1.

 

J

ohann Kleinschmidt benutzte den gleichen Weg, auf dem er mich am Karfreitag in die Stadt gebracht hatte, um Florenz zu verlassen. Im frühen Morgengrauen war die Stadt fast so leer wie am Tag nach dem Anschlag; nur auf dem Prato ratterten die Ochsenkarren der Bauern aus dem Mugello, die mit ihren Gemüsen, ihren Ziegen, Schweinen und Gänsen auf dem Weg zum alten Markt waren. Die Luft war frisch und klar und der Himmel von einer hellen Bläue, die nach Westen hin noch das vergehende Dunkel der Nacht erkennen ließ.

Mein Schwiegersohn war ungewöhnlich schweigsam. Als wir an der Säule mit den ausgebleichten Bändern vorbeikamen, sah er nachdenklich die Straße hinab, und nicht nur in seiner Erinnerung erstand der rücksichtslose Ritt, mit dem Jacopo de’ Pazzi und seine Männer zum Tor geprescht waren. Jetzt wusste ich, dass sie zu condottiere Montesecco geritten waren, der sich vor dem Tor von Kardinal Riario verabschiedet hatte, um dort auf den alten Pazzi zu warten. Es sprach dafür, dass der kleine Kardinal tatsächlich nicht in die Verschwörung eingeweiht gewesen war; aber ob es so war oder ob die Verschwörer nur äußerst bemüht gewesen waren, keinen Verdacht auf Riario fallen zu lassen, ließ sich nicht festlegen. Mittlerweile war es ohne jegliche Bedeutung, und es war nicht an mir, Ärger zu empfinden, wenn einer der Täter jetzt im Palast des überlebenden Opfers hauste wie die Made im Speck. »Das Wetter ist gut, wir werden schnell vorankommen«, sagte Kleinschmidt, während wir an der Porta al Prato darauf warteten, dass eine größere Gruppe von Marktwagen passierte und die Torwächter uns den Weg freigaben. »Ich werde bald wieder zurück sein.«

»Komm nur erst einmal wohlbehalten nach Prato«, erwiderte ich. »Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Haufen von Montesecco nicht noch irgendwo herumtreibt. Ohne Anführer, ohne Aufgabe und ohne Geld könnten sie vielleicht auf die Idee kommen, Reisende auf der Straße zu überfallen.«

»Die Straße nach Prato ist sehr belebt. Sie werden es nicht wagen«, sagte Kleinschmidt. Seinen Worten zum Trotz zog sich sein Gesicht ein wenig in die Länge, und er fasste seinen kleinen Tross aus den beiden Packtieren und seinem Schreiber auf einem struppigen Pferd unsicher ins Auge.

»Viel Glück und gute Reise.«

»Bis bald.« Kleinschmidt versuchte, aufmunternd zu lächeln, aber mit meiner Bemerkung über Monteseccos Söldnerschar hatte ich ihm genug gegeben, worum er sich sorgen konnte. Er gab seinem Schreiber einen Wink, als die Torwachen beiseite traten, und reihte sich hinter ihm und den Packtieren ein. Er drehte sich im Sattel um und winkte mir zu, bis ihn die niedrigen Häuser der Pfahlbürger jenseits des Kanals verschluckten. Ich stand noch einen Augenblick länger unter dem wuchtigen Bogen der Tordurchfahrt und sah ihm hinterher. Kleinschmidt auf dem Weg nach Prato, Tredittore aus meinen Diensten entlassen – ich stellte fest, dass ich jetzt wirklich allein war. Es war die Art und Weise, wie ich am liebsten arbeitete. Ich gab mir einen Ruck und löste mich vom Tor, um in die Stadt zurückzumarschieren. Es gab noch jede Menge zu tun.

 

Die Tür zum Inneren von San Lorenzo war bereits geöffnet, wenngleich die Morgenmesse noch nicht begonnen hatte. Ich trat in das laut hallende Kirchenschiff. Abgesehen von zwei kunstvoll gearbeiteten Kanzeln aus Bronze und wenigen großformatigen Bildwerken in den kleinen Seitenkapellen, wirkte San Lorenzo kunstlos, oder eher, als würde die Kirche erst noch mit adäquaten Werken geschmückt werden müssen. Wie die Fassade wartete auch das Kirchenschiff darauf, dass Lorenzo de’ Medici einen Künstler fand, den er für würdig erachtete, seiner Heimatkirche den nötigen Glanz zu verleihen. Der Altarraum war leer; scheinbar hatte man die Körper von Giuliano de’ Medici und Francesco Nori umgebettet, damit die Kirche den normalen Messbetrieb wieder aufnehmen konnte. Das Kirchenschiff war beinahe ebenso leer. Entweder hatten sich die Bettler, die in der Regel in den Seitenschiffen herumlungerten, noch nicht eingefunden, oder man hatte sie gestern aus der Kirche entfernt, und sie hatten nicht gewagt, jetzt schon zurückzukommen. Es befand sich nur ein Mann in der Kirche. Er hatte zusammengekauert unter einem Bildnis der Muttergottes gelegen, als hätte er sie um Schutz und Beistand angefleht, bis ihn der Schlaf übermannte. Meine Schritte weckten ihn, und er hob den Kopf mit der Verwirrung dessen, der anderswo aufwacht, als er geglaubt hat. Plötzlich sprang er auf die Füße und wich zur Wand zurück. Offensichtlich war es ihm wieder eingefallen, wo er war und vor allem: warum.

»Guten Morgen, Herr Tredittore«, sagte ich ruhig. Meine Stimme hallte in der Kirche wider, als hätte ich laut gerufen. Tredittore blinzelte und schüttelte den Kopf und schien mich erst jetzt zu erkennen. Seine Schultern sanken erleichtert herab, dann fiel ihm jedoch ein, wem er die Nacht in der Kirche zu verdanken hatte, und seine Haltung spannte sich erneut. Er sagte kein Wort, bis ich vor ihm stand. Seine Haare standen zu Berge, von seinem bleichen Gesicht hoben sich Bartstoppeln ab, und er war sichtlich durchgefroren. Neben der Stelle, an der er geschlafen hatte, lag ein halb voller Stoffsack mit seinen Habseligkeiten. Ich deutete auf das Marienbild.

»Hat eine Nacht unter ihrem Blick Euch erleuchtet?«, fragte ich.

»Ihr habt es nicht nötig, über mich auch noch zu spotten«, knurrte er aufgebracht. »Wie kommt Ihr überhaupt hierher?«

»Ich wollte Euch aufsuchen.«

»Woher habt Ihr gewusst, wo Ihr mich finden könnt?«

»Wohin wendet sich ein Mann, der von den Behörden gesucht wird, wenn er keine Unterkunft mehr hat und nicht verhaftet werden will? Er sucht Asyl in der Kirche.«

»Es hätte auch jede andere Kirche sein können. Oder habt Ihr die alle schon abgesucht?«

Ich schüttelte den Kopf. Bei mir dachte ich: Es kann nur San Lorenzo sein. Es war schon ein Wunder, dass dich deine Beine in deiner Angst noch über den Platz getragen haben. Zu einer anderen Örtlichkeit hättest du es niemals geschafft. Aber ich hatte beschlossen, es geschickter anzupacken als gestern. »Ich hatte eben Glück«, sagte ich.

»Und was wollt Ihr von mir? Wollt Ihr Euren Hohn über mir ausgießen? Ich dachte, wir sind miteinander fertig.« Er verzog verächtlich den Mund, als würde es ihn ohnehin nicht interessieren, welche Wünsche ich hätte, und als ob sein einziger Wunsch wäre, dass ich mich möglichst bald trollen würde. Aber er blieb aufrecht stehen, anstatt sich niederzusetzen und von mir abzuwenden, und seine Augen hingen an meinem Gesicht und straften seine Worte Lügen, indem sie deutlich sichtbar riefen: Gib mir noch eine Chance!

»Ich will Euch noch eine Chance geben«, erklärte ich.

Er schnaubte ungläubig. Als er seine Hände nervös gegeneinander rieb, sah ich, dass sie zitterten. Die Schatten unter seinen Augen waren fast so dunkel wie seine unrasierten Wangen. Er mochte in der Kirche gelegen sein, aber geschlafen hatte er sicherlich kaum.

»Habt Ihr Federn, Tusche und Pergament dabei?«

Tredittore nickte und bückte sich sofort, um in seinem Sack danach zu suchen. Erst als er einen Lederbeutel hervorzog und aufzuschnüren begann, kam ihm in den Sinn, dass seine Eilfertigkeit mehr als alles andere verraten hatte, wie groß seine Verzweiflung schon nach einer unsicheren Nacht im Schutz einer kalten Kirche war. Er sah vom Lederbeutel zu mir und zu dem Marienbildnis, auf dem sich Heilige und Weise mit den Allerweltsgesichtern der Bildstifter um die Heilige Jungfrau drängten und ihr und dem Kind auf ihrem Arm Geschenke darboten. Plötzlich sanken seine Schultern ganz herab, und er überreichte mir den Lederbeutel mit derselben demütigen Haltung wie die Gabenüberbringer auf dem Bild. Sein Körper hatte schon nachgegeben; nur in seinem selbst vom Schlafmangel nicht entstellten, hübschen Gesicht stritten sich Trotz und Resignation noch miteinander. Ich nahm den Beutel entgegen und nestelte ihn ganz auf. Es fanden sich annähernd gleich groß zurechtgeschnittene Pergamente darin, ein paar Federn in einem hohlen, mit Leintuchpfropfen verschlossenen Stück Ast und ein Tintenstein. Mehrere der Pergamente waren beschrieben.

»Ihr könnt sie ruhig lesen«, sagte er matt. »Ich schicke sie sowieso nicht ab.«

»Was ist das?«

»Die Berichte über Monna Jana an meine Herren. Kam es Euch nicht darauf an, sie zu sehen?«

»Nein. Ich wusste gar nicht, dass Ihr sie nicht abgeschickt hattet.« Ich dachte an das, was er gestern auf dem Platz vor San Lorenzo gesagt hatte. »War nicht genügend Stoff vorhanden, Jana schlecht darzustellen?«

Er zuckte verdrossen mit den Schultern. Ich überflog ein paar Zeilen, doch er hatte in Polnisch geschrieben, und ich konnte Janas Muttersprache noch weniger lesen, als sie verstehen. Er seufzte.

»Ihr könnt Euch die Mühe sparen«, sagte er. »Darin stehen nichts als Verdrehungen, Halbwahrheiten oder offene Lügen. Nicht ein Wort beschreibt die Tatsachen.«

»Ist das der Grund, warum Ihr sie nicht abgeschickt habt?«

»Ja. Das war zu billig. Für jede Begebenheit, bei der ich sie in einem schlechten Licht geschildert habe, gab es genügend Zeugen, die die Wahrheit berichten konnten: Euch, Julia, Janas Geschäftspartner – schon die Größe der Gewinne, die sie auf ihren Konten ausweisen konnte, hätten meine Lügen ans Licht gebracht.«

Ich hielt die Pergamente unschlüssig in der Hand, dann reichte ich sie ihm zurück. »Was soll ich damit?«, brummte er. »Zerreißt sie.«

Ich riss sie methodisch in immer kleiner werdende Fetzen, bis das Päckchen zu dick und das Pergament zu zäh wurde, um noch weiter zerkleinert zu werden. Ich steckte die Fetzen in mein Wams. Tredittore sah mir unbewegt dabei zu. »Ich hätte zu Hause in Krakau bleiben sollen«, murmelte er.

Ich ging zu einer der Säulen, die das Dach der Kirche stützten, und machte eine der Federn schreibfertig. Mit der Säule als Unterlage kritzelte ich ein paar Zeilen auf ein neues Pergament, faltete es zusammen und knickte es so, dass es sich nicht von selbst wieder entfalten konnte. Ich reichte ihm das Pergament; er starrte ratlos darauf nieder.

»Ich möchte, dass Ihr diese Botschaft für mich zu ihrem Adressaten bringt.«

Tredittore zögerte so lange, und über sein Gesicht huschten derart widerstreitende Gefühle, dass ich einen Augenblick dachte, seine Verzweiflung falsch eingeschätzt zu haben. Dann verbarg er seine Gedanken hinter einer unbewegten Miene und nickte. »Wer ist der Empfänger?«

»Lorenzo de’ Medici.«

Er keuchte überrascht.

»Ihr sollt sie nicht sofort überbringen; sagen wir, nach dem Mittagläuten.«

»Man lässt mich doch nie im Leben noch einmal in das Haus«, stieß Tredittore hervor. »Geschweige denn, dass Ser Lorenzo mich empfängt.«

»Ihr sollt auch nicht Euer Gesicht im Palazzo Medici zur Schau stellen, sondern nur das Pergament am Tor abgeben. Wie viele Schreiber und Sekretäre es vor Ser Lorenzo lesen, ist mir egal. Er wird es auf jeden Fall erhalten.«

Er nickte langsam. »Ist das ein Trick, um mich aus der Kirche zu locken, damit ich verhaftet werde?«, fragte er schließlich misstrauisch. Ich lächelte dünn.

»Wenn mein Ziel wäre, dass man Euch verhaftet, würde ich es nicht so kompliziert anstellen«, sagte ich. »In diesem Fall säßet Ihr bereits seit gestern im Loch.«

Tredittore brummte unzufrieden, aber er schien meinen Worten Glauben zu schenken. »Und was wird danach?«

»Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, werden wir uns bald an einem weniger ungemütlichen Ort darüber unterhalten, wie wir die letzten paar Wochen vergessen können; ihr und ich und Jana.«

»Und wenn es nicht so läuft?«

»Dann«, sagte ich scheinbar leichthin, »wird diese Kirche wohl für die nächsten Jahre zu Eurem Wohnsitz werden.« Er schluckte. »Ich will tun, was Ihr verlangt. Ich mache Euch jedoch darauf aufmerksam, dass ich möglicherweise schon auf dem Weg zum Palazzo Medici verhaftet werde. Dann kann ich Euren Brief nicht zustellen.«

»Ihr werdet nicht verhaftet. Glaubt Ihr, die warten vor der Kirchentür auf Euch? Dazu seid Ihr ein zu kleines Licht. Ich habe jedenfalls niemanden dort gesehen.«

»Und falls doch?«

»Dann macht es auch keinen Unterschied. Wenn der Patrouillenführer das Schreiben liest, wird er es zu Ser Lorenzo bringen.«

»Ich habe das Gefühl, dass ich das ganze Risiko trage.«

»Ihr wollt doch aus der Situation heraus, in die Ihr Euch gebracht habt. Da müsst Ihr schon etwas dafür riskieren.«

»Ich frage mich, ob es das wert ist.«

Ich sah demonstrativ auf den lächerlichen Sack mit seinen Besitztümern und danach durch die Kirche, als hätte er mir die Möbel und das Haus gezeigt, in dem er demnächst einziehen wollte, und ich würde es fachmännisch betrachten. Sein Gesicht verschloss sich. »Gut, gut, ich tue, was Ihr sagt.« Ich wandte mich ab.

»Und bis dahin?«, rief er mir nach. »Was soll ich bis dahin tun?«

»Das, wozu Euer Mut reicht«, sagte ich. »Hier habt Ihr ein paar Soldini. Ich nehme an, dass Ihr selbst kein Geld mehr besitzt. Geht hinaus und kauft Euch etwas zu essen und sucht einen Bader auf und lasst Euch die Sonne auf den Rücken scheinen – oder bleibt hier. Ich bin nur daran interessiert, dass Ihr die Botschaft zustellt.«

»Und danach? Wie kommen wir zusammen? Wohin soll ich gehen?«

»Am besten hierher zurück. Ich lasse Euch abholen.«

»Das ist vage.«

»Das muss Euch reichen«, sagte ich.

Er folgte mir bis zur Tür und spähte hinaus, als ich sie öffnete und auf den oberen Absatz der Treppe trat. Die Morgensonne schien auf den Platz. Die Raben, die bereits geschäftig hin und her stolzierten, warfen lange Schatten. Jemand hatte doch noch die Stelle gesäubert, an der Stefano di Bagnone zu Tode gekommen war, und hatte die Asche entfernt. Die Raben schienen sich nicht daran zu stören; sie pickten da und dort und machten insgesamt den Eindruck, als würden sie nur die Zeit totschlagen bis zu ihrem nächsten Festmahl in den Abfällen am Alten Markt oder bei der Hinrichtungsstätte außerhalb der Mauer oder bei Bischof Francesco Salviati und seinen Spießgesellen am Palazzo della Signoria.

»Wollt Ihr mir noch etwas mitteilen?«, fragte ich ihn. Er schüttelte schnell den Kopf. Aus der Richtung der Via Larga ertönten Schritte, und Tredittores Gesicht spannte sich an. Er zog sich zurück und ließ die Tür zufallen. Die Schritte näherten sich und bogen um die Ecke; ein Mann mittleren Alters mit sauberer, einfacher Kleidung und einem Korb unter dem Arm marschierte in die Richtung zum Alten Markt. Als er mich vor der Kirchentür stehen sah, nickte er mir höflich zu. Ich nickte zurück. Ein fröhlicher kleiner Wind strich mit Böen um die Ecken des Kirchenbaus und wehte am Eingang vorbei. Ich nahm die Fetzen von Tredittores Berichten und streute sie auf den Boden. Der Wind nahm sie auf und wirbelte sie auf den Platz hinaus. Ich stieg die flachen Stufen hinab und dachte an den nächsten Schritt, den ich geplant hatte, und mein Herz fing an zu schlagen bis zum Hals.

Die Schar der Bittstellerinnen vor dem Gefängnistor war erheblich geringer als an den Tagen vorher. Vielleicht war es noch zu früh, oder vielleicht waren es die Frauen einfach leid, der unbeugsamen Besatzung des Gefängnisses jeden Tag gegenüberzustehen. Ein paar Briefe, an die richtigen Adressen geschickt, mochten wirkungsvoller sein als die vor den ungerührten Wächtern vergossenen Tränen. Die wenigen, die weiterhin ausharrten, blickten mit einer Mischung aus Mitleid und peinlicher Berührung auf eine Frau, die auf dem Boden lag und um die sich eine kleine Gruppe gebildet hatte. Ein Gefängniswächter beugte sich über sie und fummelte ungeschickt an ihrem Schleier herum. Die zwei anderen Frauen, die laut jammernd um ihn herumflatterten, waren ihm keine Hilfe. Ich musste nur in die Gesichter der beiden Jammergestalten sehen, um zu wissen, wer dort zusammengebrochen war: Violante Cerchi. Der Gefängniswächter sah Hilfe suchend zum Eingangstor des Gefängnisses hinüber, aber seine Kameraden dort drin hatten seine Notlage offenbar noch nicht erkannt. Schließlich herrschte er eine der beiden Begleiterinnen von Monna Cerchi an, und diese zuckte zusammen und kam weit genug wieder zu klarem Bewusstsein, dass sie sich bücken und ihrer Freundin helfen konnte. Der Wächter trat sichtlich erleichtert zurück. Ich gesellte mich zu ihm. Ich wusste, was er mir sagen würde, noch bevor ich die Frage stellte. Er überschüttete mich mit einem Schwall florentinischen Dialekts, von dem ich kein Wort verstand, und bekreuzigte sich dabei. Benozzo Cerchi war tot.

Ich starrte auf Violante Cerchi, die unter sanftem Rütteln langsam wieder zu sich kam. Ob ihr Mann etwas gestanden hatte, das er niemals getan hatte, oder ob er standfest geblieben war, wusste ich nicht. Für ihn selbst war es nun unerheblich geworden, und was blieb, war seine Prophezeiung: Ganz gleich, was er tat, es würde ihn das Leben kosten.

Wenn Cerchi tot war, stand nichts mehr zwischen Jana und der peinlichen Befragung. Ich war den ganzen Weg von San Lorenzo bis zum Gefängnis unschlüssig gewesen, ob ich das Richtige tat.

Ich hatte ein gefährliches Spiel geplant, eines, das auch meinen Tod bedeuten konnte. Doch nach Cerchis Ableben war mein Plan das Einzige, was Jana noch retten konnte; und ich würde es nicht ertragen, noch einmal einen geliebten Menschen zu verlieren. Ich streckte die Fäuste aus und überkreuzte sie vor dem Wächter. »Ich bin Peter Bernward«, sagte ich fest. »Ich bin der Gefährte von Jana Dlugosz. Ich stelle mich freiwillig den Behörden.«

 

Es stellte sich heraus, dass es nicht so einfach war, wie ich mir vorgestellt hatte, verhaftet zu werden. Der Wächter verstand kein Wort und scheuchte mich mit einer Handbewegung davon. Ich folgte ihm hartnäckig, die Hände immer noch vor mir ausgestreckt. Sichtlich irritiert öffnete er schließlich die Gefängnispforte und stieß mich hinein. Sein Wachführer hinter der zweiten verschlossenen Tür blickte auf und sah verblüfft von mir zu ihm und zurück. Der Wächter ratterte etwas und deutete anklagend auf mich.

»Würde jemand so freundlich sein, mich zu verhaften?«, rief ich laut. »Ich bin der Mann, nach dem seit Ostersonntag gesucht wird.«

Schließlich dämmerte dem Wachführer, dass ich weder ein Bittsteller noch ein normaler Verrückter war. Er winkte mit dem Kopf, und mein bisheriger Begleiter packte mich am Arm, damit ich nicht wieder weglief. Sein Griff war nicht sehr fest; er hatte noch immer Mühe zu begreifen, was vor sich ging.

»Il nome?«, fragte der Wachführer.

»Peter Bernward«, sagte ich laut und deutlich.

Er fand ihn nicht auf seiner Liste. Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, mich als Stepan Tredittore auszugeben; diesen Namen hätte er wohl gefunden. Doch das hätte geheißen, das Schicksal noch mehr herauszufordern, und so ließ ich es bleiben. Ich war sicher, mein Name stand irgendwo in seinen Unterlagen, aber vermutlich war er bei der Niederschrift zu sehr verstümmelt worden, um noch erkennbar zu sein. Er nahm einen Eintrag näher ins Auge, überlegte und sprach ihn mit spitzen Lippen wortlos aus. Dann sah er, dass ich ihn beobachtete. Er zuckte mit den Achseln, sah von mir zu seiner Liste und zurück, fasste einen Entschluss und schrieb mit ungelenker Hand und einem Kohlestummel etwas auf das Blatt, das vermutlich auf Florentinisch ausgesprochen so ähnlich klang wie mein Name. Dann winkte er mit dem Kopf, und ich wurde abgeführt.

Der kurze Gang mit seinem ungenügenden Talglicht führte uns wieder vor die Zellentür, durch die ich schon einmal eingetreten war. Ich bemerkte, dass ich schwitzige Hände bekam, und versuchte, ruhig zu atmen. Als wir vor der Tür ankamen, öffnete sie sich ruckartig. Ein Wächter kam gebückt in den Gang; er schnaufte und fluchte und stolperte rückwärts, damit auch sein Kamerad den Kerkerraum verlassen konnte. Zwischen sich trugen sie den schlaffen Körper eines Mannes, dessen Hände auf dem Boden schleiften und dessen auf die Brust gesenkter, kahlrasierter Kopf bei jedem ihrer unsicheren Schritte leise nickte. Sein Gesicht schien sorgenvoll, aber in Wahrheit war es ohne Ausdruck. Es waren nur die Falten der vergangenen Tage, die es so wirken ließen. Benozzo Cerchi trat seinen letzten Gang an. Ich fragte mich, ob er ein vernünftiges Begräbnis erhalten oder ob seine Leiche neben die der überführten Verschwörer an den Palazzo della Signoria gehängt würde. Dass sie ihn aus der Kerkerzelle trugen und nicht aus dem Befragungsraum, schien darauf hinzudeuten, dass er nicht während der Folter gestorben war. Es sagte nichts darüber aus, ob er noch ein drittes Mal der Tortur ausgesetzt worden war. Wenn die Richter und die Folterknechte bereits von seinem Tod in Kenntnis gesetzt waren, würden sie jedenfalls aufatmen. Ich hatte selbst einen Fall erlebt, in dem ein Advocatus einen Verdächtigen zu Tode hatte foltern lassen; aber er hatte ein lebhaftes Interesse am Tod des Delinquenten gehabt und war danach aus dem Dunstkreis des Gerichts spurlos verschwunden. Im Allgemeinen war es jedoch eine peinliche Angelegenheit und warf für den Verhörenden eine Menge hässlicher Fragen auf. Benozzo Cerchi schaukelte sanft zwischen den Wachen den Gang hinauf und verschwand mit ihnen durch eine andere Tür. Ich versuchte, nicht der Frage nachzugehen, ob sein Tod in dem Moment eingetreten war, in dem er mir im Traum erschienen war. Ich sprach ein unhörbares Gebet für ihn. Was immer er im Leben getan hatte, seine Hartnäckigkeit hatte meine Gefährtin bisher vor der Folter verschont.

Ich wurde in den Kerkerraum gestoßen, der nach dem finsteren Gang fast hell wirkte. Offensichtlich waren die Florentiner und die nichtflorentinischen Gefangenen in der Zwischenzeit zusammengelegt worden. Dennoch befanden sich nur noch wenige Insassen darin. Sie hatten sich über die gesamte Zelle verteilt, als wären sie nach den Tagen der erzwungenen Gemeinsamkeit einander gründlich leid. Alles in allem war es vielleicht ein Dutzend, und sie saßen sowohl allein als auch in kleinen Grüppchen von zweien oder dreien herum und ließen die Köpfe hängen. Ein Mann hockte auf dem Fäkalienkübel und hatte die Augen geschlossen, während er versuchte, das Wühlen in seinen Därmen zu ignorieren. Niemand achtete auf ihn, so wie er auf niemanden sonst achtete. Die Schamhaftigkeit hatte längst eine andere Dimension erreicht, in der unsichtbare Barrieren wirksamer arbeiteten als alle Holzverschläge und Trennwände. Ich stapfte an ihm vorbei und zu dem kleinen, hoch angebrachten Fenster, unter dem Jana und Julia saßen. Ich hatte plötzlich einen Kloß in der Kehle, den ich nicht hinunterschlucken konnte.

Die Zelle roch wie am ersten Tag nach Schweiß und den Körperausdünstungen von Generationen von Gefangenen, nach dem Fäkalienkübel und nach Stroh, das feucht wurde, sobald es die Wachen hereinschaufelten. Es war kühl und klamm, und ich fror nach den sommerlichen Temperaturen draußen. Die Gefangenen waren über das Frieren längst hinaus. Die Kälte war nicht so, dass man innerhalb weniger Tage krank davon werden konnte; aber sie war sicherlich stark genug, einen Menschen innerhalb eines halben Jahres in ein krampfhaft hustendes Wrack zu verwandeln.

Jana hatte den Kopf gesenkt und legte mit mechanischen Bewegungen eine Decke zusammen. Ich hatte den Eindruck, dass bis vor kurzem noch jemand auf der Decke gelegen war: Benozzo Cerchi. Was immer seine Frau über Jana gedacht hatte, sie schien diejenige gewesen zu sein, die ihm in seinen letzten Minuten beigestanden hatte. Julia hockte neben ihr und schnüffelte unglücklich vor sich hin. Ihre Augen waren geschwollen. Ich trat vor sie hin und vergaß, was ich hatte sagen wollen.

Jana zog die Decke zu sich heran, und diese erste instinktive Reaktion eines Gefangenen, der fürchtet, dass seine Leidensgenossen ihm etwas wegnehmen wollen, trieb mir die Tränen in die Augen. Dann wanderten ihre Blicke langsam nach oben und blieben an meinem Gesicht hängen.

»Peter«, sagte sie tonlos. »Du bist noch hier?«

Ich nickte.

»Ich dachte, du seist schon halb wieder zu Hause.«

Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief.

»Warum weinst du?«, fragte sie und begann plötzlich selbst zu weinen, lautlos und mit offenen Augen, aus denen die Tränen quollen. Ich kniete mich unbeholfen vor ihr auf das feuchte Stroh und umarmte sie. Sie fühlte sich an wie eine Stoffpuppe. Ich klopfte ihr auf den Rücken. Julia starrte mich an wie eine Erscheinung; sie hatte offenbar keine Kraft mehr zu weinen. Jana kämpfte gegen das Schluchzen an und verlor mehrere Male. Schließlich drückte sie sich von mir weg. Ihre Augen waren rot; die Tränen hatten zwei helle Spuren in ihre schmutzigen Wangen gewaschen. Sie sah mir ins Gesicht, und ich konnte sehen, wie ihre Gedanken langsam zu arbeiten begannen.

»Wieso bist du hier?«

»Ich habe mich gestellt.«

»Wie konntest du so dumm sein… Sie hätten dich nie erwischt. Ich habe stets eine andere Beschreibung von dir gegeben. Wenn ich nicht so überrascht gewesen wäre, hätte ich deinen Namen überhaupt nie genannt. Weswegen hast du es getan?«

»Ich musste bei dir sein«, flüsterte ich, und es war nur ein Motiv unter vielen, aber im Moment erschien es mir als das einzig zutreffende. Jana lehnte sich zurück und wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. Ich wollte sie küssen, aber ich konnte mich kaum bewegen. Ich hatte sie für ein paar Augenblicke im Arm gehalten, und es genügte mir vollkommen.

Sie musterte mich. Ein Schatten fiel über ihr Gesicht, und ich erkannte, dass sie sich an unsere Begegnung hier im Kerker am Ostermontag erinnerte. »Was hast du die ganzen Tage getan?«, fragte sie.

»Jana, ich muss dir so viel erklären, und es ist so wenig Zeit…«

»Ich fürchte, wir haben hier mehr Zeit, als uns lieb ist.« Sie räusperte sich. »Wenn wir die Verhöre überstehen.« Ihre Hand krampfte sich unfreiwillig um die Decke.

»Benozzo Cerchi?«

»Ein tapferer Mann.« Ihre Augen wurden wieder feucht. Ich versuchte, die Tränen von ihren Wangen fortzuwischen, aber sie wich mir aus. »Er starb heute Nacht, nachdem sie ihn zum dritten Mal verhört hatten. Er ist es wert, dass man um ihn weint.«

»Jana, es weinen genügend um ihn.«

»Wer sagt dir das? Wäre er nicht gewesen, so hätten sie mich schon längst…«

»… selbst auf den Block gespannt. Ich weiß.«

»Du weißt es? Was weißt du noch?« Sie sah mich überrascht an.

»Ich glaube, es ist besser, du erzählst mir alles von Anfang an.«

»Nein, Jana. Es gibt nur zwei Dinge, die ich dir jetzt sagen möchte: dass ich dich bei der Gegenüberstellung mit den Kaufleuten aus dem Fondaco verleugnete, lag nicht an meiner Feigheit, sondern an dem Umstand, dass ich frei bleiben musste, um dir hier herauszuhelfen. Und dass ich dir heraushelfen wollte…« Ich fand es plötzlich schwierig weiterzusprechen. Ich hatte mir die Worte zurechtgelegt, aber jetzt erkannte ich, dass es keinen Weg gab, sie auszusprechen, ohne ihr dabei wehzutun. »Dass ich dir hier heraushelfen wollte, hat damit zu tun, dass ich dich liebe.«

Sie sah mich an, legte jedoch nicht wie sonst eine Hand an meine Wange, wenn ich ihr meine Liebe mitteilte. Sie hielt die Decke fest, und ihre dunklen Augen ermaßen das, was ich nicht gesagt hatte.

»Und nicht damit, dass du mich für unschuldig hieltest«, sagte sie schließlich. Sie bemühte sich, kein Gefühl durch ihre Worte scheinen zu lassen. Ich wollte ihr sagen, dass ich mittlerweile herausgefunden hatte, dass Schuld oder Unschuld, speziell in diesem Fall, nichts mit der Stärke unserer Liebe zu tun hatten, aber meine Erkenntnis ließ sich nicht in Worte fassen.

»Jana«, sagte ich stattdessen, »ich habe in den letzten Tagen all deine Schritte nachvollzogen, seit in Venedig Stepan Tredittore zu uns stieß – die offenen wie die, die du vor mir geheim gehalten hast. Ich weiß alles darüber, was du getan hast; ich weiß nur nicht, warum.«

»Es gab einen Tag, an dem die Angehörigen der Gefangenen das Gefängnis besuchen durften, ohne sich der Gefahr einer Verhaftung auszusetzen. Wenn du gekommen wärest, hätte ich dir alles erklären können. Du hättest dir viel Arbeit erspart.«

»Ich wusste es nicht. Jana, es tut mir Leid, aber ich…«

»Du wusstest es nicht? Selbst Stepan Tredittore hat es herausgefunden.«

»Was soll das heißen? War er hier?«

»Ja. Ich nehme an, um sich an meinem Anblick zu weiden.« Ich war so perplex, dass ich für einen Moment keinen klaren Gedanken fassen konnte. »Was hat er denn gesagt?«, stotterte ich schließlich.

»Nichts. Er stand dort in der Tür und sah zu mir herüber, und ich wusste nicht, ob ich mich einfach abwenden oder ihm den Kübel an den Kopf werfen sollte. Dann verließ ihn der Mut, und er schlüpfte ohne ein Wort hinaus.«

»Ich kann es kaum glauben. Darüber hat er nie ein Wort verloren.« Sie zuckte mit den Schultern. »Warum auch? Er hat sich ja nicht mit Ruhm bekleckert. Und so verlief mein einziger Besuch, während rings um mich herum sich alle in die Arme fielen und heulten.« Sie stockte und biss die Zähne zusammen. Plötzlich holte sie aus und schlug mit der Faust wütend gegen die Kerkerwand. Ihre Knöchel waren zerschunden. Sie musste in den letzten Tagen mehr als einmal dagegen geschlagen haben.

»Jana, ich wusste es wirklich nicht. Glaubst du im Ernst, dass ich diese Chance nicht ergriffen hätte, dich zu sehen?«

»Ich bin gar nicht wütend auf dich« rief sie, und die Tränen sprangen ihr erneut in die Augen. »Ich bin zornig auf mich selbst.«

»Weshalb denn?«

»Weil… Weil du erst fünf Minuten hier bist, und schon mache ich dir Vorwürfe. Dabei…«, sie schlug sich die Hände vor das Gesicht und begann noch bitterer zu weinen als vorher, »dabei ist alles mein Fehler, und nun haben sie dich auch noch gekriegt. Sie werden uns alle aufhängen, und ich bin ganz allein daran schuld.«

Ich nahm sie in die Arme, und diesmal war sie nicht steif und fühllos, sondern umklammerte mich mit einer verzweifelten Kraft, die fast wehtat. Das würgende Schluchzen, das sich ihr entrang, tat mir noch mehr weh. Julia saß mit verlorenem Gesicht neben uns und starrte auf ihren Schoß, und ich zog sie mit einer Hand zu uns heran. Sie brachte auch jetzt keine Kraft mehr auf zu weinen, aber sie drückte sich an uns, als sei sie ein kleines Kind und wir ihre Eltern, die nach langem Streit wieder zueinander gefunden hatten.

 

 

2.

 

K

annst du dich an Antonio Pratini erinnern?«, fragte Jana eine lange Weile später. »Er ist der Schlüssel zu allem, was passiert ist.«

Ich nickte. Wir saßen nebeneinander unter dem kleinen Lichtschacht. Nachdem Janas Gefühlssturm abgeflaut war, waren die anderen Gefangenen näher gekrochen und hatten versucht herauszufinden, wer ich war. Einige von ihnen beherrschten Latein, sodass ich mich verständlich machen konnte, und so gelang es mir auch, Piero Vespucci kennen zu lernen, einen alten Mann, der vor Schwäche und Angst gleichermaßen fieberte. Die Information, dass seine Tochter Ginevra fast jeden Tag vor dem Gefängnis gestanden und um seine Freilassung gebeten hatte, rührte ihn zu Tränen. Die meisten der anderen Insassen des Kerkers waren Schreiber, Notare oder kleinere Kaufleute; Jana und Vespucci waren die letzten prominenten Gefangenen, die noch nicht hingerichtet oder an den Folgen der Befragung gestorben waren. Dann hatten zwei Wächter einen Eimer und einen hölzernen Kübel hereingestellt und sich wahllos jemanden aus dem Kreis der Gefangenen herausgesucht, der den vollen Fäkalieneimer hinauszutragen hatte: ein mittelgroßer, kahlköpfiger Mann, der weder protestierte noch irgendeine Miene verzog, als er den schweren Eimer an seiner Kette aufhob und vor die Brust presste, um damit hinauszuwanken. Einige von Janas Leidensgenossen hatten sich noch halbwegs Kultur bewahrt und gaben Julia, die offenbar die einzige Dienstbotin war, ihre hölzernen oder tönernen Schüsseln, und diese füllte sie aus dem Eimer mit einer grauen, zähen Pampe. Die anderen krochen selbst hinzu und tauchten ihre Schüsseln unzeremoniell hinein. Es wäre nur anständig gewesen, auf den Unglücklichen zu warten, der den Fäkalienbehälter hinausgetragen hatte, aber als ich in den Essenseimer sah, war mir klar, dass für ihn noch genug übrig blieb. Der Holzkübel war voll klarem Wasser; eine Schöpfkelle war an ihm befestigt. Ich hatte keine Schüssel; Jana teilte ihre mit mir. Das Essen schmeckte grauenvoll, aber es war warm, und ich würgte ein paar Bissen hinunter, bis es mir widerstand. Die anderen, Jana und Julia eingeschlossen, schlürften den Inhalt ihrer Schüsseln ohne Begeisterung leer. Ich saß offensichtlich noch nicht lange genug hier, um den Wert einer warmen Mahlzeit zu schätzen, auch wenn sie aus Kutteln, Tierdärmen und Getreidebrei bestand.

»Pratini plant das Geschäft seines Lebens«, erklärte Jana. »Er will eine große bottega errichten, eine Künstlerwerkstatt, die Fresken, Bilder, Plastiken, Schmuck und Kleidung gleichermaßen fertigt – alles, was schön ist. Und alles aus einer einzigen Werkstätte, in der Maler, Bildhauer, Goldschmiede und Schneider zusammenarbeiten. Der Markt dafür ist enorm; hast du dich umgesehen, wie sehr man hier in Florenz Schönheit und Kunstwerke schätzt? Und mehr noch als hier in Rom, das im Gegensatz zu Florenz bis auf wenige Ausnahmen eine stinkende Kloake sein muss, deren einflussreiche Bürger jedoch von gewaltigem Reichtum sind und die Allerreichsten von ihnen wiederum dem Klerus angehören. Sie alle miteinander halten geradezu fiebrig nach Kunst Ausschau, um der Hässlichkeit ihrer Stadt wenigstens im Detail Schönheit entgegensetzen zu können. Pratini hat gute Verbindungen nach Rom und bis in den Dunstkreis des Papstes hinein. Aufträge für die nächsten hundert Jahre sind ihm sicher.«

Janas Augen blitzten, und sie lächelte triumphierend.

»So ein Teufelskerl. Auf diese Idee muss man erst mal kommen. Wenn irgendein reicher Kardinal heute eine klassische Statue kopiert haben will, geht er zu einem Bildhauer. Für die Fresken an den Decken seines Wohnhauses benötigt er einen Maler, und wenn eine seiner Mätressen Schmuck verlangt, beauftragt er einen Goldschmied. Von allen dreien muss er sich erst die Arbeiten ansehen, damit er weiß, ob sie ihm gefallen, muss sich Referenzen einholen und mit ihnen verhandeln, muss vielleicht Geld auslegen für die Beschaffung von Marmor, Gold oder Farben, und dann muss er warten, ob sie seine Wünsche pünktlich erfüllen, und wenn einer von ihnen vor Beendigung des Auftrags erkrankt und stirbt, hat er nichts außer einem halbfertigen Kunstwerk.«

»Ich dachte immer, die Benachteiligten seien die Künstler«, sagte ich trocken.

»Natürlich, die Nachteile sind auf beiden Seiten. Wie oft kommt es vor, dass ein Auftraggeber noch während der Arbeiten stirbt und die Erben die fertige Arbeit weder abnehmen noch bezahlen wollen. Oder dass der Auftraggeber das Kunstwerk dankend annimmt und dann niemals bezahlt – oder nur mit Hängen und Würgen und nach allen möglichen Abzügen. Dabei ist ein Künstler noch glücklich, wenn er überhaupt einen Auftrag erhält. Die meisten hungern und verdingen sich als Sklaven auf den Feldern oder in Steinbrüchen, um überleben zu können. Pratinis Idee bringt dagegen beiden Parteien nur Vorteile: Pratinis Werkstatt kann ihre Rohmaterialien günstiger beschaffen, weil sie größere Mengen kauft und eine gewisse Machtstellung auf dem Markt besitzt, sodass die Arbeiten für den Auftraggeber billiger werden. Braucht er mehrere verschiedene Dinge, so bekommt er trotzdem alles aus einer Hand und muss nur ein einziges Mal verhandeln. Wenn ein Künstler erkrankt und nicht weiterarbeiten kann, springt ein anderer für ihn ein und macht wenigstens die grobe Arbeit, sodass die Ausführung nicht so lange auf sich warten lässt. Gleichzeitig kann sich der Erkrankte besser erholen. Und wenn es ans Bezahlen geht und der Auftraggeber sträubt sich, so muss er viel eher fürchten, von der großen bottega vor Gericht zitiert zu werden als von einem kleinen Künstler, der weder Zeit noch Geld genug hat für Gerichtsstreitigkeiten, und wird deshalb bereitwilliger zahlen.«

»Und du glaubst, für eine solche Idee finden sich genügend Künstler? Ich dachte, diese Menschen sind Einzelgänger und arbeiten nicht gerne mit anderen zusammen?«

»In Florenz gibt es so etwas jetzt schon. Pratini hat die Idee nur konsequent weitergedacht. Besonders die Freskenmaler arbeiten in diesen botteghe zusammen, weil für einen allein der Auftrag, eine Kirche auszumalen, fast ein Lebenswerk bedeuten würde. Der Herr der bottega hat verschiedene Gesellen und lernt sogar Lehrlinge an, und wenn es an einen Auftrag geht, hat jeder seine Spezialaufgabe: Der eine rührt die Farben an, der andere den speziellen Mörtel, der für die Fresken benötigt wird; einer malt nur Hintergründe, einer nur Gesichter, einer nur den Faltenwurf der Gewänder. Die Gesellen arbeiten die Randfiguren aus, die Heiligen und die Zentralfiguren der Meister. Pratinis Plan beinhaltet nichts anderes, bis auf den Unterschied, dass in seiner Werkstatt nicht nur Maler, sondern Künstler aller Richtungen zusammenarbeiten.«

Jana schüttelte den Kopf. »Die Idee liegt so nahe, aber das tun alle großen Ideen. Es kommt nur darauf an, weiter als alle anderen und auch verrückte Sachen zu Ende zu denken.«

»Woher will Pratini seine Künstler rekrutieren?«, fragte ich und ahnte die Antwort bereits. Jana lächelte erneut und legte mir die Hand auf den Arm.

»Eine weitere gute Idee! Er baut ein Findelhaus. Die Kinder dort werden ausgebildet, je nach ihrer Neigung, sodass sich aus ihren Reihen sowohl Künstler als auch Verwalter herausbilden, die nicht nur mit ihrem Verdienst, sondern vor allem mit ihrem ganzen Herzen an ihrer Werkstatt hängen, denn sie ist ihr Heim und ihre einzige Familie. Und je besser sie arbeiten, desto besser gestaltet sich auch ihr Schicksal und das ihres Hauses. Pratini hat bereits eine kleine Werkstatt in seinem Haus und bildet dort die ersten Waisenkinder aus. Mit ein bisschen Glück trägt sich die Werkstatt in fünf Jahren von allein, und Pratini spart sich nicht nur das Geld für die Stiftung, sondern fährt auch noch satte Gewinne ein und hat geschäftliche Verbindungen überall dorthin, wo sich eines seiner Kunstwerke befindet. Er wird nicht nur reich, sondern sein Haus sammelt auch ungeheure Macht an. Wenn er sich geschickt anstellt, wird der Name Pratini in einer Generation den Namen Medici ablösen.«

Certosa Mea Culpa. Von welchen Quellen Jana ihre Informationen auch immer erfahren hatte, sie wusste nur die Hälfte; und Pratinis Motive, mochten sie auch von den Gedanken dominiert sein, die Jana soeben dargelegt hatte, waren weitaus vielschichtiger als Soll und Haben seiner Geschäftskonten. Den Tag, an dem seine Werkstatt in die Gewinnzone geriet, würde er voraussichtlich gar nicht mehr erleben. Nichtsdestotrotz hatte er den Erfolg seines Werks seit langem geplant; die Einrichtung der Werkstätte in seinem Garten zeugte ebenso davon wie seine Bemühungen, mittels der Finanzverwaltung der päpstlichen Gelder Geschäftsverbindungen bis in die höchsten Kreise des Klerus zu erlangen.

»Was hast du damit zu tun?«, fragte ich.

Jana grinste und packte mich in ihrer Begeisterung noch fester am Arm.

»Pratini hat ein Problem«, erklärte sie. »Er ist mit der Seidenzunft und mit der Zunft der Goldschmiede verfeindet. Seine Werkstatt kann deshalb nur Malereien und Bildhauerkunst liefern, womit sich deutlich weniger Geld verdienen lässt als mit Kleidung und Schmuck. Ich hingegen bin mit niemandem verfeindet. Ich kann mit jeder Fraktion Geschäfte machen. Und deshalb«, sie zuckte mit den Schultern, »wollte ich ihm seine Idee abjagen. Benozzo Cerchi und Paolo Boscoli waren zwei einflussreiche Mitglieder der beiden Zünfte. Cerchi hatte ich schon auf meiner Seite.«

Ich nickte schwer. Jana sah mich an. »Verstehst du? Das würde eine direkte Verbindung des Hauses Dlugosz zum Heiligen Stuhl in Rom herstellen. Und mit den Gold- und Silberminen in der Nähe von Krakau, von denen ich auch einige besitze, könnte ich den Schmuck noch günstiger herstellen lassen – oder das Erz direkt an die Werkstätten in Rom liefern und mit ihnen Partnerverträge abschließen. Das wäre der Durchbruch des Hauses Dlugosz!«

»Das ist die Geschäftsidee, mit der du deine Stellung zu Hause endgültig absichern wolltest. Ich ahnte nichts davon.«

»Peter, ich…« Jana brach plötzlich ab, und ihre Begeisterung verflog. »Ich wollte soeben sagen, ich konnte es dir nicht sagen, weil zu viel daran hängt, was für mich Bedeutung hat. Ich habe ganz vergessen…«

»Was?«

»Ich habe ganz vergessen, dass das, was am meisten für mich Bedeutung besitzt, unsere Liebe ist.« Sie nahm ihre Hand von meinem Arm, als hätte sie nicht mehr das Recht, sie dort zu lassen. Ich nahm sie und schloss meine Hände darum. Sie sah mich an und blickte gleich wieder zu Boden.

»Es war ein Fehler«, murmelte sie. »Es tut mir so Leid. Die ganze Zeit wollte ich meinen Plan mit dir teilen, und dann fürchtete ich, was du davon halten würdest und dass du versuchen könntest, mir die Idee auszureden, und…«

»… und außerdem hattest du Angst, ich würde mich einmischen und dir alles kaputtmachen.«

Sie sah auf. »Denkst du das von mir? Peter, glaubst du wirklich, ich halte dich für einen…«

»Jana, es ist ganz egal«, unterbrach ich sie. »Und außerdem hättest du Recht damit. Ich hätte mich eingemischt, und ich hätte deine Idee kaputtgemacht, so wie ich den Handel in Venedig beinahe ruiniert habe. Und jetzt Schluss damit. Ich bin nicht geschaffen für solche Geschäfte, und ich glaube immer mehr, dass ich überhaupt nicht für die Geschäfte geschaffen bin. In Landshut war ich vielleicht geschickt genug, mich über Wasser zu halten, aber die Welt ist klein in Landshut und überhaupt nicht damit zu vergleichen, was hier abläuft oder in Venedig oder meinetwegen in den großen Handelsstädten des Reichs.«

»Ich hatte kein Recht, dir das Vertrauen zu verweigern«, sagte sie leise.

»Das ist richtig.«

»Kannst du mir verzeihen?«

»Jana«, sagte ich lächelnd, »natürlich kann ich dir verzeihen.«

»Es tut mir so Leid. Ich war so zerrissen und so angespannt -und so voller Trauer wegen des Todes meines Vaters und so voller Angst, ob ich mich würde behaupten können. Und ich habe alles an dir ausgelassen.«

Ich dachte an den Gesichtsausdruck von Messer Maurizio, wann immer sich Jana ihm auf der Reise von Venedig nach Prato näherte. »Nicht nur an mir«, erklärte ich trocken.

»Ich war so dumm. Ich wollte das nicht. Ich habe so viele Fehler gemacht.«

»Nein, es waren keine Fehler. Torheiten vielleicht, aber selbst da bin ich mir nicht so sicher. Es ist einfach passiert. Was soll’s? Wer weiß, wie viele Torheiten ich schon begangen habe. Wenn wir sie uns gegenseitig aufrechnen, vergiften wir uns das Leben. Dass wir sie begangen haben, lässt sich doch nicht mehr ändern, und warum wir es taten – ist das wichtig? Hätten wir sie begangen, wenn wir nicht geglaubt hätten, einen Grund zu haben, egal, wie töricht er hinterher aussehen mag? Es kommt darauf an, was wir daraus machen, das ist alles.«

»Sagt das der Mann, der jahrelang wegen des Todes seiner Frau mit sich gehadert hat?« Sie sah mich ernst an, und das kleine Lächeln, das in ihren Mundwinkeln lag und die Grübchen in ihren Wangen andeutete, war nicht spöttisch, sondern mitfühlend. »Jana, mein Versäumnis von damals war keine Torheit, sondern ein wirklicher Fehler. Ich hätte sie und das Kind nicht zu retten vermocht, wenn ich statt über meinen Büchern neben ihrem Bett gesessen wäre; aber ich hätte wenigstens ihre Hand halten und von ihr Abschied nehmen können. Das kann ich nie wieder gutmachen – nicht vor Maria, das meine ich nicht. Ich meine vor mir selbst. Ich habe mich sieben Jahre lang für diesen Fehler bestraft. Doch genützt hat es niemandem, es hat nur meine Familie von mir entfremdet, was man schon wieder als weiteren Fehler werten könnte.« Ich wischte meine Argumente mit einer Handbewegung weg. »Und all das ist nichts anderes, als in einer Vergangenheit zu wühlen, die sich nicht mehr ändern lässt. Ob ich etwas daraus gelernt habe, zählt mehr, als was ich alles falsch gemacht habe.«

Sie fragte mich nicht, was ich gelernt haben könnte, und in gewisser Weise war ich froh darüber. Ich hatte etwas gelernt, in den letzten paar Tagen mehr als in den letzten zweieinhalb Jahren, aber es in Worte zu fassen wäre mir schwer gefallen. Janas Liebe hatte mich von dem Gewicht befreit, das ich mir seit Marias Tod auf die Schultern geladen hatte, aber den Mühlstein an sich hatte sie nicht fortgenommen. Diese Aufgabe konnte niemand anderer bewältigen als ich selbst. Pratini versuchte, seinem Mühlstein mit Certosa Mea Culpa Gestalt zu geben, und indem er ihn in dieser Form erstehen ließ, auch gleichzeitig von seinem Hals zu bekommen. Für mich gab es eine andere Lösung. Ich wusste nur noch nicht, welche. Doch auch das war unerheblich. Antonio Pratini hatte mehr als zwanzig Jahre gewartet, bis sie ihm einfiel. Ich hatte nicht mehr so lange Zeit, aber ich war zuversichtlich, dass ich rechtzeitig darauf kommen würde.

»Ist das der Grund, warum du mich noch nicht gefragt hast?«

»Gefragt? Was gefragt?«

»Ob ich das getan habe, wofür man mich verhaftet hat?« Jana versuchte, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Sie zitterte nicht, aber man hörte die Anstrengung. Ich schaute auf ihre Hand mit den zerschundenen Knöcheln und strich vorsichtig mit dem Daumen über die aufgeschürften Stellen.

»Diese Frage ist für mich weniger wichtig als eine andere.«

»Und die wäre?«

Jetzt musste ich mich anstrengen, meine Stimme nicht beben zu lassen. »Ob unsere Liebe noch Bestand hat.«

Sie schluckte, und ihre Hand erstarrte in meiner. »Warst du dir nicht sicher?«

»Jetzt weiß ich, dass ich mir immer sicher war. Doch es gab eine Zeit, da wusste ich das nicht.«

»Und das andere?«, flüsterte sie.

»Die Frage nach deiner Mitschuld an der Verschwörung? Sosehr ich mich schäme, es einzugestehen: Auch da war ich mir lange nicht sicher.«

»Und trotzdem bist du geblieben?«

»Ja.«

Aus ihren rot geränderten Augen traten erneut Tränen. Sie ließ sie über ihr Gesicht laufen, ohne sie abzuwischen. Sie hatte niemals schöner ausgesehen als jetzt. »Auch wenn du sagst, dass es dir nichts bedeutet; mir bedeutet es sehr viel: Peter, ich bin unschuldig. Ich wusste nichts von dieser Verschwörung.«

»Ich weiß.«

»Ich liebe dich so sehr«, sagte sie erstickt. »Was habe ich dir nur angetan?«

»Du hast mir nichts angetan. Du hast mir geholfen, die Augen wieder zu öffnen. Das ist ein wenig Zweifel wert.«

Sie lächelte unter Tränen und fasste mir mit einer Hand ins Gesicht. »Warum weinst du dann auch, du Dummkopf?«

»Das ist das Problem beim Augenöffnen«, brummte ich. »Sie tränen dann so leicht.«

»Ach Peter, war all dieses Leid notwendig, damit ich wieder so viel Glück empfinden kann, mit dir zu sprechen?«

Ich zuckte die Achseln. Sie rückte näher zu mir und legte den Kopf auf meine Schulter. »Ich habe solche Angst, was sie uns antun werden«, sagte sie. »Doch jetzt ertrage ich sie leichter. Ich habe viel mit Benozzo Cerchi gesprochen, mit Hilfe von Leonardo dem Schreiber, der Latein spricht und sogar mein Kauderwelsch verstehen konnte.« Sie deutete auf den kahlköpfigen Mann, der den Fäkalienkübel hinausgetragen hatte und jetzt blicklos vor sich hinstarrte. »Benozzo war unschuldig, genauso wie ich. Sie hätten ihn nach der dritten Befragung freilassen müssen. Er wusste, dass er die Freiheit nicht mehr sehen würde, noch bevor sie ihn holten. Ich bestürmte ihn zu gestehen, damit sein Leid beendet würde, aber er sagte, er habe keine Angst mehr. Es gäbe etwas Wichtigeres als den Schmerz und den Tod, und das sei das Vertrauen und die Liebe seiner Familie. Wenn er gestehe, würde man sie aus Florenz vertreiben, und dann habe er ihr Vertrauen gebrochen und sei ihrer Liebe nicht würdig. Er zitterte, als sie ihn gestern Abend hinausführten. Als er zurückkam, zitterte er nicht mehr. ›Ich habe nicht gestanden, Jana‹, flüsterte er nur. ›Ich bin jetzt frei. Und meine Lieben sind es auch.‹ Er sagte noch viel, doch das war das Einzige, was ich verstand, weil ich vor Zorn und Trauer nicht mehr hören konnte, was Leonardo übersetzte. Ich denke, er versuchte, mir zu sagen, dass ich an jemanden glauben solle, den ich liebe, wenn ich meinen Gang in die Folterkammer anträte. Ich konnte keinen Trost aus seinen Worten ziehen; ich fühle mich erst jetzt getröstet, seit du hier bist. Und doch – wenn ich wüsste, dass du in Sicherheit wärst, würde es mir noch leichter, in die Folterkammer zu gehen.«

»Jana, keiner von uns wird die Folter erleiden. Ich habe mich nicht deshalb gestellt, weil ich keinen Ausweg mehr wusste. Ich bin hier, um dich und Julia zu befreien.«

 

Die Zeit im Kerker hat ihren eigenen Verlauf. Zur Untätigkeit verdammt, mit Menschen zusammengesperrt, mit denen einen nichts außer der Angst verbindet, hat man sie vor sich wie einen kompakten, vollkommen undurchdringlichen Block; man hängt wie eine Fliege an seiner Außenseite und hat das Gefühl, dass man sich nie von dem Fleck wegbewegen wird, an dem man sich befindet. Die eigenen Gedanken sind keine Hilfe, denn sie laufen nicht frei, sondern drehen sich im Kreis und beschäftigen sich ausschließlich mit der Frage, wie man die Zeit dazu bringen könnte, schneller zu verrinnen. Ein zum Tode Verurteilter, der auf seine Hinrichtung wartet, mag von einem noch schlimmeren Gefühl heimgesucht werden: Er wartet sehnlichst darauf, dass die Zeit vergeht, und fürchtet nichts so sehr wie den Augenblick, an dem sie für ihn endgültig abgelaufen ist. Tritt dann ein Ereignis ein, auf das man gewartet hat, ist man erstaunt, wie schnell es gekommen ist; und vielleicht findet man sich in der merkwürdigen Lage wieder, dass man sich gewünscht hätte, die Zeit wäre noch langsamer vergangen.

Ich entwickelte all diese Symptome schon nach kurzer Zeit. Da es zu viel zu bereden gab, beredeten Jana und ich nichts mehr. Ich fühlte die Feuchtigkeit durch das Stroh dringen und die Wärme von Janas Körper an meiner Seite und versuchte, mir darüber klar zu werden, welchen Fehler ich in meinem Plan gemacht haben könnte. Ich fieberte dem Augenblick, in dem Tredittore meinen Brief an Lorenzo de’ Medici abliefern würde, ebenso entgegen, wie ich ihn fürchtete, und es war mir absolut unmöglich, auch nur annähernd zu sagen, wie viel Zeit bis dahin noch verstreichen müsste. Das Licht aus der kleinen Fensteröffnung war gleichmäßig hell, und da sie zu weit oben lag, um auf dem Boden des Kerkers Schatten zu erzeugen, konnte man auch daran nicht erkennen, wie und ob die Zeit voranschritt. Nach einer Weile kam ich auf den Gedanken, die Schläge der Kirchturmglocken zu verfolgen, doch die Gefängnismauern dämpften die Geräusche von draußen fast vollkommen, und was hereindrang, wurde von dem Husten und Rascheln und den dumpfen Unterhaltungen und den sonstigen Geräuschen der anderen Gefangenen übertönt.

»Die Transaktionen an Velluti und Alepri«, sagte ich schließlich, obwohl es nicht nötig war und ich das Gefühl hatte, Janas Plan stand mir so klar vor Augen wie ihr selbst. »Alepri sollte als Notar dienen, um die Geschäftspapiere abzusegnen und die nötigen Kontrakte vorzubereiten; Velluti sollte der Architekt sein.«

Jana nickte. »Francesco Noris Bankhaus war dazu ausersehen, sämtliche weiteren Transaktionen durchzuführen und als Bürge zu fungieren.«

»Wie bist du auf diese Leute gekommen?«

»Ich habe mich noch in Venedig erkundigt. Noris Bankhaus hatte selbst dort einen guten Ruf. Alepri wurde mir von dem venezianischen Notar genannt, der für mich die Kontrakte mit dem Gewürzgeschäft aufsetzte; er kannte ihn zwar nicht persönlich, aber er sagte, er habe Einfluss auf den Markt in Florenz.«

»Das hatte er«, sagte ich trocken. »Lorenzo de’ Medici hat ihn schon seit längerer Zeit von seinem Posten entbunden. Und wie bist du auf Velluti gekommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn irgendjemand in Venedig kannte.«

»Genauso wie auf Boscoli und Cerchi: Ich habe mich bei der Zunft in Florenz erkundigt. Die Zünfte stehen in allen Städten und Republiken miteinander in Verbindung, ganz gleich, wie die politische Situation auch aussehen mag.«

»Ausgerechnet Velluti. Selbst Pratini hielt nicht viel von ihm.«

»Pratini? Wieso er?«

»Er bezahlte seinen Lebensunterhalt. Und gab ihm den Auftrag, sein Findelhaus zu bauen. Wusstest du das nicht?«

Jana lehnte sich verdutzt zurück. »Nein«, rief sie. »Ich hatte keine Ahnung, dass zwischen beiden eine Verbindung besteht.« Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Was hat das zu bedeuten?«

»Wer in Person hat dir Velluti empfohlen?«

»Niemand in Person. Es war eine kurze Botschaft, die mit einer Brieftaube übermittelt wurde. Das Siegel der Baumeisterzunft war darauf zu erkennen. Das war alles.«

»Wusstest du, welcher Fraktion deine Geschäftspartner angehörten. Pazzi oder Medici?«

»Ach woher. Die einzigen Fraktionen in Florenz, von denen ich jemals vorher gehört hatte, waren die Welfen und die Ghibellinen. Und das ist…«

»… mehr als hundert Jahre her. Ja, mir ging es ähnlich.«

»Boscoli gehörte wohl der falschen Seite an«, sagte Jana düster. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit sie ihn zum ersten Mal befragten.«

»Alepri auch. Er hat sich in seinem Haus verbarrikadiert und zuerst seiner Familie und zuletzt sich selbst den Tod gegeben.«

»O mein Gott«, keuchte Jana. »Ich wusste das alles nicht. Und Velluti?«

»Ist ebenfalls tot.«

»Auch er ein Pazzi-Anhänger?«, flüsterte Jana bedrückt.

»Nein. Es heißt, er hat sich ertränkt.«

»Es heißt…?«

»Ich glaube, dass er ermordet wurde.«

»Ermordet. Weil ich mit ihm Kontakt aufgenommen habe.«

Ich nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Oder ich«, sagte ich und beschloss, ihr zu verschweigen, dass auch Lapo Rucellai das Leben verloren hatte. Ihretwegen. Oder meinetwegen. Es genügte ohnehin, unser stockendes Gespräch zum Ersterben zu bringen. Jana brütete mit finsterer Stirn vor sich hin. Ich sah zu Piero Vespucci hinüber, der sich in die Decke gehüllt hatte, die Benozzo Cerchi nicht mehr brauchte, und im Fieber schauerte; und meine Gedanken nahmen wieder ihren unnützen Kreislauf auf, welchen Fehler ich gemacht haben könnte.

 

Als sich die Kerkertür öffnete nach jener Zeitspanne, die mir rückwirkend plötzlich zu kurz erschien, wurde mir klar, welchen Faktor ich in meine Überlegungen nicht mit einbezogen hatte: den Ablauf der gerichtlichen Untersuchungen, der sich nicht daran hielt, ob ich einen Brief an Lorenzo de’ Medici geschrieben hatte, der diesen in das Gefängnis locken sollte, bevor die peinliche Befragung begann. Zwei Gefängniswärter kamen herein, sahen sich um und stapften dann zielstrebig auf Jana und mich zu. »Gianna Delugosch«, sagte einer von ihnen und deutete auf Jana. Jana schreckte hoch und starrte den Mann an. Er winkte mit dem Kopf zur Zellentür und bückte sich gleichzeitig, um sie am Arm zu packen und hochzuziehen.

»Moment«, sagte ich und sah, wie Jana blass wurde. »Uno momento. Was geht hier vor?«

Der Wärter knurrte etwas und stieß mich leicht mit der Stiefelspitze an. Ich schluckte schwer und bemerkte, wie das Entsetzen in mir hochstieg. Jana kam auf die Beine. Der Blick, den sie mir zuwarf, versetzte mich vollends in Panik. Ich rappelte mich ebenfalls hoch und fiel dem Wärter in den Arm. Seine Augen wurden groß, und er sah von seinem Arm zu mir. Sein Gesicht versteinerte. Ich spürte einen Ruck an meinem Wams und setzte mich hart auf den Boden. Der zweite Wächter trat über mich und setzte mir die Spitze seines kurzen Spießes an die Kehle.

»Nein«, krächzte ich, »nein. Ihr müsst warten. Ihr könnt sie nicht mitnehmen.«

Der erste Wärter begann, Jana zur Zellentür zu zerren. Sie stolperte. Ihr Blick ließ mich nicht los. Der zweite Wärter trat einen Schritt zurück und beobachtete mich scharf. Ich warf mich herum, bis ich zu Leonardo dem Schreiber sehen konnte.

»Bitte«, sagte ich mit trockenem Mund auf Latein, »bitte. Ihr müsst übersetzen. Ich…«

Leonardo sah mich traurig an. Dann wich er meinem Blick aus und schüttelte den Kopf. Es bedeutete nicht, dass er Angst hatte; es bedeutete, dass es hoffnungslos war.

»Peter«, sagte Jana. Sie war schon fast an der Tür. Ihr Gesicht war so weiß, dass es in der Dunkelheit leuchtete. Der zweite Wächter folgte seinem Kameraden. Er befürchtete nicht, dass ich aufspringen und versuchen würde, ihnen Jana mit Gewalt zu entreißen. Er wusste, dass ich wusste, dass es ohnehin keinen Sinn machte. Ich gab Janas Blick zurück. Sie sagte etwas, aber ich konnte es nicht verstehen, weil die Wärter die Tür zuzogen und Jana mit sich nahmen. Ich starrte die Tür an. Mein Herzschlag war so schwer, dass mein Kopf dröhnte.

»Santa Verena, ora per lei«, sagte jemand.

Und die Panik schlug vollends über mir zusammen.

 

Als Junge war ich auf eine hohe Linde geklettert. Der Baum wuchs in den Lechauen und war nicht größer oder beeindruckender als viele andere Bäume, die dort wuchsen. Aus irgendeinem Grund hatte er es jedoch mir und meinen Freunden angetan. Wir nannten ihn Galgenbaum und untersuchten jede Rille und jede Abnutzung an seinen weit ausgreifenden unteren Ästen in der makabren Hoffnung, die Spuren eines Seiles zu finden, das sich im Todeskampf des Gehängten in das Holz eingerieben hatte. Der Baum ragte in die Höhe, seine Krone eine unter vielen im Blätterdach des Auwaldes, und wir versäumten es kaum einen Tag, ihn zu besuchen, und fanden ihn aller Realität zum Trotz höher, dunkler, finsterer, bedrohlicher als alle seine Geschwister um ihn herum. Wir hatten unterschiedliche Meinungen darüber, wie lange er schon dort stand und wer der erste Unselige gewesen war, der sein Leben, an seinen Ästen hängend, verzappelt hatte. Wir waren uns allerdings darüber einig, dass es der mächtigste und imposanteste und Furcht einflößendste Baum aller Reviere aller Augsburger Buben war und dass wir ihn niemals durch Einritzen von Initialen, Abbrechen von Zweigen oder gar durch eine Besteigung entweihen würden.

Vielleicht war ich mit meinen Freunden über den letzten Punkt nicht so einig.

Die Neugier wächst mit dem Verbot, und meiner Neugier gelang es, größer zu werden als die Angst und alle Schwüre. Es muss auch angemerkt werden, dass wir niemals Seilspuren an den Ästen gefunden hatten, obwohl wir einander auf den Schultern balancierten, um ihnen so nahe wie möglich zu kommen. Plötzlich überzeugte ich mich selbst davon, dass der Baum niemals ein Galgenbaum gewesen sein konnte und dass folglich alle Ehrfurcht auf einem Irrtum beruhte und dass der Baum es darum verdient hatte, bestiegen zu werden. Er hatte uns gefoppt, und es war an der Zeit zu beweisen, dass ein bewegungsloser, dummer, völlig unbekannter Baum keinesfalls ungestraft einen Jungen namens Peter Bernward foppen konnte.

Ich suchte mir einen Tag aus, an dem meine Freunde ein anderes Spiel entdeckt hatten, und schlich mich zu den Lechauen hinaus. Der Baum wartete auf mich. Ich zog mich zu seinen unteren Ästen empor und dann, als der Frevel nicht geahndet wurde, zu den nächsthöheren. Die Äste darüber waren noch einfacher zu erklimmen. Ihre Besteigbarkeit wurde von den ihnen folgenden Ästen sogar übertroffen. Die Kronen der kleineren Eschen, die Holunderbüsche und die Haselsträucher lagen bereits unter mir. Atemlos kletterte ich weiter. Der Baum mochte kein Galgenbaum sein, aber ihn zu ersteigen machte Spaß. Ich hängte mich an den Ast über meinem Kopf, schlang die Beine um ihn und kämpfte mich rittlings auf ihn hinauf. Der Boden lag bestimmt schon drei oder vier Mannslängen unter mir. Ich richtete mich auf und stieß mit dem Kopf an etwas Fransiges, Nachgiebiges.

Es war ein Ast. Es war kein Ast. Es war ein modriger, am Ende zerfledderter, vom Alter grau gewordener, in der Astgabel über mir befestigter Strick.

Meine Freunde mussten mich gesucht haben. Irgendwann trafen sie unter dem Galgenbaum ein und spähten zu mir hinauf. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen hatte, das Strickende vor meinem Gesicht baumelnd. Sie riefen zu mir herauf, ich solle hinuntersteigen. Ich konnte nicht. Ich konnte es ihnen nicht einmal begreiflich machen. Ich brauchte alle Kraft, um die Panik niederzuhalten, die seit der Entdeckung des Stricks in mir hochklettern wollte, und wenn ich zu ihnen gesprochen hätte, wäre der Damm gebrochen. Ich wusste, wenn die Panik mich überwältigen würde, würde ich niemals mehr von diesem Baum steigen können, würde ich hier verhungern, verdursten, erfrieren, würde zum Gespenst des Baumes werden, das sich in den leeren Rippenbögen eines langsam zerfallenden Jungenskeletts verbarg und mit dem Wind in der Baumkrone um die Wette heulte.

Meine Freunde standen ratlos vor dem Baum. Ich war eine kleine, leichenblasse Gestalt, vier Mannslängen über der Erde, die sich mit harzverklebten Händen festkrallte und auf nichts reagierte. Schließlich lief einer von ihnen davon und kehrte mit einem der größeren Jungen aus der Nachbarschaft zurück. Dieser schüttelte amüsiert den Kopf und kletterte zu mir empor. Oben angekommen, sah er mir in die Augen und teilte mir ruhig mit, dass er vor mir wieder hinuntersteigen würde und dass ich einfach jeden seiner Handgriffe und Fußtritte nachmachen solle und dass ich ihm das Zeichen geben solle, wann ich soweit sei. Wir hätten es nicht eilig.

Irgendwann fand ich das extra Quäntchen Kraft, ihm zuzunicken. Er stieg langsam hinunter, und ich folgte ihm wie eine Gliederpuppe. Er ohrfeigte mich nicht einmal, als ich sicher auf dem Boden stand.

Der Strick war vor langer Zeit dort oben angebracht worden, und sicherlich war einmal ein Schaf oder eine Kuh oder ein Hund daran angebunden gewesen – als der Baum noch kleiner war, als er einer unter vielen Jungbäumen war und keine Jungenbande ihm die Kraft verliehen hatte, zum Galgenbaum zu werden.

Ich erkletterte ihn nie mehr wieder. Ich erkletterte auch keinen anderen Baum mehr. Unsere Bande zerfiel, weil ich meinen Freunden nicht mehr in die Augen sehen konnte. Aber ich hatte gelernt, dass das Chaos stets über einen kommt, wenn man am wenigsten damit rechnet, und dass die Panik einen immer dann ergreift, wenn man auf sie nicht vorbereitet ist.

Ich saß in der Kerkerzelle im Gefängnis von Florenz und krallte mich am feuchten Stein fest und flehte stumm um einen Retter, der mich von meinem Galgenbaum herunterholte.

 

 

3.

 

N

ach einiger Zeit kamen die Wärter, um auch mich zum Verhörraum zu schaffen. Mir war so übel, dass mich nur meine Schwäche am Erbrechen hinderte. Die meiste Angst hatte ich vor dem Anblick, der mich erwarten mochte: Jana kahlrasiert, auf der Marterbank liegend, unzureichend in den Marterkittel gehüllt und sich vor Schmerzen windend. Ich wusste, dass die Richter auch bei Jana die gesetzlich vorgeschriebene Reihenfolge anwenden und mit der territio verbalis, dem Zeigen der Marterinstrumente, beginnen würden; und ich wusste, dass dieser Prozess keinesfalls bereits zur nächsten Stufe übergegangen sein konnte. Aber die Furcht arbeitet nicht mit dem Kopf, sie arbeitet mit dem Herzen, und was immer in meinem Kopf an rationalen Gedanken übrig geblieben sein mochte, konnte sich nicht gegen die Bilder durchsetzen, die mein Herz beherrschten. Der Verhörraum lag im Keller, ein enger, von rußenden Fackeln beleuchteter Raum, in dem die Schatten tanzten wie in Vorfreude auf die zu erwartenden Qualen. Ein Loch öffnete sich direkt nach oben, doch es war nicht zum Rauchabzug gedacht, sondern dafür, dass die Schmerzenslaute in die Kerkerzelle dringen konnten. Ich hatte das Loch im Boden nicht gesehen, als ich mich dort oben befand; dass es da war, hatte ich dennoch gewusst. Es gab eine Reihe weiterer Löcher in einer der Seitenwände; sie führten vermutlich zu einer Einzelzelle, in die man im Bedarfsfall einen Verhafteten verlegen konnte, um ihn allein und ohne den Trost seiner Leidensgenossen zum Zeugen der Befragung seines Vorgängers werden zu lassen. Über eine Rolle an einem der mächtigen Deckenbalken ging ein Seil zu einer Winde; das Seil hing straff durch den schweren Haken an seinem Ende, welcher sich in die Handfessel des Inquisiten einhaken ließ, sodass man ihn an den auf den Rücken gebundenen Händen hochziehen konnte. Die Aufziehvorrichtung war die zentrale Anordnung im Raum und das Instrument, um das sich die zweite und dritte Stufe des peinlichen Verhörs drehten: der trockene Zug mit einem Stein an den Füßen, dessen Gewicht unweigerlich die Schultergelenke ausrenkte und den man allein mit sich und Gott ertragen musste, während die Richter den Befragungsraum verließen und zu Abend aßen – der zweite Grad, die ziemliche Frage, die bei einem ausbleibenden Geständnis in den dritten Grad übergehen würde; wobei man aufgezogen hängen blieb, zu den bisherigen Qualen aber noch Rutenstreiche, das Abbrennen der Körperbehaarung oder Güsse mit brennendem Pech zu vergegenwärtigen hatte. Wenn einem der Folterknecht nicht Schwefelhölzer oder Kienstöcke unter Finger- und Fußnägel trieb und sie anzündete oder Feuer an die Pechpflaster setzte, die er einem auf die Fußsohlen geklebt hatte. Nichts von all diesen Dingen war zu sehen, nicht einmal der Stein; nur das Seil mit seinem beschwerten Ende hing von der Decke und bewegte sich sacht hin und her, und das nach oben gebogene Eisen des Hakens grinste. Am jenseitigen Ende der Kammer stand eine schwere, schmucklose Truhe, die den Richtern und Peinkommissaren als Schreibunterlage diente, um das Geständnis des Inquisiten festzuhalten – unter Zeugen, die nach Beendigung des Verhörs ebenfalls bereitstanden, wenn dem Gefolterten sein Geständnis vorgelesen wurde, damit er es beglaubigen konnte. Die Marterbank für die erste Stufe, die gelinde Territion, stand gleich daneben. Die Daumenschrauben und die Fußstöcke, die man darauf gelegt hatte, sahen aus wie besonders plumpe Handwerkszeuge und nicht wie Instrumente, die dazu bestimmt waren, Fleisch, Knorpel und Sehnen des Befragten zu zerquetschen. Jana kauerte auf der Marterbank, drei Männern gegenüber, die hinter der Truhe saßen; ein vierter stand neben ihr und hatte ihr die Hand sanft auf die Schulter gelegt, und diese Geste sagte deutlicher als alle Fesseln und Ketten, dass sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Der Mann neben Jana trug ein offenes Hemd und enge Hosen und hatte keine Kopfbedeckung auf. Er besaß ein ausdrucksloses Dutzendgesicht. Wenn die Aufgabe, anderen Menschen eine genau bemessene Dosis an Pein zu verabfolgen, die Macht hatte, sich in Gesichtszügen einzugraben, dann war sein Gesicht stärker gewesen als diese Macht. Seine einfache Kleidung, die im krassen Gegensatz zu dem elegant gekleideten Triumvirat hinter der Truhe stand, wies ihn jedoch hinreichend als den Mann aus, der die Fragestufen der drei Richter in die Tat umsetzen würde. Janas Rücken war steif. Man schien ihr kein Haar gekrümmt zu haben. Sie blickte sich um, als sich die Tür öffnete und ich hereingebracht wurde. Ihr Gesicht war kalkweiß, und ihre Augen waren weit aufgerissen vor Angst. Die Wärter stießen mich vorwärts, bis ich vor der Truhe ankam. Ich hörte, wie die Werkzeuge auf der Bank beiseite geschoben wurden, dann drückte mich eine grobe Hand auf die Marterbank neben Jana hinunter. Die Bank war so niedrig, dass selbst ich zu den Richtern aufsehen musste. Ich warf einen Blick zu Jana hinüber. Da war ich also; zum ersten Mal im Leben auf der anderen Seite der Truhe. Jana schluckte und flüsterte: »Sie haben mir nichts getan.« Ich nickte und wartete vergeblich, dass meine Angst geringer wurde.

»Ihr seid Peter Bernward«, sagte der mittlere der Richter, ein noch junger Mann mit dunkler Gesichtsfarbe und bläulichen, peinlich rasierten Wangen in fehlerfreiem Latein. Es war eine Feststellung, keine Frage, und sie ersetzte, was immer in der Folterkammer als Begrüßungsritual üblich sein mochte.

Ich nickte.

»Ihr seid der Verfasser dieser Zeilen.« Er zog das Schreiben hervor, das ich mit einer der Säulen von San Lorenzo als Unterlage hastig hingeworfen hatte. Stepan Tredittore hatte es abgegeben; und offensichtlich war meine Vorhersage eingetroffen, dass er dabei nicht würde verhaftet werden. Er befand sich in einer glücklicheren Lage als wir. Ich nickte wieder. Es schien, dass die drei Männer nicht die Peinkommissare waren. Genauso schien es aber auch, dass ich dabei versagt hatte, Lorenzo de’ Medici mit meinem Brief zu ködern. Ich erkannte, dass ich noch einen zweiten Fehler begangen hatte: Ich hatte mich darauf verlassen, dass meine Einschätzung eines Mannes, dem ich ein einziges Mal im Leben gegenübergestanden hatte, richtig war.

»Wer seid Ihr?«, fragte ich.

»Mein Name ist Battista Frescobaldi.«

»Ich hatte diese Botschaft an Lorenzo de’ Medici geschickt, nicht an Battista Frescobaldi.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ser Lorenzo hat nicht die Zeit, jedes an ihn gerichtete Gefasel zu lesen.«

»Ich hatte ihn so eingeschätzt, dass er Gefasel von wichtigen Informationen unterscheiden kann.«

Jana starrte mich mit noch größerem Entsetzen an als vorhin, als sie mich zur Tür hatte hereinkommen sehen. Ich bemühte mich, ihrem Blick nicht auszuweichen. Meine Furcht vor einem eventuellen Verhör war nicht geschwunden, aber ich hatte das dringende Gefühl, dass mir gute Worte ebenso wenig weiterhalfen wie schlechte.

»Haltet Ihr das hier vielleicht für wichtige Informationen?« Frescobaldi glättete das Pergament und spähte hinein. Er war sichtlich wütend. »An Ser Lorenzo de’ Medici: Euer Gericht hält Unschuldige gefangen und versäumt es, die Schuldigen zu stellen. Die Verschwörung der Pazzi gegen Euer Haus ist nicht das einzige Komplott, das um den Tod Eures geschätzten Bruders geflochten wurde. Fragt den Kaufmann Antonio Pratini und fragt den Steinmetz, der bei der Porta San Frediano in dem Haus zwischen den Lagerstädeln lebt; oder lasst mich sie befragen in Eurer Gegenwart. Ich bin kein Verschwörer und kein Meuchelmörder, und meine Gefährten, die sich in der Gewalt Eures Gerichts befinden, sind es ebenso wenig. Ich verstehe Euren Schmerz und Euren Zorn; doch stellt Euch nicht mit den Kreisen auf eine Stufe, die Euren Kummer verursacht haben, und lasst Euch nicht zum Mord an Unschuldigen hinreißen. Ich vertraue auf Euch und Eure Urteilskraft. Zum Beweis meines Vertrauens werde ich mich in die Hände der Florentiner Behörden geben, noch bevor dieser Brief Euch erreicht. Euer Diener Peter Bernward.«

Ich nickte. »Das sind meine Zeilen.«

»Eine eindrucksvolle Prosa. Aber wenn Ihr mein Urteil hören wollt: weiter nichts.«

»Ich kann mich nicht erinnern, von Vertrauen in die Urteilskraft des Battista Frescobaldi geschrieben zu haben.«

Ich hörte Jana neben mir einatmen. Frescobaldi sprang auf und knallte mein Schreiben auf die Truhe. »Seid Ihr vom Teufel geritten, Mann?«, brüllte er. »Was bildet Ihr Euch ein! Seht Euch doch mal um, damit Euch klar wird, wo Ihr Euch befindet!«

»Habt Ihr den Kaufmann Antonio Pratini aufgesucht?«

»Seht Ihr ihn vielleicht irgendwo?«

»Und den Steinmetz?«

Frescobaldi grinste höhnisch. »Ihr meint das Haus, in dem eine verschlampte Vettel und ihre Gören leben und jeden bespucken, der sich in ihre Nähe wagt?«

»Habt Ihr den Mann nicht angetroffen?«, fragte ich.

»Dreimal dürft Ihr raten.«

»Vielleicht wäre es geraten gewesen, ein wenig auf ihn zu warten.«

»Meine Leute haben von der Mittagsstunde bis zum Vesperläuten in der Nähe auf ihn gelauert.«

Was er mir sagte, enthüllte unfreiwillig, wie viel Zeit vergangen war: mehr, als ich gehofft hatte. Es enthüllte auch noch etwas anderes.

»So habt Ihr ziemlich schnell auf ein Schreiben reagiert, das außer Prosa nichts enthält«, sagte ich. Frescobaldis Augen weiteten sich, und einen Moment lang wusste er keine Antwort. Dann begann er zu grinsen. Es war kein Grinsen, das frohe Gefühle in mir weckte. Ich hörte die Tür sich hinter meinem Rücken öffnen, und ein Mann mit dem charakteristischen Helm der Florentiner Stadtwache stapfte vorüber und flüsterte Frescobaldi etwas ins Ohr. Frescobaldis Grinsen erlosch und machte einer ungläubigen Miene Platz. Er warf mir einen scharfen Blick zu, dann winkte er den beiden Männern zu seinen Seiten. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen zu murmeln. Ich drehte mich zu dem Folterknecht um, dessen Hand auf Janas Schulter gelegen war, aber er hatte sich längst in eine Ecke der Kammer zurückgezogen und starrte ins Leere.

»Peter, bist du verrückt geworden?«, hauchte Jana. »Musst du ihn auch noch zur Weißglut bringen?«

»Ich muss ihn so weit bringen, dass er vor Wut nicht mehr weiterweiß und Lorenzo de’ Medici holt«, sagte ich tonlos. »Andernfalls sind wir erledigt.«

Jana musterte mich. »Mein Leben liegt in deinen Händen, ohne dass ich die geringste Vorstellung davon hätte, was du tun willst«, flüsterte sie.

Ich weiß es auch nicht. Ich improvisiere um unser Lehen.

»Keine Angst. Ich weiß genau, was ich tue. Vertrau mir.«

»Du lügst dich und mich an, Peter Bernward«, seufzte sie. »Aber ich vertraue dir trotzdem.«

»Sie haben uns nicht hierher gebracht, um uns dem peinlichen Verhör zu unterwerfen. Wenn sie das wollten, hätten sie schon lange angefangen.«

Jana warf dem Folterknecht in der Ecke einen angstvollen Blick zu. »Wofür ist er dann hier?«, flüsterte sie.

»Um uns zu ängstigen.«

»Famos. Ihre Taktik wirkt bei mir hervorragend.«

»Bei mir auch«, gestand ich.

Jana lächelte. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass du mich jemals in einer Situation wie dieser amüsieren könntest.«

Ich zuckte mit den Schultern. Die drei Richter waren offenbar mit ihrem Disput zum Ende gekommen. Einer von Frescobaldis Gefährten stand auf, warf uns einen Blick zu und schlüpfte zusammen mit dem Mitglied der Stadtwache aus dem Raum. Frescobaldi sah ihm hinterher, dann raffte er sich ebenfalls auf und stapfte zu der Stelle, an der das Seil herunterhing. Er hängte sich mit einer Hand in den Haken und schlug ein Bein über das andere. Zu einer anderen Zeit hätte die Pose lächerlich gewirkt. Ich bemühte mich, meine Augen nicht zu deutlich auf das Seilende zu richten.

»Was bringt Euch eigentlich dazu, den ehrbaren Kaufmann Antonio Pratini anzuklagen?«, fragte er mit schlauer Miene.

Ich hob die Brauen. »Ich wüsste nicht, dass ich ihn angeklagt hätte.«

Seine Miene zog sich wieder zusammen. »Ich kann doch wohl lesen«, knurrte er. »Oder sehe ich aus, als wäre ich zu dumm, Eure paar Zeilen zu verstehen?«

Ihn zu reizen und ihn zu beleidigen waren zwei Paar Stiefel. Ich antwortete nichts und versuchte, ein neutrales Gesicht zu machen. »Wenn Ihr ihn nicht anklagen wollt, warum habt Ihr ihn dann erwähnt?«

»Weil seine Aussage wichtig ist, um meine Version der Geschehnisse zu bestätigen.«

»Da Ihr darüber so sicher seid, wisst Ihr wahrscheinlich auch, welcher Art seine Aussage sein wird.«

»Selbstverständlich«, sagte ich.

»Weshalb gebt Ihr dann seine Aussage nicht selbst zum Besten?«

»Es ist ein Teil seiner Geschichte. Es wäre nicht richtig, wenn ich sie vor Euch ausbreiten würde. Er muss es selbst tun.«

Frescobaldi lachte kurz. »Und wenn er nicht will?«

»Holt ihn her und lasst ihn selbst entscheiden.«

»Peter«, sagte Jana drängend, »willst du allen Ernstes andeuten, Pratini habe unsere Rettung in der Hand?«

»Gewissermaßen will ich das, ja.«

»Mein Gott, wenn du irgendein Geheimnis von ihm weißt, das uns hier herausholen kann, dann gib es preis!«

Ich schüttelte den Kopf. »Das muss er tun.«

»Er hat doch überhaupt nicht die geringste Veranlassung, uns zu helfen. Nach der Sache in Venedig. Und wenn er erst erfährt, dass ich versucht habe, mich in seine Pläne mit der Werkstatt zu drängen…«

»Jana«, sagte ich ruhig, »das weiß er doch schon längst.«

»Würdet Ihr Eure Aufmerksamkeit vielleicht wieder mir zuwenden?«, fragte Frescobaldi sarkastisch. »Oder soll ich hinausgehen, um Euer Gespräch nicht zu stören?«

»Danke, aber das ist nicht nötig«, erklärte ich. Seine Wangen liefen rot an. Janas Blicke hingen immer noch ungläubig an meinen Lippen.

»Was willst du damit sagen?«, stieß sie hervor.

»Jana, wir müssen auf Pratini warten. Bitte hab Vertrauen.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Schultern sanken herab. Ich seufzte und wandte meine Aufmerksamkeit wieder Battista Frescobaldi zu, der auf meiner letzten Erwiderung kaute wie ein aufgebrachtes Pferd auf der Trense. »Wo ist Euer Kollege hingegangen?«, fragte ich ihn.

»Er prüft etwas nach.«

»Ist vielleicht der Steinmetz endlich aufgetaucht, nach dem ich Euch geschickt habe?«

Er überlegte so lange, dass ich dachte, er hätte die Frage nicht verstanden. Sein Blick irrte von seinem verbliebenen Beisitzer zu den Löchern in der Wand, zu uns und wieder zurück. Dabei fuhr er sich mit der Zunge über die Vorderseiten der Zähne, dass es aussah, als kröchen seine Gedanken in greifbarer Form in seinem Mund herum und suchten nach einem Ausweg.

»So könnte man sagen«, erklärte er schließlich langsam.

»Wie könnte man noch sagen?«

Er schnaubte und kämpfte nochmals einen kleinen Kampf mit sich.

»Man könnte sagen, dass man seine Leiche in der Nähe der Porta San Niccolò gefunden hat – mit durchschnittener Kehle.«

Ich starrte ihn an. Damit hatte ich nicht gerechnet. In der ersten Überraschung drängte sich mir die Frage auf die Zunge, ob er seine Lederschürze oder sein Wams und den hohen Hut getragen hatte. Die verschlampte Vettel und die Gören würden vergeblich darauf warten, dass ihr Familienoberhaupt wieder zurückkam. Ich dachte an Lapo Rucellais Tochter und seine Witwe, die vielleicht weniger dringlich, aber ebenso vergeblich auf dessen Rückkehr gewartet hatten.

Die Tür in unserem Rücken öffnete sich erneut, und eine neue, krächzende Stimme sagte in fehlerfreiem Latein: »Es ist an der Zeit, das Morden endgültig zu beenden.« Ich drehte mich um. Lorenzo de’ Medici stand in der offenen Tür, gekleidet in einen hochgeschlossenen, schwarzen Überwurf mit weiten Ärmellöchern, der an seiner breitschultrigen Gestalt herabhing wie die Schwingen eines dunklen Vogels. Er sah mir ins Gesicht. Wenn er mich von unserer kurzen Begegnung auf dem Platz vor San Lorenzo wiedererkannte, ließ er es sich nicht anmerken. »Könnt Ihr das, Peter Bernward?«

»Nein, Ser Lorenzo. Das könnt nur Ihr. Ich kann Euch lediglich helfen, den Hebel dazu in die Hand zu nehmen.«

Er betrachtete mich scharf. Schließlich wandte er seinen Blick Frescobaldi zu und nickte, und Frescobaldi zog sich zu der Truhe zurück, ohne das Wort nochmals an Jana oder mich zu richten. Lorenzo lächelte Jana an, bevor er mir wieder seine Aufmerksamkeit schenkte.

»Warum habt Ihr Euch freiwillig in diese Gefahr begeben?«, fragte er. »Wegen Florenz, das nicht Eure Heimat ist und das Ihr offenbar nur von seiner schlechten Seite erleben musstet? Um der Wahrheit willen? Um weitere Menschenleben zu retten?«

»Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, keines davon.«

Er lächelte erneut, und sein Lächeln ließ sein blasses, fleckiges Gesicht, seine lange, platte Nase und seine unangenehme Stimme vergessen. »Um der Liebe willen?«

Ich lächelte zurück. »Manchmal wachse ich einfach nur über mich selbst hinaus.«

Er warf den Kopf zurück und lachte; ein Geräusch, das an diesem Ort so unüblich war, dass selbst der Folterknecht aus seinem Halbschlaf emporfuhr und Lorenzo anstarrte.

»Ein derartiges Risiko geht man wahrscheinlich ausschließlich aus Liebe ein«, sagte er. »Was, wenn ich nun tatsächlich Euren Brief ignoriert hätte, anstatt im angrenzenden Raum zuzuhören, wie Ihr meinen treuen Freund Battista aus der Fassung zu bringen versucht habt?«

»Dann wärt Ihr nicht der Mann gewesen, als den man Euch schildert.«

»Die Leute könnten lügen.«

»Ich habe Euch auf dem Platz gesehen, als man Stefano di Bagnone und Antonio Maffei brachte«, sagte ich. Sein Gesicht wurde ernst. »Ich habe Eure Reaktionen beobachtet. Die Leute lügen nicht.«

»Und nur auf diese Einschätzung hin habt Ihr Euch verhaften lassen? Ihr habt jede Menge Mut, Herr Bernward.«

»Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt«, erklärte ich nüchtern, »ich hatte noch einen Notnagel.«

Er zog die Brauen hoch. Ich lächelte. Er lächelte nach einer Weile mit. »Mut, der sich mit Umsicht paart, ist keine schlechte Mischung. Sie führt dazu, dass einem manchmal ein Hintertürchen bleibt.« Lorenzo sah sich um, als würde ihm die Einrichtung der Kammer zum ersten Mal bewusst. »Kein guter Ort, um ein klärendes Gespräch zu führen. Darf ich Euch und Eure Gefährtin in mein Haus einladen?«

»Ihr wollt uns aus dem Gefängnis holen, ohne meine Geschichte vorher zu hören?«, fragte ich erstaunt.

Er lächelte freundlich. »Wenn ich sie nicht glaube, ist es einfach, Euch wieder hierher bringen zu lassen, nicht wahr? Bis es soweit ist, will ich mich an den Grundsatz halten: in dubio pro reo.«

»Ihr seid ein großzügiger Mann. Würdet Ihr Eure Großzügigkeit auch auf die Zofe meiner Gefährtin ausdehnen, die noch oben im Kerker sitzt und nicht weiß, was aus uns in der Zwischenzeit geworden ist?«

»Ihr bittet für einen Dienstboten?«, fragte er mit unbewegter Stimme.

»Hat ein Dienstbote weniger Angst um sein Leben als ein Herr?«

»Soeben habt Ihr mir die letzte Bestätigung gegeben, dass es nur rechtens ist, Euch anzuhören.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lorenzo der Prächtige anders denkt.«

»Ich höre diesen Namen nicht gerne. Ich bin nicht prächtiger als alle anderen. Aber Ihr habt Recht mit dem, was Ihr sagt.«

Ich stand auf und trat einen Schritt auf ihn zu. Ich hörte, wie Frescobaldi scharf einatmete und sein Kollege überrascht aufsprang. Lorenzo wich nicht einen Millimeter zurück. Ich streckte die Hand aus und hielt sie ihm hin. »Ich freue mich, Euch endlich unter Umständen die Hand geben zu können, die einer Begegnung zweier Menschen würdiger sind als vorher.«

»Was für eine Unverschämtheit«, hörte ich Frescobaldi murmeln. Lorenzo ergriff meine Hand und drückte sie kurz. »Wenn sich bestätigt, was Ihr angekündigt habt, dann werde ich öffentlich verkünden, was ich Euch hier schon jetzt sagen möchte: Es ist mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen.«

»Ich werde Euch nicht enttäuschen«, sagte ich.

Lorenzo trat beiseite und beugte sich zu Jana hinunter, die unserem Gespräch mit einer für sie geradezu unüblichen Fassungslosigkeit gefolgt war. Er streckte eine Hand aus und half ihr auf. Als sie vor ihm stand, bot er ihr seinen Arm und führte sie hinaus. »Darf ich Euch einladen, mir zu folgen?«, fragte er mich.

»Vergesst nicht, dass wir Antonio Pratini brauchen«, erinnerte ich ihn.

»Nicht mehr nötig«, sagte Jana, die bereits halb durch die Tür war. »Da ist er schon.«

Pratini stand draußen auf dem Gang, wo ihn Lorenzo de’ Medici hatte stehen lassen. Seine Ohren glühten vor Zorn, als er meiner ansichtig wurde.

»Ihr…«, zischte er aufgebracht.

»Der Bau eines Hauses rettet Eure Seele nicht«, sagte ich müde zu ihm. »Aber zwei Menschen vor dem Galgen zu bewahren tut es.«

 

Der Palast der Familie Medici, den ich bisher stets von außen und verschlossen gesehen hatte, beherbergte hinter seinen trutzigen Mauern die Spielwiese eines reichen, geistvollen Mannes. Wir -Lorenzo, Pratini, Jana, ich und Lorenzos fünf Mann starke Bewachung, die vor dem Gefängnistor auf ihn gewartet hatte – traten durch einen kurzen Bogengang in einen zweigeteilten Innenhof, dessen vordere Hälfte wie der Kreuzgang eines Klosters von Arkaden umgeben war und bis unter das Hausdach hinaufreichte; seine hintere Hälfte war ein heiterer, sonnendurchfluteter Garten, der anders als der im Hause Pratini nicht von einer Werkstatt dominiert wurde, sondern ausschließlich der Kontemplation zwischen Blumen und Hecken vorbehalten war. In den Arkaden standen auf Podesten oder Sockeln Büsten und Statuen, die auf mich als Laien ebenso hervorragend gearbeitet wirkten wie jede Figur, die ich in den Kirchen und auf den Plätzen dieser Stadt gesehen hatte. Unter einer Arkade stand das Original des David von Donatello. Selbst Pratini vergaß für einen Augenblick seinen Grimm und drehte den Kopf hin und her, um Lorenzo de’ Medicis Prachtstücke zu bewundern. Vielleicht fiel ihm auch der Unterschied zu seiner eigenen Sammlung auf: Lorenzos Stücke in den Arkaden seines Innenhofs kündeten von der Freude ihres Besitzers, die Arbeiten betrachten und bewundern zu können, wann immer es ihn danach verlangte. Die Ansammlung der Arbeiten in Pratinis Arbeitszimmer zeugte nur von der Besessenheit des Kaufmanns, mit Gewalt eine neue Stufe der Bildhauerkunst erreichen zu wollen. Die Wände des Innenhofs waren bis hinauf zum Balkenwerk der Dachkonstruktion mit goldfarbenen Ranken auf tiefblauem Untergrund bemalt.

»Hier hinauf«, sagte Lorenzo und deutete auf eine Treppe, die an der rechten Seite des Innenhofs hochstieg. Sie führte uns in eine enge, hohe Kammer, die rundherum mit einem atemberaubenden Fresko bemalt war, einem Zug von blendend geschmückten Aristokraten und Fürsten, der sich durch eine Landschaft aus weißem Fels und dunkelfarbenem Hintergrund wand. Ich sah erst auf den zweiten Blick, dass der Raum eine Kapelle war. Lorenzo schickte seine Soldaten hinaus, dann trat er vor eine Seite des Freskos, auf der die Spitze des Zuges geradewegs von der Wand in die Kapelle hereinzutreten schien. Er betrachtete die Gestalt eines Knaben auf einem prächtig herausgeputzten Pferd.

»Das bin ich als Zwanzigjähriger«, sagte er und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Tatsächlich ritt ich bei einem Turnier einmal ein Pferd, das dem hier ziemlich ähnlich sah. Alles andere ist eher unähnlich geraten. Das Porträt entspricht eher Giuliano. Er hielt sich auch mit der gleichen Grazie auf dem Pferderücken. Ich hänge eher darauf wie ein Sack Getreide.« Er seufzte und wandte sich um. »Ich habe bereits einige Porträts von Giuliano in Auftrag geben lassen, damit sein Andenken so gut wie möglich gewahrt bleibt. Für mich ist er in Ewigkeit hier festgehalten, der königliche junge Mann an der Spitze des Zuges der Heiligen Drei Könige. Und dabei hatte Benozzo Gozzoli gar nicht vor, ihn zu malen, als er das Fresko in Angriff nahm. So nahe standen wir uns, dass sein Gesicht Gestalt annahm, als Gozzoli meines zu schönen versuchte.«

»Ich verstehe Euren Schmerz«, sagte Jana, die als Erste das Schweigen brach, in ihrem vorsichtigen, umständlichen Latein.

Lorenzo antwortete ihr nicht. Er senkte den Kopf, und ich sah Tränen in seinen Augen glitzern, bevor er sich abwandte und so tat, als würde er das Fresko nochmals in Augenschein nehmen. Als er uns seine Aufmerksamkeit wieder zuwandte, war sein Gesicht unbewegt. Er deutete auf die gepolsterten Bänke.

»Setzt Euch«, sagte er. »Es ist Zeit, dass ich höre, was Ihr mir zu sagen habt.«

»Wollt Ihr keine Zeugen hinzubitten? Einen Richter, einen Notar? Euren Freund Frescobaldi?«, fragte ich.

»Nein. Wen sonst solltet Ihr zu überzeugen suchen als mich?«

»Wie Ihr wollt.«

Ich ließ Antonio Pratini den Vortritt, und so fand er sich zwischen Jana und mir wieder, was ihm sichtlich unangenehm war. Lorenzo blieb stehen. Das Fresko mit dem Zug der Heiligen Drei Könige hinter sich aufragend und die Gestalt des Knaben auf dem reich geschmückten Pferd, diesen Lorenzo-Giuliano, der dem schmeichlerisch bemühten Pinsel des Künstlers entsprungen war, mit seinen breiten Schultern verdeckend, faltete er die Hände vor dem Bauch und sah uns aufmerksam an. Ich erwiderte seinen Blick, ohne etwas zu sagen. Nach einer Weile wurde Antonio Pratini nervös und sah von Lorenzo zu mir und zurück. Als auch Lorenzo begann, die Stirn zu runzeln, zuckte ich mit den Schultern und sagte: »Ich habe schon im Gefängnis erklärt, dass es nicht meine Geschichte ist.«

Lorenzos Kopf ruckte herum zu Pratini, der eine Hand wütend zur Faust ballte. »Wollt Ihr mit dieser Farce schon wieder anfangen?«, rief Pratini und funkelte mich aufgebracht an. »Ihr habt den Bogen schon im Gefängnis damit überspannt.«

»So wart Ihr also in Begleitung von Ser Lorenzo in jenem Raum neben der Verhörkammer? Umso besser; dann könnt Ihr Euch lange Vorreden ersparen.«

»Es gibt nichts, was hier vor aller Ohren ausgebreitet werden sollte.«

»Vor aller Ohren?«, sagte ich erstaunt. »Jana hat ein Recht darauf zu erfahren, wie Ihr mit ihr gespielt habt; ich weiß es ohnehin; und Ser Lorenzo werdet Ihr gewiss nicht als jedermann bezeichnen wollen.«

»Ich bin dieser Künste überdrüssig«, brummte Lorenzo de’ Medici. »Ich habe keine Zeit zuzuhören, wie Ser Bernward versucht, Ser Pratini so lange zu reizen, bis er mit seiner Geschichte herausplatzt. Wenn Ihr Herren vergessen habt, dass es um den Mord an meinem Bruder geht, dann will ich Euch hiermit daran erinnern. Wenn Ihr etwas zu sagen habt, Ser Pratini, das beweisen kann, dass diese beiden unschuldig an der Verschwörung sind, dann lasst es hören. Ihr seid ein hoch geschätzter Bürger dieser Stadt, und es ist Eure Pflicht, auch so zu handeln. Was Ihr sagt, wird diesen Raum ohnehin nie verlassen.«

»Es geht niemanden etwas an«, sagte Pratini halsstarrig. Ich erkannte, dass er sich genötigt fühlte, die ganze Geschichte zu erzählen, angefangen bei seinem schrecklichen Fehler während des Austritts aus dem Kloster. Für ihn gehörte die Geschichte zusammen; er konnte sich nicht vorstellen, dass der letzte Teil allein auch einen Sinn machte. Vielleicht tat er das auch nicht, wenn man die Vorgeschichte nicht kannte. Ich kannte sie. Für Lorenzo de’ Medici war sie nicht interessant; und um Janas Leben zu retten, war sie völlig unerheblich. Ich sagte: »Ser Pratini hat sich aus persönlichen Gründen entschlossen, ein Waisenhaus zu errichten.« Pratini fuhr herum und öffnete den Mund. »Eines, das auch nach dem Ableben seines Stifters weiter bestehen wird«, fügte ich rasch hinzu. »An dieser Stelle sollten wir einsetzen.«

Pratini klappte den Mund wieder zu und musterte mich. Ich gab seinen Blick offen zurück. Er schnaubte unzufrieden, aber er betrat die Brücke, die ich ihm gebaut hatte.

»Es ist zugleich ein Findelhaus und eine Werkstatt«, erklärte er widerwillig. »Die Kinder erhalten eine vernünftige Ausbildung als Maler, Bildhauer oder Goldschmiede. Wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind, haben sie die Verpflichtung, fünf Jahre lang weiter für das Findelhaus zu arbeiten. Diese Arbeiten werden an Interessenten verkauft oder sind Auftragsstücke. Der Verdienst kommt bis auf einen geringen Teil dem Findelhaus zugute. Davon wird es sich erhalten.«

»Ihr wollt die Kinder arbeiten lassen?«, fragte Lorenzo erstaunt.

»Ser Lorenzo, in allen Findelhäusern müssen die Kinder arbeiten. Selbst in Eurem. Der Unterschied ist nur, dass in meinem Findelhaus die Verdienste dieser Arbeit nicht in die Taschen der Verwalter fließen, sondern den Kindern und dem Fortbestehen des Hauses zugute kommen. Außerdem erhalten sie eine Ausbildung, für die sie anderswo den Lehrpfennig bezahlen müssten.«

»Also gut. Weiter.«

»Es gibt nicht so viel zu erzählen, im Gegensatz zu dem, was uns Ser Bernward weismachen will. Diese Frau, Jana Dlugosz, die mich bereits in Venedig bei einem Geschäft übervorteilte, versuchte, mich auch bei dieser Sache auszustechen und die Errichtung des Findelhauses mit einigen meiner Geschäftskonkurrenten selbst zu finanzieren, um sich nachher an den Gewinnen zu bereichern…«

»Natürlich wollte ich, dass ein Teil des Verdienstes auf die Konten meines Hauses geht!«, rief Jana ungehalten. »Aber ich hätte das Geschäft mit den Arbeiten der Kinder so aufgezogen, dass sich die Gewinne vervielfacht hätten. Es wäre sogar für die fertig ausgebildeten Künstler ein Anteil übrig geblieben, nicht nur für das Findelhaus…«

»Das ist gar nicht von Belang, Jana«, unterbrach ich sie. »Lass ihn fertig erzählen.«

»Er stellt meine Motive ganz anders dar…«

»Lass ihn fertig erzählen«, wiederholte ich ruhig. Sie machte ein verdrossenes Gesicht. Lorenzo forderte Pratini mit einer Handbewegung zum Weitersprechen auf.

»Die Geschichte ist fast zu Ende«, knurrte dieser. »Ich bemerkte, was sie vorhatte, und beschloss, sie weitermachen zu lassen. Tatsächlich hat sie mir sogar Arbeit abgenommen. Zu gegebener Zeit wollte ich mich wieder einbringen und ihr das Projekt aus den Händen nehmen. Der ruchlose Aufstand vom Ostersonntag hat jedoch all meine Pläne über den Haufen geworfen.«

»Ist das alles?«, fragte Lorenzo. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was das mit Schuld oder Unschuld von Monna Jana zu tun hat.«

Pratini zuckte mit den Schultern. »Es war seine Idee, nicht meine«, sagte er und wies auf mich. Ich seufzte.

»Pratinis Geschichte ist notwendig, um alles zu verstehen«, erklärte ich. »Man muss sie allerdings richtig erzählen. Ihr habt geschickt um alles herumgeredet, was wichtig ist, Ser Pratini. Man kann Euch noch nicht mal der Lüge bezichtigen.«

»Wollt Ihr mich zu allem Ungemach auch noch beleidigen?«

»Ihr beleidigt Euch selbst mit Eurem Herumgezeter. Ihr habt immer noch nicht erkannt, dass es hier um mehr geht als um persönliche Eitelkeiten. Warum sagt Ihr nicht, dass Ihr in dem Moment, in dem Ihr erkanntet, was Jana vorhatte, ihre Handlungen bis ins kleinste Detail gesteuert habt?«

Jana blickte überrascht auf. Pratini machte ein wütendes Gesicht, aber er widersprach nicht.

»Der springende Punkt ist eine Aussage von Euch«, sagte ich. »Jana hätte Euch Arbeit abgenommen. Ihr müsst es ein wenig anders formulieren: Ihr habt erkannt, dass Jana in der Lage sein würde, Kontakte zu knüpfen, die Euch verwehrt blieben. Ihr wolltet die Werkstätte, die in Eurem Waisenhaus entstehen sollte, hauptsächlich als Bildhauerwerkstatt aufziehen – daraus habt Ihr auch keinerlei Hehl gemacht. Janas Pläne gingen darüber hinaus; sie wollte vor allem eine Goldschmiede daraus machen, um den unersättlichen Hunger des Klerus unter Papst Sixtus nach Gold und Schmuck zu befriedigen, was ein viel lukrativeres Geschäft darstellt. Darauf seid Ihr erstens nicht gekommen, und zweitens hättet Ihr nicht die Verbindungen gehabt. Mit Benozzo Cerchi und Paolo Boscoli wart Ihr verfeindet. Jana nicht. Zudem standen ihr die Anteile ihres Hauses an den Gold- und Silberminen bei Krakau zur Verfügung. Ihr wart selbstverständlich schlau genug, diese Umstände zu erkennen. Also habt Ihr Euch in den Hintergrund begeben, um Jana die Kontrakte schließen zu lassen und ihr danach mit juristischen Spitzfindigkeiten das Projekt wegzunehmen. Ihr habt sie Cerchi empfohlen; ausgerechnet Ihr, sein Geschäftskonkurrent. Ihr hättet die Empfehlung auch versteckter aussprechen können, aber Ihr wusstet genau, dass Cerchi sich niemals für sie als Fremde interessiert hätte, wenn die Empfehlung nicht aus außergewöhnlicher Quelle gekommen wäre. Wie Ihr es geschafft habt, dass sie sich Bieco Alepri als Notar aussuchte, weiß ich nicht. Ich nehme an, Ihr habt ein paar Leute in Venedig auf Eure Seite gezogen, sodass sie Jana entsprechend informierten. Alepri sollte von Anfang an die Verträge so formulieren, dass sie die Lücken aufwiesen, durch die Ihr in das Projekt eingestiegen wärt. Ich weiß, dass Ihr mit ihm in geschäftlicher Verbindung standet, noch bevor er von Ser Lorenzo wegen seiner Betrügereien bei der Marktaufsicht bestraft wurde. Wahrscheinlich war er sogar froh darüber, dass einer seiner alten Geschäftspartner wieder mit ihm Kontakt aufnehmen wollte, und hätte alles für Euch getan, was sein ohnehin strapazierfähiges Gewissen nicht zu sehr belastet hätte.«

Pratini und Jana machten das gleiche bestürzte Gesicht, während sie meinen Worten folgten. Es war fast erheiternd. Pratini war fassungslos, dass jemand seine eigenen Gedanken darlegte; Jana war ebenso fassungslos, dass er sie so mühelos benutzt hatte, ohne dass ihr das Geringste aufgefallen war. Lorenzo de’ Medici hatte sich an die Wand gelehnt und hörte mit gesenktem Kopf zu. Ich holte Atem und stürzte mich wieder hinein, obwohl es mir nicht viel Spaß machte, gegen Janas langsam aufsteigende Selbstverachtung anzureden.

»Noch in Venedig fädelte Jana den Kontakt zu Bieco Alepri ein, der sich von ihrem Plan begeistert zeigte.« Ich warf Jana einen scharfen Blick zu, denn an dieser Stelle musste ich meine Fantasie sprechen lassen, aber sie schüttelte nicht den Kopf. »Er empfahl ihr als Architekten Umberto Velluti. Warum Ihr Velluti nicht in Euer Doppelspiel eingeweiht habt, Ser Pratini, weiß ich nicht – vielleicht hattet Ihr Angst, er würde sich verplappern, und ohnehin habt Ihr damit gerechnet, dass er sich auf Janas Angebot einlassen und Euch ›verkaufen‹ würde. Velluti tat, was Ihr erwartet habt, und hatte dabei ein so schlechtes Gewissen, dass er später, als ich ihn aufsuchte, Hals über Kopf zu Rudolf Gutswalter rannte, um ihm seine vermeintliche Verfehlung zu beichten. Auf dem Weg von Venedig nach Florenz tätigte Jana bereits die ersten Transaktionen für Alepri und Velluti, damit sie mit ihren Aufgaben begannen. In Florenz selbst sandte sie Briefe aus: je einen an Alepri und Velluti, dass sie nun angekommen sei und die weiteren Einzelheiten des Projekts besprechen wolle; einen an Francesco Nori, der schon geraume Zeit ihre Konten verwaltete und mit dem sie sicherlich über eine Ausweitung ihres Kreditrahmens sprechen wollte; und zwei an Paolo Boscoli und Benozzo Cerchi, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen.«

»Das sind die Briefe, die im Bargello hängen«, sagte Lorenzo.

Ich nickte. »Ich werde später noch erklären, warum es genau diese beiden sind.«

»Boscoli hat gestanden, dass er die Verschwörung mitfinanziert hat«, erinnerte Lorenzo.

»Ja, und Benozzo Cerchi ist an den Folgen der Folter gestorben, ohne dies jemals zuzugeben. Dass er unschuldig war und Boscoli schuldig, ist reiner Zufall, Ser Lorenzo.«

Er neigte den Kopf, ohne mir zuzustimmen, aber auch ohne mir zu widersprechen. Ich sah Jana in die Augen. »Habe ich bis jetzt die Wahrheit gesprochen?«, fragte ich sie. Sie nickte langsam.

»Wisst Ihr«, sagte ich zu Pratini und ignorierte die kalte Wut, die seine Gesichtszüge zu Stein hatte werden lassen, »dass ich Euch beneide für die Treue Eurer Gefährten? Eure Schwester Beatrice hat nur Euer Wohlergehen im Sinn und es über alle ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle gestellt. Und dabei wette ich, dass Ihr ihr nicht ein Sterbenswörtchen über Euer doppeltes Spiel mitgeteilt habt. Euer Freund und Partner Rudolf Gutswalter dagegen wurde sicherlich von Euch eingeweiht. Ich kenne ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er von solchen Finten nicht viel hält – dennoch hat er treu zu Euch gehalten und sogar noch versucht herauszufinden, ob Jana wirklich schuldig ist, damit Ihr die entsprechenden Schritte unternehmen und Euch von ihr distanzieren könntet, sollten ihre Geständnisse sie mit Euch in Verbindung bringen. Bei all dem hat er sich nur ein einziges Mal verplappert, als es ihm um die Unwägbarkeiten einer Bekanntwerdung der Geschäftsverbindung zwischen Euch und Jana ging – wo eigentlich gar keine Verbindung da sein konnte. Ich an Eurer Stelle wäre stolz auf solche Freunde.«

Er brummte etwas, schien jedoch nicht gewillt, darauf einzugehen.

»Wenn ich höre, dass sogar Eure Freunde mir helfen wollten«, zischte Jana, »und dann sehe, wie Ihr Euch hier ziert, ohne dass Euch irgendeine Gefahr droht, wird mir übel.«

»Übertreibt nur nicht, werte Jana«, rief er. »Ich bin Euch nichts schuldig. Ich habe mich lediglich zur Wehr gesetzt, als ich merkte, dass jemand mein Lebenswerk an sich reißen wollte.«

»Wie hätte ich ahnen sollen, dass es das war?«, rief Jana. »Warum habt Ihr mich nicht ins Vertrauen gezogen? Ich wäre mit Freuden Euer Partner geworden.«

»Warum hätte ich das tun sollen? Nach Eurem Verhalten in Venedig?«

»Ihr habt doch Ser Mocenigo einen Nachlass versprochen, wenn er uns so lange wie möglich hinhält. Ist das vielleicht feines Gebaren?«

»Es ist ganz üblich«, erwiderte Pratini herablassend.

»Es ist hinterhältig, und ich habe Euch nur mit Euren eigenen Waffen geschlagen.«

»Ihr habt noch eins draufgesetzt. Ihr wart nicht zufrieden damit, dass Ihr mich in Venedig ausgebootet hattet; Ihr wolltet es mir so richtig zeigen.«

»Ihr habt es ja noch rechtzeitig gemerkt und mir noch übler mitgespielt als ich Euch.«

»Ich höre hier nichts als das würdelose Gezänk zweier Kaufleute, die sich gegenseitig das Fell über die Ohren gezogen haben und sich dafür nun anfeinden«, sagte Lorenzo de’ Medici unwillig.

»Es tut mir Leid«, erklärten Pratini und Jana wie aus einem Mund und sahen sich danach erstaunt an.

»Als wir uns vor dem Dom trafen«, seufzte Pratini dann, »sagte ich zu Eurem Gefährten, dass es Euch nicht gelingen würde, mich hier in Florenz über den Tisch zu ziehen. Ich ahnte nicht, dass er es an Eurer Stelle tun würde.«

»Ich habe Euch nicht über den Tisch gezogen«, erklärte ich. »Es ging mir nur darum, Jana zu retten.«

»Ihr hättet mich dabei aus dem Spiel lassen können. Ihr wart es mir schuldig. Ich hätte Euch von Anfang an den Behörden ausliefern können. Ihr könnt mir dankbar sein, dass ich es nicht getan habe und dass ich mich von Euch diesem würdelosen Verhör habe aussetzen lassen.«

»Nein, Ser Pratini«, sagte ich steif. »Ihr wart es Jana schuldig, hier die Wahrheit auszubreiten, ganz gleich, welche Ansichten Ihr darüber habt.«

»Meine Pläne hatten hiermit nichts zu tun. Sie gingen niemanden etwas an.«

»Eure Pläne hatten sicherlich nichts damit zu tun. Aber Eure Feigheit.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«, fuhr er auf.

»Ihr wusstet doch genau, dass Jana nichts mit der Verschwörung zu tun hatte. Sie konnte ja keinen Schritt tun, ohne von Euch überwacht zu werden. Und bei vollem Bewusstsein dessen, dass sie unschuldig auf die Folter wartete, habt Ihr nicht eingegriffen und Euch für sie eingesetzt aus Angst, selbst in Schwierigkeiten zu geraten und Euren ach so geheiligten letzten großen Plan vielleicht nicht in die Tat umsetzen zu können. So sehr wart Ihr auf die Rettung Eurer Seele bedacht, dass Ihr die schönste Möglichkeit dazu gar nicht mehr gesehen habt. Eure Pläne mit dem Waisenhaus zu verfolgen auf Biegen und Brechen war nichts anderes als Euer Verhalten damals, als Ihr akzeptiertet, einen unfähigen, korrupten Mann als Hüter der Waisenkinder einzusetzen. Wahre Größe wäre gewesen, Euer Vorhaben aufs Spiel zu setzen und dafür Jana zu helfen. Gott hat Euch eine zweite Chance gesandt, Euren Fehler wieder gutzumachen, und Ihr hättet sie beinahe wieder nicht ergriffen. Und jetzt macht Ihr mir Vorwürfe, dass ich Euch dazu gezwungen habe, es zu tun, und verlangt noch, dass ich Euch dankbar sein soll.«

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sein Gesicht verlor den störrischen Zug und wurde auf einmal nachdenklich, als hätte ein Lichtstrahl einen dunklen Raum erhellt und er festgestellt, dass er sich in einem ganz anderen Zimmer befand als erwartet und keine Ahnung hatte, wie er dorthin geraten war.

»In einem hat Ser Pratini immer noch Recht«, sagte Lorenzo, der dem Wortwechsel interessiert gefolgt war. »Seine Geschichte beweist nicht die Unschuld Eurer Gefährtin. Da sind immer noch die Briefe im Bargello.«

»Ich habe nicht gesagt, dass sie ihre Unschuld beweisen würde. Pratinis Geschichte ist nur ein Teil der ganzen Sache.«

»Und was ist der andere Teil?«

»Dazu müssen wir eine andere Geschichte anhören.«

Ich hatte erwartet, dass Lorenzo frustriert die Arme in die Höhe werfen würde. Stattdessen hob er nur eine Braue. »Ihr macht es spannend«, erklärte er. »Wessen Geschichte ist es diesmal?«

»Die eines Mannes, der sich seit gestern zitternd vor Angst in der Kirche San Lorenzo verkriecht. Sein Name ist Stepan Tredittore. Ich möchte Euch bitten, ihn in meinem Namen in Euer Haus einzuladen. Aber Ihr müsst ihm freies Geleit zusichern, wenn Ihr ihn nicht mit Gewalt aus dem Asyl holen wollt.«

 

 

4.

 

N

achdem Lorenzo de’ Medici die entsprechenden Anweisungen erteilt hatte, senkte sich etwas wie ein peinliches Schweigen über die Anwesenden in der Kapelle. Pratini betrachtete nachdenklich die Figuren des Freskos, ohne sie zu sehen, und Jana saß neben ihm und starrte auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. Ich sah sie an und wünschte mir sehnlichst, sie in die Arme nehmen zu können. Sie schien nicht erregter als bei einem Geschäftsabschluss, aber ich wusste, dass ihr nur zu klar war, dass es sich beim Einsatz diesmal um ihr Leben handelte. Die Bank wurde mir zu eng; ich stand auf und streckte meine langen Beine und trat auf Lorenzo de’ Medici zu, der in der Tür stand und wie ich Jana und Pratini beobachtet hatte.

»Könnt Ihr mir eine Frage beantworten?«, erkundigte ich mich.

»Lasst sie hören, dann sehen wir weiter.«

»Ich habe alles auf die Hoffnung gesetzt, dass mein Brief Euch ins Gefängnis locken würde«, sagte ich. »Ich möchte nur wissen, ob meine Zeilen es wirklich vermocht haben oder ob Ihr vorher versucht habt, Erkundigungen über mich einzuholen.«

Er sah zu Jana und Pratini hinüber, dann nahm er meinen Arm und steuerte mich nach draußen. Offensichtlich war auch ihm nach frischerer Luft zumute, denn er stieg langsam die Treppe zum Innenhof hinunter, ohne mich loszulassen.

»Es stimmt, ich habe mich erkundigt, wer Ihr seid«, räumte er ein. »Nur ein Narr geht zu einem wichtigen Gespräch, ohne sich darauf vorzubereiten.«

»Wen habt Ihr gefragt? Ferdinand Boehl, den Zunftrektor des Fondaco dei Tedeschi?«

»Nein, ich habe den Menschen gefragt, auf dessen Zeugnis ich am meisten Wert lege – und auf den Ihr mich in Eurem Schreiben förmlich hingewiesen habt.«

»Ich verstehe nicht. Wer sollte das sein? Antonio Pratini?«

Er schüttelte den Kopf. Ich verstand plötzlich. »Beatrice.«

»So ist es.«

Ich war einigermaßen fassungslos. »Was hat sie über mich gesagt?«

»Nur drei Worte. Sie liebt Euch.« Sein Gesicht blieb bei seinen Worten völlig unbewegt. Aus seinen Augen konnte er seine Gefühlsaufwallung nicht verbannen. »Ich nehme an, Ihr wisst, was ich selbst für sie empfinde.«

»Und dennoch habt Ihr…?«

»Dennoch? Gerade deswegen.«

»Das beschämt mich«, erklärte ich. »Hat sie Euch mitgeteilt, wie meine Gefühle für sie sind?«

»Ja. Ich weiß nicht, ob es mir Leid tun oder mich erleichtern soll. Dass Ihr es ihr gesagt habt, gereicht Euch zur Ehre.«

»Ich war nur ehrlich. Sie hat nichts weniger verdient.«

»Ihr hättet sie benutzen können, um mit Eurem Anliegen schneller an mich heranzukommen. Es hat noch keine Gelegenheit gegeben, in der ich nicht auf ihr Urteil gehört hätte.«

Ich starrte ihn an. Irgendwo im Hintergrund meines Gehirns hörte ich jemanden irre kichern. »Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt«, stieß ich hervor, »ich habe nicht im Traum an diese Möglichkeit gedacht.«

Lorenzo nickte, dann entschuldigte er sich und eilte einem Mann hinterher, der ihm von einer anderen Tür aus zugewinkt hatte. Ich schritt durch den Innenhof, um in den kleinen Garten zu gelangen; schon nach wenigen Schritten tauchte ein Bewaffneter hinter einer der Säulen auf, die die Arkaden trugen, und beobachtete mich aus einer Entfernung, die es ihm leicht gemacht hätte, mich mit seinem Spieß zu treffen, wenn ich etwa zu fliehen versucht hätte. Lorenzo de’ Medici mochte so höflich sein wie der gnädigste Fürst, aber wir waren immer noch Gefangene, und unsere Unschuld zu beweisen war eine Aufgabe, die ich noch nicht gelöst hatte. Der Wächter hinderte mich nicht daran, in den Garten zu gehen. Der Himmel darüber war von einem hellen Blau überzogen, das an einer Seite bereits einen goldgelben Schimmer aufwies. Der Garten lag in rauchblauen Schatten und verströmte die Hitze, die er während des Tages eingefangen hatte, langsam in den Abendhimmel. Aus einem der oberen Fenster drang das laute Weinen eines kleinen Kindes. Giulianos Erbe konnte noch nicht auf der Welt sein. Ich drehte mich um und sah Lorenzo de’ Medici, der neben einer seiner Statuen stand und mich beobachtete. Er richtete den Blick zu dem Fenster, aus dem das Weinen drang.

»Contessina«, sagte er fast zärtlich. »Meine jüngste Tochter. Sie ist gerade sechs Wochen alt. Donna Clarices Besuch bei Giulianos Bahre gestern war der erste öffentliche Auftritt meiner Gemahlin nach der Geburt. Die Kleine ist sehr zart, eine Elfe eher denn ein Menschenkind. Giuliano hätte seine Freude mit ihr gehabt. Doch sie wird ihren Onkel niemals sehen. Und er nicht mehr seine jüngste Nichte und nicht sein eigenes Kind.« Er senkte die Augenbrauen, und sein Gesicht verschloss sich wieder. »Folgt mir, ich möchte Euch etwas zeigen.«

»Wo bleiben Eure Leute mit Stepan Tredittore?«, fragte ich beunruhigt. Er reagierte nicht darauf, sondern winkte mich durch eine kleine Tür in einen Keller hinunter. Es schien sich um einen leer stehenden Lagerraum zu handeln, der dunkel, kalt und trocken war. Ich kannte den Mann, der neben dem Soldaten mit der Fackel stand und Lorenzo erwartungsvoll entgegensah: Es war der eine der beiden Begleiter von Battista Frescobaldi, der uns mitten unter der Befragung verlassen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Mann, der auf einem Brett auf dem Boden lag und dessen neue Schuhe unter einem Laken hervorsahen, ebenfalls kannte. Der Soldat mit der Fackel bückte sich und zog das Laken weg, und das tote Gesicht meines ungeschickten Verfolgers blickte an die niedrige Kellerdecke.

Er hatte ziemlich viel geblutet. Jetzt war kein Blut mehr vorhanden oder die Reste erstarrt. Er hatte eine blassgelbe Haut, in der die Narben in seinen Wangen wie bläuliche Knoten wirkten. Unterhalb seines Kinns war etwas wie ein zweiter, mit Blut verbackener Mund. In der geruchslosen Kellerluft strömte er einen Hauch von Schlachthof aus. Er trug weder seine Lederschürze noch sein Wams oder den hohen Hut. Er trug seine neuen Schuhe. Sie sahen an ihm als Totem nicht passender aus als an ihm als Lebendem. Außer dem Schnitt durch die Kehle wies er keine Verletzungen auf. Er hatte seinen Mörder gekannt und ihm arglos den Rücken zugewendet.

»Das ist der Mann, den Ihr ebenfalls herzitieren wolltet?«, fragte Lorenzo de’ Medici.

»Ja.«

»Mein medicus hat ihn bereits untersucht. Er ist seit gestern Abend tot. Was hat er mit der Sache zu tun?«

»Er hat mich mehrmals verfolgt.«

»Wie, verfolgt. Hat er Euch gejagt?«

»Nein, er hat meine Schritte beobachtet und ist mir nachgeschlichen. Ich konnte ihn jedes Mal abhängen, doch er versuchte es stets aufs Neue.«

»Er war ein arbeitsloser Steinmetz aus San Frediano, dem Arbeiterviertel drüben in Oltr’ Arno.«

»Ich weiß.«

»Wisst Ihr auch, was ihn veranlasst hat, Euch zu beobachten?«

»Ich nehme an, er wurde dazu beauftragt.«

»Von wem?«

»Ich würde gerne mit Stepan Tredittore sprechen, bevor ich Euch meine Gedanken klarlege.«

»Ihr seid Euch ziemlich sicher, dass meine Geduld so lange dauert, wie Ihr braucht, um Euren Knoten zu entwirren«, sagte Lorenzo, und es war die erste Warnung, seine Großmut nicht zu strapazieren. »Es ist Euch doch klar, dass ich dieses Spiel nur wegen eines einzigen Menschen mitmache.«

»Ich habe Tage gebraucht, um alles zu verstehen«, murmelte ich. »Es ist nicht so einfach, eine Beweisführung aufzubauen, wenn die Zeugen alle so störrisch sind wie Antonio Pratini.«

»Welchen Widerstand erwartet Ihr denn von diesem Stepan Tredittore?«

»Etwas weniger. Er hat seine große persönliche Niederlage bereits hinter sich. Er dürfte über nicht mehr viel Starrsinn verfügen.«

»Dann gehen wir wieder hinauf in die Kapelle. Er ist schon lange dort und wartet auf Euch.«

»Ihr habt ihn zu Jana in die Kapelle gebracht und dann eine Weile dort allein gelassen?«

»Pratini ist doch oben, außerdem eine meiner Wachen. Es konnte nichts passieren, wenn Euch das Sorgen macht.«

»Nein, im Gegenteil: Wenn die Mauern seiner Sturheit vorher zu bröckeln begannen, dann habt Ihr sie damit sturmreif geschossen. Ein kluger Zug, Ser Lorenzo.«

Er zuckte verwirrt mit den Schultern, aber dann nickte er dem Mann mit der Fackel zu, das Laken wieder über den Toten zu breiten, und ließ mir mit seiner nie nachlassenden Höflichkeit den Vortritt auf der Treppe.

 

Stepan Tredittore stand gleich hinter der Tür wie der sprichwörtliche Sünder, der nicht die Schwelle der Kirche übertreten kann. Bei unserer Ankunft fuhr er herum. Er bemerkte zuerst mich, und über sein Gesicht zuckte das Mienenspiel eines Mannes, der zum Richtplatz geführt worden ist und jetzt mit letzter Hoffnung bemerkt, dass er den Henker persönlich kennt. Dann sah er Lorenzo de’ Medici hinter mir die Treppe heraufkommen, und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich in Bestürzung. Ich nickte Jana zu, die Tredittore argwöhnisch beobachtete, und Pratini, der verdrossen dasaß und es vorzog, weder mir noch Lorenzo einen Blick zu gönnen. Dann packte ich Tredittore am Arm und stieß ihn grob in die Kapelle hinein.

»Rasch«, sagte ich. »Erzählt es uns.«

»Was meint Ihr?«, keuchte er und versuchte, sich nicht zu ducken. »Ihr wisst, was ich meine.«

Er sah sich um. Lorenzo de’ Medici war in der Tür stehen geblieben und betrachtete ihn mit verschränkten Armen. Janas Blicken wich Tredittore aus, und Pratini hatte nur kurz den Kopf gehoben, als ich ihn gepackt hatte. Seine Augen irrten wieder zurück zu mir.

»Warum?«, rief er plötzlich. »Warum soll ich es noch mal erzählen? Ihr habt es doch schon sicher lang und breit ausgewalzt!« Er ballte die Fäuste und fuchtelte damit in der Luft herum, und seine Stimme wurde immer lauter. Die Angst, die ihn seit gestern niedergedrückt hatte, fand ein Ventil. Er begann zu schreien. »Habt Ihr ihr nicht erzählt, dass ich ihr Geld genommen habe, um mich dem feinen Kardinal anzudienen? Was hat sie gesagt? Das Geld ist weg, und niemand hatte was davon außer diesem Kuttenträger! Was wollt Ihr denn noch – dass ich mich vor ihr auf den Boden werfe, möglichst noch vor Zeugen? Was wird Lorenzo der Prächtige davon halten, he? Glaubt Ihr, ich habe nicht genug für meine Dummheit gebüßt? Was denkt Ihr, wie schön es ist, sich in einer Kirche zu verstecken, wenn draußen die Soldaten mit einem Haftbefehl herumlaufen, und mit jeder Türöffnung erwartet man sein letztes Stündlein.« Er tat einen tiefen Atemzug und riss sich zitternd zusammen, um nicht vollends hysterisch zu werden. Seine Brust hob sich wie unter einem unterdrückten Schluchzen.

»Herr Tredittore«, sagte Jana mit erzwungener Ruhe, »ich habe zwar kein Wort verstanden von dem, was Ihr gesagt habt, aber ich habe fast eine ganze Woche an einem Ort verbracht, wo bei jedem Türöffnen ein Unglücklicher zur Folterbank geführt oder davon wieder zurückgebracht wurde, und jedes Mal erwartete ich, dass ich nun meinen Gang würde antreten müssen. Schreit nicht herum; Ihr habt es nicht nötig.«

Tredittore starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an, während langsam eine heiße Röte seinen Hals heraufkroch. Seine Fäuste wurden schlaff. Jana wandte sich mir zu. »Was hat er gemeint?«

»Ich will nicht, dass er es sagt«, stieß Tredittore hervor.

»Dann sagt es selbst«, knurrte ich.

Tredittore biss die Zähne zusammen. Dann bellte er in abgehackten Worten sein Geständnis über den Bestechungsversuch an Kardinal Riario heraus. Jana lauschte ihm mit zusammengekniffenen Augen. Pratini begann ebenfalls zu horchen, als der Name seiner Bank fiel, und sein Gesicht verzerrte sich vor Ärger, als ihm klar wurde, dass Tredittore seinen Namen missbraucht und sein Haus in Gefahr gebracht hatte. Tredittores Rede kam scheinbar mitten im Satz zum Halt, und er klappte seinen Mund hörbar wieder zu. Er hatte sich das Geständnis qualvoll abgerungen; ich sah die Schweißperlen auf seiner Stirn. Er brachte nicht mehr die Kraft auf, noch jemanden anzusehen. Er ließ die Hände steif an seiner Seite herabhängen und ballte sie wieder zu Fäusten, während er seine Blicke auf den Fußboden richtete. Jana verzog den Mund und schüttelte den Kopf und sah dabei zu Pratini, der ihre Geste unwillkürlich nachahmte. Ihre Blicke kreuzten sich für einen verblüfften Moment, bevor sie einander wieder auswichen. Lorenzo de’ Medici räusperte sich. Ich wusste, was er sagen wollte, und kam ihm zuvor.

»Ihr habt die Hauptsache vergessen«, sagte ich zu Tredittore.

»Was wäre das?«, murmelte er erschöpft.

»Das, was Ihr mir schon die ganze Zeit über sagen wolltet, jedoch aus Feigheit nicht über die Lippen gebracht habt. Das, weswegen Ihr sogar zu Jana ins Gefängnis gekommen seid und dann nicht den Mut gefunden habt, Ihr unter die Augen zu treten. Das, weswegen drei Unschuldige zu Tode gekommen sind und Eure Herrin seit Ostersonntag im Kerker sitzt. Die Sache mit den Briefen.«

Sein Kopf ruckte wieder nach oben, und diesmal war in seinem Gesicht klar zu lesen, dass er sah, wie der Henker das Beil über seinem Nacken erhob. »Das… ich… was wollt Ihr damit sagen…?«

»Ich habe heute bereits einmal die Geschichte eines anderen erzählt«, sagte ich unwillig. »Ich habe keine Lust, einem zweiten Maulfaulen auf die Sprünge zu helfen. Erzählt uns, was geschehen ist, oder ich erzähle es, und bei allen Heiligen, ich erzähle es so, dass keinerlei Sympathien für Euch mehr übrig bleiben.«

»Worauf wollt Ihr hinaus?«, fragte Lorenzo. »Welcher Teil Eurer Geschichte soll jetzt ans Licht finden?«

»Meine Briefe«, sagte Jana plötzlich. »Was habt Ihr damit gemacht?«

»Sie sind der Grund, weshalb du, Boscoli und Cerchi verhaftet wurden«, erklärte ich. »Sie hängen an der Schandtafel im Bargello. Jeder kann lesen, dass du mit den beiden darüber verhandeln wolltest, wie sich deine Geschäfte nach dem gelungenen Anschlag auf Ser Lorenzo und seinen Bruder entwickeln sollten.«

»Was?«, rief sie empört. »Ich habe nie dergleichen geschrieben.«

»Sie wurden gefälscht.«

Jana sprang auf; Pratini neben ihr zuckte zusammen. Wenn er nicht neben ihr gesessen wäre, wäre sie vermutlich aus der Bank herausgestürmt und hätte Stepan Tredittore die Augen ausgekratzt.

»Was habt Ihr getan?«, schrie sie ihn an. »Meine Briefe gefälscht, um mich ins Gefängnis zu bringen? Die Hand soll Euch aus dem Grab herauswachsen, Ihr mieser kleiner Betrüger!«

»Ich habe sie nicht gefälscht!«, schrie Tredittore zurück.

»Wer denn sonst?« Janas Augen gingen über, und sie begann vor Zorn zu weinen, ohne dass sich ihre Lautstärke wesentlich gedämpft hätte. »Habt Ihr nichts gefunden, mit dem Ihr mich bei meinen Vettern in Misskredit bringen konntet, dass Ihr mich mit einer Fälschung an den Galgen bringen wolltet?«

Tredittore warf mir einen verzweifelten Blick zu, während Jana sich bemühte, ihre Beherrschung wiederzufinden. Sie wischte sich so grob mit der Hand über das Gesicht, dass rote Striemen auf ihren Wangen zurückblieben.

»Ihr habt mir gegenüber sogar zugegeben, dass Ihr nichts gegen sie in der Hand hattet«, erinnerte ich ihn.

»Ich habe doch nicht…«

»Ihr hattet die Briefe als Letzter in der Hand.«

Tredittore breitete die Arme aus und ließ sich gegen die Wand sinken.

»Nein«, seufzte er. »Ich hatte sie nicht als Letzter in der Hand. Ich habe sie nicht einmal zugestellt.« Er rutschte mit dem Rücken an der Wand herunter, bis er auf dem Boden hockte, und vergrub sein Gesicht in beiden Händen. »Ich hätte es Euch sagen sollen«, sagte er dumpf dahinter hervor, »aber ich konnte nicht.«

Jana starrte ihn fassungslos an. Als sie Luft holte, schüttelte ich den Kopf, und sie schwieg, so schwer es ihr auch sichtlich fiel. Plötzlich bemerkte sie, dass sie aufgesprungen war. Sie glättete mit fahrigen Bewegungen den Rock ihres Kleides und setzte sich wieder. Pratini räusperte sich in die Stille. Ich vergewisserte mich mit einem Blick zu Lorenzo de’ Medici, dass seine Geduld noch immer nicht erschöpft war.

»Wem habt Ihr sie gegeben?«, fragte ich Tredittore sanft.

»Ich war nach Monna Janas Abfuhr am Samstagmorgen so wütend, dass ich mit dem Gedanken spielte, gar nicht mehr zurückzukommen«, sagte Tredittore leise, ohne sein Gesicht hinter seinen Händen hervorzunehmen. »In Florenz herumzulaufen und nach den Adressen der Briefempfänger zu fragen schien mir völlig unmöglich. Ich erstickte fast daran. Ich stürmte aus dem Haus hinaus wie ein Verrückter. Ich war so zornig, dass ich die Hausmauer mit den Füßen trat, bis mir die Zehen schmerzten.«

»Was geschah dann?«

»Ein Mann trat auf mich zu und fragte mich, warum ich so wütend sei. Ich glaube, ich erzählte ihm alles, was mich seit Venedig bewegte, und dass die Zumutung, diese Briefe auszutragen, der Höhepunkt all dessen sei. Er erklärte mir, dass er arm sei und jede Arbeit annehme. Wenn ich ihn dafür bezahlte, würde er sofort die Briefe selbst austragen.«

»Ihr habt sie ihm gegeben.«

»Ich fürchte, wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich sie in den Arno geworfen.«

»Diese Geschichte glaubt doch kein Mensch!«, rief Jana. »Er ist der Fälscher! Ich weiß nicht, was er geschrieben hat, aber ich kann Euch noch den Wortlaut meiner eigentlichen Briefe an Boscoli und Cerchi aufsagen.« Sie wandte sich Lorenzo de’ Medici zu. Ich unterbrach sie.

»Ich glaube ihm«, sagte ich.

Jana riss die Augen auf und sah mich überrascht an. Selbst Lorenzo de’ Medici hob eine Augenbraue. Tredittore hob sein Gesicht und starrte mich ebenso ungläubig an wie Jana.

»Jetzt habt Ihr mich endgültig verwirrt«, erklärte Lorenzo. »Bis gerade eben konnte ich Euch noch folgen, doch jetzt weiß ich nicht mehr, wohin Ihr uns eigentlich führen wollt.«

»Lediglich zur Wahrheit«, sagte ich. »Wie sah der Mann aus, dem Ihr die Briefe gegeben habt?«

Tredittore musste nicht lange nachdenken. »Vierschrötig, untersetzt. Er trug eine Lederschürze „wie ein Arbeiter, und in seinem Gesicht waren Dutzende kleiner Narben. Er sah aus wie ein Steinhauer.«

Lorenzo de’ Medici öffnete den Mund und sah ungläubig von Tredittore zu mir. »Das ist doch…«, flüsterte er.

»Habt Ihr den Mann später noch einmal wiedergesehen?«, fragte ich.

Tredittore schüttelte den Kopf.

»Kein einziges Mal?«, schaltete sich Lorenzo de’ Medici ein. »Auch nicht gestern?«

»Ich verstecke mich seit gestern in San Lorenzo, Eure Exzellenz«, erklärte Tredittore unterwürfig. »Ich habe ihn nie wiedergesehen.«

Lorenzo winkte mir zu, und ich folgte ihm auf den Treppenabsatz hinaus. Hinter mir hörte ich, wie Jana die Luft ausstieß und erwartete, dass sie Tredittore die Hölle heiß machen würde, aber sie schwieg. Stattdessen hörte ich Antonio Pratini murmeln: »Ist das einer Eurer Vertrauten?«

»Ich habe keine Vertrauten außer Peter«, erwiderte sie leise. Ich verdrängte ihre Worte und konzentrierte mich auf Lorenzo de’ Medici, dessen Gesicht im Dunkel des Treppenabsatzes bleich und wütend wirkte. Unten am Ende der Treppe schlurfte ein älterer Mann heran und zündete mit einem Kienspan eine Fackel an; dann nahm er mühsam die erste Treppenstufe in Angriff und kroch in unsere Richtung, um zu den anderen Fackeln zu gelangen. Als er uns sah, nickte er uns zu, ohne sich im Ernst seiner Tätigkeit stören zu lassen.

»Wenn das ein abgekartetes Spiel ist…«, sagte Lorenzo de’ Medici.

»Ist es nicht. Glaubt mir – wenn ich versuchen würde, Euch hinters Licht zu führen, würde ich mir eine Geschichte ausdenken, die nicht so kompliziert ist. Außerdem liegt dort unten ein Toter, dessen Gesicht Tredittores Worte bestätigt.«

»Hat er ihn auf dem Gewissen?«

»Ich schätze nein. Er hat die Wahrheit gesagt: Er hat sich seit gestern nicht mehr aus der Kirche gewagt.«

»Was wolltet Ihr mit der Aussage dieses Jammerlappens beweisen?«

»Dass es möglich ist, dass jemand Janas Briefe durchsah und die beiden, die sich vom Text her am besten zu einer Fälschung eigneten, änderte.«

»Es ist gut, dass Euch klar ist, dass Ihr den Tatbestand der Fälschung noch immer nicht bewiesen habt.«

»Das ist mir sonnenklar.«

Er seufzte und verschränkte die Arme. »Das Einzige, was dabei herausgekommen ist, ist, dass Eure Gefährtin sowohl von Antonio Pratini als auch von Stepan Tredittore hintergangen wurde – und dass der zarte Kardinal Riario, der unter meinem Dach wohnt, unverdient um einen Batzen Geld reicher geworden ist. Pratini ist ihr Geschäftskonkurrent, aber Tredittore sollte ein Mann ihres Vertrauens sein… über ihre Schuld oder Unschuld sagt all das nichts aus.«

»Ich weiß«, sagte ich und massierte meine Schläfen, »ich weiß.«

Er trat einen Schritt näher und sah mir ins Gesicht. »Sagt mir die Wahrheit: Habt Ihr erwartet, dass Stepan Tredittore die Fälschung der Briefe gestehen würde? Wenn das so ist, dann sollten wir mit dieser Farce jetzt aufhören. Ich will Euch zugute halten, dass Ihr wirklich gehofft habt, Ihr könntet ihn überführen. Ich habe Euch die Chance dazu gegeben. Jetzt muss die Wahrheit mit den Mitteln der Justiz gefunden werden. Es tut mir Leid für Euch und Eure Gefährtin.«

»Ich wusste, dass Tredittore nichts mit der Fälschung zu tun hatte«, erklärte ich. »Er hat zwar die Unterschrift Janas auf der Transaktion zu Gunsten Riarios gefälscht, doch bei den Briefen an Boscoli und Cerchi wurde gerade die Unterschrift nicht gefälscht.«

»Dann nehme ich an«, brummte Lorenzo de’ Medici nach einer Pause, »dass Eure Geschichte noch einen dritten Teil hat.«

Ich nickte. Ich hatte den beinahe unüberwindlichen Wunsch, mich irgendwo hinzulegen, zusammenzurollen und davon zu träumen, dass ich diese Stadt niemals betreten hätte. Der schwierigste Teil lag noch vor mir.

»Wusstet Ihr«, fragte ich, »dass die Brüder im Humiliatenkloster gegen ein paar Münzen zu kleineren Dienstleistungen bereit sind? Man kann sein Pferd dort unterstellen, um nur ein Beispiel zu nennen, oder sie zu Botengängen veranlassen, wenn man Einladungen zu einer Feierlichkeit verteilt. Wenn man oft genug mit ihnen Geschäfte gemacht hat und etwas mehr Geld springen lässt, kann man sicher auch ihre Gastfreundschaft für einige Zeit beanspruchen.«

Lorenzo sah mich verständnislos an.

»Im Kloster der Humiliatenbrüder hält sich der Mann verborgen, der den dritten Teil meiner Geschichte darstellt«, seufzte ich. »Und ich wünschte zu Gott, dieser Teil hätte niemals erzählt werden müssen.«

 

Diesmal waren die Rollen vertauscht; statt Lorenzo de’ Medici stand ich unter dem Fresko an der Kapellenwand. Lorenzo saß auf meinem Platz in der Bank. Jana und Pratini, aber auch Stepan Tredittore waren dort geblieben, wo wir sie verlassen hatten. Tredittore stierte vor sich hin und schien an der weiteren Entwicklung der Geschichte keinen Anteil mehr nehmen zu wollen. Lorenzo hingegen hatte sich vorgebeugt und lauschte meinen Ausführungen.

»Er hatte anfangs versucht, sich dem Usus hier anzupassen und den Mäzen für einen Künstler zu spielen. Leider reichte weder sein Kunstverstand weit genug, um zu erkennen, dass der Bildhauer, den er zur Förderung erkoren hatte, nur ein besserer Steinhauer war; noch waren seine Verbindungen in Florenz gut genug, um Aufträge für den Mann herbeizuschaffen. Zu guter Letzt bezahlte er ihn für nichts, und da befand er, er könne ihn genauso gut für andere Aufgaben einsetzen: beispielsweise um das Haus, in dem Jana und ich abgestiegen waren, zu überwachen. Er hatte sehr schnell erkannt, dass Jana der perfekte Sündenbock war, sollten seine Pläne und vor allem die Verschwörung fehlschlagen. Der Steinmetz wiederum hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen; er wusste, dass er absolut abhängig war.

Als der Steinmetz die Briefe abfing – ein wahrer Glückstreffer! –, pickte er die beiden heraus, bei denen sich der Text am einfachsten so abändern ließ, wie wir ihn heute an der Schandtafel im Bargello lesen können. Die anderen ließ er zustellen. Sie alle verschwinden zu lassen wäre aufgefallen.

Als die Verschwörung fehlschlug, war es einfach, die beiden Briefe der signoria in die Hand zu spielen; er brauchte nur zum Haus des capitano del popolo zu gehen und sie dort abzugeben. Seine eigenen Transaktionen hatte er so gut wie möglich verschleiert. Natürlich wären sie bei einer genauen Überprüfung aufgeflogen, und tatsächlich gibt es schon die ersten Verdachtsmomente, wie ich gehört habe – aber dass die Transaktionen Jana in die Schuhe geschoben würden, dafür hatte er mit den beiden Briefen gesorgt. Dass er nebenbei noch zwei Florentiner Kaufleute an den Galgen brachte, nahm er in Kauf. Ich weiß nicht, ob ihm bekannt war, dass Paolo Boscoli tatsächlich die Verschwörung unterstützt hatte und Benozzo Cerchi unschuldig war, aber ich nehme an, dass er sich darum nicht kümmern konnte. Ich weiß auch nicht, ob Boscoli jemals der Brief gezeigt wurde, der an ihn gerichtet war, denn er gestand schon bei der zweiten Stufe der territio. Cerchi hingegen verneinte bis zum Schluss, einen Brief von Jana bekommen zu haben.

Dann mischte ich mich zu seiner Überraschung ein und bestand darauf, Jana zu befreien. Er hatte darauf gebaut, dass unsere Zuneigung sich in Gleichgültigkeit oder gar Hass verwandelt hatte und ich Jana bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit im Stich lassen würde. Als ich es nicht tat, sah er sich gezwungen, mich mit gezielten Falschinformationen von der Fährte abzubringen und mich bei all meinen Erkundigungen so zu behindern, dass ich nichts oder nur zusammenhanglose Bruchstücke herausfand. Er dachte, ich würde an der Klärung dieses Falles scheitern; wenn man jedoch genügend Bruchstücke einer Vase zusammenbekommt, kann man ihre Form irgendwann einmal erahnen. Wenn ich sie schneller erahnt hätte, könnten einige Menschen noch leben.

Zum Beispiel Lapo Rucellai, der verkrachte Notar, den ich damit beauftragt hatte, herauszufinden, ob die Briefe im Bargello gefälscht sein konnten. Er hatte entdeckt, dass zwar die Unterschrift auf Janas Briefen echt war, Teile des Textes jedoch nicht. Dass er es mir nicht sofort mitteilte, sondern erst das Terrain sondierte, wer ich war und ob ich ihn möglicherweise in Gefahr bringen würde, war sein Fehler. Als er mir – sicherlich gegen eine weitere Gabe aus meiner Geldbörse – mitteilen wollte, was das Ergebnis seiner Untersuchungen tatsächlich war, fing ihn der Steinhauer ab und schlug ihm mit seinem Hammer den Schädel ein. Wenn der Mörder gesehen hätte, wo Jacopo de’ Pazzis Leichnam hängen geblieben war, hätte er Rucellai sicherlich an einer anderen Stelle ins Wasser gleiten lassen; doch er hatte es nicht gesehen, und so konnte ich ihn finden.

Rucellai musste sterben, um mir nicht den Beweis für einen Verdacht zukommen zu lassen, an den ich mich in meiner ersten Verzweiflung geklammert hatte und der doch ganz zutreffend war. Velluti hingegen musste sterben, weil er der einzige Zeuge war, der die wahren Hintergründe von Janas Geschäften hätte schildern können. Nori und Boscoli waren tot, Cerchi im Gefängnis und Alepri unerreichbar in seinem Haus verbarrikadiert. Der Steinmetz erhielt diesmal die Anweisung, ein wenig subtiler vorzugehen. Am Ende sah es nach einem Selbstmord aus, und so zerrüttet wie Velluti war, schien dieser noch nicht einmal so unwahrscheinlich. Aber ein Mann mit Vellutis Wasserscheu hätte sich auf dem Speicher seines Hauses erhängt, statt sich in den Fluss zu stürzen.

Zuletzt war der mörderische Steinmetz selbst dran; ob er mehr Geld verlangte und deshalb beseitigt wurde oder ob er einfach ein lästiger Mitwisser war, dessen Tod schon lange geplant war, weiß ich nicht. Ich nehme an, wir werden die Lösung dieses Geheimnisses irgendwann erfahren, aber es ist letztlich unerheblich. Von Bedeutung ist lediglich sein Tod: ein Schnitt mit dem Messer durch die Gurgel, während er sich arglos umwandte und seinem Auftraggeber den Rücken zukehrte. Ihn von vorne kaltblütig zu erdolchen, dazu hätte es eines anderen Mannes bedurft.

Der Mord an dem Steinmetz war quasi die letzte unerledigte Aufgabe gewesen, um die Sache abzuschließen. Die vorletzte war gewesen, Stepan Tredittore anzuzeigen und ins Gefängnis zu bringen.«

Tredittore hob den Kopf und sah mich mit trüben Augen an. Ich gab seinen Blick kalt zurück. »Auch einem schlechteren Menschenkenner wäre klar gewesen, dass Tredittore schon beim Anblick der Folterinstrumente zu jeder Aussage bereit gewesen wäre; ganz besonders zu einer, die Janas Todesurteil besiegelt hätte. Selbst wenn man seine Abneigung gegen sie außer Acht lässt, so bleibt doch daran kein Zweifel: Denn er selbst war davon überzeugt, dass Jana tatsächlich mit den Pazzi paktiert hatte. Er war sogar der Ansicht, dass ich über alles Bescheid wusste und meine ganzen Anstrengungen nur dazu dienten, meinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Damit war aber das Netz um Jana endgültig zugezogen. Mit der Verhaftung eines ihrer Reisegefährten, der bereitwillig jede Anklage gegen sie bestätigte, hatte sie keine Chance mehr.«

»Ihr sagtet, es wäre Euch egal, was mit mir geschähe«, krächzte Tredittore.

»Ich gab Euch gleichzeitig den Gedanken ein, in San Lorenzo Asyl zu suchen, was Ihr auch getan habt. Das hat Euch vor der Verhaftung bewahrt.«

»Ihr habt es ganz offensichtlich nicht um meinetwillen getan«, erwiderte er bitter.

»Nein«, sagte ich, »ich bin der Ansicht, es genügt, dass Ihr selbst stets um Euretwillen bemüht seid.«

»Ihr habt uns eine Geschichte erzählt, der das Ende fehlt«, sagte Lorenzo.

»Ich bin noch nicht fertig. Ich habe bis jetzt dargelegt, wie geschickt er das alles eingefädelt hat unter seiner harmlosen, freundlichen Tarnung. Er machte fast keine Fehler – bis auf den einen großen, den er zuletzt machte.«

Ich sah Pratini an, der sich mit verkniffenem Gesicht in der Bank bewegte. Er verzog den Mund und rief: »Nun sagt uns endlich, was dieser eine große Fehler war. Noch lieber wäre mir allerdings, Ihr würdet uns zum Teufel noch mal verraten, von wem Ihr die ganze Zeit sprecht.«

Ich öffnete den Mund, doch dann hörte ich das Geheul aus dem Innenhof heraufdringen und die schweren Schritte auf der Treppe. Als hätten sie auf Pratinis Stichwort gewartet, platzten drei Bewaffnete herein und schleppten einen vierten, sich windenden und um sich schlagenden Körper mit. Lorenzo sah sich bestürzt um. Der Gefangene heulte vor Wut und Entsetzen gleichermaßen, als er erkannte, wo er sich befand. Jana hob die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. Tredittore fuhr in die Höhe, als hätte ihn eine Schlange gebissen.

»Das ist Johann Kleinschmidt, der Mann meiner jüngsten Tochter Maria«, sagte ich ohne den geringsten Triumph. »Der Mann, der all das eingefädelt hat, um zu verschleiern, dass er sich auf Geheiß seiner Brotherren in die Verschwörung gegen Ser Lorenzo verwickelt hatte. Der drei Menschen ermordete und den Tod eines vierten im Gefängnis verschuldete und der das Ende Janas am Galgen gebilligt hätte, nur um seine eigene Haut zu retten. Und der bei all dem verzweifelt darum bemüht war, dass wenigstens seinem Schwiegervater kein Leid zustieß. Zum Dank dafür liefere ich ihn Euch ans Messer.«

Kleinschmidt hatte aufgehört, sich zu wehren, und starrte mich wie betäubt an. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich hatte es schon den ganzen Abend, aber jetzt war es beinahe unüberwindlich. Ich streckte die Hand nach Jana aus.

»Komm, lass uns gehen. Ihr findet uns im Fondaco dei Tedeschi, Ser Lorenzo, wenn es noch Fragen zu klären gibt. Ihr habt eine wunderschöne Kapelle in Eurem Haus, aber meine Erinnerung daran wird immer grauenhaft sein.«

 

Pratini holte uns ein, als wir auf dem Domplatz waren. Die Wachen, die Lorenzo de’ Medici uns mitgegeben hatte, da es bereits nach der Stunde des Ausgehverbots war, senkten die Spieße, ließen ihn jedoch näher kommen, als sie ihn erkannten.

»Warum?«, fragte er ohne Einleitung. »Warum hat er es getan?«

Ich hielt Janas Hand fest, die ich umklammert hatte, seit wir auf die Straße getreten waren.

»Weshalb Kleinschmidt sich an der Verschwörung beteiligte? Er erklärte mir bei einer Gelegenheit, das Haus Hochstetter, für das er arbeitet, habe ihn nur zu Orten geschickt, an denen seine Erfolgsaussichten schlecht standen oder an denen es für wertvollere Mitarbeiter der Familie zu gefährlich war. Er verriet mir zudem, dass der Auftrag in Florenz als seine Bewährungsprobe galt. Nun, ich nehme an, Joachim Hochstetter wollte, vom Beispiel der Familie Fugger bei der Ermordung von Herzog Sforza inspiriert, seinem eigenen Haus ebenfalls zu einer zentralen Position bei einem politischen Umsturz verhelfen. Was lag näher, als den in Ungnade gefallenen Johann Kleinschmidt dafür einzusetzen, der erstens alle Anweisungen widerstandslos durchführen würde und zweitens geopfert werden konnte, wenn er sich dabei zu ungeschickt anstellte?«

»Wie habt ihr es herausgefunden? Einfach nur die Bruchstücke zusammengesetzt?«

»Nur zum Teil. Kleinschmidt war die ganze Zeit eine Behinderung. Lediglich bei der Untersuchung von Janas Bankkonten zeigte er sich kooperativ, weil er wusste, dass sich nichts an der Sachlage änderte, wenn ich dort nichts Merkwürdiges fände, bei jeder Unregelmäßigkeit Janas Schuld jedoch noch bekräftigt wäre – und mit Unregelmäßigkeiten rechnete er, seitdem ich ihm erzählt hatte, wie Jana sich in die Stadt geschlichen hatte. Dank Tredittores unseligem Ausflug in die Geschäftemacherei mit dem Klerus fand sich sogar mehr als eine Unregelmäßigkeit, nämlich eine Zahlung an die Pazzi-Bank in Rom.«

»Die über mein Bankhaus ging.«

»Ja. Tredittore hat es auch nicht dumm angefangen. Noris Bankhaus hätte den Transfer niemals durchgeführt. Ihr als unabhängige Bank hingegen, die auch noch Ambitionen in Rom hat, habt Euch zwar abgesichert, aber die Transaktion nicht verweigert.«

»Eure Worte hören sich an wie eine Beleidigung, doch wenn ich in Euer Gesicht sehe…«

»Wenn Ihr in mein Gesicht seht, erblickt Ihr lediglich den Wunsch, dass diese unselige Geschichte endlich zu Ende kommt. Ich will jedoch Eure Neugier befriedigen. Es gab ein paar Kleinigkeiten, die mich erst hinterher stutzig machten, die ich aber zuerst Kleinschmidts Unfähigkeit zuschrieb: dass wir das Gefängnis beinahe nicht rechtzeitig erreichten, als Rudolf Gutswalter uns hineinschmuggeln wollte; dass er mit einer gezielten Bemerkung Umberto Velluti auf Dauer daran hinderte, mit mir sprechen zu wollen; dass immer dann, wenn ich ihn erfolgreich abgeschüttelt hatte, plötzlich der Steinmetz auftauchte, um mich zu beschatten.«

»Das waren die kleinen Fehler, von denen Ihr gesprochen habt…«

»So ist es. Den Ausschlag gab letztlich seine angebliche Abberufung aus Florenz genau einen Tag, nachdem er Tredittore angezeigt hatte. Tredittore würde das Hohelied von Janas Hochverrat singen, Jana würde verurteilt werden, die Suche nach mir eingestellt, und ich hätte keinen Grund mehr, in Florenz zu bleiben. Für meine Sicherheit war ebenso gesorgt wie für meine Abreise. Da er versprochen hatte, so schnell wie möglich aus Prato zurückzukommen, würde er just in dem Moment eintreffen, in dem ich mich reisefertig machte; und damit er das alles überwachen und im richtigen Moment wieder auftauchen konnte, verließ er Florenz in Wirklichkeit nie. Er ritt einfach bei der Porta al Prato zur Stadt hinaus und bei der Porta a Faenza wieder herein und versteckte sich bei den Humiliaten.

Aber eines hätte Joachim Hochstetter garantiert nie im Leben getan: seinen Beauftragten aus der Stadt abgezogen, nachdem man die Kaufleute der Fugger bereits aus ihren Mauern verwiesen hatte und es keine Hinweise auf eine Verwicklung der Hochstetter in die Verschwörung gab. Er hätte im Gegenteil versucht, die Integrität seines Hauses herauszustellen und damit Geschäfte zu machen. Die Abberufung war eine Farce, die nur den Zweck hatte, Kleinschmidts scheinbaren Abgang aus der Stadt zu bemänteln und mich des letzten vermeintlichen Helfers zu berauben, sodass ich Janas Verurteilung tatenlos würde zusehen müssen und danach die Stadt für immer verlassen hätte.«

Pratini nickte. Wir hatten uns wieder in Bewegung gesetzt, und er trabte neben uns her, ein kleiner Mann mit abstehenden Ohren und dem verzweifelten Wunsch, seine Seele zu retten, der sichtlich aus dem Gleichgewicht gebracht war von dem, was er in den vergangenen Stunden gelernt hatte.

»Was ist in der Kapelle noch vor sich gegangen?«, fragte ich ihn nach einer Weile. Er tauchte wie aus tiefen Gedanken auf.

»Ser Lorenzo hat Euren Schwiegersohn verhaften lassen. Ich denke, er wird ihm ein paar Fragen stellen und ihn dann ins Gefängnis schaffen lassen, um mit dem richtigen Verhör zu beginnen. Es sei denn, er bekommt jetzt gleich ein Geständnis. Ich weiß, dass Ser Lorenzo die Folter hasst und selbst bei seinen Feinden froh ist, wenn er darauf verzichten kann.«

»Kleinschmidt war niemals sein Feind.«

»Nein, er war nur ein dummer Junge, der unter mächtigem Druck stand und die Dummheit stündlich größer werden ließ.«

»Das ist eine treffende Charakterisierung«, sagte ich.

»Das war einfach. Ich habe nur in den Spiegel geschaut.«

Ich blieb stehen. Pratini zuckte mit den Schultern und sah zu Jana hoch. In seinem Gesicht arbeitete es. »Es tut mir Leid«, stieß er schließlich hervor. Dann drehte er sich um und stapfte davon.

»Mehr wirst du von ihm nicht bekommen«, sagte ich zu Jana, die ihm hinterhersah. Sie wandte sich mir zu.

»Hmm? Nein, mehr bekomme ich nicht. Es ist weit mehr als das, was ich erwartet habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Mir tut es auch Leid, Antonio Pratini«, sagte sie leise. »Mir auch.«

 

 

5.

 

L

orenzos Männer führten uns auf dem kürzesten Weg zum Fondaco. Als ich an dem Tor die Gasse hinuntersah und den Fackelschein und die lauten Stimmen aus der Richtung des Gefängnisses hörte, blieb ich stehen. Jana nahm meine Hand fester.

»Geh nicht hin«, sagte sie. »Sie bringen Johann Kleinschmidt hinein.«

»Nein, dafür ist es zu früh. Ich möchte nur noch mal kurz sehen, was dort los ist.«

Jana erschauerte. Sie zog die Schultern hoch. »Ich warte hier auf dich.«

Ich nickte und gab den Wachen einen Wink, bei Jana zu bleiben. Dann marschierte ich die Straße hinunter. Wie ich erwartet hatte, stammte der Fackelschein und der Lärm von einer Abordnung aus dem Fondaco. Zwei Nonnen standen etwas abseits und schienen mit gesenkten Köpfen zu beten. Ferdinand Boehl war der Anführer der Gruppe. Als er mich herankommen sah, blieb ihm seine Schimpftirade im Hals stecken.

»Was macht Ihr denn hier mitten in der Nacht?«, erkundigte ich mich.

»Da fragt er auch noch«, keuchte Boehl fassungslos. »Wir sind hier, um Euch aus dem Gefängnis zu holen. Wenn uns diese Hornochsen hier nur hineinlassen würden. Das heißt… jetzt weiß ich, warum sie sich so dumm gestellt haben.« Er kratzte sich am Kopf. Plötzlich schwoll sein Hals an, und er schrie mit voller Lautstärke: »Jetzt weiß ich es, ja! Aber dazu musste ich mir die Beine in den Bauch stehen und mit Gefängniswärtern herumstreiten, die nicht mal ihren eigenen Namen lesen könnten, wenn man ihn mit Torten auf der Straße auslegen würde. Und der feine Herr läuft derweil frei herum! Was glaubt Ihr eigentlich, wen Ihr vor Euch habt?«

»Gebt mir bitte die Nachricht wieder, die ich Euch hinterlassen habe.«

»Was für eine Nachricht? Dieser Wisch?« Er zerrte mit vor Wut flatternden Händen ein Pergament aus seinem Wams. »Damit habt Ihr mich doch hergelockt! Als Ihr am Abend noch nicht zurück wart, habe ich Eure Kammer durchsuchen lassen. Beschwert Euch bloß nicht darüber. Das haben wir dabei gefunden!«

»Ich fürchte, Ihr habt es nicht richtig gelesen.«

»Nicht richtig gelesen? Ha! Auswendig könnte ich es hersagen!«

»Weshalb sagt Ihr dann, dass Ihr mich aus dem Gefängnis holen wolltet? Ich habe doch klar genug geschrieben, dass ich den Zunftpfennig und die Schulden der Fugger-Kaufleute mit Janas Geld bezahlt habe und dass deshalb sie als Zunftmitglied zu betrachten sei statt meiner – und dass es Eure Pflicht sei, sie aus dem Gefängnis zu befreien und nicht mich.«

»Na«, knurrte er, diesmal etwas leiser. »Was glaubt Ihr wohl, wozu die beiden heiligen Frauen hier sind? Um Vernunft in die Köpfe der Wärter zu beten?« Er drehte sich zu seinen Männern um, die mich ungnädig musterten und zu tuscheln begannen. »Abmarsch!«, rief er. »Wir werden hier nicht mehr gebraucht.«

Ich hielt die Hand auf, und er drückte mir das Pergament hinein. »Ist doch richtig so?«, fragte er und grinste. »Wenn Ihr wieder frei seid und das Papier haben wollt, dann ist Eure Gefährtin auch frei.«

Ich nickte. »Sie wartet oben beim Tor auf mich.«

»Dann stellt mich Ihr gefälligst vor. Ich will doch sehen, ob ich ihr nicht klarmachen kann, dass sie sich mit dem lästigsten Kerl seit dem Propheten Hesekiel verbandelt hat.«

»Warum habt Ihr gesagt, Ihr wärt hier, um mich zu befreien anstatt Jana?«

Er brummte etwas in seiner Kehle, das ich nicht verstand.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, in meiner Berechnung des Zunftpfennigs hatte sich ein Fehler eingeschlichen. Ich habe festgestellt, dass er doch für zwei reicht. Da habe ich die Zunftmitgliedschaft auf Euch beide ausgedehnt. Euer sauberer Freund der Küchenmägde war ja nicht mehr da.«

Ich lächelte und begann damit, das Pergament zu zerknüllen. Es war der Notnagel, den ich Ser Lorenzo gegenüber erwähnt hatte. Er sah mir neugierig dabei zu, wie ich es auf den Boden legte und dann mit einem Fußtritt in eine dunkle Seitengasse schoss.

»Gehen wir jetzt endlich, damit ich Eure schönere Hälfte kennen lerne?«, fragte er.

»Schneller, als ein Stein ins Wasser fällt«, erwiderte ich.