Zweites Kapitel

Gleich am nächsten Tag erlebten wir, was es bedeutete, ein Mädchen wie Linda in der Klasse zu haben. Mitten in der Deutschstunde haute sie Pia eine runter, bloß weil die sie, bestimmt unabsichtlich, mit dem Ellbogen angestoßen hatte. Pia kann ein bisschen Karate und schlug zurück. Als wir die beiden auseinander zu bringen versuchten, erwischte mich Linda mit der Faust am linken Auge. Es schwoll sofort zu.

Nachdem wir die Mädchen endlich getrennt hatten, brachte Herr Metzger Pia und Linda zum Rektor. Linda kam grinsend zurück, Pia heulte. Bestimmt fühlte sie sich ungerecht behandelt. Ich mochte Pia nicht. Aber in diesem Fall konnte ich sie verstehen. Immerhin hatte Linda angefangen. Eindeutig.

»Die werden sich noch umbringen«, flüsterte mir Paul zu. Paul sitzt seit dem ersten Tag im Gymnasium neben mir. Ich lasse ihn in Mathe abschreiben, er mich in Englisch und Geschichte. Das nenne man Arbeitsteilung, sagt meine Oma. Sie hat früher eine Firma geleitet, die Sonnenschirme herstellt, und kennt sich bestens in solchen Dingen aus.

»Mir doch egal«, flüsterte ich zurück und tippte auf mein geschwollenes Auge. »Die haben beide ’ne Macke!«

Am Ende der zweiten großen Pause kam es zum nächsten Zwischenfall. Wir waren schon vom Schulhof zurück, da baute sich Lennart vor Linda auf und tat so, als ob er Gitarre spiele. Dabei wackelte er mit den Hüften und grölte: »Hey, Linda louhu; hey, Linda louhu!«

Lennart ist groß wie Obelix und fast so stark, niemand von uns würde sich mit ihm anlegen. Deshalb beobachteten wir gespannt, wie Linda reagierte. Die beschäftigte sich mit ihrem Federmäppchen, es sah aus, als beachtete sie Lennart gar nicht. Aber dann schleuderte sie plötzlich einen dicken Bleistift in seine Richtung. Lennart duckte sich geschickt weg und der Stift flog wie ein Pfeil durchs Klassenzimmer.

Es gibt Tage, da sollte man nicht aufstehen. Da sollte man in seinem warmen Bett bleiben, sich die Decke über den Kopf ziehen und die Stunden bis Mitternacht zählen. Dieser zweite Tag des neuen Schuljahrs war so einer. Denn zu wem flog der verdammte Stift? Natürlich zu mir! Bevor ich ausweichen konnte, traf er mich an der Nase. Es tat nicht einmal besonders weh. Aber sofort bildete sich auf der Tischplatte vor mir eine rote Pfütze.

Während Paul zum Hausmeister rannte, um einen nassen Waschlappen und Verbandszeug zu holen, blieb Linda auf ihrem Platz sitzen, schaute gelangweilt aus dem Fenster und drehte mal wieder an ihrem Pferdeschwanz.

»Wir holen den Metzger«, schlug Lennart vor. »Die Tussi gehört doch in den Zoo! Die hätte dich umbringen können, Mann!«

»Lass mal«, stöhnte ich. »Alles halb so wild.« Keine Ahnung, warum ich das sagte, echt nicht. Jedenfalls war es meinem Großmut zu verdanken, dass Linda an diesem Morgen um einen zweiten Besuch beim Rektor herumkam.

Auf dem Weg nach Hause lief sie hinter mir her. Ich hatte nicht die geringste Lust, mit ihr zu reden, und begann zu rennen. Doch sie ließ sich nicht abschütteln, ihre Kondition schien mindestens so gut zu sein wie meine. »Entschuldigung«, keuchte sie, als sie mich eingeholt hatte. »War keine Absicht.«

»Du tickst doch nicht ganz sauber«, knurrte ich nur. Und das meinte ich auch so. Im rechten Nasenloch hatte sich ein dicker Blutpfropf gebildet. Durch mein zugeschwollenes Auge sah ich außer einem schmalen Streifen Licht gar nichts mehr. Wenn ich Pech hatte, würde ich bis zu meinem Lebensende eine Augenklappe tragen müssen.

Die nächsten Minuten liefen wir schweigend nebeneinanderher. Ein paar Mal schaute Linda mich an, sagte aber nichts. Irgendwann verabschiedete sie sich und verschwand in einer Unterführung.

Zu Hause schickten sie mich gleich nach dem Mittagessen zum Augenarzt. Der konnte mich nach kurzer Untersuchung beruhigen: Lindas Faust hatte nur eine dicke Schwellung verursacht, der Augapfel war unverletzt geblieben.

»Hast du dich geprügelt?«, fragte der Doktor, während er sich die Hände schrubbte, dass ich Angst bekam, die Haut ginge ab.

»Ich nicht«, antwortete ich. »Ich bin in eine Faust gelaufen. Zufällig.«

Der Doktor drehte sich zu mir um und lächelte. »Zufällig. Aha. Na, dann wünsche ich dir gute Besserung«, verabschiedete er mich. »Heute und morgen kühlst du bitte das Auge, so oft du kannst, ja? Und das nächste Mal weichst du aus, wenn dir eine Faust begegnet.«

Als ich hinaus auf die Straße trat, schaute ich mit dem gesunden Auge auf meine Armbanduhr. Sie zeigte kurz vor vier. Höchste Zeit, dass ich zum Klavierunterricht kam.

 

Martina Dollhase-Roggenfeld (kein Scherz, die Dame heißt wirklich so) unterrichtete mich damals seit ziemlich genau zwei Jahren. Wir hatten von einer uralten Tante ein noch älteres Klavier geerbt und meine Mutter war der Meinung gewesen, dass ich unbedingt spielen lernen müsse. Bestimmt war ich der unbegabteste Schüler, den Frau Dollhase-Roggenfeld jemals gehabt hatte. Meine Finger wollten einfach nicht so, wie sie sollten. Ich strengte mich echt an, übte alles, was sie mir aufgab, aber es war nichts zu machen.

Warum ich trotzdem zum Klavierunterricht ging?

Erstens war Frau Dollhase-Roggenfeld wirklich nett. Sie ließ mich niemals spüren, wie schlimm die Stunden mit mir für sie sein mussten. Und zweitens mochte es meine Mutter, wenn ich an unserem altersschwachen Klavier saß und übte. Dann setzte sie sich in den Sessel neben dem Wohnzimmerfenster und schaute zum Kirschbaum hinaus. Und immer sagte sie am Ende: »Das war soo schön, Marius.«

Schön? Sogar die Spatzen verzogen sich fluchtartig aus unserem Garten, sobald ich anfing, das Klavier zu misshandeln.

»Was ist passiert?«, begrüßte mich Frau Dollhase-Roggenfeld.

Genau diese Frage hatten mir auch schon der Fahrer im Bus, meine Mutter, meine Oma, zwei Nachbarn und der Paketbote gestellt, der am Mittag die ersten ausgedruckten Bahnen eines nagelneuen Geschenkpapiers gebracht hatte.

»Ein Unfall«, antwortete ich, genau wie bei den anderen.

»Schlimm?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Kannst du überhaupt etwas sehen?«, wollte sie wissen. Klang da Hoffnung aus ihrer Stimme? Sah sie die Chance, dass die Stunde mit ihrem unbegabtesten Schüler ausfallen könnte?

»Ich hab ja zwei Augen«, sagte ich. Jetzt war ich einmal hier, jetzt würde ich es auch hinter mich bringen. Außerdem wollte ich ihr zeigen, dass ich geübt hatte.

Doch die Stunde verlief wie immer, es war einfach schrecklich. Ich hackte auf das Klavier ein und Frau Dollhase-Roggenfeld trank Unmengen Tee, um mein Rumstümpern ertragen zu können.

»Bis zur nächsten Woche übst du diesen kleinen Choral«, sagte sie, als die Zeit endlich vorüber war, und tippte auf eines der Kinderstücke von Schumann. »Aber bitte ohne Pedal, ja? Dabei lernst du gebundenes Spielen. Legato eben.«

Ich packte meine Noten ein. Forte, Piano, Legato – schöne Wörter, aber nicht für mich. Trotzdem versprach ich, es zu versuchen.

Frau Dollhase-Roggenfeld strich mir übers Haar. »Ich weiß, Marius«, sagte sie. »Und grüß deine Mutter von mir, ja?«

Vor dem Haus meiner Klavierlehrerin prallte ich fast mit Linda zusammen. Sie sah anders aus als am Morgen. Irgendwie friedlicher. Die blonden Haare fielen ihr bis auf die Schultern, statt einer Jeans trug sie einen kurzen Jeansrock mit einem Nietengürtel. Und zum ersten Mal fielen mir ihre Lippen auf. Die waren prall, die waren rund, die sahen aus wie kleine Sofakissen. Niemand in unserer Schule hatte solche Lippen.

Während ich Linda anstarrte, achtete ich nicht darauf, wo ich hintrat und stolperte über eine lockere Gehwegplatte. Dabei ließ ich die Tasche fallen. Ich wollte nach ihr greifen, doch da flogen schon die Noten heraus und eine Windböe verteilte die Blätter in Frau Dollhase-Roggenfelds Garten. Ich brauchte eine Weile, bis ich sie zwischen Rosenstöcken, Hortensienbüschen und Buchsbäumen zusammengesucht hatte. Linda schaute mir dabei zu.

»Was tust du denn hier?«, wollte sie wissen, nachdem ich die Noten wieder in der Tasche verstaut hatte. Ihr Aussehen mochte sich vielleicht verändert haben, ihre Stimme nicht.

»Und du?«, fragte ich unfreundlich zurück. Wenn sie glaubte, ich hätte vergessen, was am Morgen passiert war, war sie schief gewickelt.

»Was wohl?«, antwortete sie ebenso unfreundlich und lief ins Haus.

Kurze Zeit später hörte ich jemanden Klavier spielen. Bestimmt hatte sich Frau Dollhase-Roggenfeld an den Flügel gesetzt, um sich von mir zu erholen.