8

Als Rathbone am nächsten Morgen den Gerichtssaal betrat, war er noch erschöpft von einer der schlimmsten Nächte, die er je erlebt hatte. Er und Monk waren unverzüglich zu Melvilles Wohnung gefahren, wo Isaac Wolff ihnen mit grauem Gesicht die Tür geöffnet hatte. Es gab nichts mehr zu tun. Er hatte einen Arzt gerufen, der vermutete, dass der Tod durch Gift verursacht worden sei. Er sprach von Belladonna, aber um sicher zu sein, würde es einer vollständigen Autopsie bedürfen.

Niemand erwähnte das Wort Selbstmord, aber es hing unausgesprochen in der Luft. Niemand nimmt versehentlich Belladonna. Melvilles Gesundheitszustand war ausgezeichnet gewesen, besser als der der meisten Menschen. Er nahm keinerlei Medikamente.

Natürlich hatte man die Polizei hinzugezogen. Man brauchte Gewissheit. Nicht einmal dies konnte vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Selbstmord war ein Verbrechen.

Jetzt war alles verloren, nicht nur in persönlicher Hinsicht:

Die Welt war eines der größten und kreativsten Geister dieser Zeit verlustig gegangen. In Rathbones Fall kam noch die Scham über sein eigenes Versagen hinzu, weil er dies nicht hatte verhindern können. Seine Schuldgefühle drückten ihn nieder, während er sich daran machte, die letzten juristischen Formalitäten für die Beendigung dieses Falls zu erledigen. Und neben alldem erfüllte ihn ein so gewaltiger Zorn, dass er sich innerlich vollkommen verkrampfte. Als er die Stufen zum Gerichtsgebäude hinaufstieg und durch die Korridore ging, nahm er weder Kollegen noch Schreiber oder Gerichtsdiener wahr. Seine Schritte hallten laut über den steinernen Fußboden, seine Haltung war steif, und seine Fingernägel gruben sich tief in die Innenfläche seiner Hände.

Er betrat den Gerichtssaal, wo ihn missbilligendes Gemurmel empfing, gerade in dem Moment, als man seine Verspätung festgestellt hatte. Sacheverall fuhr herum, und in seinem Gesicht leuchtete Triumph auf. Er zog nicht einmal in Erwägung, dass Rathbone etwas gegen ihn in der Hand haben könnte. Rathbones Zorn verwandelte sich in Hass, ein Gefühl, das ihm unvertraut war. Er bemerkte, dass Sacheverall Zillah zulächelte, und sah auch den unsicheren Blick, mit dem sie darauf reagierte. Plötzlich ging Rathbone auf, dass Sacheverall selbst ihr den Hof machte! Sein Interesse war nicht zu übersehen, weder der begierige Ausdruck in seinen Augen noch sein energisches, beinahe erregtes Auftreten, wenn er ihren Namen aussprach oder auch nur in ihre Nähe kam.

Sacheverall sah Rathbone an und nickte ihm mit leuchtenden Augen zu. Wenn er in Rathbones Gesicht irgendetwas lesen konnte, so hatte er es gewiss als Niederlage gewertet. In seiner Miene lag keine Spur ängstlicher Erwartung.

»Ich entschuldige mich, Mylord, dass ich das Gericht habe warten lassen«, wandte Rathbone sich hastig an den Richter.

»Ich wurde von Umständen aufgeha lten, die sich meiner Kontrolle entzogen.«

Sacheverall gab ein leises Geräusch von sich, nicht mehr als ein Seufzen, aber er hatte seiner Ungläubigkeit deutlich Ausdruck verliehen.

McKeever spürte etwas von Rathbones Erregung.

»Was für Umstände waren das, Sir Oliver?«, fragte er.

»Ich bedaure es von Herzen, Mylord, aber mein Mandant ist tot.«

Es folgte ein Augenblick absoluten Schweigens. Niemand rührte sich; nicht einmal ein Knarren der Holzdielen oder ein Rascheln der Damenröcke war zu hören. Dann brach ein Tumult aus. Eine Frau kreischte. Mehrere Leute sprangen auf, obwohl sie nirgendwohin konnten. Die Geschworenen sahen einander mit erschrockenen Augen an, außer Stande, die volle Bedeutung des Gehörten zu begreifen.

»Ruhe!«, rief McKeever. Er sah sich im Raum um und ließ seinen Blick dann mit gerunzelter Stirn auf Rathbone ruhen.

»Ruhe im Saal! Sir Oliver, wenn Sie uns bitte erklären würden, was vorgefallen ist. Hat Mr. Melville einen Unfall gehabt?«

»Das lässt sich noch nicht sagen, Mylord.« Rathbone fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden, obwohl er während des ganzen Wegs zum Gericht versucht hatte, war er außer Stande, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Die Zeitungsreporter, die nur hergekommen waren, um das Urteil zu erfahren und vielleicht zuzusehen, wie das Leben eines Mannes zerstört wurde, überschlugen sich jetzt schier in ihrem Eifer, etwas völlig anderes niederzuschreiben.

In der Galerie entfuhr einer Frau ein schriller Aufschrei, den sie mit der Hand zu unterdrücken versuchte.

»Mr. Melville wurde gestern Nacht tot aufgefunden«, begann Rathbone von neuem. »Die Todesursache ist gegenwärtig noch nicht bekannt.«

Das Stimmengewirr in der Galerie wurde lauter.

»Ruhe!«, befahl McKeever mit vor Ärger gerötetem Gesicht. Er griff nach dem Hammer und schlug heftig auf das Pult. »Ich werde den Saal räumen lassen, wenn nicht sofort Ruhe und geziemender Respekt einkehren!«

Die Zuschauer gehorchten widerstrebend, aber prompt.

Rathbone warf einen Blick auf Sacheverall, um festzustellen, wie er reagieren würde, ob sein eigener Anteil an diesem Unglück in ebenso erschütterte wie Rathbone. Was er sah, war Überraschung, aber keine Verblüffung.

Blitzartig wurde ihm bewusst, dass der Mann an diese Möglichkeit durchaus gedacht hatte. Wenn er Kummer oder Scham empfand, so wusste er es gut zu verbergen.

Barton Lambert hingegen, der hinter ihm saß, wirkte vollkommen verstört. Sein breites, ziemlich gewöhnliches Gesicht war starr vor Entsetzen, der Mund stand offen, und die Augen starrten ins Leere. Er schien seine Umgebung kaum wahrzunehmen, nicht einmal Delphine neben ihm, die peinlich berührt und überrascht schien, aber keine Trauer empfand, die sie nicht mit Würde unter Kontrolle zu halten gewusst hätte. Sie hielt den Kopf hoch, hatte die Lippen fest geschlossen und blickte resolut geradeaus. Sie würde den Neugierigen auf der Galerie nicht die Befriedigung geben, ihre Blicke zu erwidern.

Zillah, die auf der anderen Seite ihres Vaters saß, war in sich zusammengesunken und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ihr Hut saß schief, und ihr helles Haar leuchtete in dem Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel. Sie hatte die Schultern hochgezogen. Ihr Körper bebte, aber es war noch kein Weinen, sondern der Ausdruck von Entsetzen und Fassungslosigkeit. Sie schien kaum Luft zu bekommen. Ihr Vater war noch immer zu betäubt und zu überwältigt von seinen eigenen Gefühlen, um ihr beizustehen oder Trost anbieten zu können.

Sacheverall erhob sich nun und ging um seinen Tisch herum auf sie zu. Er beugte sich über sie, legte ihr die Hand auf die Schulter und sprach leise auf sie ein. Was er auch gesagt hatte, er musste es wiederholen; dann richtete sie sich langsam und mit aschfahlem Gesicht auf. In ihren Augen brannten Tränen.

»Gehen Sie weg!«, sagte sie klar und deutlich.

»Meine Liebe!«, begann Sacheverall drängend.

»Wenn Sie mich noch einmal berühren, schlage ich Sie!«, zischte sie, und wenn er ihr auch nur für einen kurzen Moment ins Gesicht gesehen hätte, hätte er gewusst, dass sie es ernst meinte.

Delphine beugte sich vor, sah allerdings eher Sacheverall an als Zillah.

»Ich bin sicher, Sie meinen es nur gut, Mr. Sacheverall«, sagte sie mit einem Lächeln, dem jedoch jede Wärme fehlte, »aber vielleicht sollten Sie uns besser ein paar Minuten Zeit geben, damit wir unsere Bestürzung überwinden können. Es war eine sehr schlimme Zeit für uns alle, hauptsächlich aber für Zillah. Bitte berücksichtigen Sie das Sacheverall zog nicht einmal seine Hand zurück. »Natürlich«, sagte er mit einem Nicken. »Natürlich. Ich verstehe.«

»Sie verstehe n gar nichts!«, fuhr Zillah ihn mit wütendem Blick an. »Sie sind ein - ein condottierre!«

»Ein was?« Er war einen Augenblick lang ratlos.

»Ein Glücksritter«, erwiderte sie vernichtend. »Ein Mann, der dafür bezahlt wird, für irgendeine Sache zu kämpfen, ein Mann, der - unter Vertrag steht«. Und wenn Sie mich nicht sofort loslassen, schreie ich. Möchten Sie das?«

Er nahm hastig die Hand von ihrer Schulter. »Sie sind hysterisch!«, sagte er versöhnlich. »Das alles war ein großer Schock für Sie.«

»Jawohl, ich bin hysterisch!«, pflichtete sie ihm zu seiner Überraschung bei. »Ich habe mich noch nie in meinem Leben schlechter gefühlt. Ich glaube nicht, dass mir noch etwas Schrecklicheres widerfahren kann, abgesehen von Ihrem Benehmen mir gegenüber.«

»Zillah!«, fuhr Delphine sie an. Dann blickte sie lächelnd zu Sacheverall auf. »Ich glaube, Sie wären besser beraten, uns für ein Weilchen allein zu lassen, für ein oder zwei Tage vielleicht. Trotz all Ihres Mitgefühls glaube ich nicht, dass Sie ganz ermessen können, wie furchtbar das alles für ein junges Mädchen war, das mit den… elementareren Gefühlen der Männer noch nie konfrontiert war. Die Vorkommnisse bringen wohl jeden… ein klein wenig aus dem Gleichgewicht. Bitte nehmen Sie sich nichts, was sie gerade jetzt sagt, zu Herzen. Halten Sie ihr die Situation zugute…«

»Selbstverständlich«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln.

»Selbstverständlich.« Er verneigte sich kurz vor Zillah und kehrte an seinen Tisch zurück.

Zillah flüsterte ihrer Mutter etwas zu. Von Rathbones Platz aus waren die Worte nicht zu verstehen, aber die Röte, die langsam in Sacheveralls Wangen trat, legte die Vermutung nahe, dass er zumindest den Tonfall, wenn auch nicht den Inhalt ihrer Worte gehört hatte.

McKeever sah Rathbone erwartungsvoll an.

»Ich nehme an, wir werden die tragische Neuigkeit auch von einigen Zeugen belegt finden, Sir Oliver? Und zweifellos werden wir daneben sachkundige Zeugen hören? Hat sich ein Arzt um die Angelegenheit gekümmert?«

»Ja, Mylord. Ich habe mir die Freiheit genommen, sowohl den Doktor als auch Mr. Isaac Wolff, der Mr. Melville gefunden hat, hierher zu bitten.«

»Ich danke Ihnen. Das war äußerst vorausschauend. Es wird dem Gericht eine zeitaufwendige Vertagung ersparen, die beiden hierher zu bitten.« Er zögerte und holte dann tief Luft.

»Sir Oliver, ich möchte Ihnen das tiefe Mitgefühl des Gerichts aussprechen, das die Dinge sich in dieser Art entwickelt haben. Killian Melville war ein hochbegabter Mann und seine Künste eine Zierde unserer Gesellschaft und aller Generationen, die noch kommen werden. Sein Verlust ist eine Tragödie.« Er verzichtete darauf, eine Bemerkung über den Fall oder seinen Ausgang zu machen. Die Unterlassung war beabsichtigt und sehr deutlich. Mehrere Geschworene nickten zustimmend.

»Vielen Dank, Mylord«, sagte Rathbone mit einem Aufruhr der Gefühle, der ihn selbst überraschte und seine Stimme heiser klingen ließ.

Irgendwo auf der Galerie putzte ein Mann sich ziemlich lautstark die Nase, und eine Frau unterdrückte ein Schluchzen.

»Rufen Sie Mr. Wolff herein«, befahl McKeever.

Rathbone tat es Leid, Wolff diesem Martyrium aussetzen zu müssen. Der Mann hatte kaum geschlafen und wahrscheinlich den Menschen, den er am meisten liebte, durch einen plötzlichen und zutiefst tragischen Tod verloren. Melville zweifelte nicht daran, dass er sich aus Kummer über die Zerstörung sowohl seines Privatlebens als auch seiner Karriere das Leben genommen hatte. Wolff selbst befand sich nun seinerseits in Gefahr, seine berufliche Position, seinen Lebensunterhalt und vielleicht sogar seine Freiheit zu verlieren, falls Sacheverall rachsüchtig genug war, Anklage zu erheben.

Und doch brannte in Rathbone eine Wut, die ihn dazu trieb, diesem Gericht zu zeigen, welche Schuld es auf sich geladen hatte. Vor allem wollte er es Lambert vor Augen führen. Sacheverall mochte zu wenig Mitgefühl haben, um Bedauern oder Scham zu empfinden, aber wenn die anderen das sahen, würde vielleicht sein Ruf leiden, und das ersehnte Rathbone sich von ganzem Herzen.

Isaac Wolff trat in den Saal. Seine dunklen Augen lagen so tief in ihren Höhlen, dass er wie ein Leichnam aussah. Er ging wie ein alter Mann quer durch den Raum und die Stufen zum Zeugenstand hinauf, obwohl er kaum vierzig war. Er blickte zu Rathbone hinüber, ohne ihn zu sehen.

Das Gericht wartete in absolutem Schweigen. Die Menschen spürten Wolffs Trauer, und sie nötigte ihnen Respekt ab.

Rathbone hatte ihm bereits sein Mitgefühl ausgesprochen, und es war nicht notwendig, jetzt irgendwelche Platitüden von sich zu geben.

»Mr. Wolff, würden Sie uns b itte von den Ereignissen gestern am späten Abend erzählen, die Sie heute hierher führen«, sagte er.

Wolff sprach schnell und abgehackt, und seine Stimme war monoton.

»Ich bin zu Melville gegangen, da ich wusste, dass er nach dem Tag vor Gericht aufgewühlt sein würde.« Es war eine einfache Feststellung ohne jegliche Wertung. Er sah jetzt Rathbone an. »Ich habe bei ihm geläutet. Er hat nicht aufgemacht. Ich habe einen Schlüssel. Ich habe selbst aufgeschlossen. Er saß im Wohnzimmer, in einem Sessel am Kamin, aber das Feuer war bis auf den letzten Rest heruntergebrannt. Es war offensichtlich seit drei oder vier Stunden nicht mehr geschürt worden. Er sah aus, als sei er eingeschlafen. Zuerst hoffte ich, dass er tatsächlich schlief. Dann berührte ich ihn und wusste Bescheid. Er war kalt.« Mehr sagte er nicht.

»Um wie viel Uhr war das, Mr. Wolff?«, fragte Rathbone.

Im Raum herrschte noch immer Stille. Alle Augen waren auf Wolff gerichtet.

»Zwischen halb elf und elf«, erwiderte Wolff. Er wirkte vollkommen ruhig. Was sie auch von ihm dachten, es konnte ihm jetzt nicht mehr wehtun. Das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte, war bereits eingetreten.

»Haben Sie irgendetwas gesehen, das Ihnen Rückschlüsse auf die Art seine Todes zu ziehen erlaubt?«, hakte Rathbone nach, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Nein.« Nur das eine Wort.

»War irgendetwas in Unordnung gebracht worden?«

»Nein. Alles war wie immer.«

»Stand ein Glas oder eine Tasse im Zimmer, vielleicht in der Nähe des Sessels?«

»Nein.«

»Haben Sie eine Notiz oder einen Brief irgendeiner Art gefunden?«

»Nein.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Wolff. Wenn Sie dann bitte noch sitzen bleiben würden; Seine Lordschaft wird vielleicht einige Fragen an Sie haben.«

Wolff drehte sich langsam zu dem Richter um.

»Nein, danke«, lehnte McKeever leise ab. »Der Fall scheint absolut klar zu sein. Es tut mir Leid, dass wir Sie bemühen mussten, Mr. Wolff. Das Gericht spricht Ihnen sein Beileid aus.«

»Vielen Dank.« Er wandte sich ab und stieg die Stufen hinunter, wobei er sich am Geländer abstützte. Er ging zu einem der Sitzplätze im hinteren Teil der Galerie, und jemand stand auf, um ihm Platz zu machen.

Er sah wieder zu Barton Lambert hinüber. Dieser rutschte auf seinem Stuhl unbehaglich hin und her. Seine ganze Haltung drückte echten Kummer aus. Er wandte sich an Delphine, aber sie blickte mit emporgerecktem Kinn in die andere Richtung und versuchte das Beste aus ihrer unangenehmen Situation zu machen, obwohl sie immer noch Siegesbewusstsein ausstrahlte. Zillahs Ruf war wiederhergestellt, und das zählte für sie mehr als alles andere.

Zillah selbst saß mit bleichem Gesicht und reglos da und sah abwechselnd zu Isaac Wolff und zum Richter, obwohl sich unmöglich sagen ließ, ob sie die beiden Männer wirklich zur Kenntnis nahm, so sehr schien sie in ihre eigene Trauer versunken zu sein.

»Sir Oliver!«, sprach McKeever ihn an.

»Mylord?«

»Sagten Sie nicht, dass Sie auch einen Arzt hinzugezogen hätten?«

»So ist es, Mylord.«

»Würden Sie ihn dann bitte aufrufen?«

»Ja, Mylord. Dr. Godwin.«

Auf der Galerie breitete sich sogleich Unruhe aus, da zwei Dutzend Menschen die Hälse reckten, um zur Tür hinüberzusehen.

Godwin erwies sich als ein untersetzter Mann mit dunklem Haar und dem melodischen Klang der Waliser in der Stimme. Er nannte seinen Namen und Berufsstand und legte den Eid ab, bevor er auf Rathbones Fragen antwortete.

»Dr. Godwin, Sie wurden gestern Abend gegen elf Uhr in die Great Street gerufen?«

»Das stimmt.«

»Wer hat Sie gerufen und aus welchem Grund?«

»Mr. Isaac Wolff wollte, dass ich mich um seinen Freund, Killian Melville, kümmere, der offensichtlich gestorben war.«

»Und als Sie Mr. Melville untersuchten, war er da tatsächlich tot?«

»Ja, Sir, das war er - das heißt… zu diesem Zeitpunkt nahm ich nur eine oberflächliche Untersuchung vor. Eine sehr oberflächliche.«

Es herrschte tiefstes Schweigen im Raum.

McKeever beugte sich gespannt vor und runzelte die Stirn, als sei ihm die Bemerkung des Arztes nicht recht verständlich.

»Ihre Wortwahl ist merkwürdig«, stellte Rathbone fest.

»Wollen Sie damit andeuten, dass eine spätere Untersuchung ergeben hat, dass Mr. Melville doch nicht tot war?« Er fragte nur, um ganz sicher zu gehen. Er hatte nicht die leiseste Hoffnung, dass ein Irrtum vorliegen könne.

»O nein. Killian Melville war tot, die arme Seele«, versic herte Godwin ihm nickend. Dann schürzte er die Lippen und wartete auf die nächste Frage.

»Können Sie uns sagen, was die Todesursache war, Dr.

Godwin?«

»Noch nicht, jedenfalls nicht mit Gewissheit. Aber es war irgendein Gift, und zwar höchstwahrscheinlich vom Typ Belladonna. Man kann es in den Augen sehen. Aber sicher werde ich es erst wissen, wenn ich den Mageninhalt untersucht habe. Dafür war bisher noch keine Zeit.«

„Vielen Dank. Ich habe im Augenblick keine weiteren Fragen mehr an Sie.«

»Nein - nein, das kann ich mir denken.« Godwin blieb unbeweglich im Zeugenstand stehen. »Aber ich kann Ihnen etwas berichten, von dem ich annehme, dass Sie es bisher noch nicht wussten.«

Der Raum schien von einem Knistern erfüllt zu sein, als läge ein Gewitter in der Luft.

»Ja?«

»Killian Melville war eine Frau.«

Niemand rührte sich.

Einem Reporter brach ein Bleistift entzwei, und das Geräusch klang wie ein Schuss.

Eine Frau schrie auf.

»Ich - ich bitte um Verzeihung«, sagte Rathbone und schluckte.

»Killian Melville war eine Frau«, wiederholte Godwin klar und deutlich.

»Sie meinen, er war…« McKeever war wie vom Donner gerührt.

»Nein, Mylord«, korrigierte Godwin ihn. »Ich meine, sie war… in jeder Hinsicht eine vollkommen normale Frau.«

Zillah glitt lautlos zu Boden.

Auf der Galerie schnappten mehrere Zuschauer nach Luft. Einer der Geschworenen benutzte einen Kraftausdruck, von dem er normalerweise nicht einmal zugegeben hätte, dass er ihn kannte.

Delphine Lampert stieß einen Schrei aus und schlug sich eine Hand vor den Mund. Plötzlich war ihr Gesicht tiefrot vor Verlegenheit und Zorn. Sie starrte konzentriert geradeaus, um nur ja niemandem in die Augen sehen zu müssen. Die Enthüllung des Arztes hatte sie vollkommen unvorbereitet getroffen. Das konnte jeder sehen, der sie beobachtete. Und vielleicht war es gerade diese Tatsache, die sie im Augenblick wütender machte als alles andere. Der Schock war vollkommen.

Niemand schien auf Zillah geachtet zu haben, die in Ohnmacht gefallen war.

Sacheverall ergriff endlich die Initiative. Er erhob sich taumelnd und fuchtelte mit den Armen.

»Das dürfte man kaum normal nennen können, Mylord! Dr.

Godwin verhöhnt hier den Ausdruck ›normal‹! Killian Melville war in keiner Hinsicht normal! Weder als Mann noch als Frau!«

»Ich meinte in medizinischer Hinsicht!«, fuhr Godwin mit überraschender Heftigkeit auf. »Körperlich war sie genau wie jede andere Frau.«

»Warum hat sie sich dann wie ein Mann gekleidet?«, schrie Sacheverall, noch immer wild gestikulierend, »warum hat sie sich wie ein Mann benommen und in jeder Weise einen Mann nachgeahmt? Um Gottes willen, sie hat sogar einer Frau die Ehe angetragen!«

Rathbone war nun ebenfalls aufgesprungen und schrie Sacheverall seine Antwort ins Gesicht. »Genau das habe ich hier klarzumachen versucht! Sie hat es nicht getan! Mrs. Lambert war so versessen darauf, eine exzellente Partie für ihre Tochter zu machen, dass sie davon ausgegangen ist, dass Melvilles Zuneigung und Wertschätzung für Miss Lambert romantischer Natur sein müsse, während seine Gefühle in Wirklichkeit genau das waren, was er behauptet hatte: eine tiefe und ehrliche Freundschaft!« Er sprach, ohne nachzudenken, etwas, von dem er sich geschworen hatte, es vor Gericht niemals zu tun, aber noch während er seine eigene Stimme hörte, war er von der Wahrheit seiner Worte überzeugt. Jetzt, mit der Klarheit besseren Wissens, schien alles so offensichtlich zu sein. Melvilles Leidenschaft und sein Schweigen - ihr Schweigen - waren so leicht zu verstehen. Natürlich hatte er - sie - gelacht, als Rathbone fragte, ob die Beziehung zu Isaac Wolff homosexueller Natur gewesen sei. Er erinnerte sich jetzt daran, wie ausweichend seine Antworten geklungen hatten. Er erinnerte sich an ein Dutzend verschiedener Dinge, winziger Kleinigkeiten - den freimütigen Blick, die helle Haut, die schlanken, kräftigen Hände, die mangelnde Männlichkeit in Bewegung und Gestik. Die heisere Stimme hätte genauso gut einem Mann wie einer Frau gehören können.

Welche Anstrengung es gekostet haben musste, wie oft sie eine wunde Kehle gehabt haben musste, um ihrer Stimme ständig einen so unnatürlich tiefen Klang zu geben.

Und sie musste Zillahs Gesellschaft genossen haben, die Möglichkeit, sich mit einem Mitglied ihres eigenen Geschlechts anzufreunden. Kein Wunder, dass diese Kameradschaft ihr so teuer gewesen war.

Sacheverall war außer sich vor Wut, hatte aber ausnahmsweise einmal keine Antwort parat.

»Sie war trotzdem unnatürlich!«, sagte er laut und ärgerlich.

Der Fall war ihm aus den Händen geglitten. Nichts war so, wie er es sich vorgestellt hatte. Als er heute Morgen hier eintraf, hatte er den Sieg schon in Reichweite gesehen. Jetzt hatte sich alles in eine absurde Tragödie verwandelt.

»Sie war widernatürlich, vielleicht wahnsinnig…«

»Das war sie nicht…«, begann Rathbone wütend, aber Sacheverall schrie ihn nieder.

»Sie hat Mr. Lamberts Großzügigkeit ausgenutzt und das aus den durchschaubarsten Gründen. Sie wollte ihre Karriere fördern, wenn man das eine Karriere nennen darf!« Er stach mit dem Finger in die Luft, und seine Stimme überschlug sich fast.

»Sie hat ihn getäuscht, hat ihn nach Strich und Faden belogen - und dann hat sie Miss Lambert betrogen und ihre Gefühle missbraucht, aus denselben verabscheuungswürdigen habgierigen Gründen und…« Zillah hatte sich inzwischen wieder erholt und saß reglos auf ihrem Stuhl; die Tränen strömten ihr über die Wangen, obwohl ihr Gesicht vollkommen unbewegt war.

Sie hatte die seltene Gabe, weinen zu können, ohne ihre Schönheit einzubüßen.

Barton Lambert erhob sich nun ebenfalls.

»Seien Sie still!«, befahl er so laut, dass Sacheverall mitten im Satz innehielt. »Er hat sich wie ein Mann gekleidet, in dieser Hinsicht hat er mich getäuscht«, fuhr Lambert fort und senkte die Stimme ein wenig. »Ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, dass er ein Mann ist. Aber ich wurde nicht getäuscht, was sein…« Er korrigierte sich, »was ihr Talent betraf. Er war dennoch einer der größten Architekten Europas, und ich schwöre, Sie werden, so lange Sie leben, keinen besseren finden!«

Sacheverall brach in Gelächter aus, ein hö hnisches, verächtliches und hässliches Geräusch.

McKeever ließ seinen Hammer herunterfahren, dass es wie ein Gewehrschuss klang.

»Mr. Sacheverall!« In seinem Gesicht lag seine ganze Abneigung gegen diesen Mann. »Beherrschen Sie sich, Sir! Diese Angelegenhe it ist keineswegs komisch!«

Sacheverall hörte sofort auf zu lachen.

»Das ist sie in der Tat nicht, Mylord! Es ist nicht komisch, es ist widerwärtig!« Sein breiter Mund verzog sich auf übertriebene Weise. Er fuchtelte beim Sprechen noch immer mit den Armen. »Jeder anständige Mensch in diesem Saal muss genauso wie ich Verwirrung und Ekel vor diesem widernatürlich, betrügerischen Geschöpf verspüren, das eine Beleidigung für alle ehrenhaften Frauen ist.« Seine Geste bezog den ganzen Raum einschließlich der Gale rie mit ein. »Welche Frau unter Ihnen würde auch nur eine Sekunde lang, auch nur den Bruchteil einer Sekunde, ihr Frausein mit seinen Pflichten und geheiligten Segnungen leugnen oder freiwillig anders sein wollen!« Er riss abermals die Arme auseinander und drehte sich zu den Zuschauern um. »Welche Frau unter Ihnen ist nicht stolz darauf, Gattin und Mutter zu sein! Wollen Sie sich Hosen anziehen und so tun, als seien Sie ein Mann? Wollen Sie leugnen, wer Sie sind, was Sie sind, und Gott, der Sie geschaffen, der Ihnen diese - diese heilige Berufung gegeben hat, ins Gesicht spucken?«

»Um Himmels willen, so setzen Sie sich doch endlich!« Es war Zillah, die ihm diese Worte zurief und ihn mit tränennassen Augen wütend anstarrte.

Er beugte sich vor und sah sie leid enschaftlich an. »Meine liebe Zillah«, sagte er und senkte die Stimme, bis sie zärtlich, ja beinahe vertraulich klang. »Ich kann wohl kaum ermessen, welche Qualen Sie durchstehen. Sie sind auf grausamste Weise betrogen worden. Sie sind bei all dieser furchtbaren Maskerade das Opfer gewesen.« Er hob die Hand, als wolle er sie berühren, besann sich dann aber anders. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihren Mut und Ihre Würde während dieses Martyriums bewundere«, fuhr er leise, aber sehr deutlich fort. Er schien den Blick nicht mehr von ihr abwenden zu können. »Die Tatsache, dass Sie sich keinen Ärger und keinen Zorn bei alledem anmerken lassen, ist wahrlich das Zeichen eines edlen Charakters. Sie besitzen eine Seelenstärke, die uns alle in Erstaunen versetzen muss, die uns Achtung abnötigt…«

»Mr. Sacheverall!«, unterbrach sie ihn kalt und rückte weiter von ihm ab. »Ich habe heute einen guten Freund verloren, noch dazu unter schrecklichsten Umständen, und es interessiert mich nicht, was Sie von mir denken, genauso wenig wie mich Ihr Mitgefühl interessiert. Bitte hören Sie auf, mir ständig Ihre Meinung aufdrängen zu wollen. Ich bin überzeugt davon, dass es dem Gericht ebenfalls lieber wäre, Sie würden mit Ihren Ansichten zurückhaltender sein.«

Er war sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet. Er nahm ihre Zurechtweisung jedoch mit Anstand hin, überzeugt davon, dass dieses Verhalten ihrem gegenwärtigen Zustand zuzuschreiben sei.

»Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen«, entschuldigte er sich und wandte sich dann wieder an das Gericht. »Ich habe mich durch meine Gefühle dazu hinreißen lassen, vorschnell zu sprechen.« Zu Rathbone gewandt, sagte er dann: »Ich werde mich natürlich mit meinen Mandanten beraten, aber ich denke, Mrs. Lambert wird gewiss der Überzeugung sein, dass der Charakter ihrer Tochter durch die Enthüllungen des heutigen Tages hinreichend von jedem Verdacht reingewaschen wurde. Niemand kann ihr in dieser Hinsicht auch nur das Geringste vorwerfen. Was die Gerichtskosten betrifft, so werden sie gewiss aus Mr. - Miss Melvilles Nachlass beglichen werden. Ich denke, um diese Dinge wird sich ihr Anwalt kümmern.«

Barton Lambert machte eine jähe Bewegung, als wolle er etwas sagen, aber Delphine hielt ihn energisch zurück.

McKeever warf einen wütenden Blick in die Runde. »Ich würde gern mehr darüber erfahren, was Miss Melvilles zu diesem außerordentlichen Schritt bewegen hat. Und ich denke, wir sollten Mr. Isaac Wolff die Gelegenheit geben, seinen Namen reinzuwaschen und seinen eigenen guten Ruf wiederherzustellen. Ich rufe ihn in den Zeugenstand.«

Für einen Augenblick herrschte Stille, dann fand der Gerichtsdiener seine Fassung wieder und rief mit ziemlich lauter Stimme Isaac Wolff auf.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Wolff aus dem hinteren Te il des Saals nach vorne gekommen war. Als er erneut die Stufen zum Zeugenstand erklomm, wäre er beinahe gestolpert.

»Mr. Wolff«, sagte McKeever mit seiner leisen Stimme. Im Raum war kein Laut zu hören. Auf der Galerie wagte es niemand, sich zu bewegen oder gar zu tuscheln. Die Geschworenen hatten den Blick auf Wolff geheftet, und ihre Gesichter drückten Mitleid und Verlegenheit aus. Weder Rathbone noch Sacheverall rührten sich. Alle lauschten gespannt auf McKeevers Worte.

»Mr. Wolff, es tut mir Leid, Sie noch einmal zu bemühen, obwohl Sie eine Zeit tiefster Trauer durchmachen«, sagte er.

»Aber ich habe das Gefühl, dass Sie der richtige Mann sind, um uns eine Erklärung geben zu können. Warum kleidete Killian Melville sich wie ein Mann und führte nach außen hin auch das Leben eines Mannes? Bevor Sie antworten…«, er lächelte kaum merklich; es war ein inneres Bedürfnis, das ihn antrieb, ein Gefühl, das er nicht unterdrücken konnte, »…ich möchte mich im Namen des Gerichts aufrichtig entschuldigen für den Vorwurf der Unzucht und jeden anderen Verbrechens, das man Ihnen oder Miss Melville hier zur Last gelegt hat.«

Ein Anflug bitterer Belustigung blitzte in Wolffs Augen auf, erreichte aber nicht seine Lippen.

»Vielen Dank, Mylord.« Seine Stimme war teilnahmslos. Ohne jemand anzusehen, suchte er nach Worten, um auf die Frage zu antworten. Sein Blick schien über die Köpfe der Galerie hinauszuwandern, aber was er vor sich sah, lag in seinem Inneren, in der Erinnerung. »Ihr wirklicher Name war Keelin, ihre Mutter war Halbirin. Sie hat die Schreibweise ein wenig verändert, sodass der Name ein wenig männlicher klang.«

Das Gericht wartete.

Er brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen. »Sie war außergewöhnlich«, begann er leise und mit brüchiger Stimme.

»Schon als Kind faszinierten sie schöne Gebäude jeder Art. Ihr Vater war ein passionierter Gelehrter und die Familie verbrachte viel Zeit im Mittelmeerraum - in Italien, Griechenland, Ägypten, Palästina. Keelin spazierte stundenlang durch die Ruinen der größten Städte auf Erden. Sie fertigte Skizzen vom Forum Romanum, von den Bädern Caracallas und natürlich dem Kolosseum an.«

Die Zuschauer im Saal hörten wie gebannt und ohne Wolff aus den Augen zu lassen zu. Rathbone sah sich diskret um. Die Gesichter der Zuhörer spiegelten ihre Gefühle wider, als sie in Gedanken mit der jungen Frau reisten, träumten, planten.

»Aber sie liebte auch die östliche Architektur«, fuhr Wolff fort. »Sie bewunderte die Moscheen in der Türkei, ihre Kühle und den Lichteinfall. Die Kuppel der Blauen Moschee faszinierte sie, auch deren Lüftung, die dafür sorgte, dass der Kerzenrauch in dem Gewölbe keine Spuren hinterließ. Sie konnte endlos darüber reden. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt bemerkte, ob ich ihr zuhörte oder nicht.«

Niemand bewegte sich oder machte auch nur das leiseste Geräusch, das eine Störung bedeutet hätte. McKeevers Miene war gespannt.

»Und als ihr Vater nach Ägypten ging«, fuhr Wolff fort, »ging sie mit ihm. Es war eine vollkommen neue Dimension der Architektur, die sie dort kennen lernte, älter als alles, was sie sich bisher auch nur hätte vorstellen können. Sie stand in den Ruinen Karnaks, als hätte sie eine Offenbarung gehabt. Selbst das Licht war anders. Ich erinnere mich, dass sie das oft sagte. Sie hat immer nach Licht gestrebt, wenn sie etwas baute…« Er hielt jäh inne, als seine Gefühle ihn überwältigten.

McKeever sah sich langsam im Saal um, wie um die Zuhörer aufzufordern, Wolff Zeit zu geben, die Fassung wiederzugewinnen.

Rathbone sah zu Barton Lambert hinüber. Er wirkte wie ein Mann in Trance. Sein Blick war glasig, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Mitleid und Verständnislosigkeit. Delphine neben ihm schien noch immer außer sich zu sein.

»Möchten Sie, dass der Gerichtsdiener Ihnen ein Glas Wasser bringt?«, fragte McKeever Wolff. Dann bedeutete er, ohne dessen Antwort abzuwarten, einem der Diener, seiner Anweisung Folge zu leisten.

»Nein… vielen Dank, Mylord.« Wolff nahm sich zusammen. Er holte tief Luft. »Keelin hat ständig gezeichnet, aber sie hatte kein Interesse daran, Malerin zu werden, obwohl ihr Vater ihr genau das vorschlug. Sie zeichnete nur, um Strukturen festzuhalten, um das fertige Werk auf dem Papier zu sehen. Sie hatte kein Interesse am Zeichnen an sich. Sie wollte ihre eigenen Bauwerke entwerfen, nicht nur die anderer festhalten, ganz gleich, wie wunderbar sie sein mochten. Sie wollte kreieren, nicht kopieren.«

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber natürlich hätte keine Architektenschule eine Schülerin für Studien zugelassen. Sie gab jedoch nic ht auf. Sie fand einen Architekturstudenten, der sich zu ihr hingezogen fühlte, lieh sich seine Bücher und Notizen aus und ließ sich von den Vorlesungen berichten, die er besuchte.« Eine Mischung aus Ironie, Zärtlichkeit und Schmerz drückte sich in seinen Zügen aus. »Schließlich bekam sie eine Assistentenstelle bei einem Professor. Sie hat für ihn die Unterlagen geordnet, seine Notizen abgeschrieben und alles begierig in sich aufgenommen, was er den Männern lehrte, bis ihr nach Jahren schließlich klar wurde, dass sie, selbst wenn sie die Prüfungen bestand, als Architektin niemals anerkannt werden und man ihr als Frau niemals eine Anstellung geben würde. Sie hatte wunderschönes Haar, üppig, weich und fast goldfarben. Sie schnitt es sich ab…« In der Galerie stöhnte eine Frau auf und schloss die Augen.

Einer der Geschworenen schüttelte langsam den Kopf und blinzelte, um die Tränen zu unterdrücken. Vielleicht dachte er an das Haar seiner Frau oder seiner Tochter.

»… sie hat sich als Junge ausgegeben«, sagte Wolff, und zum ersten Mal brach seine Stimme. »Nur um eine bestimmte Vorlesung eines Gastprofessors besuchen zu können, um wie ein Student und nicht wie eine Dienstbotin behandelt zu werden, um Fragen stellen zu können, auf die man ihr Antwort geben würde.« Er blinzelte, und seine Stimme wurde leiser. »Es hat funktioniert. Man hielt sie für sehr jung, aber niemand zweifelte daran, dass sie ein Mann war. Sie kam nach Hause und weinte die ganze Nacht. Dann traf sie ihre Entscheidung, und von da an nannte sie sich Killian und war für alle Welt bis auf mich ein Mann.«

Ein Raunen ging durch den Raum. Mehrere Zuschauer rutschten auf ihren Stühlen hin und her, - Leder quietschte, und Stoff raschelte. Niemand sagte etwas, es sei denn in einem Flüsterton, der so leise war, dass man ihn in der allgemeinen Unruhe nicht hören konnte.

»Solche Dinge sind schon früher vorgekommen«, setzte Wolff seinen Bericht fort. »Frauen mussten sich als Männer verkleiden, um die Talente zu nutzen, die Gott ihnen gegeben hatte, weil unsere Vorurteile es ihnen nicht gestatteten, sie einzusetzen. Den Frauen, die sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, stehen nur zwei Wege offen. Sie können tun, was so viele Malerinnen und Komponistinnen der Renaissance taten, nämlich ihre Arbeiten unter dem Namen ihres Bruders oder ihres Vaters veröffentlichen… Oder aber, sie taten es dem Armeechirurgen Barry gleich, der sich hier in England als Mann ausgab. Wie sie es fertig gebracht hat, das alltägliche Leben zu meistern, weiß ich nicht. Aber sie hat es geschafft. Manch einer mag ihr Geheimnis gekannt haben, aber die Behörden haben erst nach ihrem Tod davon erfahren. Und sie galt als einer der besten Chirurgen überhaupt, als Pionier der Medizin. Keelin sprach oft von ihr…« Er konnte das Zittern in seiner Stimme nicht länger verbergen. »Sie war voller Bewunderung für Barrys Mut und ihre ungeheure Begabung und voller Zorn darüber, dass diese Frau, seit sie erwachsen war, ihr Geschlecht verbergen musste, dass sie die eine Hälfte ihres Wesens leugnen musste, um die andere ausleben zu können. Wenn sie uns Männer manchmal dafür hasste, denke ich, haben wir es verdient.«

McKeever sah ihn an. Er hatte die Lippen ganz leicht geschürzt und senkte den Kopf, wie um zu nicken.

Rathbone fühlte sich selbst zutiefst betroffen. Er war Teil der etablierten Gesellschaft. Er musste an eine andere Frau denken, eine Frau, die Medizin studieren wollte und auf den Schlachtfeldern der Krim bewiesen hatte, dass sie dazu in der Lage war, der aber auf Grund ihres Geschlechts dieser Weg versperrt geblieben war. Auch dieser Fall hatte mit einer Tragödie geendet.

Die Geschworenen fühlten sich unbehaglich. Ein älterer Mann stieß schnaubend die Luft aus. Er wusste nicht, was er von all dem halten sollte, nur dass es zutiefst unerfreulich war und ihm missfiel. Er war hierher gekommen, um ein Urteil über andere zu fällen, nicht, um selbst beurteilt zu werden.

Ein anderer Geschworener hatte die Stirn gerunzelt, als bereiteten seine eigenen Überlegungen ihm Kummer. Er schien tiefes Mitleid zu emp finden.

Zwei weitere Männer sahen einander an, wie um moralische Unterstützung zu erheischen.

Ein Vierter schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen.

»Vielen Dank, Mr. Wolff«, sagte McKeever leise. »Ich glaube, Sie haben uns die Angelegenheit hinreic hend erklärt. Das war sehr freundlich von Ihnen. Es kann weder einfach noch angenehm für Sie gewesen sein, aber ich glaube, Sie haben uns damit einen großen Dienst erwiesen, und vielleicht haben Sie Keelin Melville dadurch ein gewisses Maß an Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn auch zu spät. Ich habe keine Fragen mehr. Sie können den Zeugenstand verlassen.«

Als er den Gerichtssaal verließ, hörte Rathbone draußen im Korridor eilige Schritte hinter sich und drehte sich um. Barton Lambert war ihm gefolgt.

»Sir Oliver!« Er war außer Atem und schien äußerst erregt zu sein. Er hielt Rathbone am Arm fest.

»Ja, Mr. Lambert«, sagte Rathbone kalt. Er hatte nichts gegen den Mann - tatsächlich hielt er ihn sowohl für ehrlich als auch für tolerant -, aber in seinem Innern kämpften Zorn und Verwirrung und nicht geringe Schuldgefühle miteinander. Er wollte im Augenblick zu niemandem höflich sein müssen, schon gar nicht zu jemandem, der Anteil an dieser Tragödie hatte und wahrscheinlich sein eigenes Gewissen entlasten wollte.

»Seit wann - seit wann wussten Sie es?«, fragte Lambert mit ernstem, gefurchtem Gesicht und drängendem Blick. »Ich hätte nie - ich…« Er brach ab.

»Ich habe es im selben Augenblick erfahren wie Sie, Mr. Lambert«, erwiderte Rathbone. »Vielleicht hätte ich es erraten sollen, statt zu vermuten, dass die Beziehung zu Wolff von unmoralischer oder ungesetzlicher Natur war. Vielleicht hätten Sie es ebenfalls erraten müssen. Und jetzt ist es zu spät, um wieder gutzumachen, was wir zerstört haben.«

Keiner der beiden Männer nahm die anderen Personen im Korridor wahr.

»Wenn sie mir doch nur die Wahrheit gesagt hätte!«, protestierte Lambert und hob die Hände zu einer hilflosen Geste.

»Wenn sie uns doch nur vertraut hätte!«

»Und was hätten Sie dann getan?«, fragte Ra thbone mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich… nun, um Gottes willen, ich hätte sie doch nicht vor Gericht gebracht!«

Rathbone stieß ein Lachen aus, das überraschend bitter klang.

»Natürlich hätten Sie das nicht! Sie hätten wie ein Narr dagestanden! Sie wären ein Narr gewesen! Aber wenn sie als Frau mit diesen neuen architektonisch ungewöhnlichen Entwürfen zu Ihnen gekommen wäre, hätten Sie dann Geld in die Sache investiert?«

»Ich… ich…« Lambert hielt inne, sein Gesicht war kreidebleich. Er war ein so durch und durch ehrlicher Mann, dass er jetzt, da die Wahrheit offen zu Tage lag, nicht einmal sich selbst belügen möchte. »Nein… ich bezweifle es… nein, nein, wahrscheinlich nicht. Ich habe auch so schon meine Bedenken gehabt. Die Pläne waren so… so revolutionär, aber auch so unglaublich schön!«, sagte er mit Leidenschaft in der Stimme. Seine Augen leuchteten, sein Gesicht war wie verwandelt.

»Das sind sie immer noch«, erwiderte Rathbone ruhig.

»Bei Gott, Sie haben Recht!«, stieß Lambert hervor. »Der Himmel möge uns allen beistehen… Was für ein bigotter, kurzsichtiger, engstirniger, selbstsüchtiger Haufen wir doch sind!« Er stand mit hochgezogenen Schultern und geballten Fäusten da.

»Manchmal«, stimmte Rathbone zu. »Aber so lange wir das noch einzusehen vermögen, gibt es Hoffnung für uns.«

»Aber es gibt keine Hoffnung für Melville, verdammt noch mal! Dafür haben wir gesorgt!« fuhr Lambert ihn an.

»Ich weiß.« Rathbone versuchte nicht seinen eigenen Anteil an der Schuld zu bestreiten. Die Tatsache, dass Lambert eine noch größere Schuld traf, sprach ihn selbst nicht frei. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, Mr. Lambert, es gibt einige Personen, die ich informieren möchte, und bedauerlicherweise habe ich auch noch andere Fälle.« Er ließ Lambert stehen und eilte auf den Ausgang zu, um Monk aufzusuchen und ihn persönlich von dieser neuen Wendung der Ereignisse in Kenntnis zu setzen, bevor er es aus der Zeitung erfuhr.

Monk reagierte mit großer Erschütterung auf die Neuigkeit, obwohl auch er das Gefühl hatte, er hätte zumindest die Möglichkeit in Erwägung ziehen sollen, aber ihm war wie allen anderen niemals etwas Derartiges in den Sinn gekommen. Er erging sich weder in Banalitäten noch in kritischen Bemerkungen, denn es war offensichtlich, dass Rathbone sich bereits die schwersten Vorwürfe machte. Und ausnahmsweise einmal hatte Monk tiefes Mitgefühl für ihn. Er wusste nur allzu gut, was Schuldgefühle waren.

Als Rathbone gegangen war, nahm Monk einen Hansom und fuhr zum Tavistock Square, um Hester über den Ausgang der Dinge zu informieren und - falls er Interesse hatte - auch Gabriel Sheldon.

Martha Jackson begrüßte ihn an der Tür und erinnerte ihn an die unmögliche Aufgabe, die in Angriff zu nehmen er ihr versprochen hatte.

»Guten Abend, Miss Jackson«, sagte er mit erzwungener Munterkeit. »Es geht um den Fall Mr. Melvilles. Die Angelegenheit hat ein sehr tragisches Ende genommen, auf eine Weise, wie wir es nicht vorhersehen konnten. Ich würde gern Miss Latterly darüber berichten und auch Lieutenant Sheldon, falls es ihn interessiert.«

Sie sah ihn verstört an und schien nicht recht zu wissen, was sie antworten sollte.

»Stimmt etwas nicht, Miss Jackson?« Eine jähe Angst stieg in ihm auf, und er stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, wie nahe Melvilles Tod ihm gegangen war.

»Nein!«, erwiderte sie eine Spur zu entschieden. Sie zwang sich zu einem Lächeln, das jedoch so schmerzlich war, dass er sich nur umso mehr Sorgen machte. »Nein…«, fuhr sie fort.

»Lieutenant Sheldon geht es heute nicht besonders gut. Er hatte eine schlechte Nacht, das ist alles. Bitte, kommen Sie doch herein, Mr. Monk, ich werde Miss Latterly Bescheid sagen, dass Sie hier sind. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn Sie ein Weilchen warten müssen? Im Salon ist es angenehm warm.«

»Es macht mir nichts aus, natürlich nicht«, antwortete er, da er unmöglich etwas anderes hätte sagen können. Er war unangemeldet aufgetaucht, und niemand hatte ihn eingeladen. Er folgte Martha in den freundlichen Salon, wo sie ihn allein ließ. Er versuchte sich in Geduld zu fassen.

Er musste tatsächlich relativ lange warten, etwa eine halbe Stunde, und als Hester endlich kam, sah sie müde und ein wenig abgehetzt aus. In Gedanken schien sie noch immer mit anderen Dingen beschäftigt zu sein.

»Martha berichtete mir, der Fall Melville sei zu Ende«, sagte sie, während sie die Tür hinter sich schloss. Sie blickte ihm in die Augen und wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ihre Miene veränderte sich. Jetzt war sie plötzlich voller Sorge.

»Ist er ruiniert? Konnte Oliver nichts für ihn tun? Was ist passiert? Hat er sein Plädoyer geändert?«

»Ich nehme an, ja… in gewisser Hinsicht jedenfalls.« Es fiel ihm plötzlich schwer, die Ereignisse in Worte zu fassen.

»Melville hat sich das Leben genommen. Isaac Wolff hat ihn gestern Abend tot aufgefunden.«

Sie wurde bleich. »Oh, William… es tut mir so Leid!« Sie schloss die Augen. »Wie furchtbar! Warum tun wir anderen Menschen so etwas an? Wenn er einen anderen Mann liebte, was geht das uns an? Wir alle werden uns eines Tages auf die eine oder andere Weise vor Gott verantworten müssen.«

»Er war nicht homosexuell«, sagte er. »Er hat allerdings in den Augen der meisten Menschen ein noch größeres Verbrechen begangen.«

Sie öffnete die Augen. »Was?« Dann rannen ihr plötzlich die Tränen übers Gesicht. »Was hat er getan? Zillah Lambert den Laufpass gegeben? Er hat nie auch nur ein einziges böses Wort über sie gesagt! Das war doch gerade Olivers Problem! Was hat er also getan?«

»Er hat die Welt getäuscht… Männer und Frauen…«, erwiderte er. »Niemand wusste es… bis auf Isaac Wolff. Alle anderen tappten vollkommen im Dunkeln… alle sind darauf hereingefallen. Das können sie nicht verzeihen. Einige der Frauen werden sich vielleicht ins Fäustchen lachen, aber von den Männern wird keiner etwas Erheiterndes daran finden.«

»Ich weiss nicht, wovon Sie reden. Das ergibt alles keinen Sinn für mich!«

»Killian Melville war eine Frau.«

»Was haben Sie da gesagt?«, protestierte sie.

»Sie haben es doch gehört. Ihr richtiger Name war Keelin, und sie war eine Frau.« Der Zorn ließ seine Stimme beben. »Sie hat sich wie ein Mann gekleidet, weil niemand ihr als Frau erlaubt hatte, Architektur zu studieren und diesen Beruf auszuüben. Sie hat alle getäuscht, bis auf Isaac Wolff, der sie liebte.«

»Wie furchtbar!« Ihre Miene spiegelte Erstaunen und Schmerz wider.

Zuerst verstand er nicht. Gerade von Hester hätte er eine andere Reaktion erwartet. Sie sah ihn nicht einmal an. »Es muss jeden Tag da gewesen sein«, sagte sie leise. »Es muss sie in zwei verschiedene Richtungen gezogen haben, bis es sie zerriss. Sie war eine Frau, sie liebte Isaac Wolff, aber sie konnte ihn nie heiraten. Allein indem sie mit ihm zusammen war, riskierte sie es, ihn zum Verbrecher abzustempeln!« Sie sah Monk herausfordernd an. »Können Sie sich das vorstellen? Sie muss furchtbare Angst um ihn gehabt haben. Er hat sie genug geliebt, um ihre Visionen zu teilen, ihre Hoffnungen, ihre Gedanken und Leidenschaften.« Hesters Augen glänzten. »Und die kleinen Dinge, die Freuden und Enttäuschungen.« Ihre Stimme zitterte.

»Und sie konnte es nicht! Jedes Mal, wenn sie sich trafen, waren sie beide in Gefahr, mussten sie sich vor neugierigen Blicken schützen, vor Menschen, die missgünstig oder zudringlich waren. Kein Wunder, dass sie Zillah Lamberts Freundschaft suchte. Auf diese Weise konnte sie wenigstens etwas mit einem anderen Menschen teilen, konnte sich an hübschen Dingen erfreuen, Dingen, die zu einer Frau gehören: Parfüm, Seidenstoffe, Kleider - alles, was sie nicht mehr besitzen durfte. Stellen Sie sich nur vor, was sie riskierte, wenn sie auch nur ein einziges Mal ein Kleid getragen hätte!«

Er wollte etwas sagen, besann sich dann jedoch anders.

»Warum tun wir das?«, fragte sie in vehementem Ton. Sie sah ihn an, als erwarte sie eine Antwort. »Warum machen wir Regeln, die festschreiben, wie ein Mensch sein sollte… ich meine Regeln, die nicht wichtig sind? Warum sollte eine Frau nicht Architekt oder Arzt oder sonst was werden? Wovor haben wir solche Angst?« Sie machte eine ausholende Bewegung.

»Und warum zwingen wir die Männer, so zu tun, als hätten sie keine Angst, als würden sie keine Fehler machen? Natürlich machen auch Männer Fehler. Das wissen wir alle, aber wir decken es zu oder schauen weg. Es ist so viel einfacher zuzugeben, dass man sich geirrt hat, und umzukehren und das Richtige zu tun, als eine Ausflucht nach der anderen zu machen, um etwas zu verbergen. Am Ende kann man doch niemanden täuschen, außer jenen, die getäuscht werden wollen.«

Er unterbrach sie nicht, da er wusste, dass er sie in ihrem Redefluss nicht aufhalten konnte. Außerdem war er ihrer Meinung.

Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. »Sehen Sie sich nur Gabriel und Perdita an! Ihm hat man eingebläut, tapfer zu sein, niemals etwas zu erklären, niemals um Hilfe zu bitten. Man hat ihm das Bild eines Helden vermittelt, dem er gerecht werden muss, und er ist krank vor Schuldgefühlen, weil er dazu nicht in der Lage ist. Und ihr hat man beigebracht, hilflos und dumm zu sein, weil es das ist, was die Männer wollen, und das Einzige, was man von ihr verlangt, ist Gehorsam und ein ausgeglichenes Wesen - eine Zierde für das Haus.« Sie verzog das Gesicht.

»Und sie muss danebenstehen und seinen Schmerz mit ansehen, weil er glaubt, er müsse für sie sorgen, und dabei kann er nicht einmal für sich selbst sorge n.«

Sie holte noch einmal tief Luft. »Und dieser Idiot Athol Sheldon läuft herum und sagt ihnen, sie sollen sich einfach ganz normal benehmen und die Trauer, den Schmerz und das Grauen vergessen, als sei das alles nie geschehen. Es ist eine Verhöhnung der Wirklichkeit. Es macht mich so wütend, dass ich am liebsten Ihr fehlten die Worte. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so außer sich gesehen zu haben. Er wollte etwas sagen, um ihr zu zeigen, dass er sie verstand und ihren Zorn und Kummer nachfühlen konnte. Aber er nahm nur ihre Hände und hielt sie ganz sanft, bis er nach einer Weile spürte, wie ihre Finger ihm antworteten. Es war kein starker Druck, kein Festklammern, sondern nur das Wissen, dass der andere da war, eine Zuneigung, für die es keine Worte gab, vielleicht auch die Erinnerung an viele andere Gelegenheiten, bei denen sie dasselbe empfunden hatten, ohne zueinander zu finden. Der Klang von Schritten auf der Treppe machte diesem Augenblick des stummen Einverständnisses ein Ende. Hester löste sich langsam von ihm und drehte sich gerade zur Tür um, als Perdita eintrat.

»Oh!«, sagte sie, als sie Monk bemerkte. »Es tut mir Leid. Hester… ich weiss nicht, was ich tun soll! Es ist einfach unmöglich. Ich schaffe es nicht!« Sie war den Tränen nahe und benahm sich, als hätte sie Monks Anwesenheit schon wieder vergessen oder sei nicht in der Lage, sich um derlei zu kümmern.

Hester war drauf und dran die Geduld zu verlieren. Ihre starre Haltung drückte dies deutlich aus.

»Nun, wenn Sie es wirklich nicht können, sollten Sie es besser aufgeben«, antwortete sie. »Ich weiss nicht genau, was das heißt. Aber Sie werden es wohl wissen, sonst hätten Sie es nicht gesagt. Lassen Sie das Personal Gabriel versorgen, und führen Sie Ihr eigenes Leben. Ich weiss nic ht, ob Sie finanziell unabhängig sind. Vielleicht würde Athol Ihnen helfen. Oder wenn Sie ihn darum bitten, würde Gabriel Sie gewiss von Ihrem Eheversprechen entbinden. Er hat es Ihnen schon einmal angeboten. Das haben Sie mir erzählt, als ich hierher kam. Nur dass Sie damals sagten, Sie würden an so etwas nicht einmal im Traum denken.«

Perdita sah aus, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. Ihre Augen weiteten sich, und ihr Mund stand leicht offen.

»Ich bin sicher, Sie könnten sich noch einmal verheiraten«, fuhr Hester unbarmherzig fort. Ihre Stimme wurde immer schneidender. »Sie sind sehr hübsch, und Sie haben ein sehr fügsames und angenehmes Wesen… genau das, was die meisten Männer wollen…«

»Hören Sie auf!«, schrie Perdita sie an. »Sie meinen, ich bin dumm und feige und nur das zu tun in der Lage, was man mir befiehlt! Ich komme gut zurecht, so lange alles in bester Ordnung ist. Ich kann geziert im Park spazieren gehen und lächeln und Leuten schöntun und gehorsam sein. Ich weiß, wo mein Platz ist, und kann jedem das Gefühl geben, willkommen zu sein… und überlegen! Aber sobald etwas schief geht und man eine Frau mit Mut und Intelligenz braucht, laufe ich davon! Ich denke nur an mich selbst! Daran, wie ich mich fühle… und was ich will!« Ihre Lippen bebten, aber sie sprach dennoch weiter und funkelte Hester wütend an. »Dann kommen Sie und betreten die Bühne, so tapfer und selbstlos. Sie wissen, was zu tun und was zu sagen ist! Sie haben nie Angst, sind nie verwirrt. Nichts stößt Sie ab oder weckt in Ihnen den Wunsch, einfach wegzulaufen.«

Ihre Stimme wurde immer schriller. Das Personal musste sie bis in die Küche hören. »Nun, ich will Ihnen etwas sagen, Sie perfekte Krankenpflegerin! Kein Mann will eine Frau, die sich niemals irrt! Sie können nicht jemanden lieben, der sie nicht braucht, der niemals verletzlich oder ängstlich ist oder Fehler macht! Ich mag nicht halb so klug sein wie Sie und auch nicht halb so mutig, und vielleicht weiß ich auch nichts über indische Geschichte oder Soldaten oder darüber, wie es ist, einen echten Krieg mitzuerleben… aber das wenigstens weiß ich!«

Hester stand stocksteif da. Er war sich nicht sicher, glaubte aber, dass sie zitterte. Das war es, was sie gewollt hatte, was sie beabsichtigt hatte, als sie Perdita provozierte… zumindest vermutete er das. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass die Worte der anderen Frau ihr wehtaten. Es lag zu viel Wahrheit in ihnen, und doch waren sie gleichzeitig auch falsch.

»Sie lassen Ihrem Zorn zu sehr die Zügel schießen, Mrs.

Sheldon«, sagte er mit leiser, beherrschter Stimme. »Und Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Sie wissen nichts über Miss Latterly, abgesehen von dem, was Sie in diesem Haus erlebt haben. Es gibt unterschiedliche Männer und unterschiedliche Arten von Liebe. Manchmal sehnen wir uns nach einem sanftmütigen und anschmiegsamen Wesen, das unsere Eitelkeit befriedigt und an unseren Lippen hängt.« Er holte tief Luft.

»Und dann werden wir plötzlich mit einer härteren Realität des Lebens konfrontiert und mit einer Frau, die Mut und Intelligenz besitzt und uns auf gleicher Ebene begegnet, und dann entdecken wir, dass die Freude darüber die Unannehmlichkeiten und Ärgernisse bei weitem überwiegt.« Er sah sie unerbitterlich an. »Sie müssen das Beste geben, was Sie in sich haben, Mrs. Sheldon, aber Sie haben keinen Grund und kein Recht, jemanden zu kränken, den Sie nicht kennen. Miss Latterly mag nicht von vielen Menschen geliebt werden, aber sie wird sehr aufrichtig geliebt, aufrichtiger, als die meisten Frauen es sich erhoffen können.«

Brennende Röte überzog Perditas Gesicht. Sie war wütend und dazu sprachlos vor Verlegenheit. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Hester dagegen stand wie erstarrt da.

Monk konnte kaum glauben, dass er diese Worte selbst ausgesprochen hatte. Sein erster Impuls war, alles zu leugnen, es irgendwie ungeschehen zu machen und zu fliehen. Nur mit Macht konnte er diesem Drang widerstehen. Aber wenn er es tat, warum würde er es tun? Weil es nicht der Wahrheit entsprach oder weil er in Gefühlsdingen ein Feigling war? Sie würde die Antwort auf diese Frage nicht wissen, aber er wusste es. Es war nicht gelogen.

»Wenn Sie sich bei Miss Latterly entschuldigen wollen, wird sie die Entschuldigung gewiss annehmen«, sagte er förmlicher als beabsichtigt.

Hester holte tief Luft.

»Oh…«, seufzte Perdita. »Oh… ja. Es tut mir Leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich habe mich sehr schlecht benommen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Hester trat einen Schritt auf sie zu. »Nicht annähernd so schlecht, wie Sie vielleicht glauben. Und Sie haben zumindest teilweise Recht. Wir lieben andere Menschen tatsächlich ebenso für ihre Schwächen wie für ihre Stärken. Wir brauchen beides, um einander zu verstehen. Versuchen Sie es nur einfach weiter. Denken Sie daran, wie wichtig es ist!« Sie senkte die Stimme.

»Killian Melville ist tot. Es war wahrscheinlich Selbstmord.

Gestern Nacht.«

Perdita sah sie voller Entsetzen an, dann schaute sie zu Monk hinüber.

»Oh… das tut mir so Leid! Wegen des Prozesses? Weil er so war, wie er war, oder weil es gegen das Gesetz verstoßen hatte?«

»Mehr als das«, antwortete er ihr. »Melville war überhaupt kein Mann; ihr Name war Keelin, und sie war eine Frau. Sie kleidete sich wie ein Mann und benahm sich auch in allen Dingen wie einer, nur nicht bei Isaac Wolff. Es war die einzige Möglichkeit, ihren Beruf auszuüben und ihre gottgegebenen Talente zu nutzen.«

Er benutzte das Wort ›Gott‹, ohne darüber nachzudenken. Dann war es zu spät, es zurückzunehmen, und vielleicht hatte er ja auch gerade das gemeint.

Perdita rühr te sich nicht. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein langsames Begreifen dessen ab, was er gesagt hatte, und sie schien auch einen Teil von dem zu erfassen, was dahinter stand. Dann schüttelte sie den Kopf, zuerst kaum merklich, dann heftiger. Schließlich drehte sie sich um und ging zur Tür.

»Ich gehe wieder nach oben zu Gabriel. Ich werde es ihm erzählen. Es wird ihm furchtbar Leid tun. Es ist so - so endgültig! Es ist zu spät, um noch etwas zu retten… etwas zu sagen oder wieder gutzumachen.« Sie drehte unbeholfen den Türknauf und verließ hastig den Raum.

Nun wandte Hester sich endlich wieder Monk zu. Sie sah ihn forschend an. Er versuchte, sich auf eine Bemerkung zu besinnen, die weder nach einer Ausflucht noch banal klang oder ihn auf etwas festlegte, das er hinterher bedauern würde. Keelin Melville und Zillah Lambert kehrten in seine Gedanken zurück.

»Nun haben Sie ja Zeit, nach den Kindern von Marthas Bruder zu suchen«, sagte Hester leise. »Aber lassen Sie keine zu hohe Summe auflaufen, die sie nicht zahlen kann. Tun Sie nur, was Sie können.«

»Ich hatte nicht die Absicht, ihr eine Rechnung zu stellen!«, sagte er ein wenig beleidigt. Warum hatte sie ihm das unterstellt? Kannte sie ihn denn immer noch nicht gut genug?

»Und seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie ihr mitteilen«, fügte sie besorgt hinzu. »Ich befürchte, dass Ihre Ergebnisse von der allerschlimmsten Art sein werden.«

»Bezahlen Sie mich etwa?«, fragte er sarkastisch.

»Nein…«

»Dann hören Sie auf, mir Befehle zu geben!«, erwiderte er und steckte die Hände grimmig in seine Taschen. »Ich werde Ihnen sagen, was ich herausgefunden habe, falls da überhaupt etwas herauszufinden ist«, sagte er. »In ein oder zwei Tagen.«

»Vielen Dank.«

Er ging zur Tür und drehte sich um. Dann bedachte er sie mit einem kleinen Lächeln und ging hinaus.