1.
J
ohann Kleinschmidt hatte am Abend seine üblichen Vorbehalte gegen meinen Plan vorgebracht, wenngleich schwächer als sonst. Statt dankbar zu sein, hegte ich den hässlichen Verdacht, dass sein Interesse an Jana und mir zu erlöschen begann; doch als ich ihn am Morgen aufwecken ging, stand er zu meinem Erstaunen bereits fertig angekleidet an seinem Schreibpult. Er lächelte mich unbeholfen an und hielt eine kurze Liste hoch.
»Ich habe bereits alle Bankhäuser aufgezeichnet, deren Geschäftsfelder sich auch außerhalb von Florenz erstrecken«, erklärte er. »Die anderen zu untersuchen macht keinen Sinn. Sie hätten keinen auf eine Bank in Bologna gezogenen Wechsel akzeptiert, nicht mal auf eine Bank der Fugger.«
»Sehr umsichtig.«
»Ja, nicht wahr? Das erspart uns einige Zeit.«
Ich nahm die Liste entgegen und las den ersten Namen. »Das Bankhaus Nori«, sagte ich. »Welch ein Zufall.«
»Ich nehme an, Ihr wollt damit anfangen?«
Ich konnte es mir nicht verkneifen zu sagen: »Ich hatte gestern Abend den Eindruck, dass du von diesem Einfall so wenig begeistert warst wie von allen anderen.«
»Na ja… Es ist doch nur, weil Ihr Euch ständig in Gefahr begebt, verhaftet zu werden. Und ich habe nachgedacht…«
»… und festgestellt, dass kein Bankier, der seine fünf Sinne beieinander hat, zu den Behörden laufen würde, wenn über seine Konten Gelder an die Pazzi-Fraktion transferiert wurden«, vollendete ich trocken.
»Das auch, natürlich…«, er sah verlegen zu Boden und druckste herum. Schließlich hob er den Kopf, begegnete meinem Blick und richtete die Augen gleich wieder auf etwas anderes. Sie fanden die Platte seines Schreibpults und blieben daran hängen. Ich spürte, wie ein ungeduldiges Zucken von meinen Füßen Besitz ergriff. Er seufzte.
»Wisst Ihr«, begann er mühsam, »ich kann mir schon denken, dass ich Euch enttäusche, aber ich habe Angst, um Euch und um mich. Ich bin ein Händler, kein Kämpfer. Ihr seid Marias Vater… also, Ihr habt bestimmt einen schrecklichen Eindruck von mir. Aber ich habe auch meinen Stolz! Es ist nur, dass…«
»Ist ja schon gut.«
»Nein, ist es nicht. Die Hochstetter… Also, das ganze Geschäft… Also, das ist alles die reinste Vetternwirtschaft!«, stieß er plötzlich hervor. »Wenn man nicht zur Familie gehört, zählt man nicht. Ich war immer nur ein besserer Laufbursche. Fernhändler? Pah. Sie haben mich zu den Orten geschickt, zu denen kein anderer wollte, weil dort entweder Krieg herrschte oder eine Seuche oder weil kein Geschäft zu machen war. Wenn ich trotzdem manchmal einen kleinen Erfolg hatte, hieß es: Das haben wir von Euch erwartet. Wenn ich, wie meistens, versagte, hieß es: Nun, die Situation hätte vielleicht nach einem erfahreneren Mann verlangt. War unsere Schuld. Ja, war deren Schuld… Na und? Was hatte ich davon? Nur wer erfolgreich ist, kann erwarten, dass man ihn anerkennt. Sie verweigerten mir den Erfolg, und sie verweigerten mir die Anerkennung. Zuletzt hielt ich es nicht mehr aus und sagte Joachim Hochstetter die Meinung…«
»Und er hat dich noch mehr Dreck fressen lassen.«
»Nein«, sagte er nach einer langen Pause. »Sie haben mich hinausgeworfen. Das hat Maria Euch niemals geschrieben, stimmt’s? Sie hat sich so geschämt. Ein Vierteljahr waren wir ohne Brot. Meine Eltern haben uns Geld gegeben. Schließlich bin ich zu Kreuze gekrochen und habe um Verzeihung gebeten. Sie haben mich wieder genommen – für weniger Geld als vorher und mit viel mehr Arbeit. Ich habe meine Sünden gebüßt, das könnt Ihr mir glauben. Das hier ist meine erste selbstständige Arbeit seit Jahren, und selbst darum musste ich betteln. Meine Bewährungsprobe! Es hieß, hier könne ich zeigen, ob ich die Gnade wert sei, die man mir entgegengebracht hat.« Kleinschmidt schüttelte in verzweifelter Verwunderung den Kopf. »Sie haben mir den Schneid abgekauft, und das gründlich.«
»Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?«
Er sah hoch. »Damit Ihr mir Arbeit gebt? Was wäre das anderes gewesen, als bei Joachim Hochstetter zu bitten? Oder hättet Ihr uns Geld gegeben? Es war schon schwer genug, zu meinen Eltern zu gehen.«
»Das ist Stolz am falschen Platz«, sagte ich ruhig. »Wenn ich dir Arbeit gegeben hätte, dann wäre es kein Almosen gewesen. Und du hättest eine Chance bekommen – eine bessere als hier.«
Kleinschmidt verzog das Gesicht. »Hättet Ihr mir wirklich Arbeit gegeben? Nicht bloß Geld?«
»Warum zweifelst du daran?«, erwiderte ich und fühlte mich mehr durch seine Einsicht betroffen als seine unübliche Offenheit.
»Als ich Maria heiratete, war mein Wunsch, es Euch gleichzutun und meine Heimatstadt Augsburg zu verlassen. Aber in Landshut kannte ich niemanden…«
»Warum hast du damals nichts gesagt? Ich hätte in meinem Haus… oder ich hätte Hanns Altdorfer fragen können, der kennt jeden Floh in Landshut.«
»Ich habe Maria gebeten, Euch zu fragen«, sagte er leise. »Ich fürchtete mich, es selbst zu tun.«
»Das hättest du nicht tun sollen«, knurrte ich und versuchte mich daran zu erinnern, ob Maria um Arbeit für ihren Bräutigam gebeten hatte. Ihre Hochzeit war in meiner Erinnerung nur ein Wirbel aus Selbstmitleid und lähmender Verbitterung. »Wenn du mich selbst gefragt hättest…«
Er wandte den Kopf ab, als fürchte er, ich würde ihn im nächsten Moment ins Gesicht schlagen. »Maria hat Euch nie gefragt«, erklärte er fast unhörbar. »Sie sagte, es hätte keinen Sinn gemacht. Nichts wäre zu Euch durchgedrungen. Ihr wart ein wandelnder Schatten. Es tut mir Leid.«
Ich biss die Zähne zusammen, aber weniger aus Zorn denn aus Scham. »Sie hätte es versuchen können«, stieß ich schließlich hervor.
»Maria? Ihr kennt sie doch besser als ich…«
Ich schnaubte. »Stets bemüht, zwei Schritte weiter zu denken als alle anderen, um nur niemandem wehzutun oder ihn vor unangenehme Dinge zu stellen.«
Er nickte.
»Ich bedauere, dass ich dir nie eine Chance gab«, sagte ich. »Aber du hast mir auch keine gegeben, dich kennen zu lernen oder dir zu helfen.«
»Ja, ich fürchte, das stimmt. Und dabei wollte ich das gar nicht… Doch nachdem alles so angefangen hatte, war es so schwer, etwas zu ändern.« Ich erwiderte nichts, und er holte Luft und fuhr fort: »Deshalb habe ich so sehr versucht, Euch aus der Gefahr herauszuhalten: Damit Ihr erkennt, dass ich doch zu etwas tauge… und habe es schon wieder falsch gemacht. Das ist es, was mir gestern Nacht klar geworden ist.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will sagen, dass ich mich schäme, Euch bislang nicht tatkräftiger unterstützt zu haben. Das ändere ich ab sofort.« Er angelte seinen Hut von seinem Lager und stülpte ihn sich auf den Kopf. »Und deshalb gehe ich mit Euch und Herrn Tredittore zu den Banken und helfe Euch, die Dokumente zu entziffern. Ich habe das lange Zeit für das Haus Hochstetter gemacht: Banktransaktionen überprüft und nachgerechnet. Es gibt keine Art von Geldtransfer, die ich nicht schon einmal gesehen und nachverfolgt hätte.« Er lächelte schief und als ob er selbst nicht ganz von seiner neuen Entschlossenheit überzeugt wäre, aber alles daransetzte, sich nicht zu enttäuschen. Er wies mit einer auffordernden Handbewegung zur Tür, und ich ging vor ihm hinaus und erkannte erstaunt, dass ich fast begann, ihn zu mögen.
Die Bank, die der verstorbene Francesco Nori für seinen Freund Lorenzo de’ Medici geführt hatte, war wieder in ihren üblichen Geschäftsbetrieb eingetreten. Die selbst ernannten Wächter des Bankhauses waren verschwunden, und statt ihrer standen uniformierte Söldner diskret im Hintergrund, die weniger die Insassen des Bankhauses als vielmehr das Geld beschützten, das auf den Wechseltischen gewogen, gezählt, geprüft, eingenommen und ausgegeben wurde. Ich ließ Stepan Tredittore den Vortritt, und er gab das überzeugende Bild eines herablassenden Generalbevollmächtigten seines Handelshauses ab, der sich über die Situation seiner Geschäftskonten informieren will. Der ältere Mann hinter dem Wechseltisch winkte einem der Bewaffneten und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und dieser trabte unbewegten Gesichts ins Innere des Gebäudes, aus dem er alsbald in Begleitung eines anderen Mannes wieder auftauchte. Tredittore wies sich mit seinem Siegel erneut aus, gab irgendeine Erklärung über Kleinschmidt und mich ab und stolzierte voraus, als uns der Bankangestellte bat, ihm zu folgen.
Kleinschmidt nickte mir zu und flüsterte: »Ich bin erleichtert, dass es so einfach ging.«
»Wir haben noch nichts von Janas Konten gesehen«, erinnerte ich ihn. Er hob die Schultern und beobachtete zwei Männer mit farbfleckigen Gewändern, die auf einer Leiter standen und im Durchgang zum Innenhof eine runde Holzscheibe aufhängten. Als wir an ihnen vorbeigingen, konnte ich sehen, dass auf der Holzscheibe ein Porträt aufgemalt war. Es war feiner ausgearbeitet, als zu erwarten gewesen wäre, und hatte hinreichende Ähnlichkeit mit Francesco Nori, so wie ich mich aus dem Dom an ihn erinnerte. Die Männer auf der Leiter fassten das Porträt mit so spitzen Fingern an, dass die Farben noch nass sein mussten.
Das Innere der Bank sah nicht anders aus als ein Kontor in einem Handelshaus – oder eine Schreibstube in einem Kloster, in der die Mönche für einmal ihre Kutten ausgezogen haben. Fast alle Pulte waren besetzt von rechnenden, schreibenden oder siegelnden Männern, und das Klicken der Zählkügelchen in ihren Rinnen erhob sich über dem Räuspern, Hüsteln und Murmeln, das sie bei der Arbeit produzierten. Unser Führer brachte uns zu einem unbesetzten Schreibpult und bat uns zu warten. Tredittore entließ ihn gnädig und wandte sich zu mir um, sobald er außer Sichtweite war. Seine Blicke wanderten zwischen Kleinschmidt und mir hin und her.
»Nur keine Nervosität«, sagte ich. Er verzog den Mund.
Die Transaktionen des Geschäftshauses Dlugosz befanden sich in einem Folianten zusammen mit vielen anderen Geschäftsvorfällen, die alle eines gemeinsam hatten: Ihre Sicherheit war bei der Fugger-Filiale in Bologna hinterlegt. Der Mann, der uns hereingebracht hatte, hatte den Folianten und einen misstrauisch blickenden Jüngling herangeschafft, der zwei kleinere und ein großes geschwärztes, steifes Pergament in den Händen hielt, als wolle er jemanden damit erschlagen. Kleinschmidt und Tredittore traten an das Pult heran, als der Foliant darauf gelegt wurde. Der Bankangestellte breitete in einer bedauernden Geste die Hände aus und stellte sich schützend vor das Buch.
Kleinschmidt verstand und trat mit einer Entschuldigung zurück. Tredittore folgte ihm ein wenig begriffsstutziger. Der Foliant wurde aufgeschlagen, der Bankangestellte suchte mit einem langsam über die Einträge wandernden Finger etwas, fand es und stoppte den Finger; dann nickte er dem Jüngling zu, und dieser deckte mit wichtiger Geste zuerst die gegenüberliegende Seite mit dem großen Pergament zu, dann alle Einträge oberhalb und unterhalb des Fingers seines Kollegen. Schließlich stand er mit abgewinkelten Ellbogen und weitgespreizten Händen über dem Folianten und presste seine Blätter auf die Unterlage. Der andere Mann winkte uns heran, und über und unter den Ellbogen und den Schultern des Jünglings wurde uns ein Blick auf eine Zeile zuteil, die im Wesentlichen aus Zahlen bestand.
»Die nehmen’s aber genau«, brummte Tredittore.
Kleinschmidt studierte den sichtbaren Eintrag und verglich ihn mit den Daten über Janas Konto, die Tredittore ihm heute Morgen sichtlich widerwillig auf einen Fetzen Pergament gekritzelt hatte. Dann sagte er, an Tredittore gewandt, damit unser kleines Schauspiel nicht aufflog: »Es ist ihr Konto, alles stimmt überein. Das hier ist eine Überweisung an Umberto Velluti, beauftragt und getätigt am siebzehnten April.«
»Einen Tag nach unserer Abreise aus Venedig«, erklärte ich grimmig. »Fragt ihn, ob es Transaktionen vorher gibt.«
Der Bankangestellte verneinte. Tredittore bat ihn um den nächsten Eintrag, und das Spiel mit dem Suchen, Finden und ungraziösen Verdecken der anderen Zeilen begann von neuem. Ich betrachtete es ohne Amüsement und fragte mich, wann Jana ihren Plan in die Tat umzusetzen begonnen hatte. Ich hatte erwartet, dass sie noch in Venedig die ersten Fäden gezogen hätte -gleich nachdem Stepan Tredittore zu uns gestoßen war. Aber er hatte uns bereits am zweiten Tag nach unserer Ankunft aufgesucht, und wir waren zehn Tage in Venedig geblieben. Zeit genug, um die ersten Transaktionen von der Lagunenstadt aus zu tätigen anstatt beschwerlich über Brieftauben auf der Reise. Vielleicht hatte sie einige Zeit gebraucht, den Plan zu ersinnen; aber ich hatte sie nicht nachdenklich gesehen während der restlichen acht Tage nach dem Eintreffen Tredittores. Sie hatte sich nach den schlechten Nachrichten aus Krakau geradezu mit Verbissenheit in die Aufgabe gestürzt, Antonio Pratini bei der Gewürzgeschichte auszustechen; und in den Nachtstunden hatte ich sie nicht mögliche Szenarien ihrer tollkühnen Idee skizzieren sehen, sondern sie im Arm gehalten und das wütende Schluchzen zu beruhigen versucht, mit dem sie den Tod ihres Vaters und die Intrigen ihrer Vettern beklagte.
Es gab nur einen weiteren Geldtransfer, und dieser war ebenfalls auf der Reise entstanden: an Bieco Alepri. Es war der gleiche Betrag wie bei Umberto Velluti.
»Ist das alles?«
Tredittore fragte nach und nickte; dann machte er eine nachlässige Handbewegung, mit der er die beiden Bankangestellten entließ. Sie klappten den Folianten zu und machten Anstalten, ihn wegzuschließen. Ich sah nachdenklich in Kleinschmidts Gesicht, der mich erwartungsvoll anstarrte. »Einen Augenblick«, sagte ich. »Wie hoch war der Betrag, für den die Fugger-Filiale in Bologna gradestand?«
Tredittore sah mich überrascht an. »Wie meint Ihr das?«
»Sie werden Jana wohl nicht unbegrenzt Kredit gegeben haben. Es muss eine Vereinbarung geben, wie hoch der Kreditrahmen war, innerhalb dessen sie in Florenz Wechsel ziehen konnte.«
»Wozu wollt Ihr das wissen?«
»Jana hat zu fünf Männern Kontakt aufgenommen. Was sie von Nori wollte, können wir uns nur denken, aber es wird zweifellos mit ihrem Konto zu tun gehabt haben. Velluti und Alepri haben von ihr Geld bekommen, also hat sie sich mit ihnen in Verbindung gesetzt und ihnen ihre Ankunft mitgeteilt und um einen Termin nachgefragt. Wir wissen aber auch, dass sie Boscoli und Cerchi angeschrieben hat, und diese haben nichts von ihr bekommen.«
Tredittore dachte eine Weile darüber nach. Über sein Gesicht huschten ein paar widersprüchliche Gedanken. Schließlich bequemte er sich zu sagen: »Gut, das ist seltsam, da gebe ich Euch Recht. Was soll Euch jedoch die Höhe des Kreditrahmens sagen?«
»Er sagt mir, ob auch für diese beiden Beträge geplant waren.«
»Und?«
»Stellt Euch doch nicht begriffsstutziger, als Ihr seid. Die einzigen beiden Männer, die der Verschwörung angeklagt und verhaftet sind, haben kein Geld von Jana erhalten. Was bedeutet das wohl?«
Er brummte etwas und richtete den Blick auf den Boden.
»Das ist eine gewagte Spekulation«, warf Kleinschmidt ein.
»Das ist noch gar nichts, solange ich nicht weiß, wie hoch der Kreditrahmen war. Also – können wir endlich weitermachen?«
Tredittore machte sich missmutig an die Übersetzung. Der Bankangestellte, der unseren Disput misstrauisch beobachtet hatte, ließ sich nach einigem Zögern erneut Tredittores Siegel zeigen. Diesmal verglich er es mit einem Pergament, in dem sich offensichtlich Janas Siegelabdruck befand und das sie Noris Bank über die Fugger-Filiale in Bologna zugeschickt haben musste. Die Echtheit von Tredittores Siegel überwand sein Misstrauen wenigstens so weit, dass er sich nach den geforderten Unterlagen auf die Suche machte, nicht ohne erneut abzuwägen, wer denn in unserem Trio nun wirklich das Sagen hatte.
»Es wäre schlauer, wir würden bei den anderen Banken weitersuchen, die Herr Kleinschmidt aufgeschrieben hat«, bemerkte Tredittore.
»Weshalb seid Ihr so ungeduldig?«
»Euch ist doch klar, dass wir hier in der Höhle des Löwen sind, oder? Das ist zwar Noris Bankhaus, aber eigentlich gehört es Lorenzo de’ Medici. Und Monna Jana hat an die Mörder seines Bruders Geld überwiesen. Vielleicht warten sie nur auf diejenigen, die sich nach ihren Geschäften erkundigen, damit sie sie verhaften können.«
»So Unrecht hat er damit nicht«, erklärte Kleinschmidt. Ich schenkte ihnen ein Knurren und beschloss, nicht auf ihre Einwände zu antworten. Der Bankangestellte kam mit wichtigtuerischem Gesicht zurück und nannte eine Zahl, die im Rahmen dessen lag, was ich erwartet hatte. Hinter dem Rücken hielt er ein Dokument; als er die Zahl ausposaunt hatte, konsultierte er es, um sicherzugehen, dass er sie richtig genannt hatte.
»Das ist viel Geld«, seufzte Kleinschmidt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Gleichwohl wage ich zu bezweifeln, dass es in dieser wohlfinanzierten Verschwörung mehr gewesen wäre als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Um sich einen Anteil an einem Geschäftskontrakt zu sichern: gut. Doch um sich in einem vom Heiligen Stuhl finanzierten Aufstand eine wichtige Rolle zu erkaufen…«
Der Bankangestellte sagte etwas, das ich nicht verstand. Kleinschmidt riss die Augen auf, während sich Tredittores Gesicht verfinsterte.
»Was meint er?«
»Er hat gesagt, das wäre der Kreditrahmen gewesen, und er sei bis zu einem Viertel ausgeschöpft. Ob Herr Tredittore ihn zu erhöhen wünsche?«, übersetzte Kleinschmidt.
»Was soll das heißen? Nach Janas Überweisungen muss noch mehr als die Hälfte übrig sein. Ich habe ihr Geld nicht angerührt; ich hätte nicht mal Vollmachten dazu gehabt, wenn ich das gewollt hätte.«
»Er sagt, seinen Unterlagen zufolge ist nicht mehr übrig als knapp ein Viertel.«
»Wo ist das restliche Geld hingekommen? Er hat uns doch alle Transfers gezeigt, oder?«
Der Bankangestellte sah einen Moment dümmlich aus, dann lieferte er eine wortreiche Erklärung und gestikulierte dorthin, wo der Jüngling mit dem Folianten verschwunden war.
»Die Transfers, die Jana hier veranlasst hat. Nicht, wenn über eine andere Kreditanstalt Geld abgezogen wurde.«
Ich starrte den Mann an. »Dann soll er uns die auch noch zeigen, zum Teufel«, stieß ich hervor. »Sagt ihm das, Tredittore.« Tredittore zögerte. »Worauf wartet Ihr noch?«
»Fast das ganze Geld ist weg«, stieß er hervor. »Ich muss das sofort nach Krakau berichten. Es war nicht ihr Geld. Es war das Geld des Hauses Dlugosz. Sie hat es veruntreut.«
»Macht Euch doch nicht lächerlich. Jana ist das Haus Dlugosz. Wenn sie es über eine zweite Bank abgezogen hat, ist es ihr gutes Recht, und wir werden es rasch feststellen. Wenn sich jemand das Geld widerrechtlich angeeignet hat, ist es auch im Sinne von Janas Vettern herauszufinden, was passiert ist.«
Der Bankangestellte sprach mich an; es war eine knappe Frage, die ich dennoch nicht verstand. »Er will wissen, was Ihr in der ganzen Sache zu sagen habt«, sagte Kleinschmidt und kniff die Lippen zusammen. Ich suchte nach einer Antwort und fand sie in seinem ängstlichen Gesicht.
»Sag ihm, ich sei ein Angehöriger des Hauses Dlugosz, der hier in Florenz weilt, um die Geschäfte des hiesigen Vertreters meines Hauses, nämlich Stepan Tredittore, zu überprüfen. Für dich war ich bereits ein Angehöriger des Hauses Hochstetter, also was soll’s!«
Tredittore fuhr herum und starrte mich entgeistert an. Ich zuckte mit den Schultern und bleckte die Zähne. »Fürchtet Ihr vielleicht um Eure Reputation?«, fragte ich ihn beißend.
Der Angestellte von Noris Bank musterte mich und dann Tredittore von Kopf bis Fuß. Schließlich stellte er mit erneuter Höflichkeit eine neue Frage an mich. »Er will Euer Siegel oder Eure Vollmacht sehen.«
Ich wandte meine Aufmerksamkeit von Tredittore ab und ihm zu. Ich brauchte nicht viel Schauspielerei, um ihn mit einem Blick niederzustrecken; meine Wut war hier in Florenz nur zu schnell greifbar. Er lächelte hilflos und murmelte: »Mi dispiace«, bevor er davoneilte, um einen weiteren Folianten zu besorgen.
»Das war nicht abgemacht«, zischte Tredittore.
»Wollt Ihr herausfinden, wohin das Geld gekommen ist, oder nicht?«
»Ich glaube, es ist wichtiger, meine Herren in Krakau schnellstens zu informieren und ihre Anweisungen abzuwarten. Es ist ihr Geld. Die Bank läuft uns ja nicht weg.«
»Was möchtet Ihr ihnen denn schreiben? Das Geld ist verschwunden, bitte teilt mir mit, ob ich nachfragen soll, wohin?«
»Er kommt wieder«, sagte Kleinschmidt hastig. Tredittore trat einen Schritt zurück und brachte sein Mienenspiel in Ordnung.
Es handelte sich um einen einzigen Eintrag. Das fehlende Viertel, immer noch ein Betrag, für den ein kleiner Kaufmann einige exzellente Geschäftsabschlüsse tätigen müsste, war tatsächlich im Auftrag eines anderen Bankhauses in Anspruch genommen worden. Ich hatte keine Zweifel, dass dabei alles legal gewesen war und Noris Bank die erforderlichen Vollmachten, Siegel und dergleichen in Augenschein genommen hatte; eine Kostprobe ihrer Genauigkeit hatten wir bekommen. Was mich vor den Kopf stieß, war der Name des anderen Bankhauses. Er lautete Pratini.
»Ich bin Eurem Rat gefolgt und habe mir Janas Banktransaktionen angesehen«, erklärte ich Beatrice keine Stunde später. Ich hatte Tredittore und Kleinschmidt in den Fondaco zurückgeschickt; Tredittore war unzufrieden gewesen und wäre lieber bei mir geblieben, und ich musste ihn erst unfreundlich daran erinnern, dass er einen Brief zu schreiben hatte. Offenbar hatte er sich meine bissige Bemerkung über den Inhalt seiner Nachricht zu Herzen genommen und wollte sich nun auch näher informieren. Ich hatte jedoch kein Verlangen, ihn Beatrice Federighi vorzustellen. Kleinschmidt war seinem Vorsatz getreu schweigsam geblieben und hatte mich nicht vor den Gefahren in Florenz gewarnt, sondern nur darauf hingewiesen, dass ich ihm jederzeit einen Boten in den Fondaco schicken könnte, wenn ich seiner Hilfe bedurfte.
»Ihr seht nicht so aus, als hätten Eure Nachforschungen Euch Frieden gebracht.«
»Ich nehme an, Ihr wisst, worauf ich gestoßen bin.«
Sie seufzte und versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nur unzureichend. Wir saßen wieder an dem Tisch beim Fenster, dessen Platte diesmal leer war. Keine Spiele mehr. Beatrice stand auf, kniete bei einer Truhe nieder und schloss sie auf. Sie entnahm ihr ein dünnes Päckchen Pergamente, die zwischen zwei feste Lederstücke gebunden waren, und legte es vor mir auf den Tisch. Ich rührte es nicht an. »Was ist das?«
»Die Beauftragung des Bankhauses Pratini, einen bestimmten Betrag aus dem Kreditrahmen des Hauses Dlugosz beim Bankhaus Nori abzufordern. Und ein weiterer Auftrag, an wen die Summe transferiert werden solle.«
»Wo habt Ihr es her?«
»Sagen wir, jemand aus dem Umkreis meines Bruders hat es mir gegeben, weil er fürchtete, es werde Ungelegenheiten bereiten, wenn es in den Unterlagen der Bank gefunden würde.«
»Ungelegenheiten für wen?«
Sie versuchte nun nicht mehr zu lächeln. »Für Antonio.«
Ich rührte mich noch immer nicht, um die Pergamente in Augenschein zu nehmen. Sie lagen ruhig auf der Tischplatte, meinen Händen näher als ihren. Was mich betraf, hätten die Seiten vergiftet sein können.
»Als wir uns das letzte Mal trafen, hattet ihr diese Dokumente bereits in Eurem Besitz.«
»Ja.«
»Darum wart Ihr so aufgebracht wegen der Sicherheit Eures Bruders. Jetzt verstehe ich.«
Beatrice wies mit einer knappen Bewegung auf das Päckchen. »Seht sie Euch an, dann versteht Ihr wirklich.«
Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Bund aufzuschnüren. Die Pergamente waren einfacher als die in Noris Bank; jeder Vorgang nahm ein eigenes Blatt in Anspruch. Das Bankhaus Pratini hatte entweder weniger Transaktionen zu tätigen oder besaß ausgezeichnete Kontakte zu Pergamentherstellern. Ich legte die Hände darauf, ohne sie zu lesen.
»Beatrice«, sagte ich rau, »an wen hat das Bankhaus Pratini im Auftrag Janas das Geld überwiesen?«
»Lest es selbst«, sagte sie unglücklich. »Ich will nicht diejenige sein, die Euch die Nachricht mitteilt.«
Der Vorgang, mit dem der Betrag von Nori auf Pratini übergegangen war, nahm zwei Dokumente in Anspruch: eine Vollmacht aus dem Haus Dlugosz und den Buchungsvorgang. Die Weiterleitung des Geldes bestand aus drei Pergamenten: wiederum einer Vollmacht von Janas Handelshaus, dem Buchungsvorgang und einer weiteren, mit dem Siegel Dlugosz versehenen Bestätigung, dass der Empfänger des Geldes auf ausdrücklichen Wunsch des Auftraggebers ausgewählt worden war, sonst keine Geschäftsverbindungen zum Bankhaus Pratini unterhielt und dass der Auftraggeber unter diesen Umständen darauf hingewiesen worden war, dass für die Sicherheit des Transfers keine Garantie geleistet werden konnte. Ich blickte in Beatrices Gesicht, die mir das Dokument übersetzt hatte. Die Vorsicht, mit der das Haus Pratini sich nach allen Richtungen abgesichert hatte, war verständlich. Die Transaktion war am Ostersamstag abgeschlossen worden. Der Empfänger des Geldes war das Bankhaus Pazzi in Rom, dessen Leiter, nur mit einem Hemd bekleidet, seit Ostersonntag an der Mauer des Palazzo della Signoria hing.
Auf den beiden Pergamenten, mit denen das Haus Dlugosz die Vollmacht zur Weiterleitung des Geldes erteilt hatte, prangte neben dem Siegel auch Janas kurze, schmucklose Unterschrift.
»Habt Ihr feststellen können, wer der Nutznießer des Kontos bei Pazzi ist?«, fragte ich Beatrice. Sie nickte. »Raffaelle Kardinal Riario.«
Ich schwieg eine lange Weile. »Hat Jana den Auftrag selbst erteilt?«
»Die Angestellten der Bank sagen, es wäre ein Bote gewesen. Er hatte die erforderlichen Legitimationen und die Vollmachten dabei. Man hätte den Auftrag von einer Frau auch nicht angenommen.«
»Jana hat am Ostersamstag stundenlang gearbeitet. Es verließen einige Boten das Haus.«
»Seht Ihr, warum ich Euch das gestern nicht einfach sagen konnte?«, fragte Beatrice ruhig. »Ihr musstet es selbst entdecken. Sonst hättet Ihr immer geglaubt, ich wolle Jana schlecht machen.«
»Ich nehme an, es war eine große Überwindung für Euch.«
»Ihr dürft nicht so sarkastisch sprechen. Die Überwindung war größer, es Euch zu sagen. Ich kann mir denken, was Ihr jetzt fühlt.«
»Das könnt Ihr nicht.«
»Peter«, sagte sie mit so großer Zärtlichkeit, dass ich den Blick von der Tischplatte hob und sie ansah, »glaubt Ihr im Ernst, dass ich Euch übel will?«
»Nein.«
Sie griff nach den Dokumenten. Ich packte ihre Hand und hielt sie fest. Sie wehrte sich nicht.
»Es war nicht nötig, diesen Transfer über das Bankhaus Pratini zu steuern«, sagte ich. »Nori hätte ihn genauso vorgenommen. Es sei denn, sie versuchte, den Weg, den das Geld nahm, zu verschleiern.«
»Oder sie wollte meinen Bruder mit ins Verderben ziehen«, erklärte sie, ohne ihre Hand meinem Griff zu entziehen.
»Euer Bruder hat selbst gesagt, dass er die Ungnade der Medici nicht zu fürchten braucht.«
»Antonio neigt dazu, sich selbst sicherer zu fühlen, als er ist«, sagte sie grimmig. »Diese Unterlagen würden ihn trotz der Neigung von Ser Lorenzo zu seiner Schwester in große Verlegenheit bringen.«
Ich machte eine Kopfbewegung zu den Dokumenten. »Was werdet Ihr damit anstellen?«
»Der Keller dieses Hauses ist sehr anfällig für Überschwemmungen. Bei dem großen Wolkenbruch ist Wasser eingedrungen und hat eine ganze Reihe von Geschäftsdokumenten vernichtet. Diese hier auch.«
»Ihr könntet sie verwenden, um Jana endgültig den Garaus zu machen.«
»Damit brächte ich meinen Bruder in Gefahr. Nein. Außerdem: Weshalb glaubt Ihr, ich wollte sie vernichten?«
»Es lag Euch daran, dass ich diese Unterlagen finde.«
»Es lag mir nur daran, dass Ihr Frieden findet.«
»Das ist Euch nicht gelungen.«
Sie sah mir in die Augen und lächelte traurig. Ihre Hand bewegte sich in meiner. Ich hielt sie weiterhin fest und fragte mich, ob ich selbst mich daran festhalten musste oder ob ich den Impuls bekämpfte, sie zu zerquetschen.
»Nicht jetzt. Jetzt habe ich Euch traurig und wütend und verzweifelt gemacht. Jetzt habe ich Euch keinen Frieden gegeben. Nur Gewissheit. Der Frieden kommt später. Ich bete zu Gott, dass ich Euch nicht von mir weggestoßen habe; aber ich versichere Euch, dass ich selbst das akzeptieren würde um das Wissen, Euch eigentlich damit geholfen zu haben. Euer Wohl liegt mir mehr am Herzen als mein eigenes.«
»Ihr solltet nicht so reden.«
»Lasst mich doch«, sagte sie und hielt mich mit ihrer zweiten Hand, »lasst mich, denn es erfüllt mich mit Glück, so zu reden.«
»Ich muss Euch enttäuschen. Ihr habt mir keine Gewissheit gegeben«, erklärte ich langsam und merkte, wie schwer es mir fiel. Ihr Lächeln sank langsam nach unten, und in ihre Augen trat ein bestürzter Ausdruck. »Ich will Euch nur ein paar Ungereimtheiten aufzeigen. Jana kannte auf der Reise von Venedig hierher bereits drei in dieser Angelegenheit wichtige Männer: Umberto Velluti, Francesco Nori und Bieco Alepri. Sie hat zweien davon Geld zukommen lassen. Zu Paolo Boscoli und Benozzo Cerchi bestand offenbar keine Verbindung. Dennoch bat Cerchi sie innerhalb eines Tages nach ihrer Ankunft hinaus zu seinem Landhaus. In diesem Zeitraum konnte er nicht einmal Erkundigungen eingezogen haben. Er sprang also auf eine völlig Unbekannte an – und noch dazu eine Frau, die ihr eigener Herr ist, was hier in Florenz sicher noch unüblicher ist als anderswo.«
»Hat nicht Antonio sie Cerchi empfehlen lassen?«
»Ja, und er gab mir zu verstehen, dass es geschah, weil er hoffte, sie würde Cerchi den gleichen Schaden zufügen wie ihm selbst.«
»Das ist nicht schön von ihm, aber er und Cerchi stehen nicht im besten Einvernehmen.«
»Ich finde es nur seltsam, dass Euer Bruder erst am Samstagnachmittag auf Jana traf und überrascht tat, sie in Florenz wiederzufinden. Wir gingen gleich nach diesem Treffen nach Hause. Als wir dort ankamen, lag die Nachricht von Cerchi schon vor. Euer Bruder hatte noch nicht einmal Zeit, selbst nach Hause zu gelangen und einen Boten zu Cerchi zu schicken, geschweige denn seine Empfehlung so geschickt zu verklausulieren, dass Cerchi darauf hereinfallen würde.«
»Ich verstehe nicht, worauf Ihr hinauswollt.«
»Cerchi lud eine Reihe von Kaufleuten auf sein Landhaus ein. Jana war dabei. Als Frau und als Neuling in diesem Kreis musste sie sogar Cerchis Frau auffallen – umso mehr, wenn sie ihrem Mann besonders empfohlen wurde. Dennoch bezeichnete Monna Violante sie nur als ›jenes ausländische Weib‹, von der sie noch nie vorher etwas gehört hatte.«
»Ich verstehe immer noch nicht…«
Ich seufzte. »Beatrice, Cerchi wusste schon vorher, dass Jana in Florenz eintreffen würde. Dass Euer Bruder ihm eine Empfehlung schickte, bedeutet, dass auch Antonio im Vorhinein wusste, dass wir hierher kommen würden.« Ich löste meine Hand aus ihrem Griff und fischte in meiner Tasche nach dem schwarzen Spielstein. Ich legte ihn behutsam auf den Tisch. »Er hat sein Spiel mit Jana gespielt. Sagt mir ehrlich: Habt Ihr davon gewusst?«
»Ich… nein! Ich habe sogar jetzt Mühe, Euch zu folgen.«
»Wisst Ihr, wenn ich überzeugt wäre, dass Benozzo Cerchi ein Anhänger der Pazzi sei, dann wäre ich geneigt zu glauben, dass Euer Bruder diese Verbindung nur deshalb eingefädelt hat, um Jana in den Aufstand zu verwickeln.«
Sie machte Anstalten, mir ihre Hand zu entziehen, aber ich hielt sie fest. Sie starrte mir mit verkniffener Miene ins Gesicht und setzte zum Sprechen an, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. »Allerdings bin ich tatsächlich davon überzeugt, dass Cerchi im Sinne dessen, was man ihm vorwirft, unschuldig ist.«
»Warum hätte man ihn dann verhaftet?«
»Das frage ich mich auch. Der Beweis, der gegen ihn und gegen Jana vorliegt, ist das Schreiben, das sie an ihn und Boscoli gerichtet hat und von dem man glauben soll, man habe es gefunden, als man deren Dokumente durchsuchte – und von dem Cerchis Frau behauptet, sie wisse nichts davon. Natürlich ist es möglich, dass sie über seine Geschäfte nicht Bescheid wusste, doch immerhin stehen sich beide nahe genug, dass Monna Violante täglich vor dem Gefängnis erscheint, um für ihn zu bitten. Letztlich ist die entscheidende Frage aber: Wie kamen die Behörden auf ihn? Und wenn wir einmal – nur um das Argument näher zu beleuchten – annehmen wollen, dass Jana das getan hat, was man ihr vorwirft: Woher wusste sie dann, dass Cerchi ein Anhänger des Aufstands war und dass sie gefahrlos mit ihm Verbindung aufnehmen konnte, wenn ihr bei der Abreise aus Venedig noch nicht einmal sein Name geläufig war?«
»Ich verstehe kaum etwas von dem, was Ihr sagt. Es tut mir Leid.«
»Es macht auch noch nicht viel Sinn. Nicht, wenn man nicht jemanden ins Spiel bringt, der sowohl Jana als auch Cerchi vernichten wollte.«
Jetzt entzog sie mir ihre Hand endgültig. »Ihr meint meinen Bruder.«
»Beatrice, es liegt nahe. Wer hätte einen Gewinn davon, wenn beide am Galgen oder im Kerker enden? Wer hätte die Möglichkeit, die Behörden zu bestechen und ihnen einen gefälschten Brief unterzuschieben?« Ich stutzte, und sie hakte sofort ein.
»Wenn der Brief an Cerchi gefälscht wäre, wäre es auch der an Boscoli. Habt Ihr beide überprüfen können?«
»Die Unterschrift ist echt«, knurrte ich. »Vom Rest weiß ich nichts.«
Sie sah mich verständnislos an, und ich setzte hinzu: »Der Mann, den ich schickte, die Briefe zu überprüfen, ist leider einen Tag später ermordet worden, sodass ich keine endgültige Gewissheit habe.«
»Ermordet? O Mein Gott, seid Ihr sicher? Was sagen die Behörden dazu?«
»Ich habe seinen Tod nicht gemeldet. Ich denke, seine Familie hat es getan. Er war aus der Tuchfärberstraße, und ich nehme nicht an, dass sein Tod irgendwelchen Wirbel verursacht hat.« Ich dachte an den untersetzten Körper Lapo Rucellais, wie ihn die Schwere des Todes am Ufer des Arno festhielt, und an den Batzen Geld, den ich über den Fondaco an seine Witwe hatte auszahlen lassen. Ich hoffte, es reichte, dass Lapos Tochter sich für eine Weile nicht mehr den Rock von ihrer Mutter aufheben lassen musste.
Beatrice war merklich blasser geworden. Ihre Gedanken gingen in dieselbe Richtung wie meine, denn sie sagte: »Und Ser Velluti…«
»… hat sich in den Arno gestürzt. In den Fluss, in den er freiwillig nie gegangen wäre, nicht mal zum Sterben. Ich habe ihn über eine Brücke gehen sehen: Er hatte mehr Angst vorm Wasser als eine Katze.«
»Bitte sagt mir nicht, was Ihr darüber denkt.«
»Das brauche ich nicht zu tun.«
Sie nickte verbissen. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
»Und nicht zuletzt«, vollendete ich, »läuft mir hier in Florenz ein Kerl mit einer Lederschürze und einem aufgeschundenen Gesicht nach; einer Schürze, wie sie Steinmetze tragen, und einem Gesicht, in dem die Narben von Tausenden kleinen Steinsplittern sitzen. Er ist mir auch hierher gefolgt.«
»Hört auf.«
»Allerdings trug er heute keine Schürze und andere Kleider. Er bewegte sich so unbeholfen darin, dass er mir sogar aufgefallen wäre, wenn er nicht ständig in großem Abstand hinter mir hergelaufen wäre und selbst die kleinen Umwege mitmachte, die ich einschlug, um ihn auf die Probe zu stellen.«
»Das alles beweist noch nicht, dass mein Bruder etwas damit zu tun hat«, sagte sie verzweifelt.
»Nein«, sagte ich und stand auf. »Und es beweist noch nicht, dass Jana unschuldig ist. Aber wisst Ihr was? Ich glaube daran. Und ich stelle fest, dass ich die ganze Zeit über daran geglaubt habe. Ich wusste es nur nicht.«
»Ich möchte Euch helfen.«
»Selbst wenn es gegen Euren Bruder geht?«
»So, wie Ihr daran glaubt, dass Jana unschuldig ist, so glaube ich daran, dass mein Bruder nicht hinter all diesem Intrigieren und Morden steckt. Es geht daher nicht gegen Antonio, wenn ich Euch unterstütze.«
»Warum wollt Ihr es tun?«
»Weil es für Euch immer noch etwas festzustellen gibt.«
Ich wusste, worauf sie anspielte. Und ich musste ihr Recht geben. Ich zweifelte nicht mehr daran, dass man Jana hereingelegt hatte, doch hatte es mir kaum Erleichterung gebracht. Denn es gab etwas zu klären, das im Endeffekt viel wichtiger war als ihre Schuld oder Unschuld: Es galt festzustellen, ob unsere Liebe noch Bestand hatte. Ich für meinen Teil musste ihr dazu gegenüberstehen. Wenn es sonst keinen Grund gab, sie aus dem Gefängnis zu befreien, dann diesen. Ich stand auf und stapfte hinaus und fühlte Beatrices Blicke in meinem Rücken.
2.
D
er Mann mit der Schürze, der heute der Mann mit der schlecht sitzenden rosaroten Schaube und dem hohen Hut war, wartete in einem Hauseingang auf mich. Er wandte nur sein Gesicht ab, als ich an ihm vorbeiging, und nahm dann die Verfolgung auf. Ich führte ihn zu Santissimi Apostoli, der kleinen Kirche mit dem Kinderfriedhof in der Nähe des Arno-Ufers. Er folgte mir mit weitem Abstand, und so war es ein Leichtes, die Gittertür zum Friedhof zu öffnen, hineinzuschlüpfen und mich hinter einem der Grabsteine zu verbergen, bevor er auf den Platz hinaustrat. Er stapfte unbeirrt weiter in die Gasse hinein. Ich wartete mit erzwungener Geduld; er tauchte bald wieder auf, den Kopf verwirrt hin und her drehend und schließlich zu dem unausweichlichen Schluss kommend, dass ich in der Kirche sein müsse. Er warf nur einen kurzen Blick über die Mauer des Friedhofs, dann griff er nach der Kirchentür. Plötzlich hielt er inne; er schien zu überlegen, wie auffällig es wohl wäre, wenn ich in der Kirche steckte und betete und er wie zufällig dazukam. Dieses Dilemma beschäftigte ihn eine ganze Weile, bis er die Denkerei durch die Tat ersetzte und einfach die Tür aufriss. Er verschwand in der Kirche, aber nicht für lange. Vollends verwirrt trat er wieder daraus hervor und trabte nach einem letzten Blick über den kleinen Platz mit hängendem Kopf davon. Auf den Gedanken, den Friedhof genauer zu inspizieren, kam er nicht. Ich richtete mich hinter dem Grabstein auf, sobald ich es für ungefährlich hielt. Der Grabstein beschützte die letzte Ruhestätte von Benedetto Gherardini, geboren 1465, gestorben 1468. Vielleicht hatten seine Eltern ihm noch die grandiose Kuppel des Doms zeigen können, die in diesem Jahr fertig geworden war, bevor er starb. Seine kleinen Gebeine waren schon zu Staub zerfallen, ehe die Kuppel den ersten Grünspan ansetzen konnte. Ich sprach ein kurzes Gebet für ihn und machte mich daran, meinem unglücklichen Verfolger nachzuschleichen.
Er bewegte sich mit der groben Eile eines Menschen, der wütend auf sich selbst ist. Sein hoher Hut war nicht nur lächerlich, er war ihm auch zu klein, und da er niemals gelernt hatte, anders als mit schlenkernden Armen, pumpenden Schultern und nickendem Kopf zu gehen, tanzte der Hut auf seinem Haupt hin und her wie betrunken. Schließlich nahm er ihn ab und trug ihn mit spitzen Fingern. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, sich umzusehen – seine Gedanken beschäftigten sich damit, wie es hatte passieren können, dass ich ihn abgeschüttelt hatte.
Zu meinem Erstaunen ließ er Santa Trinità rechts liegen und marschierte am Arno-Ufer entlang flussabwärts zur nächsten Brücke, über die er mich nach Oltr’ Arno hinüberführte. Ich hatte erwartet, dass er ins Haus von Antonio Pratini zurückkehren würde, um den Fehlschlag seiner Mission zu beichten -und zwar an Rudolf Gutswalter. Wen er allerdings hier aufsuchen wollte, war mir ein Rätsel.
Er ging bis zur Stadtmauer, die sich in der Höhe des Stützwehrs erhob und mit einer weiten Kurve nach Süden schwang. Die Häuser hier waren längst schon keine Patrizierhäuser mehr, sondern einfache, zum Teil ungepflegte Bauten ohne Putz und mit schmucklosen, flach gewinkelten Dächern. In den Fensterhöhlen war kein Glas, in den Türöffnungen keine Türen, und wenn man durch sie hindurch in einen Innenhof blicken konnte, sah man Vorratsschuppen und festgetrampeltes Erdreich. Die Geräusche von Handwerkern drangen daraus hervor, Sägen, Klopfen und Hämmern, untermischt von Kinderweinen oder dem rhythmisch-heiseren Gesang, den ein Arbeiter bei sei-. nem# Werk von sich gab. Als er in eine niedrige Türöffnung einen Steinwurf weit vom Turm eines Stadttores schlüpfte, hätte ich ihn beinahe verloren. Nur der Umstand, dass der Sturz der Tür so niedrig war, dass er seinen Schritt verlangsamen und sich bücken musste, rettete mich. Das Haus war zweistöckig und klein und stand zwischen zwei vierschrötigen Lagerstadeln, deren oberstes Stockwerk weit überkragte. Ich drückte mich hinter den Mauervorsprung eines anderen Hauses und wartete darauf, dass er wieder herauskommen würde. Er tat es nicht. Schließlich schlich ich näher heran und spähte in die Türöffnung des kleinen Hauses.
Er stand in einem düsteren, schattigen Innenhof, nicht größer als das Gesindezimmer in einem Patrizierhaus. Die beiden großen Gebäude zu den Seiten des Hauses schlossen das Sonnenlicht aus; dasselbe tat die wuchtige Wand der Stadtmauer, die sich gleich dahinter erhob. Die ganze Häuserzeile musste zu denen gehören, die bei der Errichtung der Stadtmauer nicht abgerissen worden waren, sondern im Verteidigungsfall von ihren Bewohnern geräumt und als Depot für Waffen, Steine und zum Erhitzen des Pechs verwendet wurden. Tatsächlich führte eine Treppe hinter dem Haus an der Mauer in die Höhe, an deren Ende ein eisernes Tor den Zugang zum Mauerkranz versperrte. In der Regel bezogen die schlechten Weiber diese Bauten. In Städten wie Florenz, wo die schlechten Weiber über die ganze Stadt verteilt waren, wurden sie von den Menschen bezogen, die außer der Erlaubnis, innerhalb der Stadtmauern zu wohnen, nichts besaßen. Er hatte seinen Hut und seine Schaube abgelegt und dafür seine Lederschürze angezogen. Eine abgehärmte Frau mit einem Kind auf dem Arm stand neben ihm und keifte auf ihn ein; zu ihren Füßen saß ein etwas älteres Kind und weinte aus Leibeskräften, und aus dem Inneren des Hauses ertönte das wütende Streiten weiterer Kinder. Er schien von alledem nichts zu hören; sein Gesicht war dunkel und hart, und er schwang einen schlanken, spitzen Hammer in der Linken, den er mit mühsam beherrschten Schlägen auf das hintere Ende eines Metallkeils herabsausen ließ. Der Keil fraß sich in den matten Stein eines sandbraunen Blocks und schälte die Umrisse einer Figur daraus hervor. Der Rumpf war ungleichmäßig, die Arme verschieden hoch angesetzt und der Kopf ein formloser Klumpen auf einem zu dünnen Hals. Erst jetzt erkannte ich, dass es sich um eine Kopie jenes Davids handeln sollte, von dem auch in Pratinis Werkstatt Übungskopien angefertigt wurden. Der Stein war absolut ungeeignet für alles, außer viereckig behauen und in eine Stadtmauer gesetzt zu werden; aber die Jämmerlichkeit der werdenden Statue lag nicht allein daran. Ich hatte meinen Verfolger geschickt selbst verfolgt, und anstatt dass er mich zu seinem Auftraggeber gebracht hätte, hatte er mich zu seinem elenden Zuhause geführt. Die Steinsplitter flogen, die Frau schimpfte, die Kinder greinten; und den Händen des Bildhauers fehlte jegliches Talent.
Anders als die Angestellten in Noris Bank machte der Mann, der mich in Pratinis Bankhaus in Empfang nahm, einen eher wachsamen als dienstfertigen Eindruck. Ich zog eine hochmütige Miene und redete so lange Lateinisch auf ihn ein, bis er die Hände in die Luft warf und auf die Suche nach jemandem ging, der mich verstand. Ein älterer Mann, der an einem erhöhten Schreibpult im Hintergrund des Raumes arbeitete, trat schließlich vor mich hin und fragte mich, was er für mich tun könne.
»Ich bin Meister Pietro Bernardi aus Rom«, sagte ich herablassend. »Ich bin der persönliche Schatzmeister Seiner Exzellenz, Kardinal Riario. Es gibt ein Problem mit Eurer Bank.«
Seine Miene wurde kühl, als er hörte, woher ich zu kommen vorgab. »Das kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber ich werde Euch gerne helfen. Worum geht es?«
»Kardinal Riario wurde eine Summe Geldes angekündigt, die von Eurer Bank an das Haus Pazzi in Rom transferiert werden sollte. Dieses Geld ist nicht eingetroffen.«
Pratinis Bankier überlegte einen Moment, dann sagte er mit beinahe derselben Herablassung wie ich: »Dann muss das Problem am Bankhaus Pazzi liegen, da sein Leiter die Ehre hat, hier in Florenz am Palazzo della Signoria zu baumeln.« Wie es schien, war ein Florentiner nicht geneigt, sich von einem römischen Angestellten eines römischen Kardinals beeindrucken zu lassen, und schon gar nicht zu dieser Zeit. Ich blieb dennoch bei meiner Rolle.
»Ich möchte die Transaktion nachprüfen, und zwar schnell.«
Der Bankier schluckte meinen Rüffel mühsam hinunter, zuckte mit den Schultern und führte mich wie sein Kollege in Noris Bank zu einem leeren Schreibpult, bevor er durch eine weitere, mit schweren Eisenbändern beschlagene Tür verschwand. Ich wusste, dass er nichts finden würde. Ich setzte ein ungeduldiges Gesicht auf und trommelte mit der flachen Hand auf dem Schreibpult herum, bis mir von überall im Raum zornige Blicke zugeschossen wurden.
Pratinis Bankier suchte eine ganze Weile und kam dann wieder zum Vorschein. Er wirkte irritiert. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, strebte er schnellen Schrittes durch das Bankkontor und schlüpfte in eine andere Tür.
»Was soll das?«, rief ich in den Raum. »Wo hat er meine Unterlagen?« Ich erwartete keine Antwort und bekam auch keine.
Zuletzt tauchte der Mann mit einem vor Nässe aufgequollenen Stück Pergament in den Händen wieder auf. Er hatte zwischenzeitlich bedeutend an Luft verloren und in seiner Erregung auch die Fähigkeit, klar und langsam Latein zu sprechen. Ich verstand auch so, dass er die Dokumente nicht finden konnte, und der aufgeweichte Fetzen in seinen Händen war die bildliche Darstellung dessen, was ich von Beatrice gehört hatte. Ich ließ ein ungläubiges Lachen hören. Es traf ihn in der Ehre; scheinbar war er wirklich der Überzeugung, die Dokumente seien einer Überflutung des Kellers zum Opfer gefallen.
»Ihr könnt jederzeit mit dem Leiter dieser Bank sprechen, wenn Ihr wünscht«, erklärte er resigniert.
»Ich bitte freundlichst darum.«
Der Bankangestellte trat einen neuerlichen Gang durch die zweite Tür an und blieb dort einige Zeit. Ich fixierte die Tür und hoffte, dass mich meine Erinnerung nicht trog und der Leiter von Pratinis Bank wirklich der war, den ich vermutete. Als sie sich wieder öffnete, trat Rudolf Gutswalter hindurch und sah sich suchend um. Der Bankangestellte folgte ihm auf dem Fuß und deutete quer durch den Raum auf mich. Gutswalter riss die Augen auf, dann begann er zu grinsen. Er schickte den Angestellten mit einer kurzen Bemerkung seiner Wege und schlenderte auf mich zu. Heute trug er einen kurzen, ärmellosen Mantel mit einem schwarzsamtenen Rankenmuster über einer engen rosafarbenen Hose. Der Mantel verbarg seine Hände und enthüllte wie seine restliche Garderobe, dass er für Kleidung anständige Summen auszugeben geneigt war.
»Pietro Bernardi«, sagte er statt einer Begrüßung und schüttelte lächelnd den Kopf. »Und ich bin auch noch darauf hereingefallen.«
»Wie wäre es, wenn Ihr weiterhin darauf hereinfallen würdet und uns beiden eine kurze Zeit für ein Gespräch gönnt?«
Er zögerte und spähte in der Bank umher, um Zeit zu gewinnen. »Ich habe letztens vergeblich auf Euch gewartet«, sagte ich im Plauderton. »Ich dachte, Ihr würdet rechtzeitig zu Antonio Pratinis Fest kommen, aber scheinbar habt Ihr Euch verspätet.«
»Ich war bereits im Haus.« Er lachte nervös. »Ich war in meiner Stube und habe eine Spende für die Humiliatenbrüder vorbereitet. Ich hatte sie gebeten, Antonios Einladungen auszutragen, damit sie so schnell wie möglich ihre Empfänger erreichten. Die Humiliatenbrüder sind arm und verrichten ab und zu kleine Dienste. Sie sind sehr zuverlässig.«
»Jedenfalls habt Ihr mich so um die Gelegenheit gebracht, mich mit Euch unter vier Augen zu unterhalten.«
»Nun, wenn Ihr mich so aufgestöbert habt, bin ich Euch dieses Gespräch wohl jetzt schuldig.«
»Mindestens.«
»Dann kommt.« Gutswalter streckte eine Hand unter seinem Mantel hervor und wies einladend in Richtung auf die Tür, durch die er gekommen war. Dort lag eine Stube ganz ähnlich der, in der Ferdinand Boehl den Kampf gegen die Unbilden des Handelsgeschäfts führte. Gutswalter schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Ich drehte mich zu ihm um. Ich versuchte, Ärger darüber zu empfinden, dass er mich so lange an der Nase herumgeführt hatte, aber alles, was ich heraufbeschwor, war die Erinnerung an die Schweißtropfen auf seinem Gesicht, als er mich im Gefängnis vor den Gerichtsdienern bewahrt hatte.
»Ihr seid mir außerdem ein paar Antworten schuldig.«
»Das ist ein Irrtum«, erwiderte er verbindlich. »Aber Ihr könnt mir die Fragen trotzdem stellen.«
»Warum habt Ihr mir nicht gesagt, dass Ihr für Antonio Pratini arbeitet?«
»Was für einen Unterschied hätte es gemacht?«
»Pratini ist Janas Feind.«
»Das ist er nicht. Doch selbst wenn es so wäre – habe ich mich wie ein Feind verhalten?«
»Nein«, gab ich zu. Er zuckte mit den Schultern. »Es könnte jedoch sein, dass Ihr von dieser Feindschaft nichts wusstet.«
»Erstens ist da keine Feindschaft«, erklärte er mit erwachender Irritation, »und zweitens wäre ich nicht Antonios Partner und Finanzverwalter, wenn ich nicht wüsste, wer seine Konkurrenten und wer seine Verbündeten sind.«
»Ist Jana nicht Pratinis Konkurrentin?«
»In Venedig war sie es wohl.« Er grinste, aber es fiel ein wenig bemühter aus als sonst. »Hier – keine Chance.«
»Ihr seid also der Ansicht, es nützt ihm nichts, dass Jana im Gefängnis sitzt.«
»Hört, Herr Bernward, wenn Ihr mir einreden wollt, Antonio sei dafür verantwortlich, dass Eure Gefährtin verhaftet wurde…«
»Ich will gar nichts«, unterbrach ich ihn. »Ich denke nur laut, weil es mir manchmal hilft, Dinge geradezurücken. Jetzt zum Beispiel denke ich darüber nach, ob Pratini weiß, dass Ihr und Beatrice die Dokumente für die Transaktion an Pazzis Bank habt verschwinden lassen.«
»Wenn Ihr so fragt, wisst Ihr die Antwort bereits«, sagte er nach einer längeren Pause.
»Das heißt, er weiß nicht einmal etwas über den Transfer.«
»So ist es. Ich leite die Geschäfte seiner Bank, und er vertraut mir.«
»Was wisst Ihr über dieses Geschäft zwischen Jana und Kardinal Riario?«
»Ich weiß nicht mehr darüber als das, was Monna Beatrice Euch erzählt hat.« Er hob die Hand. »Und bevor Ihr fragt, woher ich weiß, was sie Euch erzählt hat: Sie hat mir von Eurem Gespräch berichtet. Dass Ihr allerdings hier aufkreuzen würdet, hat sie nicht vorausgesehen.«
»Jana und ich haben Riario auf dem Weg von Prato nach hier getroffen. Er hat uns den Schutz seiner Begleitmannschaft angeboten. Es waren Medici-Leute, wenngleich dieser Hauptmann Montesecco bei ihm war. Sicherlich hat Jana versucht, den Kardinal mit Geld dazu zu bewegen, sich für sie in Rom einzusetzen.« Gutswalter machte eine abwehrende Geste. »Ihr müsst ihre Handlungen nicht vor mir verteidigen. Ich bin nicht der Ankläger.«
Ich schnaubte. Gutswalter sah mich lächelnd an. Er schien seine natürliche Freundlichkeit wiedergefunden zu haben. Als ich schwieg, stieß er sich von der Tür ab und trat gelassen auf sein Schreibpult zu, wo er anfing, in seinen Dokumenten zu blättern. Es war, als wollte er mir höflichst zu verstehen geben: Wenn das alles war, kannst du wieder gehen. Ich habe zu tun.
»Ich habe Euren Mitarbeiter heute bis nach Hause verfolgt«, sagte ich. Er sah auf. »Wen?«
Es war ein Schuss ins Blaue gewesen, und ich wusste schon nach seiner ersten Rückfrage, dass er fehlgegangen war. Ich redete trotzdem weiter. »Den Bildhauer; den Mann, der mir in Florenz nun schon zweimal so lange nachgelaufen ist, bis ich ihn abhängen oder verscheuchen konnte.«
Sein Gesicht spannte sich. »Ihr werdet verfolgt?«, fragte er beunruhigt. »Hierher auch?«
»Nein, ich sagte doch, ich habe ihn abgehängt. Zumindest jetzt. Er folgte mir allerdings, als ich heute Beatrice besuchte.«
»Habt Ihr herausgefunden, warum er das tut?«
»Ich habe zumindest herausgefunden, dass er nicht aus eigenem Antrieb hinter mir herläuft. Er ist ein verkrachter Bildhauer; wahrscheinlich ein früherer Steinmetz mit zu viel Talent für das Behauen von Steinen und zu wenig für das Herausarbeiten von Statuen aus dem Stein. Mit Sicherheit bezahlt ihn jemand dafür, dass er mich verfolgt. Seine Lebensumstände sind zu verzweifelt, als dass er es sich leisten könnte, irgendeine Arbeit abzulehnen.«
»Warum fragt Ihr ihn nicht, wer ihn bezahlt?«
»Eine grandiose Idee: den Spitzel zu fragen, wer sich seiner bedient!«
»Warum nicht? Wenn Ihr mehr bietet, wird er vielleicht zu Euch überlaufen.«
»Weshalb seid Ihr an der Sache so interessiert?«
»Es könnte ein Spitzel der Behörden sein. Vielleicht ist man Euch auf die Spur gekommen.«
»Ein Behördenspitzel sieht anders aus, das könnt Ihr mir glauben. Auch hier in Italien. Von denen habe ich genug gesehen.«
Er sah mich an und überlegte ganz offensichtlich, wie und wann ich in genügend intensive Berührung mit Spitzeln gekommen sein konnte.
»Ich habe einmal für Bischof Peter Bessarion von Augsburg als Untersuchungsbeamter gearbeitet«, erklärte ich unwillig und ärgerte mich, den Mund nicht gehalten zu haben. Es ging nicht darum, ihm aus meinem Leben zu erzählen. »Es ist lange her.«
»Ich habe den Mann jedenfalls nicht in Auftrag genommen«, sagte Gutswalter und lächelte dünn. »Ich habe es gar nicht nötig, Euch zu überwachen: Ihr kommt ja zu mir. Und Antonio hat es ganz sicher auch nicht getan.«
»Wer sagt Euch, dass Ihr über all seine Schritte Bescheid wisst?«
»Das sagt mir niemand, das weiß ich auch so.«
»Es herrscht großes Vertrauen zwischen Euch, will mir scheinen.«
»Und ich bin stets bemüht, es nicht zu enttäuschen.«
»Seid Ihr Euch da sicher? Vielleicht wäre es ihm lieber, ich würde im Gefängnis sitzen, Seite an Seite mit Jana, statt dass Ihr meine Verhaftung verhindert habt?«
»Ganz sicher wäre es ihm lieber, wenn dieser unselige Aufstand niemals passiert wäre«, erklärte Gutswalter diplomatisch.
»Lieber als Anhänger der Medici oder als Anhänger der eigenen Geschäfte?«
»Lieber als Christ, der jedes Blutvergießen entsetzlich findet.«
Ein Mann öffnete die Tür und kam herein. Gutswalter zwang das Lächeln wieder in sein Gesicht und wandte sich ihm zu. Der Mann beugte sich zu Gutswalter und raunte ihm etwas ins Ohr, und Gutswalter zog eine Augenbraue hoch, nickte und schickte ihn wieder fort. Er sagte mir nicht, welche Nachricht er erhalten hatte, und ich fragte nicht nach.
»Was verbindet Euch und Pratinis Familie?«, fragte ich ihn. »War Pratini derjenige, der Euch aus dem Gefängnis geholt hat?«
Gutswalter schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich habe Euch doch gesagt, der Mann ist nicht mehr am Leben. Man könnte jedoch sagen, dass ich Antonios Bekanntschaft auf Grund dieser Geschichte machte.« Ich wartete darauf, dass er mehr sagen würde, aber scheinbar war er nicht gewillt, von seinem Erlebnis im Schuldgefängnis noch mehr preiszugeben, als er bisher getan hatte. Er sah nachdenklich an mir vorbei.
»Wie kam es dazu, dass er Euch als Partner akzeptiert hat?«
»Er brauchte jemanden, der seine weit verzweigten Finanzen für ihn regelt, und ich brauchte Arbeit.«
»So nahm er sich Eurer an wie ein echter Christ.«
»Er hat Euch nichts getan, aber Ihr habt nur Zynismus und Verachtung für ihn. Oder Ihr versucht ihn schlecht zu machen.«
Pratini hatte mir die gleiche Beschuldigung in Bezug auf Gutswalter um die Ohren gehauen. »Ihr versucht ihn lediglich schönzureden«, sagte ich heftiger als nötig. »Letzten Endes ist er nur hinter seinem Geld her wie alle anderen.«
»Ihr enttäuscht mich«, sagte Gutswalter kalt. »Worauf stützt Ihr Euer Urteil? Ihr habt ihn niemals kennen gelernt.«
»Oh, ich habe ihn kennen gelernt. Ich durfte mir sogar sein Lieblingsprojekt ansehen: seine Werkstatt für angehende Genies. Leider verschlingt dies und seine Feiern zur Genesung von Lorenzo de’ Medici seine ganze Zeit, so dass er mir nicht helfen konnte, Janas Unschuld zu beweisen.«
»Habt Ihr denn jemand anderen gefunden?«, zischte Gutswalter.
»Wollt Ihr die Feigheit der restlichen Florentiner dazu benutzen, Pratinis Desinteresse zu rechtfertigen?«, fragte ich. Er stützte sich auf sein Schreibpult und schien bemüht, seine höfliche Fassade zu wahren. Sein Gesicht lief dunkel an.
»Vielleicht verstehe ich das Ganze ja auch einfach nicht«, sagte ich obenhin. »So wie ich auch den Grund nicht verstehe, warum die Transaktion an die Pazzi-Bank verschwinden musste -wo doch Pratinis Verbindungen zu den Medici so hervorragend sind.«
»Natürlich versteht Ihr es nicht«, erwiderte er mit echtem Zorn in der Stimme. »Woher solltet Ihr auch wissen, dass Antonio seine Lehre im Bankhaus Pazzi in Rom absolvierte, als er achtzehn Jahre alt war, und dass man in Florenz im Allgemeinen der Richtung treu bleibt, die man einmal eingeschlagen hat. Ihr könnt ein ganzes Leben lang ein Welfe gewesen sein: Wenn Ihr Euch als Junge einmal mit einem Ghibellinen unterhalten habt und tatet als alter Mann etwas, das wie eine Sympathiekundgebung für die Ghibellinen aussah, hätte jeder gesagt: ›Ganz klar, er war von Anfang an schon dieser Seite zugeneigt und hat sich nur die Jahre über verstellt.‹«
»Der Zwist zwischen Kaiser und Papst ist schon lange her.«
»Ich habe es nur als Beispiel gewählt. Wahrscheinlich wird man in ein paar Jahren für ein solches Beispiel die Parteien Pazzi und Medici nennen.«
»Ihr wollt mir also erklären, dass Ihr die Dokumente verschwinden ließet, weil jemand sie hätte entdecken und daraus den Schluss ziehen können, dass Pratini eine Geschäftsverbindung zu Pazzi besaß. Dabei gab es doch ein Pergament, in dem ausdrücklich zu lesen war, dass es diese Verbindung nicht gab und der Transfer nur auf ausdrücklichen Wunsch des Kunden vorgenommen wurde.«
»Ein Pergament, jawohl. So viele Pergamente gibt es auf der ganzen Welt nicht, dass sich damit Giulianos Blut auftrocknen ließe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Pratini war in seinen jungen Jahren Lehrling bei Pazzi! Und ich dachte stets, er hätte seine Ausbildung bei den Fuggern genossen.«
»Das kam viel später. Während seiner Ausbildung bei Pazzi erkannte Antonio, dass ihm ein Dasein als Kaufmann besser gefallen würde als das Leben eines Bankiers. Er lehnte die Anstellung im Bankhaus Pazzi ab und absolvierte stattdessen eine weitere Lehre, diesmal bei der Familie Strozzi.«
»Als Kaufmann.«
»Richtig.«
»Darf man fragen, welcher Seite die Familie Strozzi zugeneigt ist?«
Er winkte ab. »Das ist nicht mehr von Belang. Das Haus Strozzi ging bankrott.«
»Tatsächlich? Wer hat sie in den Ruin getrieben?«
Gutswalter sah mich lange Zeit an. »Lorenzos Vater Cosimo de’ Medici«, sagte er schließlich.
»Ich fragte nur der Vollständigkeit halber«, erwiderte ich unschuldig. »Ich bin ganz sicher, es hatte keinerlei Auswirkungen auf Pratinis Sympathie dem Hause Medici gegenüber.«
»Wenn es welche hatte, dann änderte er seine Meinung darüber«, erklärte Gutswalter mit hörbarem Zähneknirschen. »Was geschah, war eine alltägliche Geschichte, und Antonio erwuchs kein persönlicher Verlust. Sein Vater hatte kein Lehrgeld für eine zweite Ausbildung bezahlen wollen; Antonio musste es sich abends als Hauslehrer für Griechisch verdienen. Nach dem Bankrott Strozzis ging er vor Gericht und klagte auf Rückgabe des Lehrgeldes, da seine Ausbildung nicht vollendet worden war. Wahrscheinlich hätte er den Prozess verloren, aber er hatte während seiner Hauslehrertätigkeit einen Kaufmann der Fugger kennen gelernt, einen Mann namens Hermann Gregorius. Gregorius unterstützte ihn, so dass Antonio in einem Aufsehen erregenden Urteil sein Geld wieder zurückbekam.«
»Lasst mich raten: Aus Dankbarkeit nannte Pratini seinen Sohn nach diesem Mann.«
»Gregorius nahm ihn mit nach Augsburg, wo Antonio seine Lehre beendete. Als er nach Florenz zurückkehrte, war er vierundzwanzig Jahre alt, hatte beste Verbindungen zu den einflussreichsten Kaufleuten und eine glänzende Karriere vor sich.«
»Die er ohne Verzug auszubauen begann.«
»Aber nein! Deshalb erzähle ich Euch doch diese Geschichte. Passt auf: Im Jahr 1453 ereignete sich in Florenz ein starkes Erdbeben. Es machte viele Menschen nachdenklich, ob sie und die Republik den richtigen Weg eingeschlagen hatten und ob dieses Erdbeben nicht ein warnender Fingerzeig Gottes war, ihren Erdenweg zu überdenken. Etliche kamen zu dem Schluss, dass sie ihr Wirken besser in den Dienst des Herrn stellten anstatt in den des Geldes, und gingen ins Kloster.«
»Nicht doch.«
»Macht Euch nicht lustig darüber.«
»Gut«, sagte ich und hob beide Hände. »Ihr habt Recht. Darüber sollte ich nicht spotten. Erzählt weiter.«
»Antonio ging nach Certosa. Er setzte denselben Eifer in die Lehren des Klosters, den er in seine Ausbildung zum Kaufmann gesteckt hatte. Es dauerte nicht lange, bis er der bevorzugte Zögling des Priors war. Sein Noviziat war nach einem Jahr vorbei; dann übernahm er einen verantwortungsvollen Posten für den Klosterkämmerer.«
»Weshalb ist er nicht dort geblieben?«
»Als Antonios Vater Poggio starb, versuchte Antonios Onkel Alessandro, sich des Erbes zu bemächtigen. Alessandro und Poggio hatten im Streit gelebt, seit Alessandros Frau gestorben war und Alessandro sich nicht mehr um Beatrice kümmern konnte, die zuvor wegen des Todes von Antonios und Beatrices Mutter Smeralda zu Alessandro in Pflege gegeben worden war. Jetzt schien Alessandro zu glauben, dass er wegen der Pflege von Beatrice und wegen Poggios Unverschämtheit ein Anrecht auf das Erbe hatte. Antonios Geschwister schrieben ihm ins Kloster, und Antonio verließ es wieder – obwohl der Prior ihn anflehte, seine reine Seele nicht noch einmal der Verderbnis der Welt auszusetzen.«
»Ich nehme an, Pratini gewann auch diesen Prozess.«
»Ja. Danach übernahm er den Geldwechslertisch seines Vaters und verwandelte ihn in das Handelshaus, das es heute ist.«
»Und vergaß niemals mehr die Worte des Priors«, sagte ich ohne Spott.
»Natürlich vergaß er sie. Aber die Zeit kam, da er sich wieder daran erinnerte.«
»Und wann kam diese Zeit?«
»Im letzten Jahr«, sagte Gutswalter hart. »Als ihm sein Arzt eröffnete, dass er nicht mehr lange zu leben habe.«
Ich starrte ihn an. Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. »Was…?«, brachte ich schließlich hervor.
»Ihr habt richtig verstanden. Antonio liegt im Sterben.«
»Ich merkte, dass ihm die Zeit knapp wird, er hat sich jedoch nicht darüber ausgelassen. Nur ein paar Allgemeinplätze über das Altern. Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.«
»Selbstverständlich nicht. Er hätte auch nicht gewollt, dass Ihr es wisst. Oder sonst jemand. Ich habe es Euch trotzdem gesagt, weil ich es hasse, wie schlecht Ihr über ihn redet.« Er senkte den Kopf und wischte sich zu meiner Bestürzung eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Tut mir Leid, dass ich Euch so manipuliert habe«, sagte ich dumpf. Er blickte auf.
»Wie meint Ihr das?«
»Ich habe Euch dazu bringen wollen, mir Pratinis Geschichte zu erzählen. Es tut mir Leid. Ich war mir sicher, dass Ihr mir nichts über ihn mitgeteilt hättet, wenn ich Euch nur darum gebeten hätte.«
Er gaffte mich mit offenen Mund an. Langsam schlich sich eine heiße Röte in seine Wangen.
»Ich habe es Euch gestanden«, rief ich schnell. »Niemand weiß besser als ich, dass Ihr Besseres verdient habt. Ihr habt mich davor bewahrt, im Gefängnis verhaftet zu werden, und so die Möglichkeit gegeben, Janas Unschuld zu beweisen. Ich bin zwar noch keinen Schritt weitergekommen, aber für die Chance bin ich Euch ewig dankbar.«
Gutswalter schluckte schwer. Es gereichte ihm zur Ehre, dass er seinen Ärger hinunterbekam. Er atmete aus. »Ich habe vergessen«, sagte er rau, »dass es für Euch um mehr geht als um den Ruf eines Freundes.«
Ich nickte. Er holte nochmals Atem.
»Ja«, stieß er hervor und klopfte mit der flachen Hand auf sein Schreibpult, »wenn ich Euch so viel erzählt habe, kann ich Euch das ja auch noch mitteilen. Ich habe auf Grund des Banktransfers Auftrag gegeben, das weitere Schicksal von Kardinal Riario zu überwachen. Ich wollte herausfinden, ob er bei einem Verhör eventuell über dieses Geld reden würde. Es hat sich herausgestellt, dass Beatrice und ich umsonst ein paar von Antonios geheiligten Dokumenten vernichtet haben. Kardinal Riario ist rehabilitiert und lebt im Palast von Lorenzo de’ Medici, der hofft, mit dieser Geste die Wogen wieder zu glätten und die Spaltung der Florentiner in zwei Lager zu beenden.«
»Ich könnte mit ihm reden und herausfinden, weshalb Jana ihm das Geld gegeben hat.«
»Und ihn dazu überreden, für sie einzutreten, falls sich herausstellt, dass der Transfer doch mit dem Aufstand zu tun hatte und er nicht daran interessiert sein sollte, dass dies außer Euch und ihm noch jemand erfährt.«
»Nebenbei könnte ich ihn auch noch davon überzeugen, in diesem Fall den Namen des Bankhauses Pratini nicht zu erwähnen«, sagte ich grimmig.
»Zum Beispiel.«
»Ihr scheint zu glauben, dass sich meine Methoden immer in diesem Bereich bewegen.«
»Ich glaube nur, dass Euch jedes Mittel recht sein muss, um Eure Gefährtin vor dem Galgen zu bewahren. Letztlich«, er lächelte, »ist die Frage von Schuld oder Unschuld in diesem Fall nur eine Frage der Politik, nicht wahr? Heute findet die erste öffentliche Trauerfeier für Giuliano de’ Medici statt. Halb Florenz wird nach San Lorenzo pilgern, um einen Blick auf den Leichnam zu werfen. Ich wette, auch Kardinal Riario wird dort sein. Ob er tatsächlich unschuldig ist oder nicht – er wird wissen, wo jetzt sein Platz ist. Ich würde sagen, Ihr könnt im Menschengewühl ohne großes Risiko mit ihm sprechen.«
Ich bemühte mich, gelassen zu erscheinen. »Wenn man mich an ihn heranlässt…«
»Diese Aufgabe müsst Ihr schon selber lösen.«
Ich bot ihm die Hand, und er schüttelte sie ohne Zögern. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich weniger ein Gespräch mit Raffaelle Kardinal Riario im Sinn hatte, sondern vielmehr eines mit Lorenzo de’ Medici. Wenn ich es schaffte, an ihn heranzukommen, würde er mir auch zuhören müssen. Ich hatte vielleicht nicht genügend Verdachtsmomente, um Janas Unschuld zu beweisen, ich würde ihn jedoch womöglich überzeugen können, mit der peinlichen Befragung so lange zu warten, bis ich weitere Beweise herbeischaffen konnte. Er war nicht der Richter, doch sein Wort war mehr als Gesetz in Florenz, und wenn er sich für eine Gefangene einsetzte, würde niemand ihr auch nur ein Haar krümmen. Der Gedanke daran machte mich beinahe fröhlich.
Ich wusste genau, was Johann Kleinschmidt sagen würde, wenn ich ihm von meinem neuesten Plan erzählte. Dennoch fühlte ich mich verpflichtet, ihn einzuweihen. Ich wollte ihn nicht dabeihaben, aber es konnte nicht schaden, wenn jemand Bescheid wusste, wohin ich gegangen war, falls ich von diesem Gang nicht zurückkehren sollte. Um der Piazza della Signoria auszuweichen, hatte ich mich in das Gassengeflecht nördlich des Platzes geschlagen; irgendwo musste ich falsch abgebogen sein, denn statt über das Gefängnis näherte ich mich dem Fondaco dei Tedeschi von Norden, über den Borgo degli Albizi. Das Gelände fiel dort zum Fondaco hin ein wenig ab, und die Gasse, die in ihrer Verlängerung auch zum Gefängnisbau führte, war breit genug, um den Eingang des Fondaco einsehen zu können. So entdeckte ich den mit einem Spieß bewaffneten Wachposten, bevor ich ihm auffallen konnte.
Er stand in der Sonne und schien sich zu langweilen, denn er hing an seinem Spieß, als würde dieser ihn tragen und nicht umgekehrt. Seine Aufmerksamkeit war zum Gefängnis hinunter gerichtet, wo sich ohne Zweifel wieder die Kongregation der Bittstellerinnen versammelt hatte. Ich stand wie erstarrt mitten auf der wenig belebten, mittagsstillen Gasse und wartete darauf, dass er den Kopf drehte und auf mich aufmerksam wurde.
Schließlich nieste er markerschütternd, und das Geräusch, das mit einer kleinen Verzögerung bei mir ankam, brach den Bann. Während er sich mit dem Ärmel über die Nase fuhr, huschte ich an die Seite der Gasse. Es gab keinen Hauseingang, in den ich mich hätte drücken können, und keine Seitengasse, die nahe genug gewesen wäre, als dass ich es gewagt hätte, den Weg zu ihr zurückzulegen. Der Wachtposten konnte wegen allem Möglichen dort vor dem Eingang zum Fondaco stehen, aber ich war überzeugt, dass er auf mich wartete – und dass seine Kameraden soeben durch die Räume im Fondaco polterten in der Hoffnung, mich aufzustöbern. Das Haus schräg gegenüber besaß einen Garten mit einer halbhohen Mauer, die an einer Stelle zusammengesackt war. Die Bresche lag am nächsten; ich beobachtete den Posten noch ein paar Sekunden, bevor ich meinen Mut zusammennahm und über die Gasse sprang, über die Reste der Mauer hüpfte und mich dann mit klopfendem Herzen rücklings an den aufrecht stehenden Teil der Ummauerung presste. Ich hörte keinen Alarmschrei: Er hatte mich überhaupt nicht gesehen. Ich entspannte mich und öffnete die Augen.
Der Garten stand voller alter Bäume, die einmal gepflegt gewesen waren und die man seit langem sich selbst überlassen hatte. Das Gras unter ihnen war knöchelhoch, vom Unwetter zerzaust und an den Stellen niedergedrückt, die sich ein Obdachloser oder auch ein Liebespaar aussuchen mochte, um sich dort niederzulassen. Ich wandte mich zu der Stelle um, durch die ich in den Garten eingedrungen war.
Ein unrasierter Mann stand auf der anderen Seite der Bresche und drückte sich ebenso gegen die Mauer wie ich.
Er starrte mich an. Er war bleich, aber ich brauchte nur in seine schreckgeweiteten Augen zu sehen, um zu wissen, dass ich ebenso bleich war. Im ersten Augenblick musste er mich für einen der Häscher gehalten haben; es blieb zu fragen, ob er mich, wenn ich aus Versehen auf seine Seite der Bresche geflohen wäre, nicht im ersten Schreck niedergestochen hätte. Ich konnte nicht erkennen, ob er ein Messer besaß, doch ich konnte für dieses Detail ohnehin kein Interesse aufbringen. Er war klein und wirkte rundlich, sein Haar war schütter und der Bart auf seiner Oberlippe wie ein dunkler Schmutzfleck. Ich starrte zurück, bis der Mann ein schiefes Grinsen zeigte und mit den Schultern zuckte. Ich fühlte, wie ich seine Geste nachahmte.
Er raunte etwas, das ich nicht verstand, und ich raunte zurück: »Ich verstehe kein Wort.« Er spitzte den Mund und legte einen Finger an die Lippen; dann spähte er vorsichtig auf die Gasse hinaus. Er hatte sich den besseren Platz ausgesucht; von seinem Versteck aus konnte man durch die Bresche bis zum Fondaco hinunter sehen. Alles, was ich sehen konnte, ohne den Kopf zu weit um die Mauer herum zu strecken, war ein Teil des Gassenabschnitts, über den ich gekommen war, und meinen Schicksalsgefährten, der kurzsichtig die Augen zusammenkniff und zu erkennen versuchte, was vor dem Fondaco vor sich ging.
Ich zischte, und er winkte ab. Nach ein paar Augenblicken zog er den Kopf zurück und spähte nachdenklich zu mir herüber. Schließlich machte er eine hastige Geste mit beiden Händen. Ich hob die Schultern, und er wiederholte seine Geste eindringlicher. Er wollte, dass ich auf seine Seite hinüberkam. Ich fasste mir ein Herz und machte einen weiten Bogen durch das hohe Gras. Er beobachtete die Straße und schien ebenso erleichtert wie ich, als ich bei ihm ankam. Ich überragte ihn um mindestens zwei Köpfe. Er rückte beiseite und machte eine einladende Geste. Ich presste mich gegen die Mauer und blickte hinaus.
Der Wachposten stand noch immer vor dem Tor des Fondaco und betrachtete das für mich unsichtbare Schauspiel der Bittstellerinnen. Seine Haltung hatte sich nicht geändert. Ich fühlte ein Zupfen an meinem Ärmel und zog meinen Kopf zurück. Mein Gefährte in der Not blickte zu mir nach oben und zuckte auffordernd mit den Schultern. Ich sah in seine fragenden Augen und erkannte, dass er viel zu kurzsichtig war, um erkennen zu können, was dort vorn vorging. Wie er überhaupt hier hereingekommen war, schien mir ein Rätsel – bis ich das Gras sah, das rings um seine Füße niedergetrampelt war. Er stand schon eine ganze Weile gegen die Mauer gedrückt; wahrscheinlich hatte er das Aufgebot gesehen, als es noch zum Fondaco marschierte, und war ihm rechtzeitig ausgewichen. Der Gedanke, wie lange er sich hier bereits verbarg und fragte, was draußen jenseits der kurzen Strecke vor sich ging, die er überblicken konnte, hatte etwas unfreiwillig Erheiterndes.
Ich schüttelte den Kopf, und er schüttelte ihn mit und machte eine resignierte Miene. Dann forderte er mich wieder auf, nach draußen zu blicken. Ich tat ihm den Gefallen.
Der Posten straffte sich plötzlich, und wenige Augenblicke später kam ein halbes Dutzend ähnlich gekleideter Männer aus dem Tor. Ferdinand Boehl trat hinter ihnen hervor und stellte sich breit in den Eingang. Selbst auf die Entfernung konnte ich erkennen, dass seine Haare zornig zu Berge standen. Er gestikulierte wild auf den Anführer der Bewaffneten ein. Dieser ignorierte ihn, aber die Art, wie er seine Männer mit einer Kopfbewegung zum Abrücken veranlasste und ihnen mit hocherhobenem Haupt folgte, zeigte, dass seine Wut nicht geringer war als die des Zunftrektors. Sie trotteten in Richtung Gefängnis.
Ich fühlte wieder das Zupfen am Ärmel. Ich drehte mich um und machte mit beiden Händen eine wischende Bewegung. Der kleine Mann strahlte mich überrascht an. Ich nickte bekräftigend. Er streckte die Hand aus, und ich schüttelte sie, und er stolzierte an mir vorbei und auf die Gasse hinaus, als wäre dies sein Garten und er würde ihn nur verlassen, um sich die kurzen Beine zu vertreten. Ich folgte ihm bedeutend langsamer und sah ihn mit provozierendem Schritt um die nächste Ecke verschwinden; ein Dieb, ein Schelm, ein Schlitzohr, der niemals erfahren würde, dass er durch meine Gegenwart kurzfristig in größerer Gefahr gesteckt hatte, als wenn er sich mitten unter die Patrouille gestellt und versucht hätte, ihnen die Beutel abzuschneiden.
Ferdinand Boehl stand noch immer vor dem Tor und kochte. Als er mich von weitem kommen sah, zog er sich in den Eingang des Fondaco zurück und wartete. Sein Gesicht war puterrot.
»Ein paar Kerle haben den Fondaco durchsucht«, sagte er statt einer Begrüßung.
»Ich habe sie gesehen«, sagte ich und deutete die Gasse hinauf.
»Ich verbarg mich in einem verlassenen Garten.«
Er nickte langsam. »Ich konnte sie nicht davon abhalten, in jedes Zimmer zu schauen.« Über all seinem mühsam beherrschten Zorn klang Verwunderung durch. »Das haben sie noch nie gewagt. Sie sagten, sie hätten Hinweise, dass wir Mitglieder der Verschwörung versteckt hielten und dass das Asylrecht auf solche Leute nicht zuträfe. Ich war so machtlos wie ein Kätzchen.«
»Woher haben sie diese Informationen?«
»Woher wohl? Peinliche Befragung«, sagte er knapp.
Ich fühlte, wie meine Beine schwach wurden. »Wer?«, fragte ich erstickt.
- Jana
»Woher soll ich denn das wissen?«, brauste er auf. Dann sah er in mein Gesicht. »Ich habe gehört, man hat gestern einen alten Kerl mit seiner Familie verhaftet, den Piero Vespucci als majordomus für sein neues Haus angestellt hatte.«
»Mein Gott«, sagte ich und hasste mich für meine Erleichterung. »Vespucci hatte das Haus an uns vermietet. Der Mann arbeitete als majordomus für uns.«
»Was tut Ihr hier in Florenz?«, fragte er endlich. Ich öffnete den Mund, aber er winkte plötzlich ab. »Ich will es gar nicht wissen.« Er sah so wütend aus, wie ich ihn zuvor noch nicht erlebt hatte.
»Ich versuche, meine Gefährtin aus dem Gefängnis zu befreien.«
Boehl hielt sich die Ohren zu. »Ich sagte, ich will es nicht wissen!«, bellte er. Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte davon. Ich folgte ihm.
»Haben sie Stepan Tredittore entdeckt?«
»Euren parfümierten Wichtigtuer? Den haben sie nicht gefunden. Und mein Koch sucht eines der Küchenmädchen. Vielleicht gut, dass die Kerle nicht in jedes Vorratslager gesehen haben. Euer Schwiegersohn war da, konnte jedoch vor lauter Schreck nicht ein vernünftiges Wort herausbringen. Dabei wollten sie gar nichts von ihm; sie wussten nicht mal, wer er ist. Er sucht übrigens schon seit ein paar Stunden nach Euch.«
»Was habt Ihr den Männern gesagt?«
»Dass ich mich bei der signoria, bei der mercatanzia, bei Lorenzo de’ Medici und beim Teufel persönlich beschweren würde.«
»Warum habt Ihr mich nicht verraten?«
Wir erreichten die Treppe, die hinauf zum Eingang des Hauptgebäudes führte. Boehl lief die Stufen empor, und seine ganze Körperhaltung drückte aus, dass er mich möglichst weit weg wünschte. Ich blieb am Fuß der Treppe stehen. Oben angekommen, drehte er sich um und funkelte zu mir herunter.
»Ich möchte Euch verfluchen, Peter Bernward«, sagte er heftig. »Ihr bringt nur Ärger. Aber es gehört sich nicht, einem Zunftmitglied die Pest an den Hals zu wünschen, stimmt’s?« Er wirbelte herum und stürmte in das Gebäude hinein. Ich wollte ihm noch hinterherrufen, dass er Johann Kleinschmidt ausrichten solle, ich sei wohlauf und würde gegen Abend zurück sein, doch er schenkte mir keine Beachtung mehr. Stattdessen hörte ich eine Tür knallen, dass ich dachte, das Fundament des Hauses würde erzittern.
3.
S
an Lorenzo war weniger prächtig als Santa Maria del Fiore und lag eingeklemmt zwischen Lagerhäusern und den Rückseiten von palazzi an der Ecke eines kleinen Platzes. Die Ausmaße der Kirche, an sich gewaltig, wurden zwischen die anderen Häuser gedrückt. Was die Kirche der Familie Medici mit dem Dom verband, war die unfertige Hauptfassade. Wie die signoria schien auch Lorenzo de’ Medici mit sich selbst nicht im Reinen, wie er sich die Gestaltung seiner Kirche vorstellte.
Der kleine Platz war voller Menschen. Es war noch nicht so eng, dass man nicht mehr hätte umfallen können, aber ich zweifelte nicht daran, dass es noch so eng werden würde. Die Türen der Kirche waren verschlossen, und an der stillen Aufregung um mich herum konnte ich erkennen, dass ich noch nichts versäumt hatte. Ich sah mich müßig nach einem bekannten Gesicht um, etwa dem des Kardinals, und erwartete nicht wirklich, ihn oder jemand anderen hier unter den Wartenden anzutreffen. Als eine Patrouille aus fünf mit Spießen und Schwertern bewaffneten Männern aus der kleinen Gasse auftauchte, die vom Dom herführte, begann mein Herz zu klopfen, und ich machte mich unwillkürlich klein in der Menge; aber die fünf beachteten niemanden, sondern drängten sich rasch durch die Leute und verschwanden zur Via Larga hin. Ein paar Köpfe drehten sich zu ihnen um, doch die meisten achteten nicht weiter auf die Männer.
Als sich eine Weile später ein Aufgebot aus einem Dutzend anderer Bewaffneter vom palazzo der Medici her näherte, schenkte die Menge ihnen deutlich mehr Beachtung. Die Männer trugen die glänzenden, engen Helme, die ich an allen Medici-Söldnern gesehen hatte, und einer von ihnen hielt einen Wimpel mit den sechs roten Bällen auf goldenem Grund in die Höhe. Die Menschen rückten gleichzeitig näher heran und wichen zurück, um eine Gasse zu bilden. Ein Kordon weiterer Söldner umgab eine breitschultrige Gestalt, die sich mit langsamen Schritten durch diese Gasse bewegte, und die Zuschauer raunten oder senkten die Köpfe. Ich sah zu meiner Überraschung, wie sich einige von ihnen bekreuzigten oder Tränen in ihre Augen traten. Lorenzo de’ Medici war dicht genug von seinen Männern umringt, dass ein verspäteter Attentäter niemals an ihn herangekommen wäre, und weit genug von ihnen entfernt, so dass die Sicherheitsmaßnahme eher wie etwas wirkte, was ihm eine besorgte signoria verordnet hatte, anstatt seinem eigenen Sicherheitsbedürfnis erwachsen zu sein. Sein Gesicht war eingefallen und bleich, und die Flecken unreinen Teints stachen krank daraus hervor. Sein langes Haar war gekämmt, sein Gewand schlicht und teuer und der Verband um seinen Nacken frisch und weiß. Er machte eine finstere Miene und schob seinen Unterkiefer vor, und er wirkte von weitem wie jemand, der zur Hinrichtung seines besten Freundes geht. Er kam so dicht an mir vorbei, dass ich ihn hätte rufen können. Ich wusste, dass er seinen ersten öffentlichen Auftritt beim Leichnam seines Bruders absolvierte, und man konnte ihm ansehen, dass er ihn nicht gerne vollzog. Er war der Mann, der die Macht hatte, Jana zu befreien, und ich hatte mir beinahe jedes Wort zurechtgelegt, das ich zu ihm sagen wollte, aber seltsamerweise dachte ich in diesem Augenblick nur daran, wie er sich bei diesem Gang fühlte. Der Weg über den Platz zum Eingangsportal der Kirche war nicht lang und doch weit. Jemand rief plötzlich: »Lorenzo, Dio ti aiuti!«, und jemand anderer antwortete: »Giuliano, Dio aiuti anche te!« Lorenzo de’ Medici winkte, ohne stehen zu bleiben. Es konnte auch ein Lichtreflex von einem der Helme auf seiner Wange sein, aber ich dachte, ich hätte eine Träne gesehen, die über sein Gesicht rollte.
Dann pfiff jemand und wurde von vielen Zischlauten zum Schweigen gebracht. Innerhalb eines zweiten Rings aus Bewaffneten marschierte eine aschblonde Frau mit verkniffenem Gesicht und einer tief verschleierten weiteren Frau am Arm. Drei Kinder zwischen sieben und drei Jahren stolperten hinter ihnen her. Die Frau mit dem Schleier war hochschwanger, und ich erkannte, dass sie die Witwe von Giuliano de’ Medici sein musste. Die Pfiffe galten nicht ihnen. Hinter der Familie von Lorenzo und Giuliano folgten die Verbündeten der Medici, und ihnen voran, als sei er der älteste Freund von allen, stolzierte Kardinal Raffaelle Riario, den Kopf unter dem breitkrempigen roten Hut gesenkt und die Hände gefaltet. Auf dem Stoff seiner Handschuhe glitzerten Ringe. Falls er erkannt hatte, dass der Pfiff ihm gegolten hatte, ließ er es sich nicht anmerken; aber ich nahm an, dass es ihm nicht in den Sinn kam, jemand könnte an seiner Person Anstoß nehmen. Die Tatsache, dass die Empörung, die weniger ihm als seinem Großonkel auf dem Papstthron galt, sich nicht lauter äußerte, zeigte den Respekt, den die Florentiner vor Lorenzos Trauer und vor allem vor seiner Entscheidung hatten, den jungen Kardinal als unschuldig zu betrachten.
Als sich das Kirchenportal vor den Ankömmlingen öffnete, traten nur Lorenzo und seine Familie ein. Die Bewaffneten blieben ebenso draußen wie die Freunde. Es war, als sei ein Bann gebrochen; die Erstarrung löste sich von den Menschen auf dem Platz, und alle drängten nach vorn zur Fassade der Kirche hin. Die Bewaffneten schlossen das Portal und stellten sich zweireihig auf den Stufen davor auf. Das Geschubse und Gedrängel zeigte mir, dass tatsächlich noch vorgesehen war, die Florentiner von Giuliano de’ Medici Abschied nehmen zu lassen – doch die ersten Minuten gehörten seinem Bruder, seiner Frau und seiner Familie. Ich drängelte weniger elegant als die Florentiner, aber meine Rücksichtslosigkeit wurde mit einem Platz weit vorn belohnt, als die Menge vor dem Kordon der Söldner zum Stehen kam. Lorenzos und Giulianos Freunde – unter ihnen Poliziano, Pico della Mirandola und Marsilio Ficino, große Namen, denen ich keine Gesichter zuordnen konnte – standen unschlüssig oder mit geistesabwesenden Mienen vor dem verschlossenen Portal. Einzig Kardinal Riario, von dem sich die anderen kaum sichtbar abgesondert hatten, blickte freimütig in die Gesichter der Menschen, die die Treppe zum Kircheneingang belagerten. Ich winkte ihm zu, bis er aufmerksam wurde und mich näher ins Auge fasste. Während mich die Menschen um mich herum ansahen, als hätten sie es mit einem Verrückten zu tun, begann der Kardinal zu lächeln und winkte zurück. Nach einer kurzen Denkpause wandte er sich an einen der Bewaffneten, und dieser holte sich Rat bei seinem Anführer und schritt dann die Treppe herunter auf mich zu. Die Geste war klar: Der Kardinal gewährte mir einen Augenblick seiner Zeit. Ich war überzeugt, dass er nicht mehr die leiseste Ahnung hatte, wer ich war und dass wir uns kannten; aber ich hatte in seinem Gesicht lesen können, dass ihm die stille Abneigung von Seiten der Menge und Lorenzos Freunden nun doch bewusst geworden war und dass er erleichtert war, einen unerwarteten Sympathisanten zu finden. Der Söldner begleitete mich die Treppenstufen hinauf und blieb dicht neben mir, als der Kardinal mir die Hand zum Kuss reichte. Seiner verschlossenen Miene und seinem offenen Griff zum Schwert an seinem Gürtel war zu entnehmen, dass sein Misstrauen einem Mann gegenüber, der einem auch noch so entfernt an der Verschwörung Beteiligten aus der Menge heraus zuwinkte, kaum zu überbieten war.
»Ich bin geehrt, dass Ihr in so einem Moment Zeit findet, mich zu empfangen, Exzellenz«, sagte ich geschmeidig auf Latein.
»Es ist eine schreckliche Aufgabe«, seufzte er, »und zugleich hehre Pflicht, diesem jungen Menschen dort drin die letzte Ehre zu erweisen.« Der junge Mensch dort drin, Giuliano de’ Medici, war mindestens um zehn Jahre älter gewesen als er. Der Kardinal versuchte eine wissend-traurige Miene zu machen und sah genauso pompös aus wie seine Rede.
»Wer wüsste nicht um Euer ausgeprägtes Pflichtgefühl, Exzellenz.«
»Ihr sagt es, mein Sohn, Ihr sagt es. Wenn auch die Trauer gemildert wird durch das Wissen, dass der Herr diesem Unschuldigen die Zeit im Fegefeuer sicherlich so kurz wie möglich halten wird und dass so viele Gläubige um sein Seelenheil beten.« Riario wies mit einer unbestimmten Bewegung über die Menge und fasste mich dann näher ins Auge. Mit einer überraschenden Offenheit, die von der ihm aus allen Gesichtern entgegenschlagenden Feindseligkeit gefördert sein musste, fragte er dann: »Woher kennen wir uns eigentlich? Seid Ihr ein Mitglied der Platonischen Gesellschaft?« Er deutete auf die Freunde Lorenzos, die sich möglicherweise noch deutlicher von uns abgesondert hatten. »Ich konnte bisher wohl nicht alle Gefährten von Ser Lorenzo kennen lernen, und die meisten von ihnen haben einen derartigen Respekt vor mir und meinem Amt, dass sie mich kaum anzusprechen wagen.«
»Ihr hattet die Güte, uns auf der Reise von Prato nach hier den Schutz Eures Kontingents anzubieten.«
»Jetzt erinnere ich mich. Wart Ihr nicht in Begleitung?« Er dachte nach, und ein plötzlicher Schatten huschte über sein Gesicht. »So ein aufdringlicher junger Kerl und ein Weib?« Seine Augen wurden wachsam.
»Das ist richtig«, erwiderte ich so unbefangen wie möglich. »Leider sind beide zur Zeit nicht in Florenz. Doch ich wage es, die Gunst der Stunde zu nutzen und Euch auf ein Problem aufmerksam zu machen, das Eure Finanzen betrifft.«
»Wir sollten in Gegenwart des armen Opferlamms dort im Tempel des Herrn eigentlich nicht von Geld reden«, sagte er. »Worum handelt es sich?«
»Es geht darum, dass die Spende, die mit Euch vereinbart war, möglicherweise nicht bei Euch angekommen ist. Seht Ihr, die Bank, die für den Transfer benutzt wurde…«
»Welche Spende?«
»Erinnert Ihr Euch nicht?«
»Durchaus nicht.« Er starrte mich an, und ich konnte sehen, dass er log. Zumindest das tat er, ohne mit der Wimper zu zucken; seine Rolle als Figur auf dem Schachbrett der Politik hatte ihn so viel gelehrt.
»Bestimmt fällt es Euch wieder ein. Meine Gefährtin hat mit Euch…«
»Also«, stieß er hervor und hielt mir plötzlich die Hand zum Kuss hin, »wenn Ihr oder Eure Freunde es für nötig gehalten habt, der heiligen Mutter Kirche eine Spende zu machen, dann habt Ihr eine gute Tat begangen. Ein Ablass von Euren Sünden ist Euch gewiss. Ich persönlich weiß allerdings nichts von diesem Vorgang. Ich befasse mich auch nicht mit Geld. Ich kann Euch an meinen Finanzverwalter in Rom verweisen, Messer Franceschino de’ Pazzi…«, er unterbrach sich und räusperte sich verlegen, »… nun, an ihn nicht mehr… jedenfalls – wendet Euch doch an den majordomus meines bescheidenen Heims in Rom, er wird sich mittlerweile nach einem anderen Verwalter des Geldes umgesehen haben, das ich die Ehre habe für die heilige Mutter Kirche entgegenzunehmen. Denkt aber daran, dass der Ablass nicht gilt, wenn die Spende nicht wirklich bezahlt wird.« Er versuchte ein falsches Lachen. »Gott der Herr sieht auch die Kontobewegungen dieser Welt, nicht wahr? Nun denn, der Herr sei mit Euch.«
Ich ließ seine Hand in der Luft hängen. »Seht Ihr, das Problem liegt nicht an Eurem Finanzverwalter, sondern an der Bank hier in Florenz. Sie finden die Dokumente für den Transfer nicht mehr. Wenn Ihr mir sagen würdet, was meine Gefährtin mit Euch vereinbart hat, dann könnte ich der Bank helfen und den Transfer auf Euer Konto weiterbringen, ohne dass Ihr auf ihre Rückkehr warten müsst.«
»Wie schade, ich weiß davon absolut nichts. Wenn Ihr eines Sündenablasses gewiss sein wollt, empfehle ich Euch eine neue Spende, die gewiss ankommen wird. Geht in Frieden, mein Sohn.« Ich konnte seine Hand nicht länger ignorieren. Ich küsste einen der Ringe und begab mich wieder in die Menge zurück, die mir unwillig Platz machte. Gutswalters Worte über die Möglichkeit, Riario unter Druck zu setzen, fielen mir ein, ich spürte jedoch kein Verlangen, einen Erpressungsversuch bei dem törichten Kerl zu unternehmen. Alles, was er zu tun hatte, um mich ins Leere laufen zu lassen, war, sich dumm zu stellen, und ich vermutete, dass er diese Kunst gut verstand. Ich war nicht wirklich wütend auf den jungen Mann, aber ich hatte das Gefühl, an den Fingern, mit denen ich seine Hand berührt hatte, etwas Schleimiges zu haben.
Riario nahm seinen Platz außerhalb des Grüppleins der Freunde der Familie wieder ein, sein aufgesetztes Interesse an den Vorgängen um sich herum war jedoch verschwunden. Ich sah, wie seine Blicke sich immer wieder zu mir her verirrten. Als die Glocken der Kirche plötzlich zu läuten begannen, zuckte er zusammen, als habe man ihn bei einem schlechten Gedanken erwischt. Die hintere Reihe der Bewaffneten machte kehrt und stapfte zum Eingangsportal hinauf, um es zu öffnen. Die Gruppe auf den Stufen wartete geduldig, bis beide Flügel weit offen standen, dann traten die Philosophen, Künstler und Humanisten, die die Familie Medici zu ihren Freunden zählte, in die Kirche, um wie Lorenzo Abschied von dem Ermordeten zu nehmen. Riario schlüpfte hinter ihnen her und war sichtlich froh, seinem exponierten Platz zu entkommen. Ich starrte auf die leere Stelle vor dem Kirchenportal, und mein Triumph, ihn offensichtlich bei etwas ertappt zu haben, wich der Erkenntnis, dass seine plötzliche Befangenheit nicht nur mit der Tatsache zu tun hatte, dass er den Geldbetrag nicht wieder herausrücken wollte; ganz offensichtlich war auch etwas faul mit der ganzen Angelegenheit an sich.
Das Geschiebe der Menge hinter mir unterbrach meine düsterer werdenden Gedanken. Die Bewaffneten hatten sich jetzt geteilt; eine Hälfte war hinter der ersten Gruppe ins Innere der Kirche geeilt, um Lorenzo und seine Familie vor dem zu erwartenden Ansturm abzuschirmen; die andere trat beiseite und nahm in zwei Reihen zum Portal hinauf Aufstellung. Das Signal war deutlich genug, und die Zuschauer drängelten vorwärts, um die Kirche betreten zu können. Ich drehte den Kopf und sah, dass die Menge hinter mir beachtlich angeschwollen war und den gesamten Platz ausfüllte. Die Glocken läuteten jetzt ständig; über ihren Lärm hinweg konnte man hören, dass auch die Glocken der anderen Kirchen der Stadt in ihre Klage einstimmten. Ich ließ mich beiseite stoßen und an den Rand der Menschenmasse schwemmen. Wenn das Geschubse nicht so diszipliniert und vor allem still vor sich gegangen wäre, hätte es ungute Gedanken an die panischen Szenen nach dem Attentat geweckt.
Während die ersten paar Dutzend die Stufen erklommen und in die Kirche schlurften, trat ich an der nördlichen Ecke der Fassade aus der Menge heraus und stellte mich abseits. Es hatte keinen Sinn, jetzt zu versuchen, mit Lorenzo de’ Medici zu sprechen. Wenn die Menschen in der Kirche langsam weniger wurden und die Soldaten ihre Nervosität ablegten, war es eher möglich, dass ein Bittsteller oder Ratsuchender zu Lorenzo durchgelassen wurde. Doch dann öffnete sich das nördliche Seitenportal, und ich sah zu meiner Überraschung, wie die Familie Lorenzos mit der gleichen starken Bewachung wie vorhin die Kirche wieder verließ. Lorenzo de’ Medici war der Letzte; er zögerte, wandte sich auf der Schwelle nochmals kurz um und trottete dann endgültig hinter seiner Frau, seiner Schwägerin und den Kindern her. Ich fluchte erbittert in mich hinein. Wenn ich ihm jetzt hinterherlief, würden die Wachen mich schneller auf ihre Spieße nehmen, als ich »Einen Augenblick, bitte!« rufen konnte. Ich machte einen Schritt um die Ecke der Kirche herum. Noch war er in Hörweite, so dass ich ihn anrufen konnte, ohne ihm nachzusetzen. In der Kirche, neben dem Leichnam seines Bruders, hätte er mir vielleicht zugehört; hier brauchte er in der Deckung seiner Soldaten nur weiterzugehen und mich zu ignorieren. Ich blieb stehen und holte Atem; Lorenzo drehte sich um, um die Menge zu beobachten, und seine Augen trafen die meinen. Ich hob die Hand,
– und von der Via Larga her ertönte ein schrilles Wutgeheul
und was immer ich ihm zurufen wollte, erstickte in meinem Mund.
Die fünf Bewaffneten, die anfangs über den Platz geeilt waren, hatten die Menschen um sich herum auch deshalb ignoriert, weil sie eine Aufgabe hatten. Die Aufgabe hatte an der Porta San Gallo auf sie gewartet und bestand aus zwei jämmerlich anzusehenden Gestalten in Priesterröcken, die gefesselt zwischen ihnen geführt wurden. Ein langer Zug aus Männern und Frauen folgte ihnen, die die Fäuste schüttelten, vor Wut schrien und fluchten und ganze Hand voll Dreck und Steine von der Straße aufklaubten und in ihre Richtung schleuderten. Die meisten Steine prasselten auf die Soldaten, die die Gefangenen eng deckten; sie ließen es mit stoischen Mienen über sich ergehen, und wenn sie sich über die Fehlwürfe ärgerten, reagierten sie es an den beiden Priestern ab, die derbe Knüffe in die Seiten erhielten, wenn sie stolperten. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass Lorenzo de’ Medici stehen geblieben war und die Soldaten, die seine Familie umringten, mit einer Handbewegung anwies weiterzugehen. Sein Gesicht verschloss sich und wurde noch finsterer als vorher.
»Antonio Maffei und Stefano di Bagnone«, sagte jemand halblaut an meiner Seite. »Die frevlerischen Priester. Nun hat man sie doch eingefangen.« Rudolf Gutswalter stand neben mir und nickte mir ernst zu. Er war in teuren Stoff in gedeckten Farben gekleidet und sah so aus, als gehörte er mit ebenso großer Berechtigung hierher wie jeder Florentiner.
Eine Bewegung an unserer Seite veranlasste uns beide, uns umzusehen. Lorenzo de’ Medici stand, nur durch seine Bewacher getrennt, neben uns und starrte den Zug, der sich von der Via Larga her rasch näherte, gebannt an. Seine Augen waren zusammengekniffen und seine Brauen tief gesenkt; mit seinem kantigen Gesicht, dem totenbleichen Teint und den missfarbenen Hautflecken sah er aus wie ein bösartiger Troll. Sein Kopf ruckte zu uns herum; Rudolf Gutswalter nickte ihm respektvoll zu, und auch ich sah mich veranlasst, ihn zu grüßen. Lorenzos Augen huschten über uns hinweg zu der Menge in unserem Rücken, die noch immer in die Kirche drängte. Die letzten von ihnen hatten sich bereits abgewandt und spähten zu dem lärmenden Zug hinüber, der selbst das Glockengeläute übertönte. Lorenzo biss die Zähne zusammen. Plötzlich erkannte ich, dass es nicht Zorn war, der sein Gesicht verdunkelte, sondern Besorgnis. Er spähte zu seiner Familie hinüber, die von ihrer Bewachung soeben um die Ecke eines Hauses geführt wurde. Er fasste einen der Soldaten an der Schulter und raunte ihm etwas ins Ohr, aber es war bereits zu spät. Der Anführer der fünf Bewaffneten, die die Priester abführten, hatte ihn gesehen und versetzte seine Männer und die Gefangenen in Laufschritt, um zu ihm herüberzueilen. Lorenzo stieß einen Fluch aus und presste die Lippen zusammen.
»Idioten«, zischte Gutswalter. »Sie wollen Ser Lorenzo die beiden Kerle vorführen. Eine falsche Bewegung, und die Menge reißt sie in Stücke. Seht doch, wie die Wut auf die Leute hier überspringt. Zorn und Schmerz liegen nahe beieinander.«
Die Mienen der beiden Gefangenen, die mit ihren auf den Rücken gefesselten Händen unbeholfen heranstolperten, waren unterschiedlich. Dem größeren der beiden Männer stand die Todesangst so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass sie sich fast körperlich mitteilte. Seine Füße gerieten ständig durcheinander, und die zwei Soldaten neben ihm zerrten ihn mehr, als dass er sich selbst bewegte. Wenn man ihn losgelassen hätte, wäre er, vor Furcht gelähmt, zu Boden gesunken. Seine Augen und sein Mund waren angsterfüllte Löcher in einer verzerrten Grimasse. Das Gesicht des kleineren war so geschwollen und aufgeschunden, dass man kaum ein Mienenspiel erkennen konnte. Er schien sich seiner Verhaftung widersetzt zu haben und dafür mit vielen Faustschlägen belohnt worden zu sein. Wütend zusammengebissene Zähne bleckten in der Maske aus gerötetem Fleisch und angetrocknetem Blut.
»Der mit dem zerschlagenen Gesicht ist Maffei«, flüsterte Gutswalter. »Das ist der, der aus Rache für den Krieg gegen Volterra handelte. Der andere ist Stefano di Bagnone, einer von Jacopo de’ Pazzis hirnlosen Speichelleckern. Wenn ich richtig informiert bin, war er es, der den ersten Streich führte und Ser Lorenzo verletzte.«
Die Soldaten und mit ihnen der Zug aus johlendem Volk trieben die Gefangenen vor sich her und kamen vor uns zum Stehen. Diejenigen auf den Stufen von San Lorenzo, die noch nicht in das Innere der Kirche gelangt waren, stürzten zu uns herüber. Ich erkannte mit Unbehagen, dass wir plötzlich ebenso im Mittelpunkt des Interesses standen wie Lorenzo de’ Medici und die beiden mörderischen Priester. Ich erhielt einen Stoß in die Seite von einem Mann, der sich näher herandrängte und versuchte, mich mit der geistlosen Rücksichtslosigkeit des Gaffers beiseite zu schieben. Lorenzos Bewacher schlossen sich eng um ihren Herrn. Lorenzo sah sich wortlos um, und die Zunächststehenden wichen ein wenig zurück und schufen Platz um ihn herum. Gutswalter zog mich mit sich, und ich hatte zum zweiten Mal das zweifelhafte Vergnügen, ganz vorn mit dabei zu sein, als Lorenzo de’ Medici den zwei Männern gegenüberstand, die keinen Frevel gescheut hatten, um ihn umzubringen.
Die Wachen, die die Gefangenen herangeschleppt hatten, traten in die entstandene Lücke. Das Gesicht ihres Anführers glänzte vor Aufregung. Er trat vor Lorenzo de’ Medici und stieß so etwas wie eine Meldung hervor; dann wies er auf Maffei und Bagnone. Maffei starrte dem Medici ins Gesicht, während Bagnone schwankte wie ein Rohr im Wind. Stiefel hoben sich und traten den Gefangenen in die Kniekehlen, und beide fielen vor Lorenzo de’ Medici auf die Knie. Bagnone schrie auf und handelte sich eine Stiefelspitze in die Rippen ein. Lorenzo zischte dem Anführer der Wache etwas zu, und dessen triumphierende Miene zog sich erschrocken in die Länge. Er machte eine halbherzige Handbewegung zu seinen Männern, die Gefangenen in Ruhe zu lassen. Lorenzo holte Atem und trat etwas nach vorn. Über den Platz senkte sich plötzlich das Schweigen einer erwartungsvollen Menschenmenge, und nur im Hintergrund grölte eine heisere Stimme etwas, das ich als Aufforderung verstand, die beiden Gefangenen auf der Stelle zu erschlagen.
Lorenzo de’ Medici richtete das Wort an Bagnone, der ihn anstarrte wie der Delinquent den Scharfrichter. Bagnone zeigte keine Reaktion: In ihm war außer für Furcht kein Platz mehr. Sein Rücken war gespannt wie eine Bogensehne, und sein Oberkörper pendelte hin und her. Lorenzo befühlte den Verband in seinem Nacken. Er schien sich unwillkürlich zu fragen, wie es diesem zitternden Wrack gelungen war, ihm die Verletzung beizubringen. Die heisere Stimme im Hintergrund meldete sich wieder und rief bei einigen Umstehenden böses Gelächter hervor. Lorenzo richtete sich auf und zog eine missbilligende Miene.
»Der Schreier dort hinten hat gefragt, ob Bagnone sich von Jacopo de’ Pazzi das Schwimmen beibringen lassen will«, übersetzte Gutswalter. »Ser Lorenzo muss aufpassen, wenn er die Situation entspannen will; der Kerl hetzt ihm die Leute auf. Und er glaubt wahrscheinlich noch, er tut es Lorenzo zu Gefallen.«
Lorenzo de’ Medici wandte sich von Stefano di Bagnone ab und trat einen Schritt zurück. Bagnone sackte zusammen, als hätte ihn Lorenzos Gegenwart aufrecht gehalten. Er begann zu schluchzen; ein zäher Speichelfaden tropfte von seinem Mund auf den Boden. Maffei zeigte sich regungslos, nur seine geschwollenen Lippen arbeiteten. Lorenzo sah ihm ins Gesicht. Maffei spuckte einen blutgefärbten Batzen Schleim auf Lorenzos Gewand und zischte einen Fluch.
Vielleicht wäre es Lorenzo de’ Medici trotzdem gelungen, die Menge von ihrer Raserei abzubringen; wer immer in seiner Nähe war, erstarrte, sobald sein Blick auf ihn fiel. Doch seine eigenen Leute machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Während der Anführer der Wache herumfuhr und Maffei entgeistert anstarrte, tat einer der Soldaten um Lorenzo de’ Medici einen Sprung nach vorn und schlug Maffei mit der Faust zu Boden. Der gefesselte Priester fiel zur Seite wie ein Sack und schlug hart mit dem Kopf auf das Pflaster. Bagnone heulte auf. Die Menge sog erschrocken die Luft ein. Lorenzo de’ Medici streckte den Arm aus und zerrte seinen Bewacher zurück, während er ein paar Befehle bellte. Seine Männer waren einen Augenblick lang unschlüssig und starrten einander an.
»Er will, dass sie die beiden Priester beschützen«, keuchte Gutswalter.
Ihr Zögern war so kurz, wie es ihre Professionalität erwarten ließ, und dauerte doch einen Moment zu lange; in diesem Moment erhob sich ein dumpfes, gestaltloses Grölen des Zorns in den Menschen um uns herum, und sie drängten einmütig vorwärts, eine Welle aus Leibern, aufgerissenen Mündern und Fäusten, die nach Gewalt lechzten, Gutswalter und ich hilflos mit ihnen nach vorn gestoßen. Maffei richtete sich benommen auf und ging sofort wieder in einem Wirbel aus Angreifern unter, die den Wachführer und seine vier Männer davonfegten. Lorenzos Anführer schrie seine Leute mit hochrotem Kopf an, und sie schlossen ihren beschützenden Ring um den Medici so eng wie möglich, dabei rücksichtslos diejenigen beiseite tretend, die stellvertretend für ihren Herrn Rache üben wollten. Stefano di Bagnone kreischte wie verrückt, bis auch über ihn die Ersten herfielen und seine Schreie unter dem Zorngebrüll erstickten. Lorenzo de’ Medici brüllte den Herandrängenden Befehle entgegen; seine Stimme ging im Toben unter, und was immer er schrie, blieb ungehört und unbeachtet.
Gutswalter stolperte über seine Beine und fiel gegen einen der Bewacher Lorenzos, und dieser trat ihm die Füße weg; Gutswalter griff um sich und klammerte sich an mich. Ich packte ihn unter den Achseln und zerrte ihn zur Seite. Plötzlich befand ich mich fast Schulter an Schulter mit Lorenzo de’ Medici. Er starrte mit steinernem Gesicht auf das Knäuel ein paar Schritte vor sich, das sich darum balgte, den beiden Unseligen auf seinem Grund die Glieder auszureißen. Der Mann, der Gutswalter abgewehrt hatte, hob eine Faust und stieß sie mir vor die Brust. Ich taumelte gegen einen Mann, der von hinten an mich herandrängte und mir wütend ins Ohr brüllte. Einer der Leibwächter packte Lorenzo an den Schultern und drängte seinen Kopf nach unten, während sich ein zweiter so über ihn warf, dass ihn nicht einmal ein Dolchstoß aus der Nähe hätte erreichen können. Die Glocken von San Lorenzo gaben einen Missklang von sich und veränderten ihre Melodie schlagartig in ein hektisches Feuergeläut. Offenbar beobachtete jemand im Turm die Szene hier auf dem Platz, und ich fragte mich, wie sie für ihn dort oben wirken musste. Der Wimpel mit den roten Bällen schwankte bedenklich hin und her, als immer mehr Menschen herandrängten und sein Träger die Stange benutzte, um sie zurückzuschlagen. Es musste aussehen, als würde halb Florenz versuchen, Lorenzo de’ Medici umzubringen, anstatt die beiden Attentäter, von denen nichts mehr zu erblicken war. Ich renkte mir den Hals aus, um die Dächer der umliegenden Gebäude im Auge zu behalten, während ich gleichzeitig versuchte, den immer noch stolpernden Gutswalter auf die Beine zu stellen. Ich erwartete jeden Moment, dass Männer mit Armbrüsten auf ihnen erscheinen und Lorenzo den Weg freischießen würden.
»Wir müssen hier raus!«, brüllte ich Gutswalter an.
Die aufgebrachte Menge strömte von allen Seiten her auf ihr Zentrum zu; Lorenzos Soldaten kämpften sich in der Gegenrichtung hindurch, und wir folgten ihnen, sobald sie die ersten Schritte getan hatten. Das Alarmläuten der Kirche lockte weitere Gruppen von Bewaffneten herbei, die sich von außen an Lorenzos Leibwächter heranarbeiteten und förmlich eine Gasse für ihn freischaufelten. Ich erhielt einen Stoß in den Rücken und fuhr herum. Dort, wo das Zentrum der Meute gewesen war, wichen die Menschen auseinander und drängelten ebenso heftig davon weg, wie sie eben noch versucht hatten, es zu erreichen.
Sie waren alle Bürger; Patrizier, Kaufleute, Handwerker, und keine Soldaten. Sie hatten das Schlimmste mit den beiden Männern im Sinn gehabt, doch als sie es beinahe vollbracht hatten, flohen sie vor Abscheu vor ihrem Werk. Soldaten wäre der Anblick nicht fremd gewesen; ihnen jedoch drehte sich der Magen um und vertrieb die Raserei so plötzlich, wie sie gekommen war.
Das Grölen, das im Zentrum der Menge seinen Anfang genommen hatte, begann auch dort wieder in sich zusammenfallen, und trotz des hektischen Läutens teilte es sich den von außen immer noch Herandrängenden mit. Die Bewegung verlangsamte sich und erstarrte wie das wütende Geräusch, das die Menschen ausstießen, und auch die Männer, die Lorenzo vorwärts drängten, hielten inne. Lorenzo schüttelte seine Bewacher ab und richtete sich auf, und seine Blicke folgten den Augenpaaren, die alle betroffen auf die Stelle starrten, an der die beiden Priester unter die Menge geraten waren. Nach einem fassungslosen Moment bekreuzigte er sich.
Der Mittelpunkt dessen, wovor sie alle davonstrebten, war Stefano di Bagnone. Man konnte ihn daran erkennen, dass der andere Körper zweifelsfrei der von Antonio Maffei war. Die Menge an Blut war immens. Er war fast nackt, aber er war ohnehin eine Obszönität der Gewalt. Einer der Männer, die von ihm davonstolperten, starrte fassungslos auf seine Hände und auf seine Kleidung, die vor Blut starrten, dann erbrach er sich lautlos. Ich hörte jemanden einen fassungslosen Fluch ausstoßen, und jemand anderer stolperte an mir vorbei, die blutbesudelten Hände krampfhaft vor den Mund gepresst.
Die Glocken von San Lorenzo läuteten ihren sinnlos gewordenen Alarm in die Stille über dem Platz. Der Glöckner schien ebenso gebannt herunterzustarren und vergessen zu haben, dass er die Macht hatte, das Geläut zu beenden. Rudolf Gutswalter flüsterte: »Mein Gott, mein Gott, mein Gott«; Lorenzos Leibwächter betrachteten den Toten ohne Regung und stießen ihren Herrn dann wieder vorwärts, aus der Menge heraus und in die Deckung eines guten Dutzend weiterer Bewaffneter, die ihn ohne viel Federlesens davonzerrten und in seinem palazzo in Sicherheit brachten.
Weitere Bewaffnete drängelten in die Mitte der Menschenmenge hinein, stießen die bleich gewordenen Zuschauer beiseite, drängten sich an Gutswalter und mir vorbei und packten den Mann mit dem Blut an den Händen; packten ein Dutzend weiterer ebenso verschmutzter, ebenso schreckgelähmter Florentiner und stellten sie einfach zur Seite, als wären sie große Puppen. Sie traten Antonio Maffei in die Rippen und ernteten ein leises Stöhnen, und zwei von ihnen richteten den Priester ohne großes Zartgefühl auf. Er konnte nicht allein stehen; sie schleppten ihn davon. Ich hörte die ersten Leute fassungslos schluchzen und den Umstand beweinen, dass zwei frevelhafte Meuchelmörder sie dazu gebracht hatten, ihre Menschlichkeit für ein paar fatale Augenblicke zu verlieren und der Bestie freies Spiel zu gewähren.
Wenn ich nur etwas schneller gewesen wäre, hätte ich Lorenzo de’ Medici um Gnade für Jana bitten können. Die Gelegenheit dazu war niemals so günstig gewesen. – Glaubst du wirklich, er hätte dir zugehört?
»Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen?«, fragte Gutswalter mit zitternder Stimme.
»Nein«, sagte ich.
Immer mehr Soldaten eilten jetzt auf den Platz und bildeten einen lückenhaften Kordon, der Stefano di Bagnones Überreste von den Gaffern trennte; andere scheuchten die wie erstarrt stehende Menge auseinander. Aus der Kirche quoll die Trauergemeinde und versuchte, auch etwas zu sehen; diejenigen, denen es gelang, zuckten entsetzt zurück. Rudolf Gutswalter atmete tief ein.
»Es gibt Gelegenheiten, da sollte man einen Schnaps trinken«, stellte er fest. »Dies ist so eine. Ich lade Euch ein.«
»Ich glaube nicht, dass ich…«
»Keine Widerrede. Es mag ja sein, dass Ihr so eine… eine Schweinerei auch noch nie gesehen habt, doch sie berührt Euch anscheinend deutlich weniger als mich. Ich weiß nicht, was Ihr damals in Augsburg getan habt, aber Gewalt war Euch sicherlich ebenso wenig fremd wie der Anblick von Behördenspitzeln. Ich, ich bin nur ein Kaufmann, und das meiste Blut, das ich bisher gesehen habe, wurde beim Schlachten von Hühnern vergossen. Ich muss mit jemandem darüber reden. Ihr könnt mich jetzt nicht allein davongehen lassen.«
Er brachte mich nicht weit; schon ein paar Gassen weiter nördlich, an einem Platz vor einem weitläufigen Klosterbau, zerrte er mich zu einem dunklen Wirtshaus, in dem die Normalität eben begann, von den Neuigkeiten auf dem Platz vor San Lorenzo abgelöst zu werden, und die ersten Neugierigen in der Hoffnung hinaustraten, dass es noch etwas zu gaffen gab. Vor der Klosterpforte standen zwei Männer in der Tracht der Dominikaner, spähten unschlüssig den Wirtshausbesuchern nach, die die Via Larga hinabeilten und schienen sich zu fragen, ob die Anwesenheit ihres Ordens dort vielleicht vonnöten war. Der Wirt brachte uns eine Steinbesserflasche und zwei Becher und erkundigte sich danach, was geschehen war. Gutswalter gab ihm wortkarg Auskunft. Der Wirt zuckte mit den Achseln und sah aus, als würde er bedauern, dass er nicht dabei gewesen war. Gutswalter schenkte die Becher voll; der Hals der Flasche schlug gegen ihre Ränder, und mindestens ein halber Becher Flüssigkeit benetzte die Platte des langen Tisches.
»Das ist ein Trester«, sagte Gutswalter und hob den Becher. »Und nicht mal ein schlechter. Trinkt.« Er wartete nicht darauf, dass ich meinen Becher hob; er stürzte den Inhalt des seinen hinunter und schnappte nach Luft. Seine Augen tränten, und er ließ einen Seufzer hören.
Der Schnaps schmeckte entfernt nach Wein und Trauben und brannte weniger, als ich erwartet hatte. Ich nahm einen kleinen Schluck und sah Gutswalter an. Er zuckte mit den Achseln und legte die Hände auf die Tischplatte.
»Ich wollte, ich wäre nicht auf dem verdammten Platz gewesen«, sagte er unglücklich. »Dieser Anblick wird mich nächtelang verfolgen.«
»Warum seid Ihr mir dorthin gefolgt?«
»Oh, das bin ich nicht. Ich ging in Vertretung Antonios, wenn man so will. Er hat sich im letzten Augenblick dafür entschieden, Umberto Vellutis Bestattung beizuwohnen. Er konnte nicht verhindern, dass man Velluti vor den Stadttoren verscharrt wie jeden beliebigen Selbstmörder, und so wollte er Vellutis Witwe wenigstens selbst etwas Trost spenden. Ich wusste es nicht, als ich Euch auf die Trauerzeremonie aufmerksam machte, sonst hätte ich Euch selbstverständlich schon in der Bank meine Begleitung angetragen. Als ich auf den Platz kam, habe ich mich natürlich nach Euch umgeschaut. Ihr wart nicht zu übersehen. Es dauerte nur eine Weile, bis ich mich zu Euch durchgekämpft hatte. Welche Tätigkeit, sagtet Ihr, habt Ihr damals für den Bischof in Augsburg ausgeübt?«
»Ich war sein Untersuchungsbeamter«, sagte ich unwillig. »Dem Bischof gehörten ausgedehnte Ländereien mit Pächterhöfen und kleinen Dörfern. Er war der Grundherr. Ich war dafür zuständig, dass seine Gesetze eingehalten wurden, und vertrat ihn in weltlichen Dingen, wenn er als päpstlicher Legat unterwegs war.«
»Was für ein Mensch war er?«
»Er war klug, spöttisch und scharfzüngig. Er war bei den meisten gefürchtet. Man musste den Menschen unter dieser Schale erst entdecken. Es gab eine lange Zeit, da wäre ich für ihn bedenkenlos ins Feuer gegangen.«
»Später nicht mehr?«
Ich seufzte. »Wir sind als Feinde voneinander geschieden. Er hinderte mich daran, Gerechtigkeit in einem Mordfall zu üben.«
»Weshalb tat er das?«
»Politisches Kalkül.«
»War er im Unrecht?«
»Nein«, brummte ich. »Wenn ich die Geschichte vor ein Gericht gebracht hätte, hätte ich verhindert, dass ein mehrjähriger Krieg endlich beendet werden konnte.« Ich starrte ihn an. »Damals wäre es mir egal gewesen. Ich verwechselte Gerechtigkeit mit Rache. Ein alter Mann und zwei junge Mädchen waren ermordet worden. Eine davon war mir fast so teuer wie meine eigene Tochter.«
»So habt Ihr den Fall nicht aufgeklärt.«
»Natürlich habe ich ihn aufgeklärt! Ich schlug seine Worte in den Wind. Aber ich brauchte zu lange, um mich dazu durchzuringen. Als ich die Täter gefasst hatte, war es zu spät. Die Morde waren während des Krieges begangen worden, und Bischof Peter hatte in den Friedensvertrag diktiert, dass keine Seite an den Missetaten der anderen Rache nehmen dürfe, die unter der Kriegsflagge begangen worden waren. Er wollte, dass der Frieden dauerhaft war.«
»Eure Hartnäckigkeit hat Euch Eure Stelle gekostet, nehme ich an.«
»Und Bischof Peters Freundschaft. Eingebracht hat sie mir nichts.«
»Ihr habt so gehandelt, wie Ihr musstet.«
Ich lächelte schwach. »Das ist ein großes Wort. Ich war hitzköpfig und verbohrt, das ist alles.«
»Umberto Velluti hat Antonio als den Verwalter seines Erbes eingesetzt«, sagte Gutswalter. »Ich habe Vellutis Konten durchgesehen.«
Ich bemühte mich, seinem abrupten Gedankenwechsel zu folgen.
»Warum habt Ihr das getan?«
»Weil Velluti das Wasser mehr scheute als eine Katze und sich ausgerechnet im Arno das Leben nahm.«
Ich sah ihn verblüfft an. Er lachte und schien erstaunt, dass es ihm nach der Szene auf dem Platz vor San Lorenzo noch gelang. »Schaut nicht so misstrauisch. Das waren doch Eure eigenen Worte, oder?«
»So ungefähr. Nur sagte ich sie zu…«
»… zu Monna Beatrice, ja. Was glaubt Ihr, von wem ich sie habe?«
»Beatrice und Ihr müsst ebenfalls ein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis zueinander haben«, sagte ich mühsam.
»Das ist nur natürlich. Immerhin war es Matteo Federighi, der mich vor zwei Jahren aus dem Gefängnis holte.«
»Beatrices verstorbener Mann? Du meine Güte! Jetzt verstehe ich Beatrices Bemerkung über sein schlimmes Ende.« Ich schüttelte den Kopf. »Eure Bande zur Familie Pratini sind vielfältig.«
»Und dicker als Blutsbande, das versichere ich Euch.«
Ich schnaubte. »Was ist nun mit Vellutis Konten?«
»Er hat über die Bank von Francesco Nori kurz vor Ostern einen stattlichen Betrag erhalten.«
»Ich weiß. Das Geld stammte von Jana.«
»Wisst Ihr auch, was er damit getan hat?«
»Nein, zum Teufel«, rief ich erregt und dämpfte erschrocken meine Stimme. »Das versuche ich doch die ganze Zeit herauszufinden.«
»Er hat das gesamte Geld an Benedetto di Maiano weitergeleitet.«
»Was macht denn das für einen Sinn?«, fragte ich verdutzt. »Benedetto di Maiano – das ist doch dieser Porträtkünstler, habe ich Recht?«
»Ja, aber nebenher ist er auch ein sehr passabler Architekt und eines der Mitglieder von Lorenzo de’ Medicis Platonischer Gesellschaft. Nun, ich nehme nicht an, Velluti wollte seine Büste bei Maiano in Auftrag geben und hat schon vorab bezahlt, nicht wahr?«
»Was hat das alles mit seiner Ermordung zu tun?«
»Woher soll ich das wissen? Findet es heraus. Denn eines ist sicher: Velluti hatte mit Eurer Gefährtin zu tun, und alles, was an seinen letzten Taten und seinem Tod merkwürdig erscheint, steht mit Sicherheit im Zusammenhang mit ihr.«
»Weshalb helft Ihr mir jetzt schon wieder? Wegen des Todes jenes unseligen Priesters?«
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht hat es damit zu tun. Vielleicht mit Eurer Geschichte über den Mordfall.«
Ich sah ihn misstrauisch an. Er kämpfte einen kleinen Kampf mit sich.
»Was soll’s?«, rief er dann. »Ich helfe Euch, weil ich wissen muss, ob Jana unschuldig ist oder nicht. Wenn sie schuldig ist, zieht sie womöglich Antonio in die ganze Sache mit hinein, und das muss ich verhindern.«
»Davon redet auch Beatrice ständig. Der Einzige, der sich darüber keine Sorgen zu machen scheint, ist Pratini selbst.«
»Natürlich macht er sich Sorgen.«
»Er ist doch so ein guter Freund der Medici.«
»Das ist er nicht. Ihr wisst, dass Papst Sixtus die Finanzverwaltung des Vatikans Ser Lorenzo entzog und sie in die Hände von Franceschino de’ Pazzi legte? Lorenzo wollte diese Aufgabe wieder zurückholen, und angesichts von Franceschinos Inkompetenz schien es jedem, dass Lorenzo eine gute Chance dazu hatte.«
»Der Papst hätte Lorenzo niemals die Gelder des Vatikans wieder anvertraut«, rief ich. »Was glaubt Ihr denn, wer hinter diesem Anschlag in Santa Maria del Fiore steckt, wenn nicht der Heilige Vater?«
»Aber das hätte bis zum Ostersonntag niemand zu glauben gewagt. Und es ist auch egal; jeder wusste, wie viel Lorenzo daran lag, dass die Medici wieder die Finanzen des Papstes regelten.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Und?«
»Antonio hat in den letzten Monaten nichts unversucht gelassen, Ser Lorenzo in diesem Punkt Konkurrenz zu machen.«
Ich fühlte mich plötzlich versucht zu lachen. »Ich habe gehört, dass Pratini sich mit Plänen trägt, in Rom eine Filiale zu eröffnen. Ich ahnte nicht, was wirklich dahinter steckt.«
»Nun, so ist es jedenfalls. Vor diesem Anschlag war es nicht mehr als eine ernsthafte Herausforderung, zu der Familie Medici in geschäftliche Konkurrenz treten zu wollen. Jetzt ist es auf einmal Hochverrat – und umso mehr in dieser Konstellation.«
»Sollte sich herausstellen, dass Pratini zu Jana eine geschäftliche Verbindung hatte und diese mit der Verschwörung in Zusammenhang gebracht wird…«, begann ich.
»… hilft es ihm auch nichts, dass Lorenzo seine Schwester Beatrice anbetet«, vollendete Gutswalter knapp. »Die signoria macht ihm den Prozess, und Lorenzo wird keinen Finger krumm machen, um ihm zu helfen.«
»So hätte ich Lorenzo de’ Medici nicht eingeschätzt.«
»Er wird sich nicht aus Rache weigern, nein! Da missversteht Ihr etwas. Er wird sich heraushalten, weil er auf alle Fälle demonstrieren wird, dass die Gesetze für alle gleich sind. Ich bin sicher, er würde eher seine Mutter der Justiz ausliefern, als für sich und seine Familie Vergünstigungen zu erwirken, die unverdient sind.«
»Wenn sich also herausstellen würde, dass Jana schuldig wäre…«
»… hat Antonio nur eine Chance: Er muss sich zerknirscht geben und der signoria stellen, noch bevor sie es gestanden hat. Und gestehen wird sie, wenn man sie der peinlichen Befragung unterzieht, so viel ist sicher.«
Ich gab mir alle Mühe, über seine letzte Bemerkung hinwegzuhören. Er schien sie selbst unpassend zu finden, denn er errötete und sah auf den Becher in seinen Fingern hinab.
»Das ist also Euer Motiv«, sagte ich nach einer Weile.
Gutswalter sah nicht auf. »Ganz genau«, erklärte er dem Becher.
»Wisst Ihr was? Ich glaube Euch nicht.«
Er brummte etwas. Schließlich hob er kurz den Blick und wich meinen Augen sofort wieder aus. »Nein«, gab er dann zu. »Wenn Jana unschuldig ist, muss sie so schnell wie möglich aus dem Gefängnis geholt werden. Ihr könnt Euch vielleicht denken, dass jemand wie ich einen Horror davor verspürt, dass jemand unschuldig eingesperrt ist.«
»Um die Schuld abzutragen, die sich seit Matteos Einsatz für Euch selbst auf Eure Schultern geladen hat?«
»So würde ein Florentiner denken«, wehrte er ab.
Ich erwiderte nichts, aber ich erinnerte mich daran, wie er bei unserer ersten Begegnung im Fondaco zwischen den Kaufleuten der Zunftniederlassung gestanden hatte mit seinen feinen Kleidern und so ausgesehen hatte, als wäre er schon immer hier gewesen. Zugehörigkeit ist nicht nur eine Sache von Äußerlichkeiten. Ich sah ihm zu, wie er uns beiden noch einen Trester einschenkte und dem Wirt dann die Flasche zurückgab, und trank ihm zu, als er seinen Becher zum zweiten Mal hob.
Er hatte einen Punkt mit Bedacht vermieden, und ich hatte ihn mit Bedacht nicht danach gefragt. Ich wollte ihn nicht darauf aufmerksam machen, dass er mir aufgefallen war. Was hatte Antonio Pratini von einer Verurteilung Janas zu befürchten, wenn es keinerlei geschäftliche Verbindung zwischen den beiden gab?
4.
I
n der Nähe von Vespuccis geplündertem Haus stieß ich zu meiner Überraschung auf Johann Kleinschmidt. Seine Haare waren wirr, und er sah blass und verschwitzt aus und wie jemand, der seit Stunden in der Stadt herumirrt. Ich musste ihn anrufen, damit er überhaupt auf mich aufmerksam wurde; dann eilte er mit großen Sprüngen über die Gasse zu mir herüber. Ich dachte, er würde mich umarmen und vor allen Leuten abküssen, aber im letzten Moment hielt er sich zurück.
»O mein Gott, Herr Bernward«, keuchte er und bekreuzigte sich, »bin ich froh, Euch endlich zu finden.«
»Was ist denn los?«
»Ein Trupp Bewaffneter ist in den Fondaco gekommen. Sie haben alles durchgewühlt.«
»Ich weiß.«
»Woher?«
»Ich versteckte mich in einem Garten oberhalb des Fondaco. Ich sah sie wieder gehen und sprach danach mit Ferdinand Boehl.«
»Aber warum seid Ihr dann nicht sofort in den Fondaco gekommen? Wo wart Ihr überhaupt die ganze Zeit? Seit heute Mittag suche ich Euch. Ich habe mir solche Sorgen gemacht… Kreuz und quer durch die Stadt bin ich gerannt!«
»Wenn du hättest wissen wollen, ob man mich verhaftet hat, hättest du nur beim gonfaloniere oder im Gefängnis nachzufragen brauchen.«
Er sah mich verlegen an, und ich fragte mich, ob sein schuldbewusster Gesichtsausdruck bedeutete, dass er an diese Möglichkeit nicht im Traum gedacht oder dass er nicht den Mut dazu aufgebracht hatte.
»Man hat die Priester gefunden, die Lorenzo de’ Medici angegriffen haben«, sagte ich. »Einen von ihnen hat man auf dem Platz vor San Lorenzo auf der Stelle totgeschlagen.«
Er erbleichte noch mehr, wenn das möglich war. Bestürzt rang er die Hände. »Wer?«, brachte er schließlich hervor.
»Wer ihn umgebracht hat? Alle. Oder keiner. Sie sind zu Dutzenden über ihn hergefallen und haben ihn zerstückelt.« Ich dachte an den Anblick auf dem Pflaster. »Wenn sie ihn neben die anderen Verschwörer an den Palazzo della Signoria hängen wollen, werden sie sich schwer tun«, sagte ich grimmig.
Kleinschmidt gab ein kleines Seufzen von sich, das mehr als alles andere ausdrückte, wie wenig er an den Details von Stefano di Bagnones Tod interessiert war.
»Nun gut, du hast mich gesucht, und jetzt hast du mich gefunden. Ich bin unversehrt. Niemand hat mich dumm angeredet, und niemand hat versucht, mich zu verhaften. Weshalb bist du so aufgeregt?«
»O Herr Bernward«, stammelte er, »ich weiß gar nicht, wie ich es Euch sagen soll.«
»Was ist denn passiert, zum Henker?«
»Die Familie Hochstetter hat einen Partner in Verona. Ich habe ein paar Brieftauben von ihm und er von mir; und er wiederum von einer Filiale unseres Hauses in Bozen, und diese von einem anderen Partner in Innsbruck…«
»Erspar mir die Einzelheiten. Ich nehme an, du willst mir sagen, dass du eine Nachricht aus Augsburg erhalten hast.«
Er nickte unglücklich. Ich verspürte plötzlich einen eisigen Ruck.
»Ist etwas mit Maria passiert?«, keuchte ich.
Er sah überrascht auf. »Was? Mit Maria? Aber nein. Nein. Aber… aber ich…«
»Was?«
»Sie haben mich zurückbeordert«, brach es aus ihm heraus. »Ich soll Florenz auf der Stelle verlassen und heimkehren.«
Ich war so überrascht, dass ich ihn einen Augenblick lang sprachlos anstarrte. »Warum das denn?«
»Ich weiß nicht, wie sie so schnell von dem Attentat erfahren konnten; ich bin doch noch gar nicht dazu gekommen, ihnen darüber zu berichten«, klagte er, und ich hätte am liebsten gesagt: Über ein halbes Dutzend anderer solcher Brieftaubenketten, wie du sie mir eben geschildert hast, du Idiot! »Es heißt, die Verhältnisse sind zu unsicher, und außerdem sei durch die Einmischung der Fugger in das Komplott das Verhältnis zu den Kaufleuten des Reichs zu stark getrübt… unser Haus könnte keine Vorteile aus der Situation ziehen.«
Joachim Hochstetters Geschäftssinn musste durch die Neuigkeiten über das Attentat gelitten haben, wenn er so dachte. Oder sein Vertrauen in seinen Gesandten Kleinschmidt war noch geringer, als mein Schwiegersohn geschildert hatte. Kleinschmidt schüttelte den Kopf. »Ich werde natürlich nicht gehen«, sagte er fest. »Noch dazu jetzt, wo Herr Tredittore spurlos verschwunden ist.«
Kleinschmidt schaffte es mühsam, Form in die Geschehnisse zu bringen, während er neben mir her zum Fondaco dei Tedeschi eilte. Gegen Mittag hatte sein Schreiber eine zerzauste Brieftaube aus ihrem Verschlag gezogen und meinem Schwiegersohn mitgeteilt, dass die Familie Hochstetter ihn unverzüglich in Augsburg zur Berichterstattung erwarte: ihn persönlich, nicht einen Brief, nicht einen Boten, nicht seinen Schreiber. Seine erste Reaktion war gewesen, nach mir zu suchen, wobei ihm aufgefallen war, dass er mich den ganzen Tag noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Er begann voller Ungeduld, auf meine Rückkehr in den Fondaco zu warten und seinem Schreiber abwechselnd zu befehlen, ihre Sachen zu packen oder das Packen sofort einzustellen.
Dann kamen die Soldaten, und er war sicher, dass sie ihn für einen beschränkten Halbidioten gehalten hatten, so gelähmt war er von ihrem Erscheinen gewesen. Nach ihrem Abzug war er sofort auf die Suche nach Stepan Tredittore gegangen, um ihn zu fragen, ob er über meinen Verbleib Bescheid wisse. Er war fast verrückt vor Sorge und konnte sich nur mit dem Gedanken halbwegs beruhigen, dass ich noch nicht verhaftet sein konnte, wenn man den Fondaco durchsuchte. Die Suche nach Tredittore blieb ergebnislos. Schließlich wagte sich Kleinschmidt zu Ferdinand Boehl und erhielt von ihm in größerer Lautstärke die Mitteilung, dass dieser mich vor wenigen Augenblicken noch vor dem Tor des Fondaco zusammengestaucht habe und froh sei, wenn er meinen Namen einige Jahrzehnte lang nicht mehr hören müsse; was Tredittore betreffe, so solle man ihn am besten dort suchen, wo es nach einem rolligen Küchenmädchen roch. Kleinschmidt verstand überhaupt nichts, rannte aber auf die Straße hinaus, von der ich schon längst verschwunden war, und lief ziellos in ein paar Gassen hinein, bis ihm die Unsinnigkeit seines Tuns bewusst wurde. Bis er schwer atmend wieder im Fondaco war, hatte Ferdinand Boehl festgestellt, dass das Küchenmädchen wieder an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt war und dem wütenden Küchenmeister gebeichtet hatte, dass sie sich mit Stepan Tredittore in einen Vorratskeller zurückgezogen hatte und dort von ihm noch vor Vollendung ihres Tuns verlassen worden war; nämlich als Tredittore der Soldaten ansichtig wurde, die das Haupthaus durchsuchten. Er hatte den gleichen Abgang gewählt wie auf Cerchis Landgut. Mittlerweile musste er eine gewisse Erfahrung darin besitzen. Kleinschmidts Nerven verkrafteten diese letzte Hiobsbotschaft nur schwer. Er machte auf dem Absatz kehrt und reagierte die Schrecknisse des Tages ab, indem er sich auf eine planlose Suche nach mir machte. Niemand war wohl erstaunter als er, tatsächlich auf mich zu stoßen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte er am Ende seines wirren Berichts.
»Ich versuche, diesen Idioten wiederzufinden«, knurrte ich.
»Du gehst deine Sachen packen.«
»Warum wollt Ihr ihn denn suchen? Ich meine… ich dachte… Ihr könnt ihn doch nicht leiden, oder?«
»Keiner kann ihn leiden. Du etwa?«
»Na ja. Ich will ja nichts Schlechtes über einen anderen sagen, aber er hat schon so eine Art…«
»Darum geht es aber nicht. Ich kann nicht riskieren, dass er einer Streife oder den Medici-Leuten in die Hände fällt und ins Gefängnis kommt.«
»Warum denn nicht?«
»Was glaubst du wohl, wie lange es dauern wird, bis sie ihn mit Jana in Verbindung bringen? Und wie lange, bis er auf der Folter anfängt, Jana anzuschwärzen, damit man ihn in Ruhe lässt?« Es würde der peinlichen Befragung gar nicht bedürfen. Ich war sicher, es reichte, ihm die Instrumente bloß zu zeigen, um ihn zu einem fantasievollen Bericht über die Verwicklung Janas in alle Verschwörungen seit der Ermordung Cäsars zu ermuntern.
»Ich werde nicht packen«, sagte Kleinschmidt fest. »Ihr braucht mich hier nötiger denn je.«
»Red keinen Unsinn. Wenn sie dir die Heimkehr befehlen, dann geh.«
»Ich kann Euch doch hier nicht allein lassen. Aber es stimmt schon; wenn ich mich widersetze, dann habe ich meine letzte Chance bei Joachim Hochstetter vertan.« Er trat unglücklich gegen den Boden und zog die Nase hoch wie ein kleiner Junge.
»Es wird schwer, aber ich komme zur Not auch ohne dich zurecht.«
»Was soll ich denn tun?«, stieß er hervor. »Wenn ich gehe und es stößt Euch etwas zu, werde ich mir Vorwürfe bis ans Ende meines Lebens machen. Wenn ich nicht gehe, bin ich wieder ohne Brot, und kein Kaufherr in ganz Augsburg wird mir jemals wieder Arbeit geben. Sie sind zwar alle miteinander verfeindet, aber einen Mann, der eine Anordnung seines Hauses missachtet, wird auch der ärgste Konkurrent von Joachim Hochstetter nicht zu sich nehmen.«
»Darum sage ich ja, dass du gehen sollst.«
»Ach, Herr Bernward, ich kann Euch einfach nicht im Stich lassen.«
»Pass auf«, sagte ich ungeduldig, »ich habe eine Idee. Du reist nach Prato und schickst eine Brieftaube los, dass dein Schreiber krank geworden ist und du ein paar Tage warten musst, bis es ihm wieder besser geht. Vielleicht ist dann hier alles ausgestanden, und wir holen dich in Prato ein. Andererseits ist es nahe genug, dass du innerhalb eines Tages zurück sein kannst, wenn ich dich brauchen sollte.«
Er sah nicht begeistert aus. »Ob sie mir das glauben? Sie brauchen doch nur den Schreiber zu befragen, wenn wir in Augsburg sind.«
»Dann gib ihm doch in Gottes Namen Geld dafür, dass er schwindelt. So dumm wird er ja wohl nicht sein, dass er nicht erkennt, wo sein Vorteil liegt!«
Kleinschmidt brummte zweifelnd.
»Da vorn ist der Fondaco«, sagte ich bestimmt. »Sobald wir angekommen sind, befiehlst du deinem Schreiber zu packen. Morgen in aller Frühe reist du ab. Sobald du in Prato bist, schickst du die Brieftaube mit der Botschaft von der Erkrankung deines Schreibers los. Hast du mich verstanden?«
Er ließ den Kopf hängen. »Wenn Ihr mich auch von hier weghaben wollt, dann soll es so sein.«
»Ich schicke dich nur deshalb weg, weil ich dein Wohlergehen im Sinn habe.« Ich grinste und versuchte, es aufmunternd aussehen zu lassen. »Außerdem brauche ich jemanden, der in Prato eine Unterkunft und möglicherweise eine rasche Abreise für uns organisiert, wenn ich mit Jana den Einflussbereich der Republik, so schnell es geht, verlassen muss.«
Er sah mich an und dachte nach, und es stand ihm auf die Stirn geschrieben, dass er zwar froh war, mir weiterhin nützlich sein zu können, aber die Verantwortung dafür gleichzeitig fürchtete.
»Und was wird aus Euch? Wo wollt Ihr denn nach Herrn Tredittore suchen?«
»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, erwiderte ich. »Wenn es nicht um Jana ginge, würde ich sagen, eine Nacht in der Gosse könne ihm nicht schaden.«
Vor dem Tor des Fondaco standen zwei junge Männer mit Helmen auf den Köpfen. Sie waren nicht bewaffnet, aber sie hatten eindeutig die Funktion von Torwächtern. Ferdinand Boehl schien die signoria nicht provozieren zu wollen, aber es kam ihm darauf an zu zeigen, dass er zur Not bereit war, sein Territorium vor einem weiteren Übergriff zu schützen. Die Männer verstellten uns den Weg, und wir mussten unsere Namen nennen, bevor sie uns durchließen.
»Geh packen«, sagte ich zu Kleinschmidt. »Ich muss mit Boehl sprechen.«
Boehls Augenbrauen senkten sich herab, als ich in sein Kontor trat. Er schob sein Kinn angriffslustig nach vorn. Ich kam ihm zuvor.
»Wie kann es denn sein, dass einer meiner Begleiter unter Euren Augen verschwindet?«, schrie ich ihn an. »Soll ich vielleicht den ganzen Fondaco davontragen, bevor jemand etwas merkt?«
Er war so verblüfft, dass er seinen eigenen Ärger vergaß. »Was geht mich denn Euer Tross an?«, stieß er hervor.
»Was er Euch angeht? Da fragt Ihr noch? Wir haben doch eine Abmachung! Wofür zahle ich Euch den verdammten Zunftpfennig und auch noch die Schulden der Fugger?«
»Unsere Abmachung gilt doch nicht für diesen aufgeblasenen Lackel.«
»Für mich gilt sie ja hoffentlich?«, versetzte ich, ohne meine Lautstärke zu dämpfen. »Oder hätte ich besser vor Zeugen einen Kontrakt mit Euch unterzeichnen sollen?«
Boehl hatte seine Überraschung endlich überwunden. »Natürlich gilt sie!«, schrie er zurück. »Glaubt Ihr etwa, mein Wort ist so kurz wie ein Hasenschwanz?«
»Da bin ich aber froh!« Ich drehte mich auf dem Absatz herum, stürmte aus dem Kontor und knallte die Tür hinter mir zu. Draußen ging ich wesentlich langsamer weiter. Ich hörte, wie er sein Schreibpult fast umstieß, zur Tür hastete und diese aufriss.
»Wo wollt Ihr denn hin, verdammt noch mal?«, brüllte er hinter mir her. Ein paar Männer, die Säcke und Ballen im Hintergrund des Lagerraums umschichteten, fuhren zusammen und spähten neugierig zu uns herüber. »Wir müssen reden.«
Ich marschierte wieder zurück zu ihm und trat durch die Tür, die er mit seiner großen Pranke offen hielt. »Da habt Ihr Recht«, sagte ich ruhig und lächelte ihn an. »Wir müssen miteinander reden.«
»Wisst Ihr, wonach die Kerle suchten?«, brummte er, nachdem er mich zu einer Reihe aufgestapelter Ballen in seinem Kontor dirigiert hatte und sich dort neben mich setzte.
»Ihr sagtet, nach Mitgliedern der Verschwörung. Ich habe angenommen, sie kamen wegen der Aussage des majordomus von Vespuccis Haus«, erklärte ich.
»Das habe ich auch gedacht. Ihr habt dort gewohnt, das Haus gehörte einem der Verschwörer, der majordomus wusste, dass Ihr aus dem Reich stammt, und wo flüchtet sich ein Verbrecher aus dem Reich hin, wenn nicht zu seinen Landsleuten? – einszweidrei, genauso einfach schien es mir auch. Dabei suchten sie die ganze Zeit gezielt nach diesem Tredittore.«
Jetzt war die Reihe an mir, verblüfft zu sein. »Woher wisst Ihr das?«
Er seufzte müde und strich sich über die Augen. »Weil vor nicht mal einer Stunde ein Gerichtsdiener bei mir war und mir erklärt hat, dass ich in der Person eines gewissen Stepan Tredittore einen Verbrecher unter meinem Dach beherberge und ich ihn, sollte er sich hier versteckt halten, unverzüglich auszuliefern habe.«
»Aber wie wurden sie gerade auf ihn aufmerksam? Jana hat bestimmt nichts über ihn erwähnt; sie denkt wahrscheinlich gar nicht an ihn. Höchstens Julia, ihre Zofe… aber sie hätte nicht mal gewusst, dass es in Florenz einen Fondaco dei Tedeschi gibt.«
»Sie hatten eine Anzeige«, erklärte Boehl.
»Eine was?«
»Eine Anzeige. Einen Brief. Jemand schrieb eine Botschaft an die signoria, dass Stepan Tredittore, Kaufmannsgehilfe und Mitverschwörer der Jana Dlugosz, hier zu finden sei.« Er nickte mit unbewegtem Gesicht. »Ja, mittlerweile weiß ich ein wenig mehr über Euch und die Leute, die Euch begleiten.«
»Ich hätte es Euch selbst gesagt. Ihr habt Euch die Ohren zugehalten.«
»Ja, ich war töricht«, knurrte er. »Doch wenn ich mir heute Morgen die Hände nicht um die Ohren gelegt hätte, hätte ich sie vielleicht um Euren Hals wiedergefunden.«
»Wer hat die Botschaft verfasst?«
»Glaubt Ihr, unter so etwas setzt man seine Unterschrift? Der Gerichtsdiener hat mir den Wisch vor die Nase gehalten. Es waren nur ein paar Zeilen, sonst nichts.«
»Ich verstehe nicht, warum es jemand ausgerechnet auf Tredittore abgesehen hatte anstatt auf mich. Tredittore ist Kaufmannsgehilfe aus Janas Handelshaus, ganz richtig. Und nichts weiter. Ich bin ihr Gefährte. Und ich habe die ganze Zeit über fest damit gerechnet, dass man nach mir sucht.«
»Scheinbar nicht. Und scheinbar war es ihm klarer als Euch, dass er gesucht wurde. Er ist so abrupt auf und davon, dass das Küchenmädchen dachte, er wolle nur die Stellung wechseln.«
»Das hat überhaupt nichts zu bedeuten«, sagte ich. »Der Mann ist nur vorsichtig, was seine Person angeht. Als Jana auf Cerchis Landgut verhaftet wurde, hat er sich aus genau der gleichen Situation auf die gleiche Weise in Sicherheit gebracht. Das ist sein Markenzeichen.«
»Auf Cerchis Landgut, soso.« Er sah mich offen an. »Ich frage das nur einmal: Wie weit seid Ihr und Eure Leute in die Verschwörung verwickelt?«
Ich gab seinen Blick ebenso frei zurück. »Überhaupt nicht. Ich habe zu viel erlebt, um Geschäfte mit der Politik machen zu wollen, und Jana ist nicht dumm genug dazu. Tredittore wäre so überheblich, sich einzumischen, aber er war seit Venedig stets in unserer Nähe und hatte keine Möglichkeit, irgendwelche Komplotte mit den Verschwörern einzugehen. Keiner von uns ist an dieser Geschichte beteiligt.«
»Warum sitzt Eure Gefährtin dann im Gefängnis?«
»Weil man sie mit gefälschten Briefen verleumdet hat.«
»Könnt Ihr das beweisen?«
»Säße sie dann noch im Gefängnis?«
»Wisst Ihr wenigstens, wer es getan haben soll?«
»Ich habe ein paar Verdächtige, allen voran Antonio Pratini, den Jana in Venedig massiv aus einem Geschäft gedrängt hat. Stepan Tredittore hätte auch einen Grund, und sei es nur, um seinen Herren in Krakau die Schwierigkeit zu ersparen, Jana auf legale Weise aus ihrem eigenen Handelshaus hinauszubefördern. Kardinal Riario wäre ebenfalls ein guter Verdächtiger, weil er sehr daran interessiert sein muss, alle Verdachtsmomente von sich abzulenken, und einen Batzen Geld von Janas Konto erhalten hat, den er sichtlich nicht wieder hergeben will; oder Rudolf Gutswalter, der immer so hilfsbereit ist und immer irgendetwas verschweigt. Ich weiß es nicht. Sie haben alle ein Motiv, doch keines erscheint mir stark genug. Ich versuche es seit Tagen zu klären, und alles, was ich herausbekommen habe, ist, dass ich nur die Hälfte von dem weiß, was ich wirklich wissen sollte.«
»Wie wäre es mit der einfachsten Erklärung?«
»Dass Jana schuldig ist? Ich habe mir diese Frage jede Stunde gestellt und lange gezweifelt, das kann ich Euch versichern.«
»Ich frage mich, warum ich Euch diese Geschichte glauben soll«, seufzte Boehl. »Und mehr noch frage ich mich, warum ich es tatsächlich tue.«
Ich stand auf und ging zur Tür.
»Was habt Ihr vor?«, fragte er.
Ich lächelte ihn schwach an. »Ich versuche zu vermeiden, dass der einzige Mensch hier verhaftet wird, dem ich eine Nacht im Gefängnis von Herzen gönnen würde.«
Der palazzo der Familie Medici wandte der Via Larga eine lang gestreckte graubraune Front zu. Das ausgeprägte Bossenwerk ließ ihn wehrhaft wirken; vielleicht lag es auch nur an der schweren Bewachung und dem geschlossenen zweiflügligen Tor. Die nördliche Hälfte der Fassade war durch eine weit zur Gasse hin offene Loggia unterbrochen. Jetzt, gegen Abend, stand die Sonne im Westen, und die ostwärts ausgerichtete Fassade des palazzo lag im Schatten. Am Morgen würde die Sonne hell in die Loggia scheinen und Lorenzo und seiner Familie die Gelegenheit geben, vor aller Augen im Sonnenlicht gemeinsam die erste Mahlzeit des Tages einzunehmen. Die Loggia war nun leer und finster; es war schwer vorstellbar, dass eine unbekümmerte Zurschaustellung familiären Lebens an diesem Ort wieder möglich sein würde.
Die Menschen machten einen weiten Bogen um das Gebäude. Diejenigen, die auf seiner Seite der Gasse marschierten, wichen ihm aus. Sie mochten es aus Respekt vor der Trauer der Familie tun oder wegen der finsteren Blicke der Wachen. Ich blieb beim Bankhaus Nori, das ein paar Dutzend Schritte weiter südlich in der Gasse lag, stehen. Im Treiben vor der Bank fiel ich am wenigsten auf. Ich setzte mich auf das umlaufende Sims, nickte ein paar Männern zu, die sich bereits dort niedergelassen hatten und mich musterten, und versuchte, so auszusehen wie ein Bankkunde, der noch auf einen Geschäftspartner wartet. Ruhig zu sitzen fiel mir schwer. Ich hoffte, dass meine Geduld nicht auf eine allzu lange Probe gestellt würde. Meines Erachtens nach gab es nur einen Menschen in Florenz, zu dem Stepan Tredittore geflohen sein konnte, nämlich zu Kardinal Raffaelle Riario, doch dass ich mir über seinen Aufenthaltsort sicher war, hieß noch lange nicht, dass ich Janas ungeliebten Gehilfen auch bald wieder zu Gesicht bekommen würde. Ich dachte an den Platz vor San Lorenzo, keine zweihundert Schritte von hier entfernt, und fragte mich, ob man auch hier wie vor dem Palazzo della Signoria das Blut bereits vom Pflaster gewaschen hatte. Eigentlich dachte ich aber an Jana und – so wenig es mir auch willkommen war, dass meine Gedanken dorthin drifteten – an Beatrice Federighi.
Ihr Mann Matteo hatte den verschuldeten Rudolf Gutswalter aus dem Gefängnis geholt, und Antonio Pratini hatte ihm -vermutlich auf Drängen seines Schwagers – eine Chance gegeben. Innerhalb kürzester Zeit war Gutswalter zum Organisator, Finanzverwalter und Vertrauten Pratinis emporgestiegen. Entweder war er tatsächlich so gut, oder er hatte Pratini in der Hand, oder der alte Kaufmann hatte einfach einen Narren an ihm gefressen. Ich vermutete, dass es eine Mischung aus Ersterem und Letzterem war. Gutswalter hatte bis jetzt nicht immer mit offenen Karten gespielt, aber jemanden zu erpressen, um sich selbst Vorteile davon zu verschaffen, dazu schien er mir nicht fähig; dagegen sprach auch seine echte Anteilnahme am Schicksal seines sterbenden Mentors. Was mochten Pratinis Kinder von dieser Konstellation halten? Wie es schien, waren sie noch nicht einmal mündig. Vielleicht war Gutswalter dafür vorgesehen, das Geschäft an Pratinis Stelle zu führen, wenn dieser starb, bevor sein Sohn geschäftsfähig war. In diesem Fall musste dem jungen Finanzverwalter sehr daran gelegen sein, jegliches Unheil vom Haus Pratini abzuwenden. Ob er so weit gehen würde, eine eventuelle Geschäftskonkurrentin bei den Behörden zu verleumden, um sie auszuschalten, blieb jedoch zweifelhaft. Er hatte selbst gesagt, dass Jana in Florenz keine Gefahr für Pratini darstellte. Es hatte wie immer geklungen, als wüsste er mehr, als er preisgeben wollte. Aber womöglich lautete die Frage nicht, wie viel er wusste, sondern wie viel Beatrice wusste. Ganz offensichtlich hatte Gutswalter die Dankbarkeit für seine Rettung von Matteo Federighi auf seine Witwe übertragen, und ebenso offensichtlich waren sie sich darin einig, dass Antonio Pratini der beste Mensch auf Erden und gleich nach unserem Herrn Jesus Christus einzuordnen sei. Was immer die beiden an Wissen teilten und an Plänen schmiedeten, ich konnte mir keinen Reim darauf machen und ihre Reaktionen nirgends in dem schiefen Bild einordnen, das ich mir von den Vorgängen gemacht hatte.
Als das Mannloch in Lorenzo de’ Medicis Eingangstor aufgestoßen wurde und ein Fußtritt Stepan Tredittore unsanft auf die Gasse hinausbeförderte, war ich nicht nur wegen der immer schneller davonlaufenden Zeit erleichtert, sondern auch wegen der Unterbrechung meiner fruchtlos kreisenden Gedanken. Tredittore stolperte, fuhr herum und sah in die mitleidlosen Augen der beiden Wachen, die unwillkürlich einen Schritt zusammentraten und ihre Spieße fester packten. Er ließ den Kopf hängen und rieb sich mit einer schmerzlichen Miene das Hinterteil. Ich konnte sein Gesicht von hier aus kaum erkennen, aber seine Haltung war die eines Menschen, der einer vermeintlichen Einladung gefolgt ist und zu seiner Verwunderung festgestellt hat, dass niemand ihn haben will. Ich stand auf und trat in die Gasse hinaus. Ich brauchte ihm nicht einmal entgegenzugehen: Er trat mit immer noch hängendem Kopf den Rückweg in Richtung Dom an. Als er näher kam, sah ich, dass seine Wangen vor Scham wie Feuer brannten und dass er den Kopf so gesenkt hielt, damit er niemandem in die Augen blicken musste, der seinen unrühmlichen Abgang aus dem Hause Medici vielleicht beobachtet hatte.
»Da seid Ihr ja wieder«, sagte ich, als er auf meiner Höhe war. Er tat einen Sprung und stierte mich entsetzt an. »Was tut Ihr denn hier?«, stammelte er.
»Ich wollte in Erfahrung bringen, wie sich die Wachmannschaften von Lorenzo de’ Medici die Stiefel abputzen«, erklärte ich. Er errötete noch mehr und fasste sich unbewusst dorthin, wo ihn der Fußtritt getroffen hatte. Ich deutete in die Gasse hinein, die zu San Lorenzo hinüberführte. »Folgt mir«, sagte ich. Er trottete ohne Widerspruch hinter mir her.
Das Blut war noch nicht weggewaschen worden, ebenso wenig wie die paar dicklichen Klumpen, die die Soldaten bei der Beseitigung von Stefano di Bagnones Leichnam übersehen hatten. Jemand hatte Asche über die Stelle gestreut, aber das Rot sickerte hindurch. Das Dutzend Raben, das über den Sand schritt und mit metallisch glänzenden Flügeln flatterte, während ihre Schnäbel die Klumpen aufpickten, blickte uninteressiert auf, als wir uns näherten. Der Platz war fast menschenleer, von den Wachen vor der Kirche und einigen Neugierigen abgesehen, die aus sicherer Entfernung auf den Aschefleck mit den Raben zeigten.
»Habt Ihr schon gehört, dass die beiden Männer, die Lorenzo de’ Medici in der Kirche angegriffen haben, heute verhaftet worden sind?«, fragte ich Tredittore. Ich blieb bei dem Aschefleck stehen. Ein paar Raben flatterten unwillig zur Seite und näherten sich gleich wieder mit selbstbewussten Schritten. »Einer von ihnen kam an dieser Stelle zu Tode.«
Tredittore stierte auf die geschäftigen Raben. Schließlich hob er den Kopf und sah mir mit dem Blick eines zur Hinrichtung Verurteilten ins Gesicht.
»Ich nehme an, Ihr wart bei Seiner Exzellenz, Kardinal Riario«, begann ich.
»Nach all der Demütigung… Ich meine, ich musste es doch versuchen…Jeder darf eine Chance ergreifen…«, sprudelte er hervor und schloss dann den Mund. Seine Augen irrten zu der Asche auf dem Pflaster ab.
»Ihr habt hier keine Verbündeten«, sagte ich grimmig. »Ich bin noch das, was einem Freund am nächsten kommt. Also erzählt es mir.«
Er ballte die Fäuste und seufzte. Die Röte seines Gesichts sammelte sich allmählich in zwei Flecken hoch auf seinen Wangen, während der Rest eher bleich wurde. Er presste die Lippen trotzig zusammen und schwieg.
»Nun gut, wie Ihr wollt«, sagte ich. »Dann erzähle ich es. Es ist die Version, die ich gleich nachher den Behörden unterbreiten werde. Nachher: das heißt, nachdem ich Euch von den Wachen dort drüben habe verhaften lassen.« Ich gab ihm keine Zeit, etwas darauf zu erwidern. Die Raben zu unseren Füßen begannen um etwas zu streiten, und ich erhob meine Stimme, damit er mich über das Krächzen und Flügelschlagen deutlich hören konnte.
»Jana hat kaum etwas anderes mit eigener Hand unterzeichnet als Briefe und Geschäftskontrakte. Für Anweisungen, zum Beispiel zum Transfer von Geldern, verwendete sie nur ihr Siegel. Sie sagte immer, wenn das Siegel des Hauses Dlugosz nicht mal ihr eigenes Geld von da nach dort bewegen könnte, wäre es das Wachs nicht wert, in das es gedrückt wird. Trotzdem gibt es eine Anweisung mit ihrer Unterschrift, eine erkleckliche Summe auf das Konto von Kardinal Riario bei der Pazzi-Bank in Rom zu transferieren. Ist das nicht seltsam, dass sie plötzlich von ihrer Gewohnheit abweichen sollte?«
Tredittore sah mich stumm an. Seine Augen funkelten, doch die Not war noch nicht so groß, dass er von selbst mit der Sprache herausgerückt wäre. Sein kurzes, unverständliches Gestammel stellte bisher seine einzige Äußerung zu der Tat dar, die er mich zwang ihm auseinander zu legen.
»Jana hielt nichts von Kardinal Riario. Sie nannte ihn einen Kindskopf, und sie hat noch nie mit einem Kindskopf irgendwelche Geschäfte gemacht. Das Geld, das er erhielt, war also nicht für einen Handel oder als Vorauszahlung für einen Gefallen gedacht. Es war auch keine Spende, denn Janas Meinung von Papst Sixtus und seinem Familienclan ist so schlecht, dass sie ihm freiwillig nicht einmal das Schwarze unterm Fingernagel überlassen würde. Wenn sie schon eine Spende machen wollte, dann würde sie diese einem Waisenhaus zukommen lassen oder einem Kloster, das sich um Aussätzige kümmert – niemals jedoch einem Buben unter einem viel zu weiten Kardinalshut, der nicht einmal die Finger richtig um die Zügel seines Pferdes krümmen kann, weil so viele Ringe an ihnen stecken. Also, es war nicht Jana, es war keine geschäftliche Sache, und es war keine Spende. Was hat dieser Transfer dann zu bedeuten?«
»Woher soll ich das wissen?«, murmelte er trotzig. Seine Augen sagten deutlich, dass er sich wünschte, mit mir darüber reden zu können, aber sein Stolz war zu sehr durch den Fußtritt und durch meine Zeugenschaft dieses Vorfalls verletzt. Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich war der einzige Mensch, den er halbwegs anerkannte, und statt ihn zu verhöhnen, hätte ich mich auf seine Seite stellen sollen. Ich hatte jedoch nicht genügend Zeit, auf seinen Hochmut einzugehen. Ich packte ihn am Ärmel.
»Ihr habt Janas Unterschrift beim Bankhaus Pratini gefälscht und den Transfer an Kardinal Riario veranlasst. Wenn Ihr nicht alles so hundertprozentig hättet machen wollen und auf die Unterschrift verzichtet hättet, wäre es mir niemals aufgefallen. Ihr wolltet den Kardinal bestechen, Euch einen Gefallen zu tun, und das mit Janas Geld. Ihr habt gedacht, Euch das Leben als Günstling am Hof des Kardinals in Rom erkaufen zu können.«
»Lasst mich los«, sagte er und spähte ängstlich zu den Wachen auf der Kirchentreppe hinüber. Er machte jedoch keine Anstalten, meine Hand abzuschütteln.
»Ich habe mit Riario gesprochen. Er tut so, als wüsste er nichts von einer Transaktion. Ich nehme an, das ist Euch mittlerweile auch aufgegangen, als Ihr ihn vorhin sprechen wolltet. Hat er Euch überhaupt empfangen? Wenn ich daran denke, wie er sich über Euch geäußert hat, vermute ich, dass dies nicht der Fall ist.«
»Ihr könnt mir nicht mit der Verhaftung drohen«, jaulte er. »Glaubt Ihr, es interessiert jemanden in Florenz, ob aus dem Vermögen einer wegen der Verschwörung verhafteten Fremden eine unrechtmäßige Transaktion getätigt wurde?«
»Es interessiert alle in Florenz, wenn sich herausstellt, dass mit dieser Transaktion eine finanzielle Unterstützung der Verschwörung geplant war und dass der kluge Kardinal Riario diesen Transfer nur deshalb zugelassen hat, damit er Beweise hat, wenn er den Spender vor der signoria anklagt.«
Er wurde weiß. »Das könnt Ihr niemals so darstellen.«
»Ich nicht. Aber Kardinal Riario kann, wenn ich ihm schildere, was für Konsequenzen es für ihn hätte, wenn man den Behörden lange genug Zeit lässt, sich ihren eigenen Reim auf diese Sache zu machen. Er hat Euch schon einen Fußtritt geben lassen. Nächstes Mal wird er dafür sorgen, dass man Euch eine Schlinge um den Hals legt, und ich werde ihm ins Ohr flüstern, welchen Knoten er knüpfen soll.«
Ich hatte das Gefühl, Tredittore nahm mich zum ersten Mal richtig wahr. Er musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich hielt ihn immer noch am Arm fest; wenn ich es nicht getan hätte, wäre er vermutlich in die Knie gesunken.
»Es hatte überhaupt nichts mit der Verschwörung zu tun«, flüsterte er. »Ich wusste doch gar nichts davon. Ich traf den Kardinal am Samstag vor dem Mittag im Dom. Er ließ mich vorsprechen, und ich fragte ihn, ob er nicht jemanden brauchen könne, der seine Geschäfte regle und einen Batzen Geld mit in diese Partnerschaft brächte. Er sagte, er sei sehr interessiert. Ich dachte doch, er meint es ernst! Und Jana hatte mich die ganze Zeit über so gedemütigt…«
»Ich dachte, Ihr sitzt am längeren Hebel«, unterbrach ich ihn spöttisch. »Eure Berichte an Janas Vettern in Krakau hätten doch sicherlich dazu geführt, dass man sie spätestens bei ihrer Rückkehr an den Herd verbannt und aus dem Geschäftsleben verdrängt hätte.«
»Meine Berichte, ja!«, stieß er hervor. »Was hätte ich denn von großen Fehlern berichten können? Sie hat sich doch überall glänzend aus der Affäre gezogen! Ganz egal, was ich auch geschrieben hätte – sobald sie in Krakau angekommen wäre, hätte sie ihre verblödeten Vettern ohne große Schwierigkeit bezwungen. Die Kerle ruhen sich doch auf den Lorbeeren aus, die von Karol Dlugosz und von Jana errungen worden sind. Wenn ich geahnt hätte, wie gut sie ist, hätte ich doch niemals… Was mir meine Auftraggeber in Krakau sagten, hörte sich ganz anders an. Und dann – sie mochte mich schon nicht, als sie mich zum ersten Mal sah. Was hätte ich denn anderes tun sollen als das, was ich getan habe? Sobald sie das Geschäft in Krakau übernommen hätte, wäre ich in der Gasse gelandet! Da musste ich doch zusehen, dass ich einen neuen Mentor fand. Der Kardinal schien so dumm und so leichtgläubig… Dieser Knabe…«, er brach ab und atmete heftig. Ich schloss die Augen.
»Wenn Ihr versucht habt, einen neuen Herrn zu finden, warum habt Ihr dann noch die Briefe gefälscht und Jana ins Gefängnis gebracht?«
»Das habe ich nicht getan. Ich habe die Briefe nicht geöffnet. Wirklich nicht. Außerdem habt Ihr selbst gesagt, die Unterschrift Janas sei echt gewesen.« Er ‘warf einen erneuten Blick zu den Wachen vor der Kirchenpforte hinüber. Ich ließ seinen Arm los. Er rieb sich über die Stelle, an der ich ihn gepackt hatte, und sah mich an.
»Was habt Ihr mir sonst noch zu erzählen?«
»Nichts! Ich habe Euch alles gesagt. Ihr müsst mir glauben.«
»Euch etwas glauben?« Ich lachte höhnisch. »Was Ihr getan habt, ist noch übler als das, was die Pazzi und ihre Verbündeten hier verbrochen haben. Ihr habt Euch an einer Verschwörung gegen die Herrin des Hauses Dlugosz beteiligt wie die Pazzi an der Verschwörung gegen die Republik Florenz; doch anders als sie habt Ihr nicht mal den Kopf hingehalten, als Ihr merktet, dass Euer Plan fehlschlug. Ihr habt versucht, Euch abzusetzen. Da Ihr jetzt sehr viel Zeit haben werdet, empfehle ich Euch, das Werk von Dante Alighieri zu lesen. Ich kenne es zwar nicht, habe jedoch gehört, dass er sehr fantasievolle Visionen hatte, in welchem Kreis der Hölle für welche Tat welche Sühnen zu erdulden seien. Vielleicht findet Ihr dort den für Euch zutreffenden Kreis. Dann wisst Ihr auch, was Euch nach Eurem Tod erwartet.«
»Was heißt das, ich habe sehr viel Zeit?«, stotterte er. »Wollt Ihr mich immer noch ins Gefängnis bringen? Ich werde veranlassen, dass Kardinal Riario das Geld wieder zurückzahlt…«
»Diese Idee ist noch dümmer, als sich mit dem Kerl einzulassen. Das Geld ist weg, und Ihr werdet es nicht wiederkriegen. Aber darauf kommt es mir auch nicht an. Und um Eure Frage zu beantworten: Nein, ich werde Euch nicht verhaften lassen. In einem habt Ihr Recht – für das, was Ihr getan habt, interessiert sich hier im Augenblick niemand.«
Tredittore atmete fast erleichtert auf. Es war klar, dass er tatsächlich keine Ahnung davon hatte, dass die Behörden eine schriftliche Anzeige gegen ihn besaßen. »Ihr werdet deshalb sehr viel Zeit haben, weil Eure Arbeit für Jana beendet ist. Wenn Ihr noch persönliches Hab und Gut im Fondaco habt, dann holt es. Und kommt mir danach bloß nicht noch mal unter die Augen.«
»Wo soll ich denn hin?«
»Das ist mir völlig egal, Herr Tredittore. Meinetwegen könnt Ihr in der Gasse verrotten oder auf dem Rückweg nach Krakau von Banditen aufgefressen werden. Wenn es mir nicht um die Spucke Leid täte, würde ich Euch anspucken. Sucht doch in San Lorenzo um Asyl nach.«
»Ihr könnt mich nicht auf die Straße setzen. Ihr habt überhaupt keine Befugnisse über Janas Angelegenheiten…«
»Das ist richtig«, grinste ich. »Ich kann Euch jedoch jederzeit aus dem Fondaco entfernen lassen, denn ich habe teures Geld dafür bezahlt, dort Zunftmitglied zu werden. Wenn ich den Zunftrektor darum bitte, lässt er Euch nackt ausziehen und aus dem Fondaco prügeln. Ihr habt die Wahl.«
»Das ist doch…«, schnaufte er.
»Komme ich heute Abend in den Fondaco und finde Euch dort noch vor, werdet Ihr mit Gewalt entfernt. Und sollte es Euch einfallen, danach dort in der Nähe herumzulungern, lasse ich Euch doch noch von der signoria verhaften.«
»Ihr könnt mich doch gar nicht verhaften lassen!«, höhnte er.
»Euch suchen sie doch selbst!«
»Das mag schon sein, aber gegen Euch liegt eine Anzeige vor, die sogar zu einer Durchsuchung des Fondaco dei Tedeschi geführt hat. An wem von uns beiden werden sie wohl mehr interessiert sein?«
Die Wirkung hätte nicht anders sein können, wenn ich ihn ins Gesicht geschlagen hätte. Über seine Miene huschten in rascher Folge ein ungläubiges Lächeln, ein Schock und dann die Erkenntnis, dass es keinen Anlass für mich gab, ihn anzulügen.
»Das wusstet Ihr gar nicht, stimmt’s?«, sagte ich leichthin. »Ihr habt die Soldaten im Fondaco gesehen und seid davongelaufen, um Euch bei Kardinal Riario zu verstecken. Euer Hasenherz hat Euch zum zweiten Mal gerettet, nur dass es Euch diesmal gar nicht bewusst war. Ein guter Witz. Und die Hose hing Euch wieder um die Fersen, wie auf Cerchis Landgut. Ihr solltet Euch einmal etwas Neues einfallen lassen.«
Tredittore stand da wie vom Donner gerührt. Sein Mund arbeitete, aber er brachte keinen Laut hervor.
»Ich weiß nicht, wer Euch angezeigt hat. Ich war es jedenfalls nicht, und wenn Ihr das nicht glaubt, ist es mir auch egal. Scheinbar habt Ihr Euch jemanden in der kurzen Zeit hier so sehr zum Feind gemacht, dass ihm jedes Mittel recht war, Euch zu schaden. Denkt mal darüber nach. Also – sobald ich zum Fondaco zurückkehre, seid Ihr verschwunden.« Ich wandte mich zum Gehen. »Ich warne Euch. Ich meine es ernst.«
Nach ein paar Schritten erwachte plötzlich der Trotz in ihm.
»Ihr haltet Euch für besser, als ich es bin?«, schrie er mir mit überschnappender Stimme hinterher. »Ich habe Jana Dlugosz verraten, ist es so? Was habt Ihr denn in den letzten Tagen getan? All dieses Hin- und Hergerenne diente doch nur dazu, Eure eigene Weste reinzuwaschen! Warum seid Ihr nicht zu ihr ins Gefängnis gegangen, um ihr beizustehen, und warum sitzt sie noch drin, wenn sie so unschuldig ist und Ihr alles getan habt, um sie zu befreien? Wer ist denn der große Schlaukopf, der in Augsburg den Dreck des Bischofs zur Tür hinausgekehrt und in Landshut die Fürstenhochzeit gerettet hat? Ihr oder ich? Aber vielleicht habt Ihr zu viel damit zu tun gehabt, die Hand dieser Ziege in Pratinis alter Burg zu halten? Wenn ich ein mieses Schwein bin, dann seid Ihr es tausendmal, und das Einzige, was Ihr mir voraus habt, ist die Macht, mich hier stehen zu lassen und sich nicht darum zu scheren, was aus mir wird!«
Ich drehte mich nochmals um. »Ich schere mich tatsächlich nicht darum«, erklärte ich kalt. »Wenn Ihr derjenige wärt, der diese Schweinerei hier auf dem Pflaster hinterlassen hat und nicht Stefano di Bagnone, wäre ich von dem Anblick weniger bewegt, als ich es jetzt bin.« Ich wandte mich endgültig ab.
Als ich in die Gasse einbog, die zur Via Larga hinausführte, sah ich mich ein letztes Mal um. Tredittore stand mit geballten Fäusten vor dem Aschefleck und schien die streitenden Raben anzustarren. All meinen Worten zum Trotz war ich froh, dass ich das Grauen nicht sehen konnte, das sich in seinem Gesicht abzeichnen musste.
5.
R
odolfo hat mir erzählt, was heute bei San Lorenzo passiert ist«, sagte Beatrice und nahm mich am Arm, um mich von der Tür zu ihrem Platz beim Fenster zu führen. Ihre Augen waren groß. »Ist das nicht schrecklich? Dieser Mensch hatte sicher den Tod verdient, aber so…?«
»Ja«, sagte ich, »und ich war wieder mit dabei. Es wird Zeit, dass ich die Stadt verlasse, sonst werde ich noch Florenz’ prominentester Zuschauer.«
»Ihr wollt Florenz verlassen?« Sie sah mich schockiert an.
»Früher oder später werde ich es wohl tun müssen.«
Beatrice sah mir in die Augen. »Mit oder ohne Jana.«
»Genau so.«
»Nehmen wir an«, sagte sie langsam, »Eure Mühen führen nicht zum Erfolg.« Sie versuchte angestrengt, das Ergebnis eines möglichen Misserfolgs nicht beim Namen zu nennen. »Was würde Euch dann aus Florenz vertreiben?«
»Der Gedanke, dass Jana in dieser Stadt den Tod gefunden hat«, erwiderte ich schonungslos. »Und das Wissen, dass ich immer noch gesucht werde.«
»Dagegen ließe sich etwas tun«, stieß sie rasch hervor. »Wenn sich der Staub einmal gelegt hat, könnte Antonio sich ganz vorsichtig für Euch verwenden. Bis dahin müsstet Ihr Euch verstecken; aber sie haben Euch bis jetzt nicht gefunden, und es kann sein, dass sie ohnehin nicht mit aller Kraft nach Eurem Aufenthalt fahnden.«
»Beatrice«, sagte ich, »der andere Grund ist der wichtigere.«
Sie ließ den Kopf hängen. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß.«
»Habt Ihr die Unterlagen über den Geldtransfer an Kardinal Riario bereits vernichten lassen?«
»Ja. Ich bin sehr erleichtert darüber.«
»Es war leider unnötig. Er hatte weder mit Jana etwas zu tun noch mit dem Aufstand.«
»Ich verstehe nicht…?«
»Stepan Tredittore, der Bote aus Janas Heimatstadt Krakau, hat die Transaktion veranlasst. Er wollte Riario damit bestechen. Da er selbst nicht über genügend Geld verfügt, bediente er sich bei Jana; und weil er dazu keinerlei Befugnisse hatte, fälschte er Janas Unterschrift auf der Anweisung. Ein Siegel hat er selbst, aber keine Berechtigung, Geldgeschäfte damit zu tätigen.«
»Aber… sollten die Briefe an Cerchi und Boscoli wirklich gefälscht sein, dann wäre er doch…«
»… ein ausgezeichneter Verdächtiger? Auf den ersten Blick ja. Er hat es jedoch bestritten, und ich glaube ihm, wenn ich ihm das auch nicht erzählt habe. Er konnte nichts von der Verschwörung wissen.«
»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Haltet Ihr es für einen Beweis von Janas Unschuld?«
»Ich halte es für nicht mehr als einen Beweis dafür, dass einen der Augenschein zu falschen Schlüssen verleitet. So wie mit Janas wirklichen Geldtransfers.«
»Diejenigen, die über Noris Bankhaus getätigt wurden?«
»Jana hat Geld an Umberto Velluti und Bieco Alepri überwiesen. Alepri war offensichtlich Pazzi-Anhänger, denn sein Haus war verschlossen und er mit seiner Familie geflohen oder noch wahrscheinlicher darin verbarrikadiert.«
Beatrice zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand an den Mund. Ich unterbrach mich. Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Habt Ihr es nicht gehört?«, flüsterte sie leise.
»Nein. Was denn?«
»Die signoria hat heute Morgen das Haus des Bieco Alepri gewaltsam öffnen lassen. Von seinen Dienstboten war keiner mehr dort. Alepri hat vermutlich zuerst seine Frau und dann seine Kinder im Schlaf getötet. Ihn selbst fand man im Treppenhaus. Er hat versucht, sich in sein Schwert zu stürzen. Er lebte noch, als sie ihn wegtrugen, mittlerweile ist er jedoch im Gefängnis gestorben. Gott sei seiner Seele gnädig.«
»Er war also tatsächlich auf der Seite der Pazzi.«
»Wie hätte er es nicht sein sollen? Ser Lorenzo hat ihm persönlich die Aufsicht über den alten Markt vor einem Jahr entzogen, weil der begründete Verdacht bestand, er habe sich in seinem Amt bereichert.«
»Er war Notar, habe ich Recht?«
»Das ist nicht gerade eine Empfehlung für Ehrlichkeit, wisst Ihr?« Ich lachte grimmig. »Das habe ich mittlerweile gelernt. Er war also ein Fraktionsgänger der Pazzi. War er auch an der Verschwörung direkt beteiligt?«
»Ich weiß es nicht. Niemand wird das jetzt noch herausfinden. Und hoffentlich wird sich auch niemand damit beschäftigen.«
»Weshalb?«
Sie seufzte. »Antonio hatte zu Alepri Verbindungen. Er hat sie zwar abgebrochen, als damals die Sache mit dem Betrug ruchbar wurde, aber in Florenz ist man nachtragend.«
»Womöglich solltet Ihr wieder auf die Suche nach Transaktionen gehen«, sagte ich ohne wirklichen Spott.
Sie verzog keine Miene. »Rodolfo tut das bereits.«
»Euer Keller entwickelt sich zu einem ziemlich unsicheren Aufbewahrungsort für Dokumente. Ihr könnt Rudolf Gutswalter ausrichten, dass er sich diesmal nicht zu viele Sorgen machen sollte.«
»Wegen Alepri? Wieso sagt Ihr das?«
»Wenn der Geldtransfer, den Jana an ihn vorgenommen hat, wirklich dazu hätte dienen sollen, ihr einen Anteil an den späteren Gewinnen des Aufstands zu sichern, dann reicht es nicht, wenn Alepri nur ein Sympathisant des alten Jacopo de’ Pazzi war. Sympathisanten gab es hier jede Menge, ohne dass eine geschäftliche Verbindung mit ihnen irgendwelche Vorteile erbracht hätte.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«
»Wenn Alepri einen so hohen Rang in einer von Bischof Salviati und Jacopo de’ Pazzi geschaffenen Gesellschaftsordnung gehabt hätte, dass sich ein Geschäft mit ihm lohnte, hätte er sich vermutlich nicht in seinem Haus eingeschlossen, sondern wäre mit Bischof Salviati in den Palazzo della Signoria eingedrungen. Also war er kein Mitglied der Verschwörung, nur ein Pazzi-Sympathisant, der zu große Angst hatte, für seine Anhängerschaft jetzt zur Rechenschaft gezogen zu werden. Für Euren Bruder besteht daher keine große Gefahr. Und was immer Jana von ihm wollte, hatte nichts mit der Verschwörung zu tun. Das ist das eine.«
»Was ist das andere?«
»Janas zweiter Geldtransfer fand zugunsten Umberto Vellutis statt. Velluti hat das Geld weitergeleitet. Was glaubt Ihr wohl, an wen?«
»Bestimmt nicht an die Familie Pazzi, wenn Ihr mich so fragt«, sagte sie.
»In der Tat. Er leitete es an Benedetto di Maiano weiter. Der Mann ist Mitglied von Ser Lorenzos Zirkel aus Philosophen und Künstlern. Er steht bestimmt nicht im Ruch, Pazzi-Sympathisant zu sein.«
»Und was bedeutet das alles?«
»Wir haben drei merkwürdige Geldtransfers. Einen davon hat Stepan Tredittore veranlasst. Die anderen beiden haben wir soeben als mit der Verschwörung verbunden ausgeschlossen.«
»Ihr versucht, die Indizien gegen Jana zu widerlegen. Doch da sind doch immer noch die Briefe.«
»Ja, und merkwürdigerweise haben genau die Leute, die wegen der Verschwörung verhaftet wurden, kein Geld von ihr erhalten. Es gibt nur die Briefe im Bargello. Und bei diesen wird von einem vehement bestritten, dass er jemals angekommen ist, nämlich dem an Cerchi, der zudem jede Verbindung zur Verschwörung leugnet, selbst unter der Folter.«
Sie zuckte mit den Schultern und sah nachdenklich zum Fenster hinaus. »Ich wünschte so sehr, Ihr könntet endlich Frieden finden«, sagte sie.
»Ich wünschte mir herauszubekommen, was damals in Certosa passierte.«
Beatrice fuhr herum und starrte mich überrascht an. Ihre Antwort kam zu schnell, als sie sagte: »Certosa? Das ist ein Kloster. Was ist damit?«
»Euer Bruder trat nach dem Erdbeben dort ein und verließ es wieder, als es um die Erbschaftsstreitigkeiten mit Eurem Onkel Alessandro ging.«
»Woher wisst Ihr das?«
»Ich habe es auf ziemlich hinterhältige Weise Rudolf Gutswalter entlockt. Nicht, dass ich besonders stolz auf mich wäre.«
Sie sah mich eine lange Weile schweigend an; so lange, dass ich mich gezwungen fühlte hinzuzufügen: »Auf einem Tisch im Zimmer Eures Bruders sah ich eine Zeichnung eines Gebäudes mit der Aufschrift: Certosa, meine Schuld. Was geschah in Certosa, dass Euer Bruder noch heute mit einer Schuld ringt?«
»O mein Gott, warum habt Ihr das getan?«, flüsterte sie. »Warum wollt Ihr die Vergangenheit wecken? Nicht einmal Rodolfo weiß etwas darüber.« Sie sah mir in die Augen. »Ihr seid eine viel größere Gefahr für Antonio, als ich dachte. Und das Schlimmste daran ist…«
»Was ist das Schlimmste daran, Beatrice?«, fragte ich sanft.
Sie wandte sich ab und gab ihrem Mädchen und dem jungen Mann, die an der Tür standen, einen Wink. »Ihr könnt gehen«, stieß sie hervor. »Ich brauche Euch heute nicht mehr.«
»Ihr dürft sie nicht hinausschicken. Morgen weiß das gesamte Gesinde, dass Ihr mit mir allein im Zimmer wart, und übermorgen die halbe Stadt…«
»Ich weiß schon, was ich tue«, sagte sie atemlos. »Was ich Euch sagen möchte, ist für niemandes Ohren sonst bestimmt. Das ist mir wichtiger als die Gefahr, dass sie etwas herumtratschen könnten.« Sie hielt inne, bis die beiden die Tür hinter sich zugezogen hatten. Ich starrte sie voll ängstlicher Erwartung an. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mir etwas mitteilen wollte, was die Situation zwischen uns wesentlich erleichtern würde. Beatrice wandte den Blick von der Tür ab, und ich sah, dass ihre Augen schwammen.
»Das Schlimmste daran ist, dass ich Euch liebe!«, rief sie, als hätte es die Unterbrechung des Gesprächs nicht gegeben. »Ist Euch das denn nicht klar? Mit jedem Atemzug, mit jeder Handreichung, mit jedem Schlag meines Herzens denke ich an Euch!« Sie begann stumm zu weinen, und ich sah betreten auf die Tischplatte hinunter.
»Beatrice, ich…«
»Das erste Mal seit dem Tod von Matteo verspüre ich wieder solche Gefühle für einen Mann. Wenn Ihr Florenz verlassen hättet, allein verlassen hättet, ohne Jana…« Sie sah auf. Die Tränen hatten ein wenig von der Farbe ihrer Wimpern mitgenommen und zwei Streifen ihre Wangen hinunter gezeichnet. Plötzlich sah sie aus wie das junge Mädchen, als das sie für die Madonna Modell gesessen hatte, ebenso verletzlich, ebenso weich, ebenso mit der Gewissheit in ihren Zügen, dass aus ihrer Liebe lediglich Leid für sie erwachsen würde. Sie stieß den Tisch zurück und sprang auf, nur um nach ein paar Schritten stehen zu bleiben und ihr Gesicht in den Händen zu vergraben.
»Ich habe mir niemals vorstellen können, meine Heimat zu verlassen«, stieß sie undeutlich hervor. »Doch Euch würde ich überallhin folgen.«
Ich stand unbeholfen auf und trat zu ihr. Sie ließ die Hände sinken und sah mutlos zu mir auf. Ich nahm eine ihrer Hände und hielt sie fest.
»Beatrice«, begann ich. Sie schüttelte den Kopf und umfasste mich mit ihrer zweiten Hand. Ich bemerkte, dass sie zitterte. Wir standen so dicht beisammen, dass ich den Stoff ihres Gewands spüren konnte und den Duft ihres Haars roch.
»O Peter Bernward, ich habe mir so gewünscht, all dies zu Euch zu sagen. Ich habe Tag und Nacht daran gedacht. Ich dachte, ich könnte niemals wieder jemanden so sehr lieben wie Matteo, aber ich war im Irrtum.«
»Beatrice«, sagte ich ruhig, »Ihr liebt nicht mich, sondern die Erinnerung an Euren Mann, die ich in Euch geweckt habe.«
Sie hob den Kopf und sah mich an. Ihre Augen wurden groß. In ihren Zügen wechselte sich die Erkenntnis, dass ich ihren Liebesschwur nicht wiederholt hatte, ab mit der dämmernden Gewissheit, dass ich es auch niemals tun würde. Es tat mir so weh, diesen Gesichtsausdruck zu sehen, dass ich den Blick abwandte und zum Fenster hinaussah. Ich spürte förmlich, wie ihre Hände in den meinen kalt wurden. Sie straffte sich. Ich trat einen Schritt zurück und blickte ihr wieder in die Augen. Es standen wieder Tränen darin, aber die Fassungslosigkeit war aus ihren Zügen gewichen. Ich wusste, was immer ich in meinem Herzen für Jana empfand, ein Teil von mir würde Matteo Federighi stets beneiden um die Jahre, die er mit Beatrice gemeinsam verbracht hatte. Ich räusperte mich. »Bitte holt die Dienstboten wieder herein«, sagte ich.
Beatrice schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich das?«, flüsterte sie. »Hat sich etwas geändert zwischen uns?«
»Ihr seid zu großherzig«, erklärte ich und fühlte mich miserabel.
»Ihr hättet jeden Grund, mich auf der Stelle hinauszuwerfen.«
»Habe ich mich denn zum Narren gemacht?«
»Niemand macht sich zum Narren, der einem anderen sein Herz öffnet. Wenn hier ein Narr im Raum steht, dann bin ich es. Doch die Wahrheit ist: Meine Bewunderung, meine Zuneigung, meine Freundschaft – all das gehört Euch. Meine Liebe jedoch gehört einer anderen.«
Sie sagte durch die Tränen, die ihr über die Wangen liefen: »Ich bin glücklich, dass Ihr die Liebe wiedergefunden habt, die Euch so viel bedeutete.«
»Ich habe diese Großmut nicht verdient.«
»Ihr habt mehr verdient als meine Großmut, und Ihr werdet von mir immer mehr bekommen als das.«
Ich ergriff ihre Linke und drückte sie an meine Wange. Sie schloss die Augen und lächelte. »Keines meiner Geschwister ist alt genug geworden, dass ich es bewusst als Person erlebt hätte«, sagte ich rau. »Daher weiß ich nicht, wie es ist, eine Schwester zu haben. Manchmal habe ich davon geträumt, und in meinen Träumen war meine Schwester so wie Ihr.«
»Seelenverwandtschaft hat nichts mit Blutsbanden zu tun«, erwiderte sie mühsam. Sie seufzte und holte zitternd Luft. Ihre Hand lag noch immer in meiner. Ohne lange darüber nachzudenken, nahm ich ihre Schultern und drückte sie an mich. Sie ließ die Arme steif an den Seiten herabhängen, aber sie lehnte sich an mich. Ich fühlte, wie verspannt ihr ganzer Rücken war, und ahnte, was es sie kostete, sich nicht gehen zu lassen und vor Kummer laut zu heulen. Ich hob ihr Gesicht mit beiden Händen zu mir auf und drückte einen sanften Kuss auf ihre trockenen Lippen. Sie versuchte nicht, mehr daraus zu machen. Wir schwiegen eine Weile, in der sie dem Gefühl des Kusses nachzuspüren schien. Schließlich sagte sie mit fast normaler Stimme: »Was nun?«
Ich musste gegen meinen Willen lächeln. Sie löste sich aus meiner Umarmung und schritt langsam zum Fenster hinüber, ihren Oberkörper mit beiden Armen umklammernd. Auf der Fensterbank lag ein poliertes Holzkästchen. Sie öffnete es und entnahm ihm einen der Trick-Track-Steine.
»Ich glaube, ich bin Euch noch eine Partie schuldig«, erklärte ich. Sie wandte sich zu mir um und nickte.
»Wenn Ihr sie noch spielen wollt.«
»Nicht jetzt. Doch ich werde meine Schuld einlösen.« Sie drehte den Stein zwischen den Fingern hin und her, ohne Anstalten zu machen, ihn wieder zurückzulegen. Sie wusste, dass es noch ein Thema gab, das zwischen uns stand. Ich fühlte mich wie ein Schuft, als ich es ansprach.
»Certosa«, sagte ich.
»Es geht niemanden etwas an. Es gibt kaum jemanden außer mir, dem Antonio die Geschichte erzählt hat.«
»Die Umstände haben dazu geführt, dass es auch mich etwas angeht. Auf irgendeine Weise ist Jana darin verwickelt.«
»Warum glaubt Ihr das?«
»Weil es Eurem Bruder angelegen war, die Zeichnung des Gebäudes mit der Aufschrift zu verstecken, nachdem er bemerkt hatte, dass ich sie gesehen hatte.«
Sie sah auf den Spielstein in ihren Händen hinunter. Vielleicht half sein Anblick bei ihrer Entscheidung. Plötzlich straffte sie sich und sagte rasch: »Die Waisenkinder von Certosa wurden zur Sklavenarbeit verkauft. Die Gewinne wirtschaftete der Aufseher des Waisenhauses in seine Tasche.«
»Der Skandal von Galluzzo«, stieß ich hervor.
»Certosa liegt bei Galluzzo.«
»Ich muss sagen«, erklärte ich nach einer Pause, »dass ich das Eurem Bruder nicht zugetraut hätte.«
»Er war nicht der Aufseher des Waisenhauses, als das geschah.«
»Weshalb lastet dann dieses Geschehen als Schuld auf ihm?«
»Weil er dafür verantwortlich war, dass jener Mann zum Aufseher ernannt wurde. Er selbst hatte ihn beim Prior vorgeschlagen. Antonio war sein Vorgänger.«
»Das war zu dem Zeitpunkt, als er das Kloster verließ, um gegen Euren Onkel Alessandro vor Gericht zu ziehen. Er wollte so schnell wie möglich aus dem Kloster heraus, um keine Zeit zu verlieren. Deshalb schlug er den Mann vor, ohne ihn gründlich geprüft zu haben.«
»Im Gegenteil, er kannte ihn recht gut. Sie hatten sich während des Noviziats befreundet, weil sie die einzigen beiden Erwachsenen unter den Novizen waren.«
»Dann hat Euer Bruder sich in seinem Freund getäuscht.«
»Nein, auch das nicht. Antonio wusste, dass, während er selbst aus Überzeugung nach dem Erdbeben ins Kloster eingetreten war, der andere vor den Schulden und Betrügereien, die er als Kaufmann gemacht hatte, dorthin geflohen war.«
»Er schlug ihn trotzdem als seinen Nachfolger vor?«
»Weil Antonio wusste, dass der Prior ihn nicht würde gehen lassen, bevor die Nachfolge im Waisenhaus geregelt war. Dem Prior lag das Waisenhaus sehr am Herzen. Wenn ich mich recht erinnere, war er selbst dort aufgewachsen. Antonio hatte gehofft, dass sein Freund durch das Noviziat geläutert worden war.«
»Nur gehofft?«
»Um ehrlich zu sein: nicht einmal das. Er zweifelte, aber er dachte, er hätte keine Wahl und könne nicht einen Tag länger im Kloster bleiben.«
»Was geschah genau?«
»Die Kinder mussten, anstatt dass ihnen jemand Lesen und Schreiben beigebracht hätte, arbeiten: Stoffe nähen für die Tuchmacher, Essenzen mischen für die Apotheker, Farben rühren für die Maler, Körbe flechten, Seile drehen – was man sich vorstellen kann und was sich den ganzen Tag über tun lässt, ohne großen Lärm zu verursachen. Später wurde Antonios Nachfolger mutiger und verlieh die Knaben zur Feldarbeit, zum Steineschleppen, zum Tuchfärben, zu Bauarbeiten für die Landhäuser der reichen Patrizier…«
»Wie kam die Geschichte auf?«
»Eines der Kinder fiel bei Bauarbeiten vom Gerüst und verletzte sich. Der Aufseher des Waisenhauses konnte mit ihm nicht zum Bruder Apotheker gehen, denn sonst hätte er sich verraten. Er steckte den Jungen ins Bett und hoffte, dass er wieder gesunden würde. Doch in der Nacht starb er. Er hatte sich zu viele Knochen gebrochen.«
»Mein Gott. Der arme kleine Kerl.«
»Der Prior war so erbost, dass er daran dachte, den Aufseher des Waisenhauses der weltlichen Gerichtsbarkeit zu überstellen. Als dieser davon erfuhr, beging er aus Angst Selbstmord. Die Mönche fanden ihn eines Morgens tot in seiner Zelle; er war mit dem Kopf gegen die Mauer gerannt, bis ihm die Knochen barsten.«
Ich schüttelte betroffen den Kopf. »So viel Leid und Tränen und zwei Tote; das ist wirklich genug Schuld, um über dreißig Jahre daran zu tragen. Hätte nicht auch der Prior die Verantwortung gehabt, den Mann gründlich zu überprüfen, bevor er ihm die Nachfolge Eures Bruders übertrug, ganz egal, wie sehr dieser ihn auch empfohlen haben mochte?«
»Niemand weiß, was der Prior im Stillen darüber dachte. Es ist auch unerheblich. Wichtig für Antonio ist, was er selbst empfand.«
»Das ist richtig.«
»Er pflegte zu sagen: Ich habe viele Torheiten in meinem Leben begangen, aber nur einen wirklichen Fehler. Torheiten kann man wieder gutmachen oder sie vergessen. Fehler sind geschehen, und niemand kann sie rückgängig machen. Man kann nur dafür Buße tun und auf den Tag warten, an dem Gott der Herr sie einem aufrechnen wird.«
»So ist Certosa Mea Culpa Antonios Buße?«
»Es ist ein Waisenhaus. Antonio will es von seinem eigenen Geld erbauen lassen und eine Stiftung einrichten, die unter anderem dafür sorgt, dass so etwas wie in Certosa nicht wieder passieren kann.« Ich dachte darüber nach, was Rudolf Gutswalter mir erzählt hatte, aber wenn er es wusste, würde Pratini auch seine Schwester eingeweiht haben. »Ihr wisst, dass Euer Bruder nicht mehr viel Zeit hat?«, fragte ich sanft. Beatrice nickte ernst.
»Ich nehme an, Umberto Velluti sollte das Haus bauen.«
»So ist es.«
»Wäre er dazu in der Lage gewesen? Selbst Euer Bruder war der Ansicht, dass seine Fähigkeiten mit dem Alter verkümmert waren.«
»Das mag schon sein, doch Antonio sagte, man müsse ihm eine Chance geben, sein Leben mit einer Aufgabe abzuschließen und somit in Würde zu beenden. Nach dem, was ich von Euch gehört habe, nehme ich an, Messer Velluti sah sich selbst dazu nicht mehr in der Lage. Er bat Benedetto di Maiano um Hilfe.«
»Woraus schließt Ihr das?«
»Aus dem Geld, das er an ihn überwiesen hat.«
»Das war Geld, das Velluti von Jana erhalten hatte. Wie um alles in der Welt passt Jana dort hinein? Was hat sie mit dem Bau des Waisenhauses Eures Bruders zu tun?«
»Wenn ich es wüsste«, sagte sie offen, »würde ich es Euch sagen.«
»Und wenn ich etwas tun könnte, um das Lächeln wieder in Euer Gesicht zu bringen…«
»Das Einzige, was Ihr tun könntet, könnt Ihr nicht tun.«
Ich nickte und verließ sie. Als ich an der Tür zurücksah, stand sie noch immer inmitten des großen, kargen Raumes mit der stolzen Haltung, mit der sie auch inmitten ihres kargen Lebens stand. Ich schloss die Tür leise hinter mir zu und stieg die lange Treppe hinab.
Als ich Beatrice verließ, sank die Dämmerung bereits herab, und ich beeilte mich, zum Fondaco zu gelangen. Vor dem Gefängnis hatten die Wachen bereits die Fackeln entzündet, obwohl noch genügend Licht vorhanden war. Sie gaben dem bläulichen Abendlicht einen warmen Schimmer, der auf dem schmalen Platz vor dem Gefängnis vollkommen unpassend war. Die ersten Gruppen der Bittstellerinnen zogen bereits ab; andere schienen entschlossen, bis zum Einbruch der Dunkelheit dort auszuharren. Ich sah Violante Cerchi, die sichtlich mit ihrer Fassung rang und von ihren Begleiterinnen gestützt wurde. Natürlich war außerhalb des Gefängnisses nichts zu hören, aber ich war sicher, dass sie die Schmerzensschreie trotzdem vernahm. Benozzo Cerchi trat seinen dritten Gang durch die Folterkammer an. Ich verdrängte alle Gedanken, die sich an diese Erkenntnis hängen wollten, zog die Schultern hoch und machte, dass ich vorbeikam.
Johann Kleinschmidt hatte seine Besitztümer bereits verpackt. Sie fanden in erstaunlich wenigen Truhen und einem Sack Platz und warteten in den Stallungen des Fondaco darauf, dass Kleinschmidts Schreiber und zwei Stallknechte sie den beiden Packtieren gerecht zurechtschnürten. Kleinschmidt sattelte sein Prachtpferd ab und streichelte dabei seinen Hals. Scheinbar war er eben von einem Ritt zurückgekommen.
»Ich hatte noch ein paar Sachen bei den Humiliaten«, erklärte er und wies auf den Sattel mit den Kupferbeschlägen und einen akkurat gebündelten Haufen Lederriemen und Zaumzeug auf dem Boden. Er winkte mich heran und raunte mir dann über den Hals des Tieres verschwörerisch zu: »Ich habe eine Idee, wie ich Euch doch noch helfen kann.«
»Und wie?«
»Wenn ich aus Prato eine Nachricht abschicke, dass mein Schreiber krank sei und ich nicht Weiterreisen könne, muss ich selbst ja nicht in Prato bleiben, nicht wahr? Niemand zu Hause weiß doch, ob ich in Prato oder sonst wo bin. Ich kann genauso gut wieder hierher zurückreiten und Euch beistehen.«
»Irgendwann wirst du in Richtung Augsburg aufbrechen müssen.«
»Ja, schon, aber die Sache hier ist doch bald erledigt.« Er stutzte erschrocken. »Ich meine… ich wollte sagen…«
»Ich kann es mir denken. Spar dir den Rest.«
Kleinschmidt ließ den Kopf hängen und starrte die Mähne seines Pferdes unglücklich an. Sein Gesicht rötete sich. Ich seufzte leise.
»Wann wollt ihr aufbrechen?«
»Sobald die Tore geöffnet werden. Wir müssten dann um die Mittagszeit in Prato sein. Da kann ich noch am gleichen Tag eine Taube losschicken. Und morgen, spätestens übermorgen bin ich wieder hier bei Euch. Das ist doch ein guter Plan, oder?«
Ich nickte und wandte mich ab. »Wir sehen uns morgen.« Er lief mir nach, als ich die Stallungen gerade verlassen hatte. »Herr Tredittore ist wieder aufgetaucht«, sagte er atemlos. »Fast hätte ich es vergessen. Er hat das Fondaco jedoch gleich danach verlassen.«
»Ich weiß«, sagte ich, »ich habe ihn in der Stadt gefunden.«
»Und wohin wollte er so spät noch? Er schien… Also, Entschuldigung… Er war unausstehlicher denn je. Hat nicht ein Wort zu mir gesprochen.«
»Das kann ich mir denken.« Kleinschmidt sah mich erwartungsvoll an. »Ich habe ihn hinausgeworfen.«
Er wusste nicht, ob er darüber lachen sollte. Nach einem Augenblick wurde ihm klar, dass ich es ernst gemeint hatte. »Warum das denn?«
»Sagen wir, es war schon lange fällig.«
Kleinschmidt zuckte mit den Schultern und brummte etwas Unverständliches wie jemand, der sich zu einem Thema nicht offen äußern und doch seine Zustimmung ausdrücken will. Dann schüttelte er den Kopf. »Und was wird jetzt aus ihm? Er kennt doch hier keinen. Wo soll er bleiben? Früher oder später wird er im Gefängnis landen, spätestens, wenn ihn eine Nachtpatrouille aufgreift.«
»Allerspätestens«, sagte ich. »Man sucht nämlich schon nach ihm. Die Soldaten waren seinetwegen im Fondaco. Jemand hat ihn der Mitverschwörung beschuldigt.«
»Nein! Das ist doch…«
»… Pech für ihn«, vollendete ich ungerührt. »Gute Nacht.«
Der Schlaf brauchte lange, bis er mich fand. Ich hörte das Läuten der verschiedenen Kirchturmglocken viele Male durch die nachtdunkle Stadt hallen. Dann hörte ich es nicht mehr, und kurze Zeit später besuchte mich Benozzo Cerchi im Traum, ein Mann ohne Gesicht, und erzählte mir seltsam emotionslos von der dritten peinlichen Befragung, die an ihm durchgeführt wurde. Ich erwiderte nichts. Als ich Sekunden später erwachte, fühlte ich mich noch immer beschämt wegen der Dankbarkeit, die ich darüber empfand, dass die Folterknechte ihre Künste an ihm ausübten und nicht an Jana.