Fünfzehntes Kapitel

Nachdem der Dodge jenseits der Hafenmeisterei verschwunden war, sicherten wir das Boot mit zwei weiteren Leinen. Eine davon nannte Linda »achtere Querleine«. Die Segler sprechen schon eine verdammt komische Sprache... Jetzt würde der Annemarie jedenfalls kein Sturm mehr was anhaben können. Hoffte ich wenigstens.

Dann nahm Linda Anlauf und sprang elegant an Deck. »Komm schon!«, rief sie mir zu.

»Du warst gestern Abend in unserem Garten«, sagte ich, nachdem ich hinter ihr hergesprungen war. Es sah bestimmt nicht so elegant aus wie bei ihr. »Stimmt’s?«

Sie nickte.

»Hast du was gesucht?«

»Nö«, antwortete sie.

Ich blieb hartnäckig. »Was wolltest du dann?«

»Ich dachte, vielleicht kann ich mit dir reden. Über Lennart und so«, antwortete sie und betrachtete dabei aufmerksam ihre Schuhe.

»Und warum bist du nicht stehen geblieben, als ich dich gerufen habe?«, wollte ich wissen.

Sie drehte nervös an ihrem Pferdeschwanz. »Na ja... ich hab plötzlich gedacht... vielleicht bist du immer noch sauer.«

»Bin ich nicht«, sagte ich.

»Das ist... schön«, sagte sie. Und fragte dann: »Gehört die Annemarie eigentlich dem Kapitän?«

»Nee, mir«, antwortete ich und setzte mich neben sie auf den Kajütenaufbau. »Ich hab sie ihm abgekauft.«

»Aber warum... du... kannst... doch... gar... nicht... segeln«, stotterte sie.

Ich schaute ihr fest in die Augen. »Es sollte eine Überraschung sein«, sagte ich.

»Eine Überraschung?«

»Für dich. Du hast doch gesagt, dass du mit mir nach Sansibar segeln willst.«

Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache. Doch dann fiel sie mir um den Hals und drückte mich, dass mir die Luft wegblieb. Ihr Haar roch umwerfend: nach einer Mischung aus Shampoo und Gras.

Genauso plötzlich, wie sie mich umarmt hatte, löste sie sich von mir. »Bild dir jetzt bloß nichts ein«, murmelte sie.

Ich verstand zwar nicht genau, was sie damit sagen wollte. Trotzdem fühlte ich mich wie im siebten Himmel. Ach was, wie im achten!

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss los, mein Vater wartet!«, rief sie.

»Wieso ist er eigentlich so viel zu Hause?«, fragte ich. »Ist er...«

»...arbeitslos?«, schnitt mir Linda das Wort ab. »Nein. Er entwickelt Computerspiele. Ein paar davon kennst du bestimmt. ›Monster-Race‹ zum Beispiel.«

Deshalb also hatte Lindas Vater Masken und Kampfsportgeräte in seinem Arbeitszimmer hängen. Ich sah den Mann vor mir: die zusammengekniffenen Augen, die zerfurchte Stirn, die herunterhängenden Mundwinkel. »Ist er... ist er sehr streng?«, fragte ich weiter.

»Überhaupt nicht. Aber es gibt Tage, da ist er nicht gern allein.« Mit diesen Worten kletterte sie zur Kaimauer hinauf. »Du brauchst nicht mitzukommen!«, rief sie mir zu.

»Wieso denn nicht? Wir nehmen doch denselben Bus! «

»Bitte, ich möchte allein fahren!«

»Was ist mit morgen?«, fragte ich. »Wieder hier? Um zehn?«

»Mal sehen!«, rief sie und rannte los.

Jetzt war ich allein auf meiner Annemarie. Auf meinem 20er Jollenkreuzer aus Mahagoni, der – wenn ich die Erklärungen des Kapitäns richtig behalten hatte – ein Großsegel, ein Focksegel, einen Spinnacker, aber keinen Motor besaß. Gerade versank die Sonne hinter der Kanalbrücke, ihre letzten Strahlen ließen auf den Wellen des Kanals goldene Sterne aufblitzen. Der warme Wind aus dem Süden hatte aufgefrischt. Er ließ die Aufbauten der Schiffe leise knarren und die Glöckchen an den Mastspitzen klingeln. Ich legte mich flach auf das Kajütendach und schloss die Augen. Vielleicht würden Linda und ich schon morgen raussegeln. Nur wir beide. Bis Sansibar würden wir es nicht schaffen, aber ganz sicher bis zum Binsensee, in den der Kanal mündete, um auf der anderen Seite weiterzufließen.

 

Als ich zu Hause ankam, war es bereits dunkel. Meine Großmutter öffnete mir die Tür. »Alles gut gegangen?«, fragte sie und tätschelte mir die Backe. Ihre Hand roch nach Pfannkuchenteig.

»Es schwimmt«, antwortete ich.

»Das Schiff hat dich tausend Euro gekostet. Da kannst du das ja wohl verlangen«, sagte sie. »Und jetzt komm essen.«

In der Küche warteten Omas göttliche Pfannkuchen auf mich. Aber zuerst ging ich meine Mutter begrüßen. Sie stand in ihrem Arbeitszimmer am geöffneten Fenster und schaute zum Kirschbaum hinaus. Der Wind hatte inzwischen weiter aufgefrischt, die Äste schwangen hin und her, Blätter wirbelten durch die Luft. Aus der Ferne war dumpfer Donner zu hören. Zwei Zeichnungen waren auf den Boden gefallen. Ich hob sie auf. Die eine war ein Entwurf mit gleichschenkligen Dreiecken, der zu der Serie von Geschenkpapieren für die Kaufhauskette gehörte. Die andere war ein Blatt, auf dem Mama Köpfe gezeichnet hatte: die von Linda, Oma, dem Kapitän und mir. Sie waren besser als alles, was ich jemals zuvor von ihr gesehen hatte.

»Toll!«, rief ich. »Superobertoll!«

In diesem Moment stellte ich fest, dass ich einen Kopf übersehen hatte. Es war das Gesicht eines Mannes. Er trug eine randlose Lesebrille und hatte eine Halbglatze. Ausgeprägte Falten führten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Die Haare waren an den Schläfen grau. Der Mensch kam mir bekannt vor. Aber ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann ich ihn schon mal gesehen hatte.

»Wer ist das?«, fragte ich.

Mama drehte sich um. Ihren Augen nach zu urteilen, schien sie mit ihren Gedanken ganz weit weg gewesen zu sein. »DD«, antwortete sie.

Ich dachte an das Bild am Baum. »DD? Der sieht doch ganz anders aus!«

»So würde er heute aussehen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Du vermisst ihn sehr«, sagte ich.

Sie nickte.

»Warst du beim Kirschbaum?«, wollte ich wissen. »Ja. Aber DD kommt nicht.«

Ich hätte ihr gern gesagt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er wieder mit ihr redete. Doch ich konnte es nicht. Etwas in mir sträubte sich dagegen, sie mit den üblichen Sprüchen zu trösten. Plötzlich war ich hundertprozentig sicher, dass DD nie mehr zum Treffpunkt am Kirschbaum kommen würde. Dass Mama ihn endlich begraben musste.

Während das Grollen des Donners näher kam, ging ich hinunter in die Küche. Oma und ihre unvergleichlichen Pfannkuchen warteten. Beim Essen schwieg ich. Meine Großmutter ließ mich zum Glück in Frieden, sie schien zu merken, dass ich nicht die geringste Lust hatte, über restaurierte Segelboote, Ferraris oder günstige Kredite zu reden.

Wieso um alles in der Welt war das Leben bloß so schwierig? Warum musste es Schmerzen geben? Warum den Tod? Warum starb der eine früh und der andere spät? Warum wurde ein sadistischer Serienmörder neunzig Jahre alt und ein braver Wasserballtorwart und Papiervertreter bloß dreißig? Wieso war Abschied nehmen so verdammt schwer?

In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Und das lag nicht nur an dem gewaltigen Gewitter, das kurz vor Mitternacht mit Sturm und Hagel losbrach.