Zwölftes Kapitel

Normalerweise lässt man einen Jungen in meinem Alter nicht so ohne weiteres siebenhundert Euro von seinem Sparbuch abheben. Aber in unserer Sparkasse kennen sie mich. Sie wissen, dass ich es bin, der bei uns zu Hause die Geldgeschäfte erledigt. Deshalb reichte am nächsten Tag eine handgeschriebene Vollmacht meiner Mutter, damit sie mir das Geld für den Bootskauf auszahlten. Oma war gleich am Morgen zum Bankautomaten gefahren. Ihre Spende in Form von fünf nagelneuen 100-Euro-Scheinen hatte ich schon im Portmonee.

»Ein neuer Computer, Marius?«, fragte der Mann an der Kasse, während er das Geld auf die Theke zählte. Der Mensch heißt Erwin Geldmacher, echt, das steht groß an seinem Schalter. Mit dem Namen kann man nur Bankangestellter werden.

»Nein, ein Segelboot«, antwortete ich und wandte mich zur Tür. Die Uhr an der Säule gegenüber zeigte kurz nach elf. Ich wollte den Kapitän nicht warten lassen. Sonst überlegte er es sich noch anders.

Doch der Bankangestellte hielt mich zurück. »Ein Boot?«, fragte er neugierig. »Ein richtiges Boot?«

»Ja. Es heißt Annemarie.«

Erwin Geldmacher bat eine seiner Kolleginnen, ihn für die nächste Viertelstunde an der Kasse zu vertreten. Dann kam er um den Schalter herum und zog mich zu einem runden Tisch in einer ruhigen Ecke der Sparkasse. Hier hatten wir auch gesessen, als Mama und ich den Bankleuten klar gemacht hatten, dass ich ab jetzt für unsere Finanzen zuständig war. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie es akzeptierten. Immerhin war ich damals erst im vierten Schuljahr.

»Setz dich«, sagte der Mann und wies auf einen der beiden schwarzen Sessel. »Ich bin Segler«, begann er. »Schon seit dem Kindergarten, weißt du. Ich bin auf allen Meeren gesegelt. Nirgendwo wird so viel betrogen wie beim Verkauf von Segelschiffen. Was ist es eigentlich für ein Boot?«

Ich dachte an das, was mir der Kapitän gesagt hatte. »Eine Jacht.«

»Aha«, murmelte der Sparkassenangestellte. »Und das Schiff soll nur siebenhundert Euro kosten?«

»Tausend«, unterbrach ich ihn. »Der Kapitän will tausend.«

»Sagtest du Kapitän? Meinst du etwa den aus dem Gartenweg?«

Ich nickte. »Kennen Sie ihn?«

Erwin Geldmacher lächelte. »Den kennt jeder Segler in der Stadt.«

»Weil er Kap Hoorn umsegelt hat?«, wollte ich wissen.

»Ich möchte mir das Schiff mal ansehen«, sagte der Mann, ohne mir zu antworten. Manche Erwachsene scheinen einfach nicht zu wissen, was sich gehört.

»Aber der Vertrag zwischen dem Kapitän und mir ist perfekt«, sagte ich und stand auf.

»Lass mich die Jacht trotzdem anschauen. Wenn alles in Ordnung ist, bin ich gleich wieder weg.«

»Und wenn nicht?«

»Dann solltest du sie nicht kaufen«, antwortete er. »Auf gar keinen Fall.«

 

Der Kapitän war nicht begeistert, als ich mit dem Mann von der Sparkasse anmarschiert kam. Aber er hatte nichts dagegen, dass sich Erwin Geldmacher die Annemarie anschaute. Während der Bankangestellte mit der Untersuchung begann, verließ der Kapitän seinen Sessel auf Deck des Schiffs und verschwand in seinem Haus.

Es dauerte eine halbe Stunde, dann war der Mann von der Bank fertig. In dieser Zeit hatte er jeden Zentimeter des Bootskörpers abgeklopft. Er hatte die Deckaufbauten, den Mast und die Segel überprüft. Er hatte in der Kajüte rumort. Und er hatte lange damit verbracht, den Schwertkasten zu untersuchen. Darin konnte man den schmalen Kiel des Schiffs, das Schwert, verschwinden lassen. Irgendwas schien dort nicht in Ordnung zu sein. Unterdessen hockte ich auf einer verrosteten Eisenkiste und schaute ihm bei der Arbeit zu.

»Und?«, fragte ich, als er endlich fertig war.

Erwin Geldmacher klopfte sich den Staub vom Anzug. Eine schmale Rostspur zog sich schräg über sein linkes Knie. Er schien sie nicht zu bemerken. »Wenn du das Schiff nicht kaufst, tue ich es«, sagte er laut. Dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Du machst ein Bombengeschäft, Marius. Die Annemarie ist viel mehr wert als die Tausend, die der Kapitän haben will. Ein toller 20er Jollenkreuzer. Schönstes Mahagoni. Bestimmt fünfzig Jahre alt. Passen locker vier Leute drauf. Den kannst du sogar in Holland segeln.« Er machte eine kurze Pause. »Irgendein Schwachkopf hat das Holz mit weißer Farbe zugepinselt«, sagte er dann. »War bestimmt nicht der Kapitän. Der tut so was nicht. Am besten, du beizt es vorsichtig ab und behandelst es danach mit Holzöl. Lackieren ist nicht nötig«, fuhr Geldmacher mit normaler Lautstärke fort.

»Und was ist mit dem da?«, fragte ich und zeigte auf den Schwertkasten, der nur ein paar Zentimeter über dem Boden hing.

»Der ist hinüber. Den wirst du wohl erneuern müssen. Der Kapitän wird dir bestimmt zeigen, wie es geht.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Du lieber Himmel, ich muss zurück!«

Kaum war der Wagen mit Erwin Geldmacher um die nächste Ecke verschwunden, öffnete sich die Haustür und der Kapitän kam heraus. Er stapfte mit langen Schritten auf mich zu und blieb, eine Armlänge von mir entfernt, stehen. Dann hielt er mir seine Pranke hin. »Tausend«, knurrte er. »Auf die Kralle!«

»Sie haben alles mitgekriegt«, stellte ich fest. »Ich meine, was ich mit dem Typ von der Bank geredet habe.« Er nickte. »Tausend«, wiederholte er.

Ich zählte ihm die Scheine hin. Zweihundert Euro blieben mir noch. Die würden für Beize und was ich sonst noch für die Restaurierung brauchte draufgehen. Der Kapitän steckte das Geld achtlos in die Hosentasche. Dann drückte ich ihm einen Kugelschreiber und den Kaufvertrag in die Hand, den mir Oma beim Frühstück diktiert hatte.

»Was soll ich damit?«, fragte er.

»Unterschreiben.«

»Du traust mir doch nicht.«

»Sicher ist sicher«, sagte ich.

Er kritzelte seinen Namen unter das Papier. »Du bist ein verdammter Klugscheißer, Kleiner«, sagte er, als er mir den Vertrag zurückgab.

»Haben Sie die Annemarie weiß gestrichen?«, fragte ich.

»Sehe ich so aus? Nee, ich hab das Schiff von so einem Dämlack gekauft, so einem Badegast mit schnieker Skippermütze und Turnschuhen. Der mochte wohl das Mahagoni nicht.«

»Und warum haben Sie die Farbe nicht abgemacht?«

Er rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Wenn ich es richtig deutete, hatte es ihm wohl an dem nötigen Kleingeld gefehlt.

»Und wie geht es weiter?«, wollte ich wissen. »Die Annemarie gehört dir«, sagte er und gähnte.

»Aber Sie wollten mir helfen, das Boot zu mir nach Hause zu bringen!«, rief ich.

Er wischte sich über die Stirn. »Wollte ich das? Ich kann mich nicht erinnern.«

Das durfte nicht wahr sein! Tausend Euro hatte ich für die Annemarie bezahlt! TAUSEND! Sollte mein Schiff etwa beim Kapitän aufgebockt stehen bleiben? Ich hatte nicht die geringste Lust, das Boot auf seinem Grundstück zu restaurieren! »Sie haben gesagt, dass Sie sich was einfallen lassen wollen!«, rief ich wütend.

»Hab ich das?«, fragte er.

»Ja, verdammt!«

Er starrte mich aus glasigen Augen an. »Komm morgen wieder«, murmelte er schließlich. »Dann bringen wir das Schiff zu dir nach Hause. Heute bin ich einfach zu müde.« Damit kletterte er langsam die Leiter zum Deck hinauf und legte sich in seinen Sessel. Einen Augenblick später war er eingeschlafen. Offenbar hatte er schon vergessen, dass ihm die Annemarie seit ein paar Minuten nicht mehr gehörte.

Ich ließ ihn schlafen und lief nach Hause, um mein Rad aus dem Verschlag zu holen. Weil ich meine Mutter nicht bei der Arbeit stören wollte, legte ich ihr einen Zettel in die Küche, dass ich gegen acht zurück sei. Dann fuhr ich zu Linda.

Sie war nicht da. Wenigstens behauptete das ihr Vater. Ich hatte dreimal klingeln müssen, bevor er mir öffnete. Sein T-Shirt war mit roter Sauce bekleckert. Oder war es Blut? Hatte er sich beim Rasieren geschnitten?

»Wo ist Linda hin?«, fragte ich.

»Keine Ahnung«, sagte er. Der Mann mochte mich nicht, das war nicht zu überhören.

Ich versuchte trotzdem, freundlich zu bleiben. »Wann kommt sie wieder?«, fragte ich weiter.

»Weiß nicht.«

»Sagen Sie ihr bitte, dass sie mich anrufen soll?« Er nickte und schloss wortlos die Tür.

Was war mit dem Typ los? Warum war er so unfreundlich zu mir? Ich hatte ihm doch nichts getan. Und wo war Linda?

Während ich durch den verwilderten Vorgarten zu meinem Fahrrad zurückging, blieb mein Blick an der Linde hängen, die schräg über das Haus wuchs. Von den höher liegenden Ästen konnte man direkt in Lindas Zimmer und in das Arbeitszimmer ihres Vaters gucken. Wenn ich da nun raufkletterte? Mann, allein bei dem Gedanken wurde mir schon übel. Schließlich war ich bis zu diesem Tag noch nicht mal auf einen krummen Apfelbaum gestiegen. Aber was war, wenn Linda von ihrem Vater gefangen gehalten wurde? Wenn da drinnen was Schlimmes passierte?

Kurz entschlossen rannte ich zurück zum Haus. Mir war egal, ob es der unfreundliche Typ mitkriegte. Jetzt ging es um Linda! Ich stellte mich unter die Linde, unterdrückte den Schwindel, der in mir hochstieg, atmete tief ein und aus, stieß mich ab und griff mit beiden Händen nach dem untersten Ast.

Bei meinen ersten Versuchen gelang es mir nicht, die Beine über den Ast zu schwingen. Doch beim dritten Mal schaffte ich es. Ich zog mich am Stamm hoch und musste feststellen, dass ich nur mit einer Art Aufschwung weiterkam. Um die Haltbarkeit des Asts zu testen, wippte ich ein paar Mal auf und ab – das Holz unter mir gab keinen Laut von sich. Also los!, befahl ich mir und hing im nächsten Moment an dem dicken Ast über mir.

Obwohl ich mir vor Angst fast in die Hose machte, schaffte ich einen zweiten wackligen Aufschwung. Ich hielt die Luft an, drehte mich so, dass ich den Ast zwischen meine Beine klemmen konnte, und rutschte zum rettenden Stamm hinüber. Nach einer kurzen Pause kletterte ich weiter und hatte endlich das Arbeitszimmer von Lindas Vater vor mir. Er saß an seinem Computer und hämmerte mit zwei Fingern auf die Tastatur ein. Ich reckte meinen Kopf, doch ich entdeckte nichts anderes als das Durcheinander von Aktenordnern und Büchern, das ich schon bei meinem ersten Besuch gesehen hatte. Von Linda keine Spur.

Also schob ich mich vorsichtig weiter, bis ich in ihr Zimmer sehen konnte. Und diesmal genügte ein einziger Blick: Linda war zu Hause! Mir fiel ein Stein vom Herzen, ach was, es war ein ganzes Felsmassiv. Sie war auch nicht gefesselt und geknebelt. Nein, sie saß in einem ihrer Sitzsäcke, gestikulierte mit Händen und Füßen und lachte.

Ihr gegenüber hockte ein Junge. Er drehte mir den Rücken zu. Die dichten blonden Haare, der hochstehende Wirbel am Hinterkopf, der muskulöse Nacken – Mensch, das war ja Lennart! Und ich hatte gedacht, Linda hasste ihn! Vor lauter Überraschung vergaß ich, mich festzuhalten, und verlor den Halt. Ich rutschte ab, griff nach Luft, nichts als Luft, schrie, so laut ich konnte, federte wie ein Ball von Ast zu Ast – und landete schließlich schräg auf dem Rücken im Gras unter der Linde.

Im nächsten Augenblick öffnete sich auch schon die Haustür und Lindas Vater kam herausgestürzt. Gleich hinter ihm tauchten seine Tochter und Lennart auf.

Lindas Vater kniete sich neben mich, zog seinen bekleckerten Pullover aus und legte ihn mir unter den Kopf. »Was ist passiert?«, rief er. »Bist du verletzt?«

Ich versuchte, Arme und Beine zu bewegen. Es tat ziemlich weh, aber es funktionierte. Außerdem brummte mir mal wieder der Schädel, und das nicht zu knapp. »Verletzt? Ich glaube nicht«, murmelte ich. Das Atmen fiel mir schwer.

»Bist du etwa auf den Baum geklettert?«, fragte Lindas Vater.

»Ja.«

»Bist du wahnsinnig?« Er schüttelte mich, zum Glück nicht besonders fest. »Warum machst du so einen Unsinn? Du hättest dir das Genick brechen können, Mensch!«

Sollte ich dem Mann erzählen, dass ich mir um Linda Sorgen gemacht hatte? Dass ich ihn sogar kurz im Verdacht gehabt hatte, ihr etwas angetan zu haben?

In diesem Moment beugte sich Lennart über mich. »Spanner«, sagte er und spuckte aus.

»Ich bin kein...«, versuchte ich, mit schwacher Stimme zu protestieren.

Doch Lennart schnitt mir das Wort ab. »Spanner«, wiederholte er.

»Lass Marius in Ruhe«, sagte Linda. »Am besten, ihr geht jetzt. Alle beide. – Kannst du aufstehen?«, fragte sie mich.

Ich rollte mich auf den Bauch und drückte mich langsam hoch. Lindas Vater half mir dabei. Als ich endlich stand, war Lennart bereits verschwunden.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte Lindas Vater.

Ich hätte sein Angebot gern angenommen. Trotzdem antwortete ich: »Ich nehme das Rad.« Auch wenn er jetzt freundlich tat, traute ich dem Typ nicht. Er hatte mich angelogen, mir ins Gesicht die Unwahrheit gesagt. Er hatte gewusst, dass seine Tochter Besuch hatte.

Lindas Vater öffnete den Mund. Doch dann zuckte er bloß mit den Schultern und ging zurück ins Haus.

Jetzt standen Linda und ich uns allein gegenüber. »Ist noch was?«, fragte sie. Hörte ich da Spott in ihrer Stimme?

»Ziege«, sagte ich. Sonst nichts. Dann humpelte ich zu meinem Rad.