Dreizehntes Kapitel

Zu Hause wollten sie natürlich wissen, was passiert war. Ich erzählte, dass ich mit dem Rad auf einer Öllache ausgerutscht, sonst aber alles in Ordnung sei. Dabei war nichts in Ordnung. Gar nichts. In meinem Kopf ließ jemand einen dicken Vorschlaghammer kreisen, mein Rücken hatte sich in einen einzigen großen Bluterguss verwandelt. Außerdem hatte ich Schwierigkeiten beim Atmen.

Trotzdem behielt ich das, was bei Linda geschehen war, für mich. Erstens brauchte Mama nicht zu wissen, dass ich auf einen Baum geklettert und heruntergefallen war. Und zweitens tat die Sache mit Linda und Lennart weh, mindestens so weh wie die körperlichen Schmerzen.

LINDA und LENNART, L und L – das klang gut, die beiden Namen schienen wie füreinander gemacht. M und L hatte dagegen keine Chance.

Nachdem ich mich gewaschen und eine Schmerztablette aus Omas Vorräten eingenommen hatte, setzte ich mich ans Klavier. Zuerst versuchte ich, den Choral von Schumann zu spielen. Doch die ruhigen Akkorde waren nichts für jemanden in meiner Verfassung. Also klappte ich das Notenheft zu und tobte wie ein Verrückter auf den Tasten herum, bis mich Mama stoppte.

»Das ist aber gar nicht schön, Marius«, sagte sie.

»Entschuldigung«, sagte ich.

»Ist es wegen Linda?« Sie wäre bestimmt eine gute Psychologin geworden – hätte sie dafür kein Abitur gebraucht.

»Ja«, sagte ich.

Mama nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände. Sofort beruhigte sich das Toben in meinem Schädel. »DD und ich haben uns auch manchmal gestritten«, sagte sie leise.

»Aber wir haben uns nicht gestr ... «, begann ich.

»Streiten ist nicht schlimm«, unterbrach sie mich. »Gar nicht schlimm. Man kann sich nur vertragen, wenn man sich vorher gestritten hat. Und Vertragen ist das Schönste, weißt du.«

»Ja, Mama.« Ich drehte mich auf dem Klavierstuhl um, umarmte sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Du bist die beste Mutter der Welt. Die allerbeste.«

Am nächsten Morgen waren meine Kopfschmerzen verschwunden, nur mein Rücken tat nach wie vor weh. Natürlich war ich immer noch auf Linda wütend. Doch im Gegensatz zum Vorabend konnte ich wieder klar denken. Deshalb war mein Entschluss schnell gefasst: Ich würde in Ruhe frühstücken und danach zum Kapitän gehen, um ihm zu sagen, dass er die Annemarie behalten könne.

Gegen neun saßen wir in der Küche beim Frühstück. Oma trug ein enges rotes Kleid und ein Haarband. Sie hatte einen Termin beim Friseur und hatte sich deshalb in Schale geworfen. Ich glaube, sie ist in den Typ verknallt. Dabei trägt er ein doofes Haarteil, wiegt höchstens fünfzig Kilo und ist einen Kopf kleiner als sie.

Mama aß ein Brötchen und verabschiedete sich schnell. Sie müsse arbeiten, sagte sie. Der Jansen habe angerufen. Er wolle Entwürfe sehen.

Ob sie klarkomme, wollte ich wissen.

»Es geht langsam«, sagte sie.

»Aber es geht«, ergänzte Oma, während sie sich die Lippen nachzog.

Dann ging sie vors Haus und ließ den Ferrari an. Ich hörte den Motor kurz aufheulen, dann wurde er wieder abgestellt. Einen Augenblick später kam meine Großmutter zurück ins Haus gerannt. »Ich komme nicht aus der Einfahrt raus!«, rief sie. »Mein... Friseur... Der... Kapitän... Ein... großes Boot...!«, stotterte sie.

Der Kapitän? Ich lief vors Haus – und wollte zuerst meinen Augen nicht trauen: Ein uralter amerikanischer Straßenkreuzer blockierte unsere Einfahrt! Wenn ich die verblassten Buchstaben über dem Kühlergrill richtig las, war es ein Dodge. Der hellblaue Lack war staubbedeckt, an den dicken Stoßstangen aus schönstem Chrom hing Stroh, die roten Nummernschilder waren hinter Front- und Heckscheibe geklemmt. Auf einem ebenfalls uralten Anhänger lag die Annemarie.

Jetzt öffnete sich die Fahrertür und der Kapitän stieg aus. Er schwankte ein wenig. »Da hast du dein Schiff«, grollte er.

»Ich will es nicht«, sagte ich. »Sie können es behalten.«

Er hörte gar nicht hin. Stattdessen griff er in die ausgebeulte Tasche seiner Uniformjacke, holte eine kleine Flasche heraus und nahm einen gewaltigen Schluck.

»Ich sagte, Sie können die Annemarie behalten!«, rief ich. »Nehmen Sie sie wieder mit!«

Der Kapitän schien mal wieder taub zu sein.

»Ich brauche sie nicht mehr!«, rief ich, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war. Der Mann hatte offenbar kräftig getankt – und zwar kein Super. Ließ ich ihn jetzt in den Gartenweg zurückfahren, würde er womöglich die halbe Stadt in Schutt und Asche legen.

»In Ordnung«, sagte ich. »Bringen Sie die Annemarie hinters Haus. Meine Oma muss zum Friseur.«

Wenigstens das schien der Kapitän verstanden zu haben. Er klemmte sich umständlich hinters Steuer und setzte Wagen und Anhänger mit einer angesichts seines Zustands erstaunlichen Sicherheit neben den Kirschbaum. Als er den Motor abstellte, kippte sein Kopf nach vorn. Kurze Zeit später hörte ich ihn schnarchen.

Meine Oma hatte die ganze Zeit neben mir gestanden. »Was hat er?«, fragte sie.

»Er ist müde«, antwortete ich.

»Aha«, sagte sie und ging zu ihrem Auto. »Das Boot ist ziemlich hinüber!«, rief sie mir zu, während sie einstieg. »Findest du nicht, Marius?«

»Mahagoni!«, rief ich zurück. »Das ist schönstes Mahagoni. Da hat bloß einer drübergepinselt!«

Doch das hörte Oma nicht mehr. Sie ließ den Motor ihres Ferraris an und verschwand mit kreischenden Reifen um die nächste Ecke.

 

Während der Kapitän seinen Rausch ausschlief, schaute ich mir Mamas neue Entwürfe an. Sie waren wunderbar, einer wie der andere. Jansen würde begeistert sein. Zwischendurch guckte meine Mutter mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster. Es gefiel ihr offenbar genauso wenig wie mir, dass der alte Straßenkreuzer mit der Annemarie auf dem Anhänger direkt neben unserem Kirschbaum stand.

»Ich will das Boot nicht mehr«, sagte ich.

Mama strich mit dem Handrücken über einen ihrer Entwürfe. Es war ein Geschenkpapier für den Sommer, auf dem sich bunte gleichschenklige Dreiecke bei genauerem Hinsehen in Segelboote, Surfbretter, Sonnenbrillen und Badetücher verwandelten. Auseinander geschnipselt und auf Pappe geklebt, würde es fantastisch aussehen. Vielleicht konnte ich meine Mutter ja irgendwann überreden, Tapeten zu entwerfen. Tapeten werden noch besser bezahlt als Geschenkpapier.

»Der Kapitän kann die Annemarie gleich wieder mitnehmen«, fuhr ich fort.

»Ja, bitte. Das wäre gut«, sagte sie leise.

Ich wollte ihr sagen, dass mir Linda in Zukunft den Buckel runterrutschen könne – da klingelte es. Ich lief zur Haustür und öffnete. Draußen stand der Kapitän. Er schwankte nicht mehr, seine Augen schauten mich fest an. »Ich geh dann mal von Bord«, grollte er. »Viel Spaß mit dem Schiff!«

»Aber ich brauche die Annemarie nicht mehr!«, rief ich.

»Das Auto lasse ich bei euch stehen«, fuhr er ungerührt fort. »Dann können wir das Boot zum Kanal bringen, wenn es wieder in Schuss ist.«

Ich packte ihn am Ärmel seiner Uniformjacke und schüttelte ihn. »Ich... will... die... Annemarie... nicht... mehr!«, brüllte ich. »Geben Sie mir das Geld zurück!«

Er nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Hinterkopf. »Das geht nicht«, murmelte er, ohne mich dabei anzusehen.

»Wieso nicht?«

»Das Geld ist weg.«

»Weg? Tausend Euro weg?«

Er nickte.

»Wieso?«

»Ich hab ’ne Sause gemacht«, antwortete er. »Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren hab ich mal wieder ’ne richtige Sause gemacht. Bis heute Morgen um sieben. Hat dem ollen Käpt’n gut getan, Kleiner.«

Ich schluckte. »Und was ist von den tausend Euro noch übrig?«, wollte ich wissen.

»Kein müder Cent«, erklärte er. »Alles weg.«

Während ich mir überlegte, ob ich ihn erst gegen das Schienbein oder sofort in den Bauch treten sollte, kam Mama die Treppe herunter. »Kommen Sie doch herein, Käpt’n«, sagte sie. Dabei strahlte sie den Kerl an, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

»Aber gern, Madame«, sagte er und folgte meiner Mutter in die Küche.

Und ich? Ich schluckte alles herunter, was mir an Schimpfwörtern einfiel, und lief hinauf in mein Zimmer. Dort warf ich mich aufs Bett und zog mir die Decke über den Kopf.

Was in den letzten Tagen passiert war, war eine Katastrophe. Linda vergnügte sich mit Lennart, der versoffene Kapitän verjuxte in einer Nacht meine tausend Euro, mein Sparbuch war bis auf 31 Euro und 44 Cents leer geräumt, neben dem Kirschbaum standen ein viel zu großes Segelboot und ein ungefähr hundert Jahre alter Straßenkreuzer der Marke Dodge. Und das alles nur, weil ich in Linda verliebt war und ihr eine Freude hatte machen wollen!

Ich hing immer noch meinen trüben Gedanken nach, als es leise an die Tür klopfte. Es war meine Mutter. »Der Käpt’n ist weg«, sagte sie.

»Hat euch der Kaffee geschmeckt?«, fragte ich ironisch.

Sie schien den scharfen Ton in meiner Stimme nicht gehört zu haben. »Er holt Werkzeug«, fuhr sie fort. »Er will dir helfen.«

»Was tut er?«

Sie dachte nach. Es dauerte, bis sie die Antwort auf meine Frage gefunden hatte. »Übermorgen seid ihr fertig, sagt er.«

»Hast du ihn überredet, die Annemarie mit mir zusammen zu restaurieren?«, wollte ich wissen.

Sie schüttelte den Kopf. »Der Käpt’n will dir helfen«, wiederholte sie. »Er ist ein sehr netter Mann.«

Ich wollte ihr nicht widersprechen. Schließlich schien sie mit dem Kerl gut zurechtzukommen. »Und der Kirschbaum?«, fragte ich. »Stört es dich nicht, dass die Annemarie beim Kirschbaum steht?«

»Es ist ja nicht für lange«, antwortete sie.

 

So kam es, dass mein Schiff gleich am ersten Tag nach seinem Umzug auf unser Grundstück seine weiße Farbe verlor. Oma und ich kauften zwei ebenso große wie teure Eimer Mahagonibeize und der Kapitän trug das Zeug auf.

Nachdem wir eine Weile gewartet hatten, schlug die Farbe Beulen. Jetzt konnten wir sie entfernen. Vorsichtig hoben wir den weißen Lack mit den Spachteln ab, die der Kapitän mitgebracht hatte. An manchen Stellen ging es ganz leicht, an anderen klebte die Farbe so fest, dass wir aufpassen mussten, keine Macken ins Holz zu stoßen.

Zwischendurch brachte Mama Kaffee und Sprudel und der Kapitän griff nur ein einziges Mal zur Cognacflasche, die er in seinem Dodge versteckt hatte. Während der Arbeit verzog er immer wieder das Gesicht. Doch auf meine Frage, ob er Schmerzen habe, gab er keine Antwort.

Am frühen Nachmittag kochte meine Oma für alle Gulasch. Obwohl der Kapitän genau wie meine Mutter nur einen halben Teller aß, rief er hinterher begeistert: »Das war besser als ...«

»Ja?«, fragte Oma. Sie mag es sehr, wenn man ihr Essen lobt. Und sie mag es gar nicht, wenn es einem nicht schmeckt.

»Das war besser als bei meiner Frau«, murmelte er. »Sie sind verheiratet?«, fragte Oma.

»Ist lange her«, antwortete der Kapitän. »Sehr lange.« Dann wandte er sich an mich. »Komm, Kleiner. Wir müssen wieder an Bord!«

Als es dunkel wurde, taten mir die Hände weh und mein Rücken schmerzte fast so sehr wie nach dem Sturz von der Linde. Außerdem hatte ich mir die Knie wund gescheuert. Trotzdem hatte mir der Tag Spaß gemacht, sehr viel Spaß sogar – vor allem weil ich fast gar nicht an Linda gedacht hatte.

»Die Annemarie sieht schlimm aus«, sagte ich zum Kapitän, der an dem Dodge lehnte und einen von Omas Zigarillos paffte. Es war keine Spur von Mahagoni zu sehen, nur ein schmutziges Gemisch aus weißen und grauen Farbspuren.

»Morgen schleifen wir«, sagte er, hielt den Atem an und verzog kurz das Gesicht. »Dann wird geölt. Und dann sieht die Süße aus wie frisch aus der Werft. Sollst mal sehen, Kleiner.«

»Und der Schwertkasten?«

»Wir bauen einen neuen«, antwortete er.

Ich lehnte mich neben ihn ans Auto. »Ist das eigentlich Ihr Dodge?«, fragte ich.

Er nickte. »Hab ihn lange nicht mehr gebraucht«, erklärte er. »Zwanzig Jahre oder so.« Mit diesen Worten klopfte er mir kurz auf die Schulter, winkte meiner Mutter zu, die uns von ihrem Zimmer aus beobachtete, und machte sich auf den Weg nach Hause. Zum Glück hatte er kein Geld mehr. So blieb er wenigstens nicht in der nächsten Kneipe hängen.

Vor zwanzig Jahren hatte er seine letzte Sause gemacht, ging es mir durch den Kopf, während ich mir im Bad die Beize von den Händen wusch. »Teufelsdreck« nannte sie der Kapitän. So wie meine Finger brannten, passte der Name, und zwar hundertprozentig. Vor zwanzig Jahren war der alte Seemann das letzte Mal mit seinem Auto gefahren. War damals was Schlimmes passiert? Hatte es mit seiner Frau zu tun gehabt?

Nach dem Abendessen klingelte das Telefon. Oma ging ran und reichte mir dann den Hörer. »Für dich, Marius«, sagte sie.

»Ich bin’s«, hörte ich Lindas Stimme. »Du, Marius?«

Ich reagierte nicht. Die Dame konnte mich mal. Wahrscheinlich wollte sie fragen, ob es bei dem Termin für die Mathe-Nachhilfe blieb. Dafür war der kleine Mathefuzzi immer noch gut genug.

»Marius, hier ist Linda!«, rief sie.

Bevor ich wieder schwach wurde, unterbrach ich das Gespräch. Mit Linda wollte ich nichts mehr zu tun haben. Nie mehr!