hat sie meist in einer Art Dämmerzustand verbracht. Sie glaubte oft, noch immer Filme zu drehen.« Ein Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus. Sie beobachtete, wie eine Möwe in die Wellen stürzte, wieder auftauchte und dann laut schreiend davonflog. »Schließlich vertraute ich mich Celeste an; sie wurde fuchsteufelswild, als sie das hörte. Sie wäre für alle Unkosten aufgekommen, aber das konnte ich nicht zulassen. Ich fühlte mich für meine Mutter verantwortlich. Auf alle Fälle habe ich nie jemanden bestohlen, der es nicht verdient hätte.«

»Wonach hast du das beurteilt?«

»Ich habe mir meine Opfer immer sehr sorgfältig ausgesucht und nur den Allerreichsten etwas weggenommen.«

»Das ist nie verkehrt«, meinte Philip ironisch.

»Und den Geizhälsen. Lady Caroline zum Beispiel.«

»Ja, die Diamanten.« Philip strich sein Haar zurück und steckte sich eine Zigarette an. »Zwanzig Karat, beinahe lupenrein. Um diese Steine habe ich meinen Kollegen immer beneidet.«

»Das war auch ein toller Job.« Sie legte die Ellbogen auf den Tisch und stützte ihr Kinn auf die Handflächen. »Sie bewahrte sie in einer Stahlkammer auf, die erstklassig gesichert war. Wärmesensoren. Bewegungsdetektoren. Infrarot. Sechs Monate brauchte ich, um einen Plan auszuarbeiten.«

»Und wie hast du's dann geschafft?«

»Sie hatte mich übers Wochenende eingeladen. Also brauchte ich mir über das hauseigene Alarmsystem keine Gedanken mehr zu machen. Ich arbeitete mit Magneten und einem Minicomputer. Im ersten Stock hatten sie Lichtschranken installiert, aber unter denen konnte man leicht durchkriechen. Der Tresor selbst war mit einem Zeitschloss gesichert, aber ich überlistete den Computer, indem ich ihn sechs Stunden vorstellte. Dazu hatte ich eine Vorrichtung aus einem Wecker und einigen Mikrochips gebastelt. In der Stahlkammer musste ich zwei Alarmsysteme kurzschließen und die Kameras ausschalten. Dann hatte ich freie Bahn. Als ich wieder in meinem Zimmer war, löste ich mittels einer Fernsteuerung den Alarm aus.«

»Du hast Alarm ausgelöst, während du noch im Haus warst?«

»Warum denn nicht?« Sie bekam wieder Appetit und strich sich noch einen Marmeladetoast. »Ich habe die Diamanten in einem meiner Cremetöpfe versteckt, aber man hat mein Zimmer nicht durchsucht.«

»Selbstverständlich.«

»Schließlich hat mich der Alarm um vier Uhr morgens aus dem Tiefschlaf gerissen; und ich war - wie Lady Caroline - zu Tode erschrocken!«

Philip beobachtete sie, wie sie herzhaft in ihren Toast biß. »Ganz schön abgeklärt.«

»Sie hat kein Mitleid verdient. Vierzig Millionen Pfund ist die Dame schwer und spendet davon gerade mal ein halbes Prozent für wohltätige Zwecke.«

Philip stutzte. »Wählst du danach deine Opfer aus?«

»Ganz richtig. Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, bedürftig zu sein und diese Bedürftigkeit zu hassen. Ich habe mir geschworen, das nie zu vergessen.« Sie rollte die Schultern, als ob sie gegen einen alten Schmerz ankämpfte. »Als meine Mutter starb, habe ich weiterhin gestohlen.«

»Warum?«

»Aus zwei Gründen. Erstens, weil ich dadurch Gelegenheit hatte, das Geld von Leuten gerecht zu verteilen, die auf ihren Reichtümern hockten und sie in dunklen Tresoren stapelten. Madeline Moreaus Saphir zum Beispiel verwandelte sich in eine großzügige Spende für die Witwen- und Waisenstiftung.«

Philip schnippte seinen Zigarettenstummel über die Terrasse und nahm dann einen großen Schluck von dem inzwischen kalt gewordenen Kaffee. »Willst du mir vielleicht erzählen, dass du ein weiblicher Robin Hood warst?«

Adrianne dachte kurz über seine Frage nach. Es war ein interessanter und reizvoller Vergleich. »Sozusagen, aber der Ehrlichkeit halber muss ich zugeben, dass es auch für mich ein gutes Geschäft war. Ich gestattete mir nämlich eine kleine Kommission. Stehlen ist ein kostspieliges Unterfangen, wenn man die ganzen Werkzeuge, Apparaturen und vor allem die Zeit einrechnet, aber es hilft einem auch, den äußeren Schein zu wahren. Abgesehen davon möchte ich nicht arm sein.«

»Ich für meine Person ebenfalls nicht.« Er pflückte eine Blume aus der Schale und zwirbelte ihren Stengel zwischen den Fingern. »Wie hoch war denn deine Kommission?«

»Das war unterschiedlich, bewegte sich aber meist zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent, je nach den entstandenen Unkosten. Nehmen wir zum Beispiel die St.-John-Juwe- len: mein Flugticket, die Hotelkosten - diese hier. Die Rechnung für das El Grande würde ich vernachlässigen.«

»Natürlich.«

»Dazu kommt meine Verpflegung, die Zimmermädchen- Uniform und die Perücke - oh, und einige Ferngespräche. Die Einkäufe und Ausflüge gehen natürlich zu meinen Lasten.«

»Selbstverständlich.«

Sie sah ihm direkt in die Augen. »Du kannst darüber eigentlich nicht richten, Philip, nachdem du ja selbst einen Großteil deines Lebens als Dieb verbracht hast.«

»Ich richte ja gar nicht, ich wundere mich nur. Erst erzählst du mir, dass du all diese Coups allein durchgezogen hast...«

»Das stimmt. Du vielleicht nicht?«

»Ja, aber...« Er hielt eine Hand hoch. »In Ordnung. Aber jetzt willst du mir weismachen, dass du all die Jahre über den ganzen Gewinn außer den fünfzehn bis zwanzig Prozent Kommission weggegeben hast.«

»Mehr oder weniger.«

»Das sind achtzig Prozent der Gewinne für wohltätige Zwecke.«

»Auf meine Weise bin ich eben ein Menschenfreund.« Dann grinste sie. »Und ich habe Spaß an meiner Arbeit. Du kennst das Gefühl, wenn man Millionenwerte in Händen hält. Wenn man die funkelnden Diamanten auf seinen Handflächen betrachtet und weiß, dass sie einem gehören, weil man clever ist.«

»Ja.« Er verstand sie nur zu gut. »Ich kenne das Gefühl.«

»Und wenn einem in einer kalten Nacht der Wind ins Gesicht bläst, während man an einer Fassade hochklettert; wenn die Hand ruhig ist wie ein Stein und der Verstand messerscharf arbeitet. Das erwartungsvolle Gefühl der Vorfreude - wie vor dem Öffnen einer Flasche Dom Perignon, kurz bevor der Korken aus der Flasche schießt und der köstliche Inhalt heraussprudelt.«

Er fummelte eine neue Zigarette aus der Packung. Es war sogar noch mehr als das. Für ihn war es vergleichbar mit dem Augenblick, bevor der Samen und zugleich damit die ganze Leidenschaft aus einem herausbricht und sich in den Leib einer Frau ergießt. »Ich weiß, dass das einen süchtig machen kann. Aber ich weiß auch, dass die Zeit zum Aufhören gekommen ist, wenn man ganz oben ist.«

»So wie bei dir?«

»Sehr richtig. Ein kluger Spieler weiß ganz genau, wann die Einsätze zu hoch werden und er den Tisch wechseln muss.« Er stieß eine Rauchwolke aus. »Du hast mir jetzt einen der Gründe genannt, Addy. Und wie lautet der andere?«

Sie antwortete nicht gleich, sondern stand erst auf, ging an die Brüstung und blickte hinaus aufs Meer. Sie konnte nicht behaupten, dass sie ihm vertraute. Warum sollte sie auch? Andererseits, Gleiches zieht sich an, wie man so schön sagt. Er war ein Dieb gewesen, und vielleicht steckte in ihm immer noch genügend von einem Dieb, um das, was sie vorhatte, gutzuheißen, ohne das Warum zu verstehen.

»Zunächst musst du mir etwas versprechen.« Sie drehte sich um, so dass die warme Meeresbrise ihr volles, schwarzes, duftendes Haar erfasste und aus ihrem Gesicht wehte.

»Was denn?« Etwas in ihren Augen, etwas an der Art, wie sie dastand, ließ ihn stutzen. Ihm wurde plötzlich klar, dass er ihr in diesem Augenblick alles versprechen würde, eine Erkenntnis, die einem Mann den Boden unter den Füßen wegziehen konnte.

»Dass das, was ich dir jetzt sagen werde, unter uns bleibt. Dass kein Wort davon deinen Vorgesetzten zu Ohren kommt.«

Er hatte die Augen wegen der blendenden Sonne zusammengekniffen, beobachtete sie aber dennoch ganz genau. »Müssen wir darüber denn noch ein Wort verlieren?«

»Ich weiß nicht.« Sie zögerte einen Augenblick, versuchte, ihn abzuschätzen. Sie konnte ihm eine Lüge auftischen oder dies zumindest versuchen, fragte sich dann aber, ob es nicht sicherer war, die Wahrheit zu sagen. Solange er ihr auf den Fersen war, würde sie niemals nach Jaquir kommen, um sich zu holen, war ihr gehörte. »Ich weiß, was du früher gemacht hast, Philip, und habe dich nicht nach deinen Gründen dafür gefragt.«

»Möchtest du sie hören?«

Die Überraschung stand ihr klar im Gesicht geschrieben. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr so bereitwillig Rede und Antwort stehen würde. »Vielleicht ein andermal. Ich habe dir heute morgen mehr von mir und meinem Leben erzählt als je einem anderen Menschen zuvor. Selbst Celeste kennt nur Bruchteile davon. Ich möchte niemanden in mein Privatleben einbeziehen.«

»Es ist zu spät, um Gesagtes rückgängig zu machen, und reine Zeitverschwendung, selbiges zu bedauern.«

»Ja.« Sie drehte sich um und schaute wieder aufs Meer hinaus. »Das mag ich an dir. Romantiker hin oder her, jedenfalls bist du ein praktisch veranlagter Mensch. Wieviel Fantasie hast du?«

Philip erhob sich jetzt ebenfalls und lehnte sich an die Brüstung, doch sie waren immer noch eine Tischbreite voneinander entfernt. »Genug, um zu sehen, dass sich unsere Wege immer wieder kreuzen - gleichgültig wie unangenehm es auch für uns beide sein mag.«

Adrianne fröstelte plötzlich, obwohl sie mitten in der Sonne stand. Das Schicksal war etwas, das man nicht beeinflussen konnte. »Das mag schon sein, aber darum geht es nicht. Du hast mich gefragt, warum ich nicht mit dem Stehlen aufgehört habe, und das will ich dir jetzt erklären. Es war die Übung, das Training könnte man sagen, für den wichtigsten Coup meines Lebens. Für den größten Coup überhaupt.«

Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Aus Angst, stellte er fest, aus sicherer, nackter Angst. Um sie. »Wie meinst du das?«

»Hast du je von Sonne und Mond gehört?«

Jetzt schloss die Angst direkt in seine Kehle und brach aus ihm heraus. »Großer Gott. Du musst den Verstand verloren haben!«

Sie lächelte nur. »Dann hast du davon gehört.«

»Es gibt niemanden in unserer Branche, der nicht von diesem Kollier gehört hätte, oder davon, was 1935 passierte, als jemand auf die wahnwitzige Idee kam, es stehlen zu wollen. Man hat dem Dieb die Kehle aufgeschlitzt, nachdem man ihm zuvor beide Hände abgehackt hatte.«

»Und sein Blut ergoss sich über Sonne und Mond.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das sind Ammenmärchen.«

»Das ist kein Spiel.« Er machte einen Satz auf sie zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie so energisch, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »In diesem Land werden Diebe nicht in ein gemütliches Gefängnis gesperrt. Um Himmels willen, Adrianne! Niemand sollte besser als du wissen, wie grausam die Strafe deines Vaters wäre.«

»Ich will Gerechtigkeit, und ich werde sie bekommen.« Sie machte sich von ihm frei. »Seit meinem ersten Diebstahl, um meine Mutter aus der Anstalt herauszuholen, habe ich mir das geschworen. Das Kollier gehörte ihr, es war ihr Hochzeitsgeschenk. Der Brautpreis. Nach in Jaquir geltendem Recht bleiben alle Hochzeitsgeschenke im Besitz der Frau, auch nach dem Tod des Ehemanns oder einer Scheidung. Jegliches Vermögen der Frau, egal aus welchem Stand sie kommt, geht in den Besitz des Ehemannes über, und er kann darüber verfügen, wie es ihm beliebt. Aber der Brautpreis gehört der Frau; und deshalb gehört Sonne und Mond meiner Mutter. Er hat sich geweigert, ihr ihr Eigentum zu geben, also werde ich es mir holen.«

»Aber was nützt es ihr denn jetzt noch?« Er wusste, dass er grob war, zu grob, fand aber keinen anderen Weg. »Und wenn es dir auch noch so weh tut: Sie ist tot.«

»Glaubst du vielleicht, das wüßte ich nicht?« Was jetzt in ihren Augen aufleuchtete, war kein Schmerz, sondern leidenschaftlicher Haß. »Nur ein einziger, ein winziger Stein dieses Kolliers hätte sie über Jahre am Leben erhalten, hätte für die besten Ärzte und die beste Behandlung gereicht. Er wusste, wie verzweifelt wir waren. Er wusste es, weil ich meinen Stolz begraben und ihn in einem Brief um Hilfe gebeten habe. Er antwortete mir, dass die Ehe aufgelöst sei und damit auch seine Verpflichtungen uns gegenüber. Wegen ihrer Krankheit und weil ich noch ein Kind war, hatten wir nicht die Möglichkeit, nach Jaquir zurückzufahren und vor Gericht die Herausgabe des Kolliers zu fordern.«

»Was immer er dir und deiner Mutter angetan haben mag, ist Vergangenheit. Es ist zu spät, das Kollier kann nichts mehr daran ändern.«

»O nein, Philip.« Ihre Stimme hatte sich verändert. Der Haß darin war noch spürbar, doch es war jetzt ein kalter Haß, ein tödlicher Haß. »Für Rache ist es nie zu spät. Wenn ich ihm das Kollier wegnehme, den Stolz Jaquirs, wird mein Vater leiden. Freilich nicht so, wie sie gelitten hatte, niemals, aber doch genug. Und wenn er weiß, wer es hat, wer es ihm gestohlen hat, wird meine Rache nur noch süßer sein.«

Wahren Haß kannte er bei sich selbst nicht. Nie hatte er aus einem anderen Grund gestohlen als zu überleben, oder besser gesagt, angenehmer zu überleben. Aber er erkannte wahren Haß und war überzeugt davon, dass dies das stärkste Gefühl ist, zu dem ein Mensch fähig sein kann. »Hast du eine Vorstellung davon, was mit dir passiert, wenn man dich schnappt?«

Ihre Augen waren unbeweglich und sehr dunkel, als sich ihre Blicke trafen. »Sicher eine bessere als du. Ich weiß, dass mir mein Titel und meine amerikanische Staatsangehörigkeit keinerlei Schutz bieten. Wenn ich dafür bezahlen muss, dann soll es so sein. Es gibt eben Dinge, für die kein Risiko zu groß ist.«

Sein Blick ruhte nun auf ihrer Haut, die in der Sonne golden schimmerte. »Ja«, stimmte er ihr zu. »Die gibt es.«

»Ich weiß genau, wie ich es anstellen werde, Philip. Schließlich hatte ich zehn Jahre Zeit, um dieses Unternehmen zu planen.«

Und ihm blieben nur Wochen oder vielleicht nur wenige Tage, um sie davon abzubringen. »Ich möchte mehr darüber wissen.«

»Mal sehen. Ein andermal vielleicht.«

Ein plötzlicher Stimmungsumschwung ließ ihn lächeln. »Bald. Aber für heute, würde ich sagen, haben wir genug geredet. Was hältst du davon, schwimmen zu gehen?«

Sie vertraute ihm nicht. Irgend etwas an diesem Lächeln war ihr nicht geheuer. Es war wohl am besten, wenn sie ihn - so wie er sie - nicht aus den Augen ließ. »Gute Idee. Wir treffen uns in einer Viertelstunde am Strand.«

Adrianne war so lange allein gereist, dass sie ganz vergessen hatte, wie schön es sein konnte, kleinere Vergnügungen mit einem anderen Menschen zu teilen. Das Wasser war erfrischend kühl und klar, wie flüssiges Glas, durch das sie hindurchschwimmen und die Welt um sich herum beobachten konnte. Die Korallen leuchteten golden, orange und dunkelrot wie ein Wald im Herbst, und die hellrosa Tentakel der Seeanemonen wiegten sich sanft in der Strömung. Fische in allen erdenklichen Farben schössen blitzschnell hin und her, knabberten an Schwämmen und stöberten im Sand nach Freßbarem.

Nur mit Taucherbrille und Schnorchel bewaffnet, konnte sie auf den Grund tauchen, wo winzige, neugierige Clownfischchen an ihren Fingerspitzen nagten oder ein Schwärm sie träge umkreiste. Gemeinsam schwammen sie weiter hinaus, wo sich die Wasserfarbe änderte, und tauchten vom Riff aus in zwanzig Meter Tiefe hinab. Unter Wasser verständigten sie sich mit Handzeichen oder einer Berührung am Arm. Mehr brauchte es nicht, um sich zu verstehen und zu wissen, dass dieser Nachmittag nur ihnen beiden allein gehörte.

Adrianne wollte gar nicht genauer nachforschen, warum sie sich in seiner Gesellschaft so wohl fühlte - so entspannt, wie an dem Abend, den sie gemeinsam in dem kleinen Landgasthof verbracht hatten. Sie war keine Frau, die viele Freunde und Freundinnen um sich scharte. Die meisten Menschen, die ihren Lebensweg kreuzten, betrachtete sie nur als Bekannte. Wenn sie aber eine Freundschaft einging, so brachte sie sich selbst rückhaltlos mit ein und wählte daher diese Menschen sehr sorgfältig aus. Obwohl sie ihm nicht vollständig vertraute, empfand sie doch eine freundschaftliche Zuneigung zu ihm und fühlte sich trotz gewisser Bedenken in seiner Gegenwart ausgesprochen wohl.

Jetzt war sie keine Prinzessin und auch keine Meisterdiebin; jetzt war sie nur eine Frau, die die Sonne und die Wunder des Meeres genoss.

Sie tauchte auf, lachte übermütig und balancierte mit einer Flosse auf einem Korallenstumpf. Das Wasser strömte aus ihrem Haar und perlte glitzernd an ihrer Haut ab. Sie schob ihre Maske auf die Stirn und grinste Philip an, der neben ihr aufgetaucht war.

»Was ist denn so lustig?« Er schüttelte seinen Kopf und schob ebenfalls seine Taucherbrille zurück.

»Dieser Fisch mit den großen Glotzaugen. Ich musste dauernd an Lord Fume denken.«

Er hob gespielt mißbilligend eine Braue und suchte auch auf der Koralle Halt. »Machst du dich immer über deine Opfer lustig?«

»Nein, eigentlich nicht. Aber in diesem Fall kann ich mir eine gewisse Belustigung nicht verkneifen. Ah, die Sonne ist herrlich.« Mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf in den Nacken und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Philip sah sie an und musste instinktiv an Meerjungfrauen und Sirenen denken. »Aber du mit deinem blassen, englischen Teint solltest nicht so lange in der Sonne bleiben.«

»Machst du dir Sorgen über mich?«

Als sie ihre Augen wieder öffnete, war anstelle der Vorsicht Heiterkeit getreten. Ein Fortschritt, dachte Philip, wenn auch nur ein kleiner. »Ich möchte nicht für etwaige Hitzepickel verantwortlich sein.«

»Ich stelle mir gerade vor, dass London vielleicht soeben im Schnee versinkt und die Familien sich gemütlich um die Weihnachtsgans versammeln.«

»In New York brutzelt die Gans noch im Rohr.« Sie schöpfte eine Handvoll Wasser und ließ es durch ihre Finger laufen. »Wir hatten immer einen Truthahn. Mama liebte den Geruch, wenn er im Ofen schmorte.« Sie schüttelte die Erinnerung ab und brachte ein Lächeln zustande. »Einmal versuchte sie selbst einen zu braten, so wie es ihre Großmutter damals in Nebraska gemacht hatte. Aber sie stopfte so viel Fülle in den Vogel, dass er durch die Hitze im Rohr platzte. Das arme Vieh sah fürchterlich aus.« Sie legte eine Hand über die Augen und schaute hinaus auf den Horizont. »Schau, da kommt ein Schiff.«

Sie drehte sich um, um besser sehen zu können, und rutschte dabei von der Koralle ab, genau in seine Arme. Wasser plätscherte über ihre Schultern und über ihre Brüste, als er sie hochhob und zu sich heranzog. Vergeblich versuchte sie ihn wegzudrücken, doch er hielt sie fest umklammert, während ihre Füße vergeblich nach Grund suchten und sie gezwungen war, sich an seinen Schultern festzuhalten.

Adrianne sah, wie sich seine Augen verdunkelten; es war, als ob sich der Mond hinter einer Wolke versteckte. Sein Atem strich sanft über ihre Lippen hinweg, während seine Hände unter Wasser über ihre Haut glitten. Als er sich zu ihr vorbeugte, drehte sie ihren Kopf zur Seite, so dass seine Lippen ihre Wange streiften, ganz zart und geduldig. Ein Gefühl drängenden Verlangens durchzuckte sie wie ein stechender Schmerz, ausgelöst von Angst, aber auch sinnlicher Begierde.

»Du schmeckst nach Meer«, sagte er. »Kühl und unbezwingbar.« Seine Lippen tasteten sich zu ihrem Ohr vor, und ihre Finger krallten sich in sein Fleisch; er hörte sie nach Atem ringen und spürte einen Schauder durch ihre beiden Körper jagen. »Adrianne.«

Sie zwang sich, ihn anzusehen. Dem Unvermeidlichen ins Auge zu blicken, das war immer ihre Devise gewesen. Die Sonne verfing sich in seinem hellen Haar, und die reflektierenden Strahlen blendeten sie. Irgendwo hinter ihnen schalt eine Mutter ihre Kinder. Doch die Laute drangen nur gedämpft an ihr Ohr, wurden von ihrem eigenen Herzschlag übertönt.

Philip lächelte sie an. »Ganz ruhig«, meinte er, während seine Finger an ihrer Wirbelsäule entlangglitten. »Ich wollte dich nicht untergehen lassen.«

Doch genau das tat er. Als seine Lippen sich auf die ihren legten, ging sie unter, schneller und tiefer, als jede Vorsicht gebot. Obwohl ihr Kopf über Wasser und in der Sonne blieb, fühlte sie sich in die Tiefe gezogen, ihr Herz raste, und ihr Atem stockte. Seine Lippen schmeckten nach Salz und Sonne, als sie die ihren sanft überredeten, sich zu öffnen. Sanft. Die Tatsache, dass er sie nicht bedrängte, nichts forderte, hätte sie beruhigen müssen. Doch statt dessen bebte sie innerlich vor unbezwingbarer Lust und Begierde.

Er hielt sein Verlangen in Zaum. Wenn er seine Leidenschaft jetzt auch in Ketten legte, so tröstete er sich damit, dass der Zeitpunkt kommen werde, wo er seinen Gefühlen freien Lauf gewähren würde. Sie brauchte mehr als nur Leidenschaft. Er musste ihr mehr als das geben. Prüfend knabberte er ein wenig an ihrer vollen Unterlippe und bekam ein leises Stöhnen zur Antwort. Wissend, dass alle Selbstkontrolle irgendwo ein Ende hatte, drückte er sie von sich weg. Ihre Augen waren verschleiert. Ihre Lippen überreif. Und seine Nerven ziemlich angekratzt.

»Wir wär's mit einem Drink?«

Sie blinzelte ihn an. »Was?«

Er gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und bemühte sich, seine Hände ruhig zu halten. »Ich sagte, laß uns etwas trinken gehen, damit ich mir meine blasse, englische Haut nicht verbrenne.«

»Oh.« Sie kam sich vor, als lasse bei ihr gerade die Wirkung einer Droge nach. Einer Droge, die süchtig macht. »Ja.«

»Gut. Wer als letzter an der Bar ist, zahlt.« Damit ließ er sie los und schwamm davon. Adrianne, völlig unvorbereitet, ging jetzt wirklich unter. Als sie auftauchte, war er schon auf halbem Weg zum Strand. Selbst als sie ihre Maske aufsetzte, um ihm hinterherzupaddeln, musste sie noch lachen.

Sie tranken angenehm saure, geeiste Margaritas und lauschten den drei Marimba-Spielern, die hingebungsvoll Weihnachtslieder schmetterten. Mit großem Appetit verschlangen sie Käse-Enchiladas in feurig-scharfer Sauce. Den größten Teil des Nachmittags noch vor sich, fuhren sie kreuz und quer über die Insel, wobei sie keine noch so schmale Staubstraße ausließen. Sie kamen an alten Steinmonumenten vorbei, die Adrianne an alte Kulthandlungen und noch ältere Gottheiten erinnerten.

Er war entschlossen, für sie diesen Tag so angenehm wie möglich zu gestalten und sie den Kummer vergessen zu lassen, der sie im Morgengrauen überwältigt hatte. Er stellte die Notwendigkeit, sie zu behüten und zu trösten, nicht länger in Frage. Wenn ein Mann die meiste Zeit seines Lebens mit Frauen verbracht hat, so erkennt er die Richtige.

Übermütig steuerte er den Jeep über eine Reihe von Schlaglöchern, so dass der Wagen Bocksprünge veranstaltete wie ein störrischer Esel. Adrianne lachte und deutete auf das nächste Loch. Die Straße führte sie an die nördliche Spitze der Insel, wo ein Leuchtturm stand. Dort lebte eine Familie, die in Gehegen zerzauste Hühner hielt. Eine magere Katze lag ausgestreckt vor der Kühlbox, aus der sie kalte Getränke an vorbeikommende Touristen verkauften, natürlich doppelt so teuer wie im Dorf. Bewaffnet mit zwei Flaschen Wasser ließen sie sich auf einem Bündel getrocknetem Seegras nieder und betrachteten die aufsprühende Gischt. Das Meer war an dieser Stelle sehr wild, die Wellen klatschten donnernd an die Felsen und sprudelten zischend aus Höhlen und Kanälen hoch, die Ebbe und Flut in das Gestein gegraben hatten.

»Erzähl mir von deinem Haus.«

»In London?«

»Nein.« Adrianne schlüpfte aus ihren Sandalen. »Das auf dem Land.«

»Du würdest es als sehr britisch bezeichnen.« Es war ein weiteres Zeichen für ihren gemeinsamen Fortschritt, dass sie nicht mehr zurückzuckte, wenn er ihr Haar berührte. »Das würde in der Zeit König Edwards erbaut, ein schmucker Backsteinbau mit drei Stockwerken. Es gibt eine Ahnengalerie, doch da ich meine Vorfahren nicht kenne, habe ich einige Bilder dazugekauft.«

»Von wem?«

»Von Antiquitätenhändlern. Onkel Sylvester zum Beispiel - ein sehr mürrischer Vertreter aus der Viktorianischen Epoche, nebst seiner Gemahlin, Tante Agatha. Die mit dem Puddinggesicht.«

»Puddinggesicht«, kicherte Adrianne. »Das ist wirklich britisch.«

»Wir sind, was wir sind. Dann gibt es etliche Vettern und Basen, einige davon sehr distinguiert, und natürlich die üblichen, finster dreinblickenden Herren. Außerdem natürlich die Urgroßmama; sie war nicht gerade prüde und heiratete gegen alle Einwände in unsere Familie ein, die sie dann auch mit eiserner Hand regierte.«

»Du hast es wohl bedauert, keine große Familie zu haben.«

»Wahrscheinlich, ja. Wie dem auch sei, die gekauften Familienmitglieder machen sich sehr hübsch in der Galerie. Der Salon führt in den Garten hinaus. Passend zum Haus habe ich den Garten sehr gediegen bepflanzt. Rosen, Rhododendron, Spanischer Flieder und Lilien. Eingesäumt ist er mit Eibenhecken, in der westlichen Ecke stehen einige Eschen an einem kleinen Bach, der quer durch den Garten fließt. Außerdem wachsen dort wilder Thymian und Veilchen, die Blüten so groß wie mein Daumen haben.«

Sie konnte sie förmlich riechen. »Warum hast du es gekauft? Du machst mir nicht den Eindruck eines Mannes, der gemütliche Abende vor dem Kamin liebt oder einsame Waldspaziergänge unternimmt.«

»Die Zeit kommt schon noch. Ich habe es gekauft, um gewappnet zu sein, wenn ich beschließen sollte, mich zur Ruhe zu setzen und ein Stützpfeiler der Gesellschaft zu werden.«

»Ist das dein Ziel?«

»Mein Ziel war schon immer Komfort und Behaglichkeit gewesen«, entgegnete er und leerte seine Flasche. »Schon als Junge habe ich gelernt, dass ich, wenn ich auf den Straßen Londons Komfort finden wollte, nehmen musste, was ich bekommen konnte, und vor allem flinker als die anderen sein musste.«

Er bohrte die Flasche neben sich in den Sand. »Und ich war flinker.«

»Du warst eine Legende. Nein, grins mich nicht so an, das warst du. Jedesmal, wenn etwas Spektakuläres gestohlen wurde, hieß es sofort, das war ein P.-C.-Coup. Die De-Mar- co-Sammlung, zum Beispiel.«

Er grinste trotzdem und beobachtete die Gischt, die hinter ihrem Rücken hochspritzte. »Neugierig, wie?«

»Hast du sie gestohlen?« Sie setzte sich aufrecht hin. Philip lächelte nur in sich hinein und kramte nach einer Zigarette. »Nun, warst du es?«

»Die De-Marco-Juwelen«, murmelte er nachdenklich. »Mit die kostbarste Sammlung von Diamanten und Edelsteinen in Mailand - oder auf der Welt, wenn man so will.«

»Ich kenne sie. Warst du es?«

Philip brachte sich erst einmal umständlich in die richtige Sitzposition, ähnlich einem Geschichtenerzähler vor einem knisternden Kaminfeuer. »Für diese Ausstellung hatte das Museum die modernste Alarmanlage installieren lassen. Lichtschranken, Wärmesensoren, Auslöser, die auf Gewichtsschwankungen reagieren. Sechs Meter im Umkreis der Exponate stand der Fußboden unter Strom. Die Juwelen selbst lagen unter einer Glaskuppel, die als absolut bruchsicher galt.«

»Das weiß ich alles.« Die Gischt benetzte ihr Haar. »Wie hast du es angestellt? Ich habe Dutzende widersprüchlicher Berichte gehört.«

»Hast du den Film Royal Wedding gesehen, den, wo Fred Astaire an der Decke tanzt?«

»Ja, aber das war doch nur ein Trick. Ich gebe ja zu, dass du clever bist, aber so clever nun auch wieder nicht.«

»In das Gebäude reinzukommen, war nur eine Frage der richtigen Uniform und der korrekten Identifikationsnummer. Nachdem ich drin war, blieben mir zwei Stunden Zeit, bis der Wächter seine Runde machte. Ich benötigte nur eine halbe Stunde, um die Wand hoch- und die Decke entlang zu kriechen.«

»Wenn du mir nicht verraten willst, wie du es gemacht hast, dann sag es doch gleich.«

»Will ich aber. Hast du keinen Durst mehr?« Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und trank sie leer. »Saugnäpfe. Natürlich nicht die gewöhnliche Haushaltsausführung, aber das gleiche Prinzip. Jetzt weiß ich endlich, wie sich eine Fliege fühlen muss

»Du hast dich damit an der Decke halten können?«

»Mehr oder weniger. Natürlich hätten sie nicht die ganze Zeit über gehaftet, daher schraubte ich mit Hilfe von Knebelbolzen ein Trapez an die Decke. Ich sehe mich heute noch an den Knien über all den funkelnden Juwelen baumeln. Das war ganz schön anstrengend, und ich durfte dabei keinen Tropfen Schweiß vergießen. Für die Glaskuppel benutzte ich einen in Styropor verpackten Diamantbohrer, um keinen Lärm zu verursachen. Als ich eine Öffnung in das Glas gebohrt hatte, begann erst die eigentliche Arbeit. In meiner Tasche hatte ich Steine, die exakt dasselbe Gewicht hatten wie die Exponate. Die tauschte ich dann Stück für Stück aus. Dazu muss man verdammt schnell sein und eine ruhige Hand besitzen. Wenn sich das Gewicht nur für den Bruchteil einer Sekunde verändert, wird der Alarm ausgelöst. Ich brauchte fast eine ganze Stunde dafür, und das, wie gesagt, kopfüber hängend. Das Blut rauschte in meinem Kopf, und meine Finger wurden taub. Als ich fertig war, schwang ich am Trapez hin und her und landete dann außerhalb des Alarmfelds. Meine Beine fühlten sich an, als schieße jemand giftige Pfeile hinein. Ich konnte kaum kriechen. Das war der schlimmste Teil der ganzen Unternehmung, und einer, den ich nicht einkalkuliert hatte.« Im nachhinein konnte er darüber lachen. »Ich hockte zusammengekrümmt am Boden und klopfte mit der Hand gegen meine Beine, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Und dabei stellte ich mir bildhaft vor, wie sie mich jetzt gleich schnappen würden, und zwar nicht, weil ich versagt hatte, sondern weil mir meine verdammten Beine eingeschlafen waren.«

Adrianne lag ausgestreckt auf dem Seegras und lachte mit ihm über seine Schilderung. »Was hast du dann gemacht?«

»Ich sah mich schon im Knast, habe dann aber einen schnellen, wenngleich sehr uneleganten Abgang hingelegt, meist auf allen vieren kriechend. Als endlich Alarm gegeben wurde, lag ich bereits gemütlich ausgestreckt in meiner Hotelbadewanne.«

Als er aus seinen Erinnerungen aufgetaucht war und sie ansah, lächelte sie. »Du vermisst es, stimmt's?«

»Zuweilen, ja.« Er schnippte seine Zigarette in die Gischt. »Aber ich bin in erster Linie Geschäftsmann, Addy, und es war an der Zeit, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Spencer, mein jetziger Boß, war mir zu oft zu knapp auf den Fersen gewesen.«

»Sie wussten, wer du bist, und haben dich trotzdem engagiert?«

»Nun, besser ein Wolf im eigenen Gehege als in freier Wildbahn, haben sie sich wohl gedacht. Früher oder später wird man nachlässig. Nur ein kleiner Fehler, und es ist aus.«

Sie drehte sich zum Meer um und betrachtete die tosenden Wellen. »Ich habe nur noch einen einzigen Job zu erledigen und keineswegs vor, nachlässig zu werden.«

Er erwiderte darauf nichts. Mit ein bisschen Zeit und Geduld, so dachte er, würde es ihm schon gelingen, ihr dieses Vorhaben auszureden. Und wenn reden nichts hilft, so gab es andere Hindernisse, die er ihr in den Weg legen konnte. »Was hältst du von einer Siesta und einem anschließenden Weihnachtsessen?«

»Gute Idee.« Sie stand auf und ging barfuß zum Auto, ihre Sandalen in der Hand. »Diesmal fahre ich.«

Vielleicht war es töricht, sich soviel Umstände zu machen, doch sie konnte nicht widerstehen. Es tat ihr gut, lange in einem duftenden Ölbad zu liegen und sich anschließend mit wohlriechendem Puder einzustäuben. Das waren die typischen Schönheitszeremonien der Frauen, die sie im Harem zu schätzen gelernt hatte. Sie genoss es, sich ausgiebig Zeit für ihre Körperpflege zu nehmen, obgleich man die Verabredung mit Philip nicht als ein Rendezvous bezeichnen konnte. Sie war sich sehr wohl bewußt, dass er sie hauptsächlich deshalb so bereitwillig begleitete, um sie zu beobachten. Sie hätte ihm erklären können, dass sie weiter nichts auf der Insel zu tun habe, aber warum hätte er ihr glauben sollen. Auf alle Fälle kam seine Begleitung ihren Absichten sehr gelegen. Das jedenfalls redete sie sich ein, als sie für den Abend ein duftiges, weißes, rückenfreies Kleid mit weitem Rock wählte. Sie wollte ihm ebenso großzügig ihre Zeit widmen wie er ihr. Denn dann würde er sicher nicht Wache stehen, wenn sie das Land heimlich verließ... und zwar schon morgen.

Pläne mussten zu Ende geführt werden, Pläne, die sie schon seit zehn Jahren verfolgte. Gleich nach Silvester wollte sie nach Jaquir fahren. Sie legte Ohrringe an, die so kalt waren wie ihre Gedanken und so falsch wie der Eindruck, den sie ihrem Vater von sich vermitteln würde.

Doch heute abend wollte sie die träge Stimmung eines tropischen Sonnenuntergangs und das Gemurmel des Meeres genießen.

Sie war bereits fertig, als Philip an ihre Tür klopfte. Auch er hatte sich für Weiß entschieden, nur sein Oberhemd zeigte einen leichten Blauschimmer, der elegant mit seinem Sakko kontrastierte.

»Es hat schon was für sich, den Winter in den Tropen zu verbringen«, sagte er und streifte mit der Hand über ihre nackten Schultern. »Hast du ein wenig geruht?«

»Ja.« Sie erzählte ihm nicht, dass sie unterdessen schnell zum El Grande gefahren war und ihre Sachen zusammengepackt hatte. Bei seiner Berührung fühlte sie die deprimierende Verwirrung eines Pferdes, das hart an die Kandare genommen wird und dem gleichzeitig die Sporen gegeben werden. »Und wie es einem braven Touristen zusteht, habe ich dabei nur an die nächste Mahlzeit gedacht.«

»Sehr gut. Bevor wir gehen, möchte ich dir etwas geben.« Er zog ein kleines Samtkästchen aus der Sakkotasche. Diesmal machte sie einen Satz rückwärts, als ob sie tatsächlich die Sporen spürte.

»Nein.« Ihre Stimme klang kälter, als sie beabsichtigt hatte, aber er ließ sich davon nicht entmutigen, sondern drückte ihr das Kästchen in die Hand.

»Es ist nicht nur ungezogen, ein Weihnachtsgeschenk abzulehnen, es bringt überdies auch noch Unglück.« Höflich wie er war, verschwieg er, dass es ihm nur mit viel Bestechungsgeld und guten Worten gelungen war, einen Juwelier zu überreden, sein Geschäft am Feiertag für ihn zu öffnen.

»Das war doch nicht nötig.«

»Sollte es denn?« konterte er. »Na, komm schon, Adrianne. Eine Dame deines Standes sollte doch wissen, wie man ein Geschenk höflichst entgegennimmt.«

Er hatte recht, natürlich, und sie benahm sich wie eine Idiotin. Sie klappte das Kästchen auf und betrachtete die Brosche, die in einem weißen Satinnest ruhte. Nein, sie ruhte nicht, dachte sie, sie lauerte dort wie der Panther, den sie darstellte, pechschwarz, exakt modelliert mit feurigen Rubinaugen.

»Sie ist wunderschön.«

»Hat mich an dich erinnert. Etwas, das wir gemeinsam haben.« Er befestigte sie an ihrem Kleid mit der Routine eines Mannes, der so was nicht zum ersten mal tat.

Locker bleiben, ermahnte sie sich und lächelte. »Das Geschenk eines Fassadenkletterers für einen anderen?« Doch ganz unbewusst streichelten ihre Finger über die Brosche.

»Von einer rastlosen Seele für eine andere«, berichtigte er sie, nahm ihr das Kästchen ab, steckte es wieder in seine Tasche und nahm ihre Hand.

Sie genossen den Abend mit köstlich zubereitetem Hummer und einem herb-fruchtigen Wein, während Mariachis an den Tischen vorbeischlenderten und sentimentale Lieder von Liebe und Sehnsucht trällerten. Von ihrem Platz am Fenster aus konnten sie die Leute beobachten, die über die Strandpromenade flanierten, und die kleinen Jungen, die, auf ein paar Münzen hoffend, am Taxistand herumlungerten, um den Touristen die Türen aufzuhalten.

Während sie aßen, ging die Sonne in einem spektakulären Feuerwerk der Farben unter, worauf wenig später der Mond majestätisch am Horizont emporkletterte.

Sie erkundigte sich nach seiner Kindheit und war angenehm überrascht, als er diesem Thema nicht auswich oder es mit einem Scherz abtat.

»Meine Mutter arbeitete an einer Kinokasse. Das war nicht schlecht für mich, da ich jederzeit umsonst ins Kino gehen und mir alle Filme anschauen konnte, die ich sehen wollte, manchmal den ganzen Nachmittag lang. Abgesehen davon reichte ihr Verdienst gerade für die Miete einer schäbigen Zweizimmerwohnung in Chelsea. Mein Vater war ins Leben meiner Mutter geschneit, um dann sofort wieder zu verschwinden, als sie merkte, dass ich unterwegs war.«

Adrianne spürte einen Stich in der Herzgegend und wollte nach seiner Hand greifen, doch er erhob sein Glas. Der Moment verstrich. »Es war bestimmt nicht leicht für sie. Ganz allein.«

»Ich bin sicher, dass es die Hölle für sie war, aber genau weiß ich es nicht. Sie steckte immer voller Optimismus. Sie ist ein Mensch, der mit dem zufrieden sein kann, was er besitzt, und sei es noch so wenig. Sie ist übrigens eine große Bewunderin deiner Mutter. Als ich ihr erzählte, dass ich Phoebe Springs Tochter zum Abendessen ausgeführt habe, hat sie mir eine einstündige Gardinenpredigt gehalten, weil ich dich ihr nicht vorgestellt habe.«

»Mama hatte die Gabe, alle Menschen für sich einzunehmen.«

»Hast du dich je mit dem Gedanken getragen, als Schauspielerin in ihre Fußstapfen zu treten?«

Jetzt war es ein leichtes für sie zu lächeln. »Tat ich das nicht?«

»Wie viel davon ist gespielt, frage ich mich.«

»Gespielt?« Sie breitete in einer unwissenden Geste die Hände aus. »Soviel eben nötig ist. Weiß deine Mutter von deiner - heimlichen - Beschäftigung?«

»Meinst du Sex?«

Er war sich nicht sicher, ob sie diesen Scherz lustig finden würde, doch sie lachte und beugte sich dann zu ihm vor, dass das Kerzenlicht sich in ihren Augen spiegelte. »Nicht Nebenbeschäftigung, Philip, Beschäftigung.«

»Ach so. Nun, darüber sprechen wir nicht. Aber meine Mutter ist nicht dumm. Noch etwas Wein?«

»Einen kleinen Schluck, bitte. Philip, denkst du manchmal daran, wieder in deinen alten Job zurückzukehren, noch einen letzten, spektakulären Coup zu planen? Einen, der dir deinen Lebensabend versüßt?«

»Sonne und Mond?«

»Das ist meine Geschichte«, erwiderte sie reichlich brüsk.

»Sonne und Mond«, wiederholte er leiste und betrachtete sie amüsiert. »Zwei faszinierende Steine in einem Kollier. Die Sonne, ein zweihundertachtzig Karat schwerer Diamant, River-Qualität, absolut lupenrein, brillantweiß und der Legende nach ein Stein mit einer bewegten Vergangenheit. Gefunden wurde er im 16. Jahrhundert in der Nähe von Deccan in Indien, der Rohdiamant hatte ein Gewicht von über 800 Karat. Zwei Brüder entdeckten den Stein, und wie bei Kain und Abel ermordete der eine den anderen, um sich des Fundes zu bemächtigen. Anstatt ins Land Nod verbannt zu werden, erwarteten den überlebenden Bruder in seiner Heimat Not und Elend. Seine Frau und seine Kinder ertranken und ließen ihn mit dem kalten Trost des Steines zurück.«

Philip trank einen Schluck Wein und schenkte, als Adrianne nichts erwiderte, ihre Gläser nach. »Der Sage nach wurde der Mann verrückt und bot den Stein dem Teufel an. Ob dieser ihn annahm oder nicht, ist nicht bekannt. Er jedoch wurde später ebenfalls ermordet, und der Stein begann seine Reise. Istanbul, Siam, Kreta und Dutzende andere exotische Orte, jedesmal eine blutige Spur von Betrug und Mord hinter sich lassend. Bis er 1876, als die Götter versöhnt waren, den Weg nach Jaquir fand.«

»Mein Ururgroßvater kaufte ihn für seine Lieblingsfrau.« Adrianne ließ ihren Zeigefinger wieder und wieder den Rand ihres Weinglases entlanggleiten. »Für den Gegenwert von eineinhalb Millionen Dollar. Der Diamant war sehr viel mehr wert, doch ihm haftete dieser schlechte Ruf an.« Jetzt hielt sie inne. »Zu dieser Zeit gab es Menschen in Jaquir, die nicht einmal ihr täglich Brot hatten.«

»Er war bestimmt nicht der erste Herrscher, den solche Dinge nicht interessierten, und sicherlich nicht der letzte.« Er unterbrach sich und betrachtete sie, während der Kellner ihre Teller abräumte. »Der Rohdiamant wurde von einem Venezianer geschliffen, der aus Nervosität oder mangelndem

Geschick mehr von dem Stein abschliff, als nötig gewesen wäre. Man hackte ihm die Hände ab und hängte sie ihm um den Hals, bevor man ihn in die Wüste verbannte. Doch der Stein überlebte, um mit einer ebenso alten Perle gepaart zu werden, die man im Persischen Golf gefunden hatte. Diese Perle war absolut ebenmäßig und rund und besaß einen unbeschreiblichen Glanz, schimmerte wie 250 Karat reinsten Mondlichts. Ein Diamant funkelt, eine Perle schimmert, und der Legende nach kämpft der Zauber der Perle gegen den Zauber des Diamanten. Zusammen sind sie wie Krieg und Frieden, wie Feuer und Schnee.« Er erhob sein Glas. »Oder wie Sonne und Mond.«

Adrianne nahm einen Schluck Wein, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. Das Gespräch über das Kollier erregte sie ebenso, wie es sie betrübte. Sie sah das Kollier genau vor sich, am Hals ihrer Mutter, und sie konnte sich vorstellen, annähernd vorstellen, wie es sich in ihrer Hand anfühlen mochte. Zauber oder nicht, Legende hin oder her, sie würde es sich holen.

»Du hast deine Hausaufgaben gut gemacht.«

»Ich weiß alles über Sonne und Mond, genau wie ich alles über den Kohinoor oder den Pitt weiß, Steine die ich bewundere, die ich sogar begehre, für die ich aber niemals mein Leben aufs Spiel setzen würde.«

»Wenn das Motiv nur Geld oder Besitz ist, kann man selbst diesen Diamanten widerstehen.« Sie wollte aufstehen, aber er hielt sie an der Hand fest. Sein Griff war fester als nötig, und auch seine Augen blickten nicht mehr amüsiert.

»Wenn das Motiv Rache ist, dann sollte man erst recht widerstehen.« Ihre Hand drehte und wand sich eine Weile, blieb dann aber regungslos in seiner liegen. Kontrolle, dachte er, konnte sowohl ein Segen als auch ein Fluch sein. »Rache vernebelt den Verstand und beeinträchtigt das klare Denken. Jede Form von Leidenschaft führt unweigerlich zu Fehlern.«

»Ich habe nur eine Passion.« Das Kerzenlicht schien auf ihr Gesicht und warf tiefe Schatten unter ihre Wangenknochen. »Und ich hatte zwanzig Jahre Zeit, diese zu pflegen und in die richtigen Bahnen zu lenken. Nicht alle Leidenschaften müssen glühend und gefährlich sein, Philip. Manche können kalt wie Eis sein.«

Als sie dann aufstand, sagte er kein Wort, schwor sich aber, ihr das Gegenteil zu beweisen, bevor der Abend noch zu Ende war.

19. Kapitel

Philip war ein Mann, dachte Adrianne, der sich schwer einschätzen ließ. Gerade noch ernst und auf eine Sache konzentriert, konnte er schon im nächsten Moment komische Witze reißen. Auf dem Rückweg zum Hotel unterhielt er sie mit amüsanten Geschichten über gemeinsame Bekannte, so als habe dieser Augenblick im Restaurant, da er ihre Hand genommen und ihr tief in die Augen geblickt hatte, nie existiert. Jetzt gab es für sie nur noch den Mondschein und den warmen Abendwind, der das Gespräch über das Kollier und das Blut, das seinetwegen vergossen wurde, weit fort wehte.

Adrianne war nun klargeworden, wie Philip in den erlauchten Zirkel der Reichen und Verwöhnten geraten war. Nichts an ihm erinnerte mehr an den vaterlosen Straßendieb aus Chelsea, noch erkannte man in ihm den berechnenden, trittsicheren Fassadenkletterer. Statt dessen vermittelte er den Eindruck eines kultivierten, leicht gelangweilten und überaus charmanten Mannes, der planlos in den Tag hinein lebte. Doch das war er bei Gott nicht.

Seltsamerweise konnte sie sich trotz dieses Wissens in seiner Gegenwart entspannen. Ein Grund hierfür war sicherlich seine Gabe, eine Frau für einige Momente innerlich zum Erglühen zu bringen und diese erotische Spannung gleich darauf wieder durch eine witzige Bemerkung in wohltuende Heiterkeit umzuwandeln. Als die Limousine vor ihrem Hotel parkte, spürte sie ein echtes Bedauern, dass der Abend sich nun dem Ende zuneigte und ihnen nur noch die wenigen Schritte zu ihrer Zimmertür blieben.

»Ich war wirklich verärgert, als du hier aufgetaucht bist«, ließ sie ihn wissen, während sie in ihrer Tasche nach dem Zimmerschlüssel kramte.

»Du warst stinksauer, möchte ich sagen.« Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und sperrte auf.

»Na gut.« Dass diese Berichtigung sie amüsierte, sah Philip ihrem Lächeln an. »Ich ändere nicht oft meine Meinung, aber heute abend habe ich deine Gesellschaft wirklich genossen.«

»Freut mich zu hören, um so mehr, als ich nicht vorhabe, dich von derselben zu befreien.« Während er das sagte, nahm er sie am Ellbogen und geleitete sie in ihr Zimmer.

»Falls du befürchtest, ich könnte mich davonstehlen und mir die St.-John-Juwelen wieder zurückholen, bist du falsch gewickelt.«

Lässig warf er ihren Zimmerschlüssel auf die Kommode und ihre Tasche gleich hinterher. »Meine Anwesenheit hier hat im Moment nichts mit Juwelen zu tun.« Bevor sie ihm entwischen konnte, legte er ihr die Hände auf die Schultern und ließ sie mit erschreckender Zärtlichkeit ihre Arme hinuntergleiten. Ihre Finger verschränkten sich, als sei es die natürlichste Sache der Welt.

»Nein.«

Er führte erst ihre eine Hand an seine Lippen, dann die andere. »Nein, was?«

Wie eine Rakete schloss die Hitze in ihre Fingerspitzen. Es war eine Sache, das zu ignorieren, was man nie gebraucht hat, aber eine ganz andere, Gefühlen zu widerstehen, die plötzlich in einem aufwallen. »Ich möchte, dass du gehst.«

Während er ihre eine Hand noch festhielt, strich er ihr mit seiner anderen die Haare von den Schultern, wobei seine Fingerspitzen ganz sacht über ihren Nacken glitten. Er spürte ein leichtes Zucken, war sich aber nicht sicher, ob es sich dabei um seine oder ihre Reaktion handelte. »Das würde ich vielleicht tun, wenn ich dir glauben könnte. Weißt du, dass man dich als absolut unerreichbar bezeichnet?«

Das wusste sie nur zu gut. »Willst du mich deshalb? Weil ich unerreichbar bin?«

»Das wäre vielleicht ein Grund gewesen.« Seine Finger spielten mit ihrem Haar. »Früher.«

»Ich habe kein Interesse, Philip. Ich dachte, das hätte ich dir schon klargemacht.«

»Dein Talent zu lügen ist eine Eigenschaft von dir, die ich sehr bewundere.«

Er war ihr sehr nahe gekommen, näher als er sollte. »Ich weiß nicht, was ich noch tun muss, um dich davon zu überzeugen, dass du deine Zeit vergeudest.«

»Dazu braucht es nicht viel, wenn man es ernst meint. Du besitzt die Gabe, Addy, Männer mit einem Blick zu beglücken, der auch den heißblütigsten Verehrer in einen Eisblock verwandelt. Aber im Moment siehst du mich nicht so an.« Er umfaßte ihren Nacken. Obwohl sie sich steif machte, bemerkte er, wie sich ihre reifen, vollen weichen Lippen zitternd öffneten. Selbst ein völlig übersättigter Mann hätte sich nach diesen Lippen verzehrt.

Adrianne spürte, wie ihr Herz einen Satz tat und dann wild zu hämmern begann, als seine Lippen die ihren berührten. Sie hob eine Hand, um ihn wegzudrücken. Reiner Selbstschutz. Doch ihre Finger gruben sich in den Stoff seines Hemdes und hielten sich fest. Das war Verlangen.

Zusammen mit dem Verlangen empfand sie aber auch ein gewisses Bedauern, das sie überraschte.

»Ich kann dir nicht geben, was du erwartest. Ich bin nicht wie andere Frauen.«

»Nein, das bist du nicht.« Instinktiv wanderten seine Finger ihren Nacken hinab, zärtlich, tröstend, während seine Lippen gleichzeitig ihren Nerven übel mitspielten. »Und ich wünsche mir von dir nicht mehr, als du mir geben kannst.«

Als sich seine Lippen stärker auf die ihren preßten, stöhnte sie leise auf. Es lag gleichzeitig Verzweiflung und Verwunderung in diesem Stöhnen. Einen Augenblick lang, nur einen winzigen Augenblick, ließ sie sich gehen. Ihr Körper schmiegte sich gegen den seinen, ihre Lippen teilten und ihr Herz öffnete sich. Ihre Schönheit und ihre Hingabe ließen ihn erbeben.

Dann entwand sie sich seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. »Philip, Liebe und Sex - diese Dinge sind nichts für mich.« Sie faltete ihre Hände, um sie ruhig zu halten.

»Vielleicht war das wirklich so.« Wieder legte er seine Hände auf ihre Schultern. »Bis jetzt.«

Sie war stolz. Dieser Stolz hatte ihr all die unsteten und verwirrenden Jahre zu meistern geholfen. Und weil er stark war, konnte sie ihm auch ohne Scham gestehen: »Ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen. Und habe es auch nie gewollt.«

»Ich weiß.« Sie wich, wie er es erhofft hatte, zurück. »Ich habe das heute morgen begriffen, als du mir von deinem Vater erzählt hast, wie du beobachten musstest, was zwischen ihm und deiner Mutter passierte. Es gibt nichts, was dies ungeschehen machen oder dir deine Erinnerung daran erleichtern könnte - außer, dass solche Dinge nicht so ablaufen müssen, nicht so ablaufen dürfen.«

Er berührte sie wieder, diesmal ganz sanft an der Wange. Damit wollte er sowohl ihre als auch seine Reaktion prüfen. Sie schloss ihre Augen und erlaubte sich, das wohltuende Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut auszukosten, das Verwirrspiel ihrer Nerven und das Wachsen ihrer Begierde zu spüren. Sie war immer eine Frau gewesen, die sich ihrer selbst, ihrer Gefühle und ihres Schicksals voll bewusst gewesen war. Heute nacht, so schien es, sollte er ein Teil von all dem werden.

»Ich habe Angst.«

Behutsam zog er die zwei Elfenbeinkämme aus ihrem Haar. »Ich auch.«

Auf diese Antwort hin öffnete sie die Augen. »Das glaube ich dir nicht. Warum solltest du Angst haben?«

»Weil du mir sehr viel bedeutest.« Er legte die Kämme beiseite, um seine Hände in ihrem Haar zu vergraben. »Weil dies mir so viel bedeutet.« Er zog sie enger an sich heran, ermahnte sich, weiterhin zärtlich und behutsam vorzugehen, und nicht ihre Stärke, sondern ihre Zerbrechlichkeit zu sehen. Sie besaß beides, und beides hatte ihn vom ersten Augenblick an für sie eingenommen. »Wir können unsere Gefühle die ganze Nacht analysieren, Addy, oder du kannst dich einfach von mir lieben lassen.«

Sie hatte keine Wahl - hatte nie eine gehabt. Adrianne glaubte an das Schicksal. Es war ihr ebenso bestimmt, Jaquir zu verlassen, wie dorthin zurückzukehren. Und es war ihr bestimmt, diese Nacht, diese eine Nacht zumindest, mit Philip zu verbringen und zu erfahren, was Frauen dazu brachte, ihr Herz und ihre Freiheit an einen Mann zu verlieren.

Sie erwartete Leidenschaft, wusste, dies war die wilde Ekstase, von der sich die Männer irgendwie Erleichterung verschaffen mussten. Sie hatte eine ganze Menge über Sex gelernt, anfangs aus den freizügigen Gesprächen im Harem und später von den romantisch verklärten Plaudereien bei Teepartys. Frauen waren ebenso begierig nach Sex, wenn auch nicht immer wie die Männer in der Lage, ihren Hunger danach zu befriedigen. Ihre Vorstellung von Sex beschränkte sich seit ihrer Kindheit auf ein Verknoten von Gliedmaßen, ein Schwall von Geräuschen und wilden Bewegungen, etwas, dem man sich am besten im Dunkeln hingab.

Als sein Mund sich wieder über dem ihren schloss, war sie bereit, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Aber es war nur die Andeutung eines Kusses, eine zarte, verhaltene Berührung ihrer beider Lippen. Ihre Augen blinzelten überrascht, als ihr bewusst wurde, dass er sie beobachtete.

Er sah, wie sich ihre Verwirrung, aber auch ihr Verlangen mit jedem Augenblick steigerte, da er mit ihren Lippen spielte. Da war kein Bedürfnis, sie gierig zu verschlingen und zu besitzen. Jetzt nicht. Nicht bei ihr. Was immer er sich an Liebeskünsten angeeignet und an Geduld antrainiert hatte, in dieser Nacht würde er es anwenden. Seine Finger nestelten zärtlich in ihrem Haar und gaben ihnen beiden Zeit, sich auf das Unerwartete einzustellen.

Als er sie dann wieder berührte, machte sie sich nicht mehr steif. Ihr Körper schien nun bereit, sich streicheln und entdecken zu lassen. Er schüttelte sein Jackett ab, und sie zögerte nicht länger, ihre Hände über seine Schultern und seinen Rücken wandern zu lassen. Sie wollte nicht länger warten, wollte endlich auch seine Haut berühren, zerrte an seinem Hemd und ließ dann ihre Hände unter dem dünnen Stoff über seine Schultern gleiten.

Sie hörte, wie er unter ihrer Berührung nach Atem rang. Der Druck seiner Lippen wurde fester, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Sie konnte nicht wissen, wieviel Beherrschung es ihn kostete, sie behutsam zu entkleiden und seine Hände in Zaum zu halten, die gierig zugreifen und sie auf der Stelle nehmen wollten. Ein kurzer Schauer durchzuckte ihren Körper, als sie schließlich nackt vor ihm stand. Das Rascheln ihres herabfallenden Kleides hallte wie ein Echo in seinen Ohren wider.

Ihre Haut schimmerte seidig im matten Mondlicht, das die Spitzen ihrer Haarsträhnen versilberte, die nun über ihre nackten Brüste fielen. Er kannte das Gefühl des Verlangens, aber er wusste nicht, dass dieses Gefühl so berauschend sein konnte - so berauschend, dass seine Hände zitterten, als er sein Hemd aufknöpfte, und seine Kehle sich zusammenschnürte, als er sie aufs Bett legte.

Auch sie hatte Verlangen kennengelernt, aber ihr Verlangen hatte sich bisher immer auf einen klar vorgezeichneten Weg und auf ein bestimmtes Ziel beschränkt. Sicherheit, Reputation, Wiedergutmachung. Nun erfuhr sie, dass es auch andere Arten von Verlangen gab, die auf verworrenen Pfaden zu ganz anderen Zielen führten. Sie hatte noch immer Angst, aber nicht mehr vor ihm. Jetzt fürchtete sie sich nur noch vor sich selbst und vor dem Preis, den sie für dieses unbekannte Gefühl zu zahlen bereit war.

Er zeigte ihr, was es hieß zu erglühen, ganz langsam, während es einen nach mehr Hitze verlangte. Sie hörte sich seufzen und spürte, wie ihr Körper, dem dieses Vergnügen so lange versagt gewesen war, unter seinen kundigen Händen erbebte, sich entspannte und hingab. Wie von einem Zauber gebannt, nahm sie wahr, wie die Leidenschaft von ihr Besitz ergriff, wie unter seinen Zärtlichkeiten ihre Vorsätze dahinschmolzen und so lange unterdrückte Ahnungen aufkeimten.

Er nahm, wie sie es erwartet hatte, aber er gab auch. Und sie spürte keinen Schmerz. Sie war sich so sicher gewesen, dass es weh tun würde. Doch seine Hände liebkosten ihren Körper wie ein warmer Sommerregen. Selbst als sich seine Lippen über ihren Brustwarzen schlössen und ihr Körper mit einem Aufbäumen darauf reagierte, spürte sie nur ein überwältigendes Wohlgefühl.

Sie duftete nach Rauch, Seide und Geheimnissen. Eine Mischung, die einen Mann zum Wahnsinn treiben musste. Sie berührte ihn, aber nur ganz vorsichtig. Obwohl ihre Antwort auf seine Zärtlichkeiten eigentlich keinen Wunsch mehr offenließ, spürte er dennoch in ihrem Innersten einen letzten Rest an Widerstand. Ihre Gefühle trieben auf einen Gipfel zu, den sie, wie er wusste, noch nie erklommen hatten. Ihr Verstand sperrte sich noch dagegen, unsicher ob des Preises, den sie dafür bezahlen musste. Wo ungeheure Lust sich entfaltete, spürte er gleichzeitig ungeheure Verletzbarkeit. Zärtliche Worte murmelnd, neckten seine Lippen die ihren. Sie öffneten sich, und ihre Zunge begann sachte forschend in seinem Mund zu kreisen.

Diese Empfindungen waren ihr gänzlich unbekannt und dennoch... vertraut. Wie sein Körper sich an ihren drängte, sich ihm anpasste und darüber schob, war weder fremd noch beängstigend, wie sie es erwartet hatte. Sie empfand auch nicht das Gefühl der Entweihung, auf das sie vorbereitet war, als er sie an Stellen berührte, die noch nie ein Mann berührt hatte.

Dann steigerten sich ihre Empfindungen, überflügelten die angenehme Erregung und die zwanglosen Entdeckungen. Ihr Atem wurde flach, und sie rang nach Luft. Ihre Haut, die durch jede seine Berührungen noch sensibler wurde, brannte wie Feuer, das auch der kühle Abendwind, der durch die geöffneten Fenster blies, nicht lindern konnte. Hilfloses Ausgeliefertsein. Eine Situation, die sie, wie sie sich geschworen hatte, niemals zulassen würde, schon gar nicht ausgelöst durch die Hände eines Mannes. Sie wehrte sich gegen dieses Gefühl, wehrte sich gegen ihn, auch noch als die Hitze immer stärker wurde, sich auf einen Punkt konzentrierte und ihr Innerstes versengte.

Jetzt kam der Schmerz, aber er war anders als alle Schmerzen, die sie je erfahren hatte. Sie kämpfte dagegen an, und gleichzeitig kämpfte sie dafür. In einem verzweifelten Versuch, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, klammerte sie sich an die Laken.

Langsam und behutsam tasteten sich seine Hände an ihren Schenkeln hoch, spürten das Zucken jedes einzelnen Muskels und fanden sie schließlich, heiß und feucht und bereit. Ein letzter Widerstand, dann ein Ringen um Atem, als sich ihre Erregung in Ekstase steigerte. Ihr Körper krümmte sich zusammen und entspannte sich dann unter einem erstaunten Seufzer der Erleichterung.

Von diesem Moment an war sie gefangen, gierig nach allen nur erdenklichen Empfindungen, lechzend nach allem, was er sie lehren konnte. Das Blut raste in ihren Adern, kochte und brodelte, als sie ihn mit ihren Armen und Beinen umschlang. Es war ein Gefühl von Freiheit, das sie zugleich mit ihm umarmte. Und Vertrauen. Sich diesem Gefühl bereitwillig hinzugeben, und damit auch ihm, war eins.

Es war ein Schock, als er in sie glitt, und zugleich ein unsägliches Wohlgefühl. Wie hätte er ihr erklären sollen, dass er in diesem Moment, da sich ihr Körper an den seinen preßte, viel verwundbarer war, als sie es jemals gewesen war, und dennoch bereit, jedes Risiko einzugehen.

Schweigend lag sie später neben ihm. Was geschehen war, hatte nicht allzu viel Bedeutung, redete sie sich ein. Konnte nichts ändern. Sie wusste, es war töricht, sich jetzt anders zu fühlen. In ihrer Heimat wäre eine Frau ihres Alters schon lange verheiratet und hätte, so die Götter ihr gnädig waren, schon einigen Kindern das Leben geschenkt. Was in dieser Nacht geschehen war, war etwas ganz und gar Natürliches. Eine Frau wurde dazu geboren, einem Mann Vergnügen zu bereiten und Söhne zu schenken.

Sie dachte wie eine Frau aus Jaquir! Diese Erkenntnis hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund, der stark genug war, den Geruch des Mannes neben ihr zu überdecken. Sie schickte sich an, von ihm abzurücken, zu fliehen. Da legte er den Arm über sie.

Auf seinen Ellbogen gestützt, betrachtete er ihr Gesicht. Noch immer ruhten Geheimnisse darin und, unter der sanften Glut gestillter Leidenschaft, Vorbehalte, die er nur erahnen konnte.

»Habe ich dir weh getan?« Dies war nicht sein erster Gedanke gewesen, aber er war ebenso wenig wie sie in der Lage, seine Geheimnisse zu offenbaren.

»Nein, überhaupt nicht.«

Sanft berührte er ihr Gesicht. Sie drehte sich nicht weg, aber sie erwiderte seine Zärtlichkeit auch nicht. Ihre Wangen waren ein wenig kühl, deshalb deckte er sie mit dem Laken zu und wartete, dass sie etwas zu ihm sagte, ihm einen Hinweis darauf gab, wie sie sich fühlte oder was sie brauchte. Das Schweigen dehnte sich aus, lastete bald wie eine dunkle Wolke über ihnen.

»Du wirst mich nicht vergessen, weißt du das?« flüsterte er, um den Bann zu brechen. »Den ersten Liebhaber vergißt man nie.«

In seinen Worten lag genug Schärfe, um sie merken zu lassen, dass er mit etwas hinterm Berg hielt; doch dass er verletzt war, auf diesen Gedanken kam sie nicht. »Nein, ich werde dich nicht vergessen.«

Unvermittelt faßte er sie an den Schultern und zog sie zu sich heran, dass sie quer über ihm lag und ihr Haar auf seine Brust fiel. Ihre Blicke trafen sich. Es lag eine unausgesprochene Herausforderung darin, von beiden erkannt und akzeptiert. »Wir wollen das lieber sicherstellen«, meinte er augenzwinkernd, bevor er sie küßte.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie erwachte. Ein dumpfer, aber gleichzeitig wunderbar süßer Schmerz lähmte ihren Körper, als wolle er sie an die vergangene Nacht erinnern. Eigentlich wollte sie darüber lächeln, sich wieder gemütlich in die Kissen kuscheln und diesen wohltuenden Schmerz wie ein vollbrachtes Werk auskosten, sich daran erfreuen wie an einem Säckchen, gefüllt mit edelsten Diamanten. Doch ganz tief in ihrem Innersten gab es noch immer eine Stimme, die ihr einzureden versuchte, dass eine Frau, die sich im Bett unterworfen hat, damit einen großen Teil ihrer Stärke verloren hat.

Er lag schlafend neben ihr. Sie hatte nicht erwartet, dass er über Nacht bleiben, geschweige denn sie die ganze Nacht über in seinen Armen halten würde. Und sie hatte nicht geglaubt, dass es so angenehm sein könnte, nachts wach zu liegen, seinem gleichmäßigen Atem zu lauschen und sein Gesicht im ersten Morgenlicht zu betrachten.

Ein Gefühl von Zärtlichkeit durchströmte sie, das sie sogleich wegzudrängen versuchte. Ihre Fingerspitzen kribbelten, wollten über seine Wange streichen und mit seinen Locken spielen. Wie befriedigend musste es sein, ihn jetzt zu berühren, ganz so als ob das, was in der Nacht zwischen ihnen geschehen war, tatsächlich wirklich und bedeutungsvoll gewesen sei.

Ganz vorsichtig öffnete sie ihre zusammengeballten Finger und streckte sie nach ihm aus. Kaum hatte sie seine Wange berührt, da blinzelte er. Ruckartig zog Adrianne ihre Hand zurück.

Selbst im Schlaf reagierte Philip blitzschnell. Er bekam Adrianne am Handgelenk zu fassen und zog ihre Hand an seine Lippen. »Morgen.«

»Guten Morgen.« Verlegenheit. Sie kam sich ungeheuer linkisch, verlegen und töricht vor. »Wir haben länger geschlafen, als ich beabsichtigt hatte.«

»Dazu sind Ferien auch da.« Mit einer einzigen, katzenhaf- ten Bewegung rollte er sich auf sie und vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge.

Sie schloss ihre Augen. Es war schwierig - viel schwieriger, als sie je vermutet hatte dieses Bedürfnis zu geben zu unterdrücken. Wenn überhaupt möglich, so begehrte sie ihn jetzt noch viel mehr als in der Nacht zuvor. Mit der Liebe war es wie mit anderen Genüssen auch; einmal auf den Geschmack gekommen, konnte man sich deren verlockenden Reizen nicht mehr entziehen.

»Möchtest du frühstücken«, fragte sie, um einen lockeren Tonfall bemüht.

Nachdem er aufgehört hatte, an ihren Lippen zu knabbern, lehnte er sich zurück. »Hungrig?«

»Am Verhungern.«

»Soll ich den Zimmerservice rufen?«

»Ja - nein«, stotterte sie und hasste sich bereits für ihr feiges Ablenkungsmanöver. »Ich möchte lieber erst duschen und mich umziehen. Außerdem habe ich mit dem Gedanken gespielt, tauchen zu gehen, nach Palancar.«

»Hast du ein Boot gemietet?«

»Noch nicht.«

Als er sich aufsetzte, drehte sie sich ein wenig zur Seite, so dass sich ihre Körper nicht mehr berührten. »Das kann ich ja dann tun. Ich werde auch duschen gehen und dich dann in einer Stunde im Frühstücksraum treffen. Danach können wir gleich losgehen.«

»Perfekt.« Sie brachte ein Lächeln zustande. »Vielleicht brauche ich ein wenig länger; ich muss unbedingt Celeste anrufen.«

»Aber nicht sehr viel länger.« Er küßte sie, und weil sie ihren Frühstücksvorschlag zutiefst bedauerte, ergab sie sich seinen Küssen. Mit einem beglückten Seufzer zog er sie an sich. »Ein Mensch kann es tagelang ohne Essen aushalten.«

Ihr Lachen klang ein wenig angespannt. »Ich nicht.«

Sie wartete, bis er gegangen war, zog dann ihre Knie an und ließ ihren Kopf darauf niedersinken. Es sollte sie nicht bekümmern. Das zu tun, was notwendig war, sollte einen nicht bekümmern. Und dennoch brach es ihr das Herz. Energisch fegte sie die Laken beiseite, sprang aus dem Bett und tat, was getan werden musste.

Eine Verspätung von einer Viertelstunde musste er ihr wohl oder übel zugestehen, dachte er bei sich, als er am Fenster saß und den Sonnenanbetern beim Einölen zusah. Er wusste, dass es Frauen gab, die es nicht so genau mit der Zeit nahmen. Doch nach einer Weile erinnerte er sich daran, dass Adrianne nicht zu dieser Sorte Frauen gehörte. Ungeduldig rührte er in seiner zweiten Tasse Kaffee. Ein Mann war in schlechter Verfassung, wenn er anfing, die Minuten zu zählen. Philip schnappte sich die Rose, die er neben ihr Gedeck gelegt hatte. Demnach war er in der schlechtesten Verfassung überhaupt.

Die vergangene Nacht hatte ihm weitaus mehr bedeutet als nur Leidenschaft und Erleichterung. So vieles war ihm klargeworden und hatte sich als unabänderliche Tatsache in seinen Gedanken manifestiert. Er hatte nicht nach einer Frau gesucht, wäre nie auf die Idee verfallen, nach einer Frau zu suchen, die so perfekt zu ihm passte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Auch für sie nicht, überlegte er, als er sich eine Zigarette ansteckte. Sie mochte ruhig glauben, dass sie ihr Leben wieder an dem Punkt aufnehmen konnte, an dem sie vor ihm gestanden hatte, aber da würde er sie schon eines Besseren belehren.

Er hatte seine Entscheidung getroffen, wahrscheinlich die erste in seinem Leben, die nicht eigennützig war oder auf Profit abzielte, aber er hatte sie nun mal getroffen. Und, zum Teufel damit, er würde hier nicht den ganzen Morgen herumsitzen und warten, bis sie aufkreuzte, damit er sie davon überzeugen konnte, dass es die richtige war.

Nachlässig drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus, wo sie noch weiterglimmte, ließ seinen Kaffee stehen und verließ eiligen Schrittes den Frühstücksraum. Vor ihrer Zimmertür angekommen, durchfuhr ihn plötzlich ein ungutes Gefühl. Liebeskranker Idiot, schimpfte er sich, war dabei aber angenehm berührt. Er klopfte lauter an als nötig und drehte dann den Türknauf, als er keine Antwort bekam. Es war abgeschlossen, aber er hatte seinen Zimmerschlüssel in der Tasche sowie eine Kreditkarte und eine dünne Münze. Ohne nach rechts oder links zu blicken, machte er sich an die Arbeit.

Die Tür war noch nicht ganz aufgeschwungen, da wusste er schon Bescheid. Fluchend stürzte er auf den Schrank zu und riß die Türen auf. Er war - bis auf ihren Duft, der ihm entströmte - leer. Alle Flaschen und Tiegel waren von ihrem Toilettentisch verschwunden.

Philip knallte die Schranktür zu und bohrte die Hände in seine Jackentaschen. Maßlose Wut stieg in ihm hoch und gleichzeitig das elende Gefühl von Hilflosigkeit. Er war nie ein gewalttätiger Mensch gewesen, doch in diesem Augenblick hätte er ihr mit Genuß den Hals umdrehen können. Wissend, dass ihn seine Mordgelüste auch nicht weiterbrachten, ging er zum Telefon und wählte die Nummer der Rezeption.

»Wann hat Lara O'Connor das Hotel verlassen?« Das wirst du mir büßen! hämmerte es in seinem Kopf, während er auf die Antwort wartete. »Vor vierzig Minuten? Danke sehr.«

Sie mochte ja versuchen, vor ihm davonzulaufen, dachte er, als er den Hörer auflegte. Aber sie würde nie schnell genug sein.

Während Philip noch mit seinen Rachegedanken beschäftigt war, ließ Adrianne ihre Sitzgurte einschnappen. Ihre Augen hatte sie hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, obwohl sie nicht gerötet waren. Tränen hatte sie sich nicht gestattet. Aber das Bedauern, das sie verspürte, konnte sie nicht aus ihrem Blick verbannen. Er würde wütend auf sie sein, schrecklich wütend. Doch dann würde er weitermachen - so wie sie es tat, es tun musste. Für Gefühle, besonders für diese, die er ihr entlockt hatte, war kein Platz in ihrem Leben. Solange sie nicht Sonne und Mond in ihren Händen hielt, gab es für sie nur eins - Rache.

20. Kapitel

In London hatte es geschneit. Grauer Schneematsch lag auf den Straßen, und auf den Gehsteigen türmten sich Schneehaufen, schwarz wie Kohlenberge und ebenso unansehnlich. Doch der Schnee auf den Dächern der Häuser war noch blütenweiß und glitzerte sogar im flauen Sonnenlicht. Ein schneidender Wind zerrte an den Mänteln und Hüten der Fußgänger, die mit gesenkten Köpfen und hochgezogenen Schultern durch die Straßen eilten und alles festhielten, was wegzuwehen drohte. Es war diese Art Kälte, die einem durch Mark und Knochen ging und nach heißem Grog verlangte. Noch vor wenigen Stunden hatte Philip in der mexikanischen Sonne geschwitzt.

»Hier ist der Tee, Liebling.« Mit kleinen, raschen Schritten kam Mary Chamberlain in ihren gemütlichen Salon getrippelt. Philip wandte sich vom Fenster ab und nahm ihr das Tablett aus der Hand, auf dem sich sämtliche Lieblingsnaschereien seiner Kindheit türmten. So trübe seine Stimmung auch war, er musste einfach lächeln. Mary hatte stets versucht, ihn zu verwöhnen, ob Geld im Haus war oder nicht.

»Das reicht ja für eine ganze Armee.«

»Du musst deinem Gast ja etwas anbieten können, wenn er kommt.« Sie setzte sich an den kleinen Teetisch und schenkte den Tee ein. Zur Feier des Tages hatte sie das Meißener Service aus dem Schrank geholt: feinstes Porzellan, mit hellrosa Blumen und goldenen Blättern, von Hand bemalt. Sie fühlte sich immer ein wenig wie eine Lady, wenn sie es benutzte, und das liebte sie. »Bevor er kommt, sollten wir beide ein Täßchen zusammen trinken und etwas plaudern.«

Sie gab ihm einen Schuß Sahne zu seinem Tee und erinnerte sich, dass er keinen Zucker mehr nahm, seit er zwölf war. Die Tatsache, dass er jetzt schon die Dreißig hinter sich hatte, versetzte sie immer wieder in Erstaunen. Sie selbst fühlte sich kaum einen Tag älter. Wie jede Mutter glaubte auch sie, ihr Sohn sei zu mager, und legte ihm gleich zwei Stückchen Kuchen auf den Teller.

»So, bitte.« Zufrieden rührte sie eine üppige Portion Zuk- ker in ihren Tee. Es ging doch nichts über eine Tasse süßen, heißen Tee an einem solch frostigen Winternachmittag. »Ist es nicht gemütlich?«

»Hmmm?«

»Trink deinen Tee, mein Lieber. Der Klimawechsel ist immer ein tüchtiger Schock für den Körper.« Und was immer ihn noch bedrücken mochte, würde sie früher oder später schon erfahren.

Ganz in Gedanken kam er ihrer Aufforderung nach und musterte sie über den Rand seiner Teetasse hinweg. Sie hatte etwas zugenommen in den letzten Jahren. Aber es stand ihr recht gut, fand er. Sie war immer ein wenig zu dünn gewesen, als er klein war. Ihr Gesicht war hübsch gerundet, und wenn ihre Haut auch die jugendliche Frische eingebüßt hatte, so besaß sie fraglos den Glanz einer reifen Frau. Ein paar kleine Fältchen, zugegeben, aber die kamen nicht nur von den Jahren, sondern auch vom Lachen. Mary hatte schon immer gern und viel gelacht. Ihre Augen waren noch immer klar und kornblumenblau. Sein Äußeres hatte er nicht von seiner Mutter geerbt, sondern von dem Mann, der in ihr Leben getreten und bald darauf wieder daraus verschwunden war. Als Kind hatte ihn dies sehr bedrückt, so sehr, dass er jeden Mann, vom Briefträger bis zum Adeligen, auf etwaige Ähnlichkeiten hin gemustert hatte. Bis zum heutigen Tag war er sich nicht sicher, was er damals getan hätte, wenn er bei einem Mann solche entdeckt hätte.

»Du hast eine andere Frisur.«

Mary schüttelte ihr Haar auf, eine Geste, die ebenso kokett wie natürlich wirkte. »Ja. Und, was meinst du dazu?«

»Dass du hinreißend aussiehst.«

Sie lachte, ein volles, herzliches und fröhliches Lachen. »Ich habe einen neuen Friseur. Sein Name ist Mr. Mark, kannst du dir das vorstellen?« Sie rollte mit den Augen und leckte sich ein wenig Zuckerguß vom Finger. »Er flirtet so nett mit einem, dem muss man einfach ein Extra-Trinkgeld geben. Die Mädchen sind ganz verrückt nach ihm, aber ich glaube, er ist vom anderen Ufer.«

»Was, aus Amerika?«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Ihrem Phil hatte schon immer der Schalk im Nacken gesessen. »Ja. Und nun...« Sie machte es sich mit ihrer Teetasse im Sessel bequem. »Erzähl mir von deinem Urlaub. Hoffentlich hast du kein Wasser getrunken. Man liest so schlimme Dinge darüber. Hast du dich gut amüsiert?«

Er dachte daran, wie er sich durch Luftschächte gezwängt, in Schränken versteckt und Liebe gemacht hatte, wunderbar zwanglose Liebe mit Adrianne. »Ja, doch, kann man sagen.«

»Es gibt doch nichts Schöneres als einen Winterurlaub in den Tropen. Ich weiß noch zu gut, wie du mit mir nach Jamaika geflogen bist, mitten im Februar. Ich kam mir richtig dekadent dabei vor.«

Diese Reise war ein Nebeneffekt der De-Marco-Beute gewesen. »Und hast die Einheimischen nur so herumgehetzt.«

»Dabei dachte ich, ich hätte mich wie eine vornehme englische Dame benommen.« Darüber musste sie wieder kichern. Wenn Mary etwas nie sein würde, dann eine Dame. »Ich trage mich mit dem Gedanken an eine Kreuzfahrt. Vielleicht auf die Bahamas.« Dann sah sie Chauncy herumstreichen, den dicken Kater, der ihr vor einigen Jahren zugelaufen war. Bevor er auf das Tablett springen konnte, schüttete sie ihm freiwillig ein wenig Sahne in eine Untertasse. »Dieser reizende Mr. Paddington hat mich eingeladen.«

»Was?« Schlagartig aus seinen Träumereien geweckt, starrte Philip sie an. Neben ihm schlabberte der Kater gierig die Sahne auf. »Wiederhol das noch mal.«

»Ich sagte, dass ich mit Mr. Paddington vielleicht auf die Bahamas fliege. Chauncy, du bist wirklich ein alter Gierhals.« Trotzdem ließ sie ein Stückchen Kuchen auf die Untertasse fallen, das er mit einem Bissen herunterschlang.

»Mit diesem alten, schleimigen Tattergreis willst du eine Kreuzfahrt machen? Das ist doch absurd.«

Mary haderte mit sich und einem weiteren Stück Kuchen. »Mr. Paddington ist ein sehr respektables Mitglied unserer Gemeinde. Benimm dich nicht wie ein Trottel, Phil.«

»Ich möchte nicht mit ansehen müssen, wie meine Mutter auf hoher See diesem Herrn zum Opfer fällt.«

»Oho - was für ein reizender Gedanke.« Lachend beugte sie sich zu ihm vor und tätschelte seine Hand. »Tröste dich, mein Liebling, in die Verlegenheit werde ich dich nicht bringen. Nun, warum erzählst du mir nicht, was du auf dem Herzen hast? Ich hoffe, es ist eine Frau.«

Ungeduldig schob er Tee und Kuchen von sich weg, stand auf und marschierte durchs Zimmer. Wie immer hatte Mary den Christbaum mit allem Klimbim aufgeputzt, der ihr unter die Finger kam. Da baumelten Rentiere aus Plastik fröhlich neben kostbaren Porzellanengeln. Philip zupfte ein paar Lamettafäden von einem Zweig und ließ sie durch die Finger gleiten.

»Ach, nur geschäftliche Dinge.«

»Ich habe noch nie erlebt, dass du wegen Geschäften so rastlos im Zimmer herumrennst. Könnte es das nette Mädchen sein, mit dem ich kürzlich am Telefon gesprochen habe? Phoebe Springs Tochter?« Als er das Lametta in zwei kleine Teilchen zerriss, rieb sich Mary vergnügt die Hände. »Oh, das ist ja wunderbar.«

»Daran ist nichts Wunderbares.« Damit ließ er sich in seinen Sessel plumpsen. »Warum grinst du denn so?«

»Ich glaube, du bist verliebt. Endlich. Und, wie fühlt man sich dabei?«

Finsteren Blicks musterte er den Kater, mehr als geneigt, ihm einen ordentlichen Tritt zu versetzen. »Beschissen.«

»Gut, gut. Genauso sollte es sein.«

Er konnte nicht anders, er musste lachen. »Du bist mir immer ein großer Trost, Mum.«

»Wann kann ich sie kennenlernen?«

»Ich weiß nicht. Da gibt es ein Problem.«

»Selbstverständlich. Das gehört dazu. Wahre Liebe schafft immer Probleme.«

Er bezweifelte, dass sich irgendein anderes Liebespaar mit einem 280karätigen Diamanten und einer unbezahlbaren Perle herumschlagen musste. »Erzähl mir, was du über Phoebe Spring weißt.«

»Oh, sie war göttlich. Es gibt heute keine Schauspielerin, die sich mit ihr vergleichen könnte, mit ihrer Ausstrahlung - ihrer Präsenz.« Die Erinnerung an diese Frau ließ sie seufzen. Sie selbst hatte oft von einer Schauspielkarriere geträumt und davon, ein Star zu werden. Doch dann kam Philip zur Welt, und sie begnügte sich damit, Kinokarten zu verkaufen, anstatt selbst über die Leinwand zu flimmern. Aber ihrem Traum nachzutrauern, das wäre ihr nie in den Sinn gekommen. »Weißt du, die meisten Filmstars sehen heutzutage wie ganz gewöhnliche Leute aus - ein bisschen hübscher vielleicht, ein bisschen eleganter, aber mit etwas Mühe kann das jeder. Phoebe Spring war nie gewöhnlich. Warte, ich zeig' dir was.«

Schon war sie aufgesprungen und im Nebenzimmer verschwunden. Philip hörte sie in Schachteln herumkramen, dann einen dumpfen Schlag. Er schüttelte nur den Kopf. Seine Mutter war eine leidenschaftliche Sammlerin, hob alles und jegliches auf. Von bunten Glasscherben über Stoffreste bis zu Schubladen voll alter Kinokarten.

In ihrer Wohnung in Chelsea saßen und standen auf allen Fensterbrettern Dutzende von Gipstieren. Da Haustiere nicht erlaubt waren, hatte sich Mary eben mit diesen Figür- chen beholfen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie stundenlang dagesessen und hingebungsvoll Fotos von der englischen Königsfamilie und den damaligen Hollywoodgrößen ausgeschnitten und in Alben geklebt hatte. Sie dienten seiner Mutter, die außer ihm niemanden auf der Welt hatte, als Ersatz für das traditionelle Familienalbum.

Den Staub von einem großen, roten Sammelalbum pustend, kam sie ins Zimmer zurück. »Du weiß doch, dass ich meine Lieblingsschauspieler in Büchern verewigt habe.«

»Deine Staralben.«

»Ja.« Ohne sich ihrer Marotte im geringsten zu schämen, setzte sich Mary hin und schlug das Buch auf. Als Chauncy auf ihren Schloss sprang und sich auf dem Buch niederlassen wollte, bedeutete sie ihm, dass das pfui sei, und setzte ihn behutsam wieder auf den Boden. »Da ist ja Phoebe Spring. Schau, dieses Foto muss von der Premiere ihres ersten Films stammen. Damals war sie nicht älter als zwanzig.«

Philip stand auf und setzte sich zu ihr auf die Stuhllehne.

Die Frau auf dem Bild hatte ihre Hand auf den Arm eines Mannes gestützt, aber der verschwand regelrecht neben ihr. Man sah nur sie. Ihr Kleid war ein Fantasiegebilde aus Ziermünzen, die mit ihrem vollen, dunklen Haar, das ihr bis über die Schultern fiel, um die Wette glitzerten. Selbst auf dieser alten Schwarzweißaufnahme war ihre ungeheure Ausstrahlung spürbar - diese unschuldig blickenden, aufregenden Augen und dieser Körper, der alles versprach.

»Mit diesem Film wurde sie zum Star«, murmelte Mary und blätterte gedankenversunken weiter. Von Phoebe Spring gab es etliche Fotos, einige davon waren Studioaufnahmen, andere Schnappschüsse. Doch alle zeigten eine Schönheit. Wenn diese alten Bilder sich auch teilweise an den Ecken aufrollten, so strahlten sie noch immer Phoebes ungeheuren Sex-Appeal aus. Neben die Fotos hatte Mary Zeitungsartikel geklebt, die sie aus der Regenbogenpresse und Filmmagazinen ausgeschnitten hatte. Geschichten über Phoebes angebliche Affären mit Produzenten, Regisseuren und Politikern.

»Das Bild hier stammt von der Oscar-Preisverleihung, als sie für ihre Rolle in Tomorrow's Child nominiert worden war. Schade, dass sie nicht gewonnen hat, aber immerhin wurde sie von Cary Grant begleitet, und das heißt ja schon was.«

»Ich hab' den Film gesehen. Sie verliebt sich in den falschen Mann, bekommt ein Kind von ihm und muss dann gegen ihn und seine reiche Familie um ihren Unterhalt kämpfen.«

»Ich habe jedesmal Rotz und Wasser geheult bei dem Film. Sie war so tapfer und wurde so schlecht behandelt.« Mary seufzte noch einmal mitfühlend und blätterte dann auf die nächste Seite.

Dort klebte ein Bild von Phoebe in einem cremefarbenen Satinkleid, wie sie graziös vor der Königin knickste, und ein anderes, auf dem sie mit einem dunkelhäutigen, sehr markant aussehendem Mann im Frack tanzte. Philip wusste sofort, dass dies Adriannes Vater sein musste. Die Augen, der Körperbau und die Hautfarbe sagten alles.

»Und der?«

»Das ist ihr Gemahl. König Abdu von Soundso. Sie hat nur einmal geheiratet, musst du wissen. Oh, die Zeitungen und Magazine waren damals voll davon - wie sie sich kennengelernt haben, hier in London, bei den Dreharbeiten zu White Roses. Bei beiden war es Liebe auf den ersten Blick. Er schickte ihr jeden Tag zwei Dutzend weiße Rosen, bis er ihre Hotelsuite in ein einziges Blumenmeer verwandelt hatte. Er reservierte ein ganzes Restaurant für ein Dinner zu zweit. Dass er ein König war, machte das Ganze noch viel romantischer und aufregender.«

Mary bekam selbst nach einem Vierteljahrhundert beim Betrachten dieser Bilder noch feuchte Augen. »Die Leute verglichen sie mit Grace Kelly und Rita Hayworth, und dann hat Phoebe tatsächlich ebenfalls der Filmwelt den Rücken gekehrt und diesen Abdu geheiratet und ist ihm in sein Königreich gefolgt.« Sie deutete mit der Hand so ungefähr Richtung Osten.

»Jaquir.«

»Ja, genau. Es war wie im Märchen. Hier ist ein Foto von ihrer Hochzeit. Sie sieht doch aus wie eine richtige Königin, nicht wahr?«

Phoebes Hochzeitskleid war atemberaubend, ein Traum aus Spitze und Seide. Selbst unter dem Tüllschleier verborgen, funkelte ihr Haar noch wie ein Leuchtfeuer. Sie sah so glücklich aus und so verdammt jung. In ihrem Arm trug sie einen riesigen Strauß weißer Rosen. Und an ihrem Hals schimmerten, glitzerten, ja glühten beinahe Sonne und Mond.

Beide, der Diamant und die Perle, ruhten dicht aneinandergeschmiegt zwischen einer doppelreihigen, schweren Goldkette. Die Fassungen waren sternförmig, nach alten Mustern feinstens ziseliert und unbeschreiblich schön.

Obwohl Philip sich schon seit geraumer Zeit zur Ruhe gesetzt hatte, juckte es ihn plötzlich in den Fingerspitzen, und sein Puls ging schneller. Dieses Schmuckstück in Händen zu halten, es nur für einen Augenblick zu besitzen, musste einem das Gefühl bescheren, die ganze Welt zu besitzen.

»Nach ihrer Hochzeit gab es nur noch sehr wenige Berichte über sie und beinahe gar keine Fotos mehr. Irgendein komisches Gesetz dort drüben verbietet anscheinend Aufnahmen der Königsfamilie. Erst hieß es, sie sei schwanger, und dann, dass sie Mutter eines Mädchens geworden war. Das muss deine Adrianne gewesen sein.«

»Ja.«

»Man sprach noch hin und wieder von ihr, aber dann hörte man immer weniger, bis sie einige Jahre später mit ihrer Tochter in New York auftauchte. Anscheinend war die Ehe nicht besonders glücklich, und sie hat ihn verlassen, um in ihre Heimat zurückzukehren und wieder an ihre Karriere anzuknüpfen. Hier ist ein Interview mit ihr kurz nach ihrer Ankunft, aber sie sagt nicht viel mehr, als dass sie die Schauspielerei vermißt hat.«

Sie blätterte die Seite um und zeigte ihm ein anderes Foto. Auf diesem war Phoebe immer noch sehr schön, aber der Glanz und die Eleganz waren aus ihrem Gesicht verschwunden. Statt dessen verriet es nun Anspannung und Nervosität. Neben ihr stand Adrianne. Sie war damals so um die acht Jahre und sehr klein für ihr Alter. Kerzengerade stand sie da und starrte in die Kamera, doch ihre Augen waren außergewöhnlich wachsam. Sie hielt sich an der Hand ihrer Mutter fest - oder Phoebe an der ihren.

»Wirklich traurig. Phoebe hat nie wieder einen guten Film gemacht. Nur solche, wo sie sich auszieht und so weiter.« Sie blätterte weiter zu einer Phoebe, die dunkle Ringe unter den Augen hatte und Kleider trug, die so knapp geschnitten waren, dass ihr immer noch straffer Busen vorteilhaft zur Wirkung kam. Aber ihr Blick war leer, und ihr Lächeln spiegelte abgrundtiefe Verzweiflung wider. Die Unschuld zu ersetzen war keine leichte Aufgabe. »Sie hat dann Titelfotos für dieses Männermagazin gemacht, du weißt schon«, fuhr Mary fort und rümpfte dabei mißbilligend die Nase. Sie war zwar alles andere als prüde, doch irgendwo gab es für sie eine Grenze. »Und hat ein Verhältnis mit ihrem Agenten gehabt, neben anderen, wohlgemerkt. Es wurde gemunkelt, dass dieser Typ auch auf ihre

Tochter scharf gewesen sein soll. Eine Schweinerei für einen Mann in seinem Alter.«

In Philips Magen ballte sich ein Knoten zusammen. »Wie hieß er denn?«

»Oh, Gott, ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht steht er hier irgendwo.«

»Kann ich das Buch mitnehmen?«

»Natürlich. Ist es wichtig für dich?« Sie legte ihre Hand auf seine, als er das Buch zuklappte. »Wer oder was immer auch ihre Eltern gewesen sind, ändert nichts an ihrer Person.«

»Das weiß ich.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Aber sie muss das auch wissen.«

»Sie hat Glück, dass sie dich kennengelernt hat.«

»Ja.« Er grinste und küßte sie noch einmal. »Ich weiß.«

Als es an der Tür klingelte, sah Philip auf die Uhr. »Das muss Stuart sein, pünktlich wie immer.«

»Soll ich den Tee aufwärmen?«

»Nein, danke, er ist noch heiß genug«, antwortete er und ging zur Tür. »Stuart.«

Das Gesicht vom eisigen Wind gerötet, trat Spencer ein. »Elendige Kälte. Heute abend soll es wieder schneien. Mrs. Chamberlain.« Er nahm ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie. »Schön, Sie wieder einmal zu sehen.«

»Sie kommen gerade recht zum Tee. Genau das richtige bei einem solchen Wetter. Phil wird Ihnen einschenken. Entschuldigen Sie mich, ich muss noch ein paar Dinge erledigen.« Damit schlüpfte sie in den schwarzen Nerzmantel, den ihr Sohn ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. »In der Küche steht noch mehr Kuchen.«

»Danke, Mum.« Philip schlug ihr den Mantelkragen hoch. »Du siehst aus wie ein Filmstar.«

Ein schöneres Kompliment hätte er ihr nicht machen können. Mit einem kleinen Klaps auf seine Wange ging sie hinaus.

»Reizende Frau, Ihre Mutter.«

»Ja. Sie überlegt sich gerade, mit einem Gemüsehändler namens Paddington eine Kreuzfahrt zu machen.«

»Gemüsehändler? Warum nicht.« Spencer faltete seinen Mantel zusammen und legte ihn ordentlich über eine Stuhllehne, bevor er seine Aufmerksamkeit dem Teetablett zuwandte. »Sie wird schon wissen, was sie tut.« Er goß sich selbst Tee ein. »Ich dachte, Sie wollten über Weihnachten Urlaub machen?«

»Mache ich auch.«

Spencer runzelte leicht die Stirn und legte sie dann richtig in Falten, als Philip sich eine Zigarette aus der Packung fischte. »Hatten Sie nicht das Rauchen aufgegeben?«

»Hatte ich.«

Spencer träufelte etwas Zitrone in seinen Tee. »Höchste Zeit, dass ich Sie in Paris unterbringe.«

Obwohl Philip über die laufenden Ereignisse im Bilde war, setzte er sich bequem hin, um Stuarts Bericht zu lauschen.

»Wie Sie richtig vermutet haben, hatte er es auf die Gräfin abgesehen. Wir haben einen Agenten als Küchenhilfe in ihr Haus eingeschleust und zwei weitere in der Nähe postiert. Unser Mann muss Wind davon bekommen haben, denn er hatte es plötzlich sehr eilig. Hat den Alarm ausgelöst. Das ist etwas ganz Neues bei ihm.«

Philip schenkte sich noch mal Tee nach und warf dem Kater einen warnenden Blick zu. »In der Tat.«

»Unsere Männer draußen haben ihn sogar ganz kurz gesehen. Auch etwas ganz Neues. Doch ihre Beschreibung ist leider mehr als vage. Beide behaupten, er kenne Paris wie seine Westentasche, aber das sagen sie vielleicht nur, weil er ihnen entwischt ist.«

»Und die Juwelen der Gräfin?«

»In Sicherheit.« Spencer seufzte zufrieden. »Wir haben ihm seinen Job dort ordentlich versaut.«

»Vielleicht sogar mehr als das.« Philip bot Spencer Kuchen an. Er zögerte kurz, nahm sich dann ein Stück. »Mir sind da einige Gerüchte zu Ohren gekommen.«

»Als da wären?«

»Vielleicht ist auch nichts Wahres dran, aber man weiß ja nie. Wussten Sie, dass unser Mann eine Komplizin hat?«

»Eine Frau?« Spencer vergaß seinen Kuchen und zog sein Notizbuch aus der Tasche. »Da steht nichts von einer Frau.«

Philip schnippste die Asche von seiner Zigarette. »Deshalb sind Sie ja auch auf meine Wenigkeit angewiesen, Spencer. Ich habe zwar keinen Namen, aber sie ist eine Rothaarige, ein bisschen nuttig und gerade schlau genug, um seine Anweisungen auszuführen.« Innerlich musste er grinsen, als er daran dachte, wie wütend Adrianne über diese Charakterisierung sein würde. »Auf alle Fälle hat sie mit einem meiner Kontaktmänner gesprochen.« Etwaige Fragen abwehrend, hielt er seine Hand hoch. »Sie wissen ja, dass ich keine Namen nennen kann, Stuart. Das ist ein Teil unserer Abmachungen.«

»Ja, einer, den ich zutiefst bedauere. Wenn ich an all die kleinen Ganoven und zwielichtigen Gestalten denke, die ich von der Straße pflücken könnte... aber egal. Und, was hat die Dame gesagt?«

»Dass der Schatten - wissen Sie, dass man ihn >den Schatten nennt?«

»Wie romantisch!«

»Also, angeblich kommt der Schatten allmählich in die Jahre; außerdem soll ihm seine Arthritis schwer zu schaffen machen.« Philip krümmte seine Finger zu einer Faust. »Das ist mit die größte Angst eines jeden Künstlers, sei er nun Musiker, Maler oder ein Dieb. Fingerfertigkeit ist für diese Berufe das A und O.«

»Ich vergehe vor Mitleid.«

»Nehmen Sie doch noch ein Stück Kuchen, Captain. Es geht die Kunde, dass der Schatten sich zur Ruhe setzen will.«

Spencer, den Kuchen schon fast im Mund, hielt plötzlich in seiner Bewegung inne. Seine Augen weiteten sich und nahmen einen gläsernen Ausdruck an. Philip kam er in diesem Augenblick vor wie eine hungrige Bulldogge, die gerade in einen saftigen Knochen beißen will und merkt, dass dieser Leckerbissen aus Plastik ist. »Was meinen Sie mit >zur Ruhe setzen<? Ich will verdammt sein, wenn er in diese Lage kommen sollte. Noch vor zwei Tagen, in Paris, wäre er uns beinahe ins Netz gegangen.«

»Wie gesagt, es ist nur ein Gerücht.«

»Mist, verdammter.« Spencer ließ seinen Kuchen auf den Teller zurückfallen und leckte sich die Finger ab.

»Vielleicht macht er ja auch nur Urlaub.«

»Und was schlagen Sie vor?«

»Warten, bis er sich wieder rührt, falls er das tut.«

Spencer kaute auf dieser Information herum wie auf einem zähen Stück Fleisch. »Es könnte was bringen, sich auf die Frau zu konzentrieren.«

»Möglich.« Mit einem Schulterzucken tat Philip seine Vorbehalte kund. »Aber nur, wenn Sie Zeit haben, alle rothaarigen Flittchen in Amerika und Europa zu überprüfen.« Er griff nach seiner Teetasse. »Ich weiß, es klingt frustrierend, Stuart, aber ich fürchte, nach dem gescheiterten Coup in Paris hat unser Mann endgültig die Nase voll.« Er durfte nicht vergessen, seinem alten Freund Andre einen Scheck zu schicken, und zwar einen dicken Scheck. Er war es, der dafür gesorgt hatte, dass die Agenten in Paris wenigstens etwas zu berichten hatten. »Die nächsten Wochen muss ich mich um einige persönliche Angelegenheiten kümmern. Falls ich aber etwas in Erfahrung bringen sollte, werde ich es Sie selbstverständlich umgehend wissen lassen.«

»Ich will diesen Mann, Philip.«

Der Anflug eines Lächelns spielte um Philips Mundwinkel. »Ich auch, das kann ich Ihnen versichern.«

Es war gegen zwei Uhr morgens, als Adrianne ihre Wohnungstür aufschloss. Die Silvesterparty, von der sie sich heimlich weggeschlichen hatte, würde angesichts der vielen ungeöffneten Champagnerflaschen sicherlich noch bis in die Morgenstunden dauern. Sie hatte Celeste in den Armen einer alten Flamme zurückgelassen. Adriannes Begleiter dürfte ihre Abwesenheit mittlerweile bemerkt haben, doch sie war sicher, dass er sich auch anderweitig unterhalten würde.

Es war ihr schwergefallen, den Juwelen, die an den Dekolletes der Damen funkelten, keine gesteigerte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. So viele Jahre lang hatte sie Halsketten und Armbänder immer nur unter dem Aspekt ihres Gegenwertes in Dollar und Cents betrachtet. Diese Gewohnheit musste sie nun ablegen. Es gab noch einen einzigen Job für sie, und dieses Schmuckstück konnte sie Tag und Nacht sofort vor ihrem geistigen Auge zum Glitzern bringen. Sie konnte es auf dem Porträt ihrer Mutter betrachten, das sie nach einer alten Fotografie hatte malen lassen. Sie konnte es in ihren Händen fühlen, diesen Traum aus Feuer und Eis.

Nach ihrer Rückkehr aus Jaquir würde sie endlich die Frau sein, für die man sie schon all die Jahre über gehalten hatte. Ihr Leben würde aus Partys und Wohltätigkeitsveranstaltungen bestehen und aus Reisen in die Ferienorte, an denen man Frauen ihres Standes anzutreffen pflegte. Sie würde lernen, dieses Leben zu genießen, so wie eine Frau ihren Erfolg genießt, wenn sie ihr Lebenswerk vollbracht hat. Und sie würde dieses Leben allein genießen.

Ohne Bedauern. Erfolg hat seinen Preis; sei er auch noch so hoch, er musste bezahlt werden. Mit ihrem Abflug von Cozumel hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen. Vielleicht hatte sie schon Jahre zuvor damit begonnen.

Er würde sie vergessen. Höchstwahrscheinlich war er schon auf dem besten Wege dazu. Sie war doch nur eine Frau von vielen, trotz allem, was geschehen war. Sie war nicht die erste und gab sich auch nicht der Illusion hin, die letzte Frau für Philip gewesen zu sein. Er war ihr erster und ihr letzter Mann, und das akzeptierte sie.

Ihren Mantel über dem Arm, stieg sie die Wendeltreppe hinauf, die in den zweiten Stock führte. Sie konnte es sich nicht leisten, an Philip zu denken. Noch konnte sie es sich leisten, sich in Bedauern darüber zu ergehen, dass sie ihn geliebt und anschließend die Tür, durch die diese Liebe vielleicht in weitere unbekannte Gefilde geführt hätte, hinter sich geschlossen zu haben. In eine Sackgasse, dachte sie. Wenn eine Frau einen Mann liebt, führt dies unweigerlich in eine Sackgasse.

Im Moment wollte sie nur schlafen, lange und tief schlafen. Das, was vor ihr lag, erforderte ihre ganze Kraft, all ihr Wissen und vor allem einen klaren Kopf. Der Flug nach Jaquir war bereits gebucht.

Sie knipste das Licht im Badezimmer nicht an, sondern warf ihren Mantel über einen Stuhl und begann im Dunkeln, die Klammern aus ihrem Haar zu lösen. Draußen schwoll der Verkehrslärm wellenartig an und verebbte dann wieder, ein Geräusch, das sie an das Meer in Mexiko erinnerte. Sie konnte es förmlich riechen - die salzige Luft und den Hauch von Tabak und Seife, der Philips Bild sofort wieder in ihrer Erinnerung entstehen ließ.

Fröstelnd stand sie im Dunkeln und ließ die Finger durch ihr Haar gleiten, als plötzlich die Leselampe neben ihrem Bett aufleuchtete.

Wie sie so dastand, wie ihre Haut unter dem weißen, perlenbestickten Abendkleid golden schimmerte, sah sie aus wie eine kunstvolle, aus Alabaster und Bernstein gemeißelte Statue. Das Kleid umschmeichelte ihren Körper wie eine zweite, seidig glänzende Haut. Philip wandte seinen Blick von ihrem Körper ab und konzentrierte sich nur noch auf ihre Augen, während er ein Glas an die Lippen führte. Es gefiel ihm, darin erst einmal Schock, dann Freude und dann ein kontrolliertes Blitzen zu entdecken.

»Ein gutes neues Jahr, Darling.« Er prostete ihr mit seinem Champagnerglas zu, stellte es dann ab, um das andere bereitstehende Glas für sie zu füllen.

Er war ganz in Schwarz gekleidet, Rollkragenpullover, enge Jeans und weiche Lederstiefeletten. Während er auf sie wartete, hatte er es sich zwischen den Kissenbergen auf ihrem Bett bequem gemacht.

Adriannes Gefühle überschlugen sich - Verlangen, Freude und Schuld. Daher war ihre Stimme so kühl wie der Champagner, den er ihr anbot. Langsam ließ sie ihre Arme niedersinken.

»Ich habe nicht erwartet, dich wiederzusehen.«

»Hättest du aber sollen. Kein Neujahrsglückwunsch, Addy?«

In der Absicht, sich selbst und vor allem ihm ihr Desinteresse zu demonstrieren, ging sie erhobenen Hauptes auf ihn zu, um ihm das Glas abzunehmen. Ihr Kleid schillerte wie frisches Quellwasser. »Auf ein neues und das Begleichen einer alten Schuld.« Kristall klirrte gegen Kristall. »Ein weiter Weg, nur für einen Drink.«

Ihr unverwechselbarer Duft verwirrte seine Sinne. Er hätte sie dafür erwürgen können. »Dein Champagner ist auch eine Reise wert.«

Er kratzte wie Sand in ihrer Kehle. »Wenn du Wert darauf legst, werde ich mich für mein Verschwinden entschuldigen.«

»Mach dir keine Mühe.« Er horchte in sich hinein. Er war doch wütender, als er dachte. »Ich hätte wissen müssen, dass du ein Feigling bist.«

»Ich bin kein Feigling.« Sie stellte ihr Glas neben das seine.

»Doch«, begann er langsam. »Du bist ein erbärmlicher, zitternder, selbstsüchtiger Feigling.«

Noch ehe sie ihre Absicht realisierte oder er diese Absicht in ihren Augen erkennen konnte, gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Das klatschende Geräusch hallte von den Wänden wider. Philips Augen wurden vor Wut noch dunkler, bevor er dann betont langsam und ruhig sein Glas erhob. Doch seine Finger, die sich um den langen Stiel schlössen, waren an den Knöcheln ganz weiß.

»Das ändert auch nichts.«

»Du hast kein Recht, über mich zu urteilen, kein Recht, mich zu beleidigen. Ich bin gegangen, weil ich gehen wollte, weil ich glaubte, dass es so am besten sei, und weil ich kein angenehmer Zeitvertreib für dich sein wollte.«

»Ich kann dir versichern, dass ich sehr wenig Angenehmes an dir entdeckt habe, Adrianne.« Nachdem er sein Glas wieder beiseite gestellt hatte, legte er seine Hände aneinander und musterte sie über seine Fingerspitzen hinweg. »Glaubst du, mein Interesse für dich hat sich auf ein paar Ficks unter tropischer Sonne beschränkt?«

Seine Antwort ließ sie erbleichen, doch dann schloss ihr das Blut ins Gesicht, dass ihre Wangen glühten. »Es geht mir viel mehr darum, dass ich kein Interesse an einer Affäre habe.«

»Nenn es, wie du willst. Jedenfalls bist du diejenige, die das, was zwischen uns geschehen ist, zu einer billigen Affäre degradiert hat.«

»Na und?« Wut und Scham darüber, die Wahrheit zu hören, ließen ihre Stimme schrill klingen. »Was macht das schon?«

»Verdammtes Miststück.« Er packte sie an den Handgelenken und zerrte sie aufs Bett. Obwohl sie sich heftig wehrte, schob er seinen Körper über ihren und hielt ihre Hände fest. Aus ihrer beider Augen züngelten Flammen der Wut. »Es war nur Sex, ich habe ich nicht mit Gewalt genommen, und ich bin auch nicht dein Vater.« Adrianne blieb ganz still liegen und wurde leichenblass. »Darum allein geht's, hab' ich recht? Jedesmal, wenn sich dir ein Mann nähert, jedesmal, wenn du in Versuchung geführt wirst, denkst du an ihn. Aber nicht mit mir, Adrianne. Niemals.«

»Du weißt nicht, wovon du sprichst.«

»Nein?« Sein Gesicht war nur eine Handbreit von ihrem entfernt. Er konnte förmlich sehen, wie wieder Leben in sie kam, wie sich ihre Wangen röteten, Wut und Ablehnung in ihr aufkeimten. »Hasse ihn, wenn du willst, das ist dein gutes Recht, aber ich werde es nicht zulassen, dass du mich mit ihm oder irgendeinem anderen Mann vergleichst.«

Sein Mund näherte sich dem ihren, jedoch nicht mit der Zärtlichkeit wie die letzten Male, nicht behutsam oder schmeichelnd, sondern mit wütender Forderung und einem Anflug von Gier. Sie wehrte sich nicht, doch ihre Hände, die er immer noch festhielt, ballten sich zu Fäusten, und ihr Blut geriet in Wallung.

»Was zwischen uns passierte, geschah, weil du es genauso wolltest wie ich, genauso sehr brauchtest wie ich. Schau mich an«, verlangte er, als sie die Augen schloss. Er wartete. Das Licht der Nachttischlampe fiel sanft über ihr Gesicht, als sie ihn wieder ansah. »Willst du das abstreiten?«

Sie hätte es gern getan. Ihre Lippen formten sich zu einer

Lüge, ergaben sich dann aber der Wahrheit. »Nein. Aber was geschehen ist, ist vorbei.«

»Es ist noch lange nicht vorbei. Glaubst du, es ist nur die Wut, die deinen Puls jagen läßt? Glaubst du, zwei Menschen können sich so nahe kommen wie wir und dann einfach auseinandergehen und vergessen?« Er ließ ihre Hände los und griff in ihr volles Haar. »Letztes Mal habe ich dir eine Art der Liebe gezeigt. Jetzt, bei Gott, wirst du eine andere kennenlernen.«

Seine Lippen waren heiß und hart und gierig. Als er sie auf die ihren preßte, blieb sie bewegungslos liegen, entschlossen, ihm nichts zu geben und nichts für sich zu nehmen. Doch ihr Atem ging schneller, ihre Lippen wurden warm und öffneten sich zaghaft. Sofort schlängelte sich seine Zunge dazwischen und kreiste lockend in ihrem heißen Mund.

Das war echte Verführung. Mehr als zärtliche Worte und sanftes Licht. Eine klare Herausforderung, ein hingeworfener Fehdehandschuh. Das war die Antwort auf Fragen, die zu stellen sie nie gewagt hatte.

Und dann klammerte sie sich an ihn, gab sich hin, antwortete seinem Drängen, aber nichts schien ihn zu befriedigen.

Rasend vor Leidenschaft glitten seine Hände über ihren Körper, zerrten das Kleid über ihre Hüften, um mehr von ihrer duftenden Haut zu spüren. Diesmal wollten seine Hände nicht entdecken, nein, diesmal plünderten sie. Sie schlössen sich um ihre Brüste, kneteten sie, seine Lippen saugten sich an ihren Brustwarzen fest, seine Zunge spielte mit ihnen, bis sie hart wurden und brannten, bis ihr Körper sich zitternd und aufbäumend unter dem seinen wand. Sie schlang die Arme um ihn und ergab sich ihrer Lust.

Sie rief seinen Namen, stammelte und keuchte unzusammenhängende Worte, die ihm das Blut in die Lenden schießen ließen, wo es mit jedem seiner Herzschläge stärker pulsierte. Bis der Verführer selbst zum Verführten wurde.

Adrianne war ein Schloss, das er öffnen würde. Er besaß die Fertigkeit, die Erfahrung und den Drang dazu. Die

Schätze, die ihn hier erwarteten, waren wertvoller und verführerischer als alle, die er jemals aus den dunkelsten Tresoren und tiefsten Schatzkammern geholt hatte. Allein mit seinen Händen und seinem Mund erweckte er ihre Leidenschaft und entflammte sie.

Die Dunkelheit, die sie umgab, war wie schwarzer Samt, die Luft dick und schwer. Adrianne musste richtig darum kämpfen, sie in ihre Lungen zu saugen, um sie gleich darauf unter Stöhnen auszustoßen. Seinen Andeutungen von vorhin hätte sie entnehmen können, dass Lust einen Körper erbeben lassen und ihn in einen Taumel der Entrücktheit und unsäglichen Begierde versetzen kann. Die Entscheidung, zu geben und zu nehmen, anzubieten und zu empfangen, die hatte er ihr schon genommen.

Sie zerrte an seinen Kleidern. Die Vorsätze, die sie gefaßt hatte, verloschen wie der Docht einer abgebrannten Kerze. Sie hatte die Male zuvor sehr wohl ein gewisses Vergnügen empfunden, das jedoch keinen Vergleich mit den Gefühlen duldete, die jetzt über sie hereinbrachen. Diese Art von Lust und Verlangen stellte alle jemals erlebten Empfindungen in den Schatten. Noch nie zuvor war sie sich ihres Körpers so bewußt gewesen. Sie spürte jeden Pulsschlag, wo immer er sie berührte, wo immer sie von ihm berührt werden wollte.

Ein feiner, glänzender Schweißfilm bedeckte ihre Haut. Und die seine. Sie konnte das Salz schmecken, als sie über das Bett rollten. Der Duft der Liebe und der Leidenschaft wurde intensiver, schärfer, prickelnder, erregender. Wild und stoßweise drang sein Atem an ihr Ohr, als er sie wieder unter sich begrub. Ihre Blicke hielten sich gegenseitig gefangen. Sein Kopf bewegte sich im Takt mit seiner Brust, die sich unter seinem schweren Atem hob und senkte. Er spürte, wie sich ihre Nägel in seinen Rücken krallten, wie sich ihre Brüste ihm entgegenhoben.

»Ich werde dich dabei beobachten, wie du zum Höhepunkt kommst«, erklärte er ihr, und die Worte kratzten ihm dabei in der Kehle. »Und dann wirst du wissen, dass ich der einzige Mann bin, der dich dorthin bringen kann.«

Pumpend, stoßend drang er in sie ein, bis sich ihre Augen weiteten und ihr Blick glasig wurde. Ein erstickter Lustschrei entrang sich ihrer Kehle.

Er spürte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper sich anspannen, nahezu zerreißen. Dann endlich zuckten ihre Hüften wie Blitze an einem Gewitterhimmel und bewegten sich Stoß für Stoß synchron mit seinen Lenden. All seine Sinne arbeiteten auf Höchsttouren. Er sah den Lichtschein auf ihrem Gesicht, hörte das Rascheln der Laken, spürte beinahe, wie sich die Poren seiner Haut öffneten. Ihr Duft, ihre Arme, ihre Beine, ihr Haar, alles umfing und umgarnte ihn. Die Welt um ihn herum reduzierte sich auf die Größe einer Nadelspitze. So musste es sein zu sterben, dachte er noch, dann erlosch auch sein letzter Funken Fantasie. Ihr erlösender Schrei war wie ein Echo des seinen, als sich sein Samen in sie ergoss.

Adrianne wartete darauf, dass sie ein Gefühl von Scham und Selbstverachtung überkam. Aber nichts dergleichen geschah. Da war nur diese angenehm matte, gedämpfte Glut der Leidenschaft. Er hatte Dinge mit ihr getan, von denen sie nicht geahnt hatte, dass sie sie so genießen würde. Und sie hatte sie freudig angenommen. Darin geschwelgt. Selbst jetzt, nach Abklingen des Liebestaumels, wusste sie, dass sie sich wieder danach verzehren würde. Sie hielt ihre Augen geschlossen, denn sie spürte, dass er sie beobachtete.

Sie hatte ja keine Ahnung, wie schön sie aussah, dachte Philip. Nackt, ihre langen, schlanken Beine immer noch hingebungsvoll gespreizt, ihre Haut noch leicht gerötet von der verglimmenden Hitze des Liebesaktes, ihr zerzaustes Haar über die weißen Seidenkissen verteilt. Sie trug nichts an ihrem Körper als die zwei kleinen Diamantenohrstecker, die jetzt im Schein der Lampe aufblitzten.

»Die sind echt«, stellte er fest, während er mit ihnen spielte.

»Ja.«

»Wer hat sie dir geschenkt?«

»Celeste. Zu meinem achtzehnten Geburtstag.«

»Dann ist es gut. Wären sie von einem Mann gewesen, müsste ich eifersüchtig sein. Aber dazu fehlte mir im Moment jegliche Energie.«

Sie öffnete die Augen und lächelte scheu. »Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll.«

»Zum Beispiel, dass dies ein besonders schöner Ausklang der Silvesternacht war.«

Sie wollte über sein Haar streichen. Es schimmerte golden und hing in wirren Strähnen in seine Stirn. Ihre Hände hatten dies kurz zuvor noch getan, doch jetzt hielt sie sie still. »Philip, du musst verstehen, dass dies nichts an meinem Entschluß ändern kann. Es wäre am besten, du würdest nach London zurückkehren.«

»Hmmm, hmmm. Weißt du, dass du hier ein Muttermal hast?« Seine Hand tastete sich an ihrer Hüfte entlang. »Ich finde es sogar im Dunkeln.«

»Ich muss praktisch denken.« Während sie dies sagte, es auch wirklich meinte, rutschte sie dichter an ihn heran. »Und es ist wichtig für mich, dass du es auch tust.«

»Exzellente Idee. Darauf trinken wir einen.« Er langte über sie hinweg nach den Gläsern.

»Philip, ich möchte, dass du mir zuhörst. Die Art und Weise, wie ich mich in Mexiko davongeschlichen habe, mag vielleicht nicht ganz richtig gewesen sein, aber ich dachte, es sei einfacher so. Ich wollte mich dabei vor Dingen drücken, die gesagt werden müssen.«

»Dein Problem, Addy, ist, dass du auf deinen Verstand achtest, und nicht auf dein Gefühl. Aber schieß los, sag, was zu sagen ist.«

»Ich kann es mir nicht leisten, mich auf dich einzulassen, auf niemanden. Was ich zu tun habe, erfordert meine volle Aufmerksamkeit. Du weißt genausogut wie ich, dass es von entscheidender Wichtigkeit ist, seine Arbeit nicht von äußerlichen Problemen beeinflussen zu lassen.«

»Das bin ich also für dich?« Er war innerlich so zufrieden, dass er sich über diese Ausdrucksweise nur amüsierte und nicht darüber ärgerte. »Ein äußerliches Problem?«

Einen Augenblick lang schwieg sie. »In meinen Plänen für Jaquir ist einfach kein Platz für dich. Und auch nachdem dieses Kapitel abgeschlossen ist, möchte ich allein bleiben. Ich werde es nie zulassen, mein Leben um einen Mann herum einzurichten, meine Entscheidungen auf die Gefühle zu einem Mann aufzubauen. Wenn das egoistisch klingt, so tut es mir leid. Aber ich weiß leider, wie schnell man sich selbst und das, was man darstellt, verlieren kann!«

Er hörte ihr aufmerksam zu, seine Augen blickten klar, sein Mund wirkte sachlich. »Das wäre alles recht und schön, bis auf ein klitzekleines Problem. Ich liebe dich, Adrianne.«

Ihre Lippen öffneten sich einen Spalt. Schockiert, wie er mit einem Anflug von Bitterkeit feststellte. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf und war schon fast aus dem Bett, bevor er sie zu fassen bekam.

»Nein, diesmal läufst du mir nicht davon.« Er zog sie aufs Bett zurück und achtete nicht auf das Glas, das sie dabei umgestoßen hatte, und den Champagner, der in den Teppich sickerte. »Und ich werde auch nicht zulassen, dass du vor dir selbst davonläufst.«

»Tu das nicht.«

»Schon passiert.«

»Philip, deine Fantasie geht mit dir durch. Du romantisierst, was zwischen uns gewesen ist, glaubst, der Himmel hinge voller Geigen und rosaroter Wolken.«

»Fühlst du dich sicherer, wenn du so denkst?«

»Darum geht es doch nicht. Das ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes.« Aber das war nicht wahr, nicht, wenn sie gleichzeitig die Angst in ihrem Magen rumoren spürte. »Laß uns die Dinge nicht komplizierter machen, als sie ohnehin schon sind.«

»Gut. Dann machen wir doch Nägel mit Köpfen.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, ganz zärtlich diesmal. »Ich liebe dich, Addy. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, denn du wirst mich so leicht nicht wieder los. Jetzt entspann dich.« Seine Hand tastete nach ihrer Brust und umfasste sie. »Ich werde dir zeigen, was ich damit meine.«