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Während Rathbone auf Lady Hardestys Ball gelegentlich an sie dachte, saß Hester Latterly still in dem Raum, den man ihr für die Zeit ihres Aufenthalts in dem eleganten Haus an der nordwestlichen Ecke des Tavistock Square zugewiesen hatte. Es war das Haus von Lieutenant Gabriel Sheldon und Perdita, seiner jungen Frau. Lieutenant Sheldon war nach seinem Armeedienst in Indien ehrenhaft entlassen worden. Er war einer der wenigen Überlebenden des grauenvollen Aufstands, der Belagerung von Cawnpore, gewesen. Etwa zwei Jahre nach diesem furchtbaren Ereignis - er war in Indien geblieben -, im Winter 1859/60, zog er sich schreckliche Verletzungen zu. Er verlor einen Arm, wurde schwer entstellt, und zu Anfang rechnete niemand damit, dass er überleben würde.
Im Januar erachtete man seine teilweise wiederhergestellte Gesundheit als ausreichend, um ihn nach England zurückzubringen und als Invaliden aus der Armee zu entlassen. Er war jedoch weit entfernt von einem Zustand, in dem er ohne erfahrene Pflege hätte auskommen können, und die Schäden, die er im Gesicht erlitten hatten, waren derart, dass für seine Pflege nicht nur medizinische Kenntnisse und Erfa hrung, sondern auch ein besonderes Einfühlungsvermögen vonnöten war. Auch der Stumpf seines Arms war an manchen Stellen noch unverheilt und nicht ganz frei von Infektionen. Nicht einmal die Gefahr des Wundbrands ließ sich ausschließen.
Perdita war jung und hübsch und voller Lebenslust gewesen, als ihr gut aussehender Mann nach wenigen Monaten Ehe im Spätherbst des Jahrs 1856 zu seinem Regiment zurückkehren und nach Indien aufbrechen musste. Sie hätte ihn gern begleitet, aber sie befand sich im frühen Stadium einer Schwangerschaft, und es ging ihr alles andere als gut. Im Frühling hatte sie dann eine Fehlgeburt. Und 1857 geschah das Unerwartete. Die einheimischen Sepoys hatten einen Aufstand angezettelt, und die Revolte hatte sich wie ein Buschfeuer ausgebreitet. Männer, Frauen und Kinder wurden massakriert. Die Berichte, die nach England drangen, waren zu grauenhaft, um ihnen Glauben zu schenken. Täglich, ja beinahe stündlich, lasen die Leute die jüngsten Meldungen aus den belagerten Städten Cawnpore und Lucknow, von den Schlachten, die quer über den Kontinent tobten. Die Namen Nena Sanob, Koer Singh, Tanteea Topee und des Ranee von Jhansi kamen schließlich jedem mühelos über die Lippen. Zwei Jahre lang tobte auf dem indischen Kontinent die Gewalt. Weder für Perdita Sheldon noch für irgendeine andere Frau stellte sich die Frage, ob sie England verließ und ihrem Gatten nachreiste.
Als alles vorüber war und die Lage sich wieder beruhigt hatte, konnte nichts je wieder so sein wie zuvor. Das Vertrauen war für alle Zeit dahin. Gabriel Sheldon stand noch immer als aktiver Soldat im Dienst seines Regiments und war hauptsächlich in dem zerklüfteten Land im Nordwesten stationiert, in der Nähe der Grenze am Khaiberpass, der über den Himalaja nach Afghanistan führte. Perdita blieb in England und träumte von der Rückkehr ihres Mannes und dem Leben, das er ihr versprochen hatte.
Deshalb hatte Gabriels Bruder, Athol Sheldon, die beste Krankenschwester eingestellt, die er finden konnte. Hester Latterly zog in den Tavistock Square, um Gabriel zu pflegen, so lange sich dies als notwendig erweisen sollte.
Jetzt war es für den Hausstand eines Invaliden schon recht spät am Abend, und sie hatten bereits diniert: Perdita unten mit ihrem Schwager Athol, Gabriel auf seinem Zimmer und mit Hesters Hilfe. Hester selbst hatte nur kurz im Dienstbotenzimmer etwas zu sich genommen und sich wieder nach oben begeben, als das Tablett mit dem Abendessen für Gabriel fertig war.
Zu dieser Tageszeit hatte sie keine besonderen Pflichten, sondern musste lediglich verfügbar sein, falls man nach ihr verlangte. Gabriel betätigte die Glocke an seinem Bett, wenn er sich zur Ruhe begeben wollte oder in irgendeiner Hinsicht Hilfe benötigte. Es gab nichts zu flicken, und alle schmutzigen Sachen waren längst gewaschen. Hester hatte sich ein Buch aus der Bibliothek geholt, dessen Lektüre ihr jedoch recht mühsam erschien.
Es war kurz nach zehn, als die Glocke endlich erklang und sie das Buch mit Freuden zuklappen konnte. Sie machte sich nicht die Mühe, ein Lesezeiche n zwischen die Seiten zu legen, sondern ging mit schnellem Schritt den kurzen Weg über den Flur zu Gabriels Zimmer und klopfte an die Tür.
»Herein!«, antwortete er sofort.
Es war der größte Raum des Stockwerks, und man hatte ihn so hergerichtet, dass Gabriel nicht nur des Nachts darin schlafen, sondern tagsüber dort auch lesen oder ruhen konnte.
Sie zog die Tür hinter sich zu. Sein Bett stand am anderen Ende des Raums, ein prachtvolles Möbel, kunstvoll geschnitzt an Kopf und Fußende. Es befanden sich so viele Kissen darin, dass Gabriel einigermaßen behaglich sitzen konnte. Man hatte eine spezielle Vorrichtung konstruiert, auf die er ein Buch oder eine Zeitung legen konnte, um zu lesen oder zu schreiben, ohne dass ihm dabei das Papier wegrutschte. Glücklicherweise war er Rechtshänder, und es war der linke Arm, den er verloren hatte.
Aber wenn man ihn das erste Mal sah, bemerkte man nicht den leeren Ärmel, sondern die furchtbare Entstellung seines Gesichts, dessen linke Seite vom Wangenknochen bis zum Kiefer tief vernarbt war. Die rote Linie der Fleischwunde würde nie mehr verschwinden, auch nicht das feine, erhabene weiße Zickzackmuster dort, wo man bereits auf dem Schlachtfeld die Haut hastig zusammengenäht hatte. Nach dem anfänglichen Schock konnte man sich jedoch mühelos vorstellen, was für ein gut aussehender Mann er vor der Verletzung gewesen war. Sein Gesicht war beinahe schön in seinen einfachen Linien, in der Ausgewogenheit von Nase, Wangen und Kinn. Die hohe Stirn war auch heute noch ohne Makel, das dunkelbraune, gewellte Haar wunderbar voll. Seine haselnussbraunen Augen hatten einen klaren Blick. Nur der Mund war vor Schmerz verzerrt.
»Ich habe genug von diesem Buch«, sagte er enttäuscht. »Es ist nicht besonders interessant.«
»Meins auch nicht.« Sie lächelte ihn an. »Ich habe mir nicht einmal ein Lesezeichen hineingeigt. Soll ich Ihnen für morgen etwas anderes heraussuchen?«
»Ja bitte. Obwohl ich nicht weiß, was.«
Sie nahm das Buch und rollte vorsichtig das Lesegestell zur Seite. Es war klug erdacht und recht leicht zu handhaben.
Gabriel hatte sich rastlos hin und her gewälzt und sein Bettzeug verknittert. Es waren nicht nur die schlecht heilenden Wunden und die Phantomschmerzen des amputierten Arms, die ihm körperlich zu schaffen machten, sondern auch der Aufruhr seiner Gefühle. Er fühlte sich hässlich, unnütz und hilflos. Er hatte keine Funktion mehr in einem Leben, das sich unendlich vor ihm erstreckte. Er würde für alle Zeit von der Hilfe anderer abhängig sein, ein Schrecken für diejenigen, die nichts von den Gräueln des Krieges wussten, während die anderen ihm Mitleid entgegenbringen würden. Das Schlimmste war vielleicht die Tatsache, dass er seine Gefühle nicht mit seiner Frau teilen konnte. Seine Existenz fesselte sie an einen Mann, den anzusehen oder zu berühren ihr höchst peinlich war. Er hatte ihr angeboten, sie aus der Ehe zu entlassen, wie die Ehre es von ihm verlangte. Und wie die Ehre es verlangte, hatte sie sein Angebot abgelehnt.
»Interessiert Sie irgendein besonderes Thema?«, fragte Hester, während sie ihm die Hand reichte, um ihm zu helfen. Mühsam warf er die Decke zurück und stieg aus dem Bett, damit sie es frisch beziehen konnte. Seit er seinen Arm verloren hatte, kam er häufig aus dem Gleichgewicht.
Er zwang sich zu einem Lächeln, und sie wusste, dass er diese Anstrengung ihretwillen unternahm und auch weil seine guten Manieren es ihm geboten.
»Mir fällt nichts ein«, gab er zu. »Ich habe bereits alles gelesen, was ich lesen wollte.«
»Dann werde ich mich darum kümmern, etwas ganz anderes für Sie zu finden«, sagte sie beiläufig. Während er auf dem Stuhl am Bett Platz nahm, zog sie die alten Bettbezüge ab und strich die frischen Laken glatt. Sie wollte mit ihm nicht über belanglose Dinge sprechen, sondern etwas sagen, das ehrlich war, ihn aber nicht schmerzte, das nicht in Bereiche eindrang, die er vielleicht noch nicht bereit war zu betreten oder vor fremden Augen bloßzulegen. Immerhin befand sie sich erst seit einigen Tagen hier, und sie war weder eine Familienangehörige noch eine Freundin, noch eine Dienstbotin.
Sie wusste bereits sehr viel über seine intimen körperlichen Bedürfnisse, weit mehr als irgendjemand sonst, aber was seine Geschichte, seinen Charakter oder seine Empfindung betraf, konnte sie nur raten.
»Was haben Sie denn gelesen?«, fragte er, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte.
»Einen Roman über Leute, die zu mögen mir einfach nicht gelungen ist«, erwiderte sie mit einem Lachen. »Ich fürchte, es interessiert mich nicht im Mindesten, ob sie jemals eine Lösung für ihre Probleme gefunden haben oder nicht. Ich denke, das nächste Mal versuche ich es vielleicht mit etwas Sachlichem, vielleicht einer Beschreibung von Orten, die ich wahrscheinlich nie besuchen werde.«
Er schwieg eine Weile.
Sie machte ohne Hast das Bett fertig.
»Wir haben ziemlich viel über Indien«, sagte er schließlich.
Sie bemerkte eine Modulation in seiner Stimme, die diesen Worten eine zusätzliche Bedeutung gab. Er musste furchtbar einsam sein. Er bekam nur wenige Menschen zu Gesicht, außer Perdita, und bei ihren Besuchen wusste keiner, was er sagen sollte. Sie mühten sich mit Platitüden ab, und auf sekundenlanges Schweigen folgten eilig hervorgestoßene, unzusammenhängende Worte. Er war beinahe erleichtert, wenn sie wieder ging.
Sein Bruder Athol war ein Mann, der zu übertriebenen Gefühlsausbrüchen neigte, der energische Ansichten in Bezug auf Gesundheit und Moral vertrat und ganz allgemein einen Optimismus verbreitete, der bisweilen das Maß des Erträglichen überschritt. Er weigerte sich, Gabriels Leiden zur Kenntnis zu nehmen oder auch nur den Versuch zu machen, es zu verstehen. Vielleicht machte es ihm Angst, denn seine Philosophie hatte keine Antwort dafür parat. Es war etwas, das sich jeder Kontrolle entzog, und Athols Selbstsicherheit kam aus der Überzeugung, dass der Mensch Herr seines Lebens war oder sein konnte und auf jeden Fall werden musste.
»Sie wissen doch sicher mehr über Indien als die meisten Schriftsteller«, bemerkte sie und vergaß für einen Augenblick die Wäsche. Sie sah Gabriel aufmerksam an und versuchte, den Ausdruck in seinen Augen zu deuten.
»Zum Teil«, pflichtete er ihr bei. Er beobachtete sie mit der gleichen Eindringlichkeit und fragte sich offensichtlich, was er ihr erzählen konnte, ohne dass sie von Dingen, die über ihr Verständnis gingen, allzu sehr erschreckt würde. »Interessieren Sie sich für Indien?«
Sie brachte diesem Land kein besonderes Interesse entgegen, aber sie interessierte sich für ihn. Sie wandelte die Wahrheit ein wenig ab. »Für das aktuelle politische und vor allem militärische Geschehen dort.«
Der Zweifel in seinen Augen war unübersehbar.
»Militärisches Geschehen, Miss Latterly?« Auch in seiner Stimme schwang eine Spur von Ungläubigkeit mit, als misstraue er ihren Motiven und fürchte, dass sie ihm nach dem Mund redete. »Haben Sie einen Bruder bei der Armee?«
Sie lächelte, weil er automatisch davon ausging, dass es sich nicht um einen Geliebten handeln würde. Er fand gewiss, sie sei zu alt für etwas Derartiges oder nicht hübsch genug. Es war gedankenlos. Er hatte sicher nicht die Absicht, sie zu kränken.
»Nein, Lieutenant, mein älterer Bruder ist Geschäftsmann, und mein jüngerer Bruder wurde auf der Krim getötet. Ich habe eigene Gründe, mich für Militärgeschichte zu interessieren.«
Er wusste, dass er ungeschickt gewesen war, obwohl er nicht recht hätte sagen können, inwiefern. Sie konnte es in seiner Miene lesen, in seinen Augen.
Plötzlich wurde ihr klar, wie wenig sie ihm von sich selbst erzählt hatte, und vielleicht war auch Athol in dieser Hinsicht nicht sehr mitteilsam gewesen. Möglicherweise sah er in ihr nur eine bessere Dienerin, und so lange ihre Referenzen hinreichend waren, war alles weitere überflüssig. Man schloss nicht Freundschaft mit Dienstboten, erst recht nicht mit solchen, deren Anstellung nur vorübergehend war.
Sie lächelte ihn an. »Ich habe sehr entschiedene eigene Meinungen im Hinblick auf die medizinische Versorgung der Armee, Ansichten, von denen die meisten mich seit meiner Rückkehr nach England in Schwierigkeiten gebracht haben.«
»Rückkehr?«, fragte er hastig. »Von wo?«
»Von der Krim. Hat Mr. Sheldon Ihnen das nicht gesagt?«
»Nein.« Sein Interesse war sofort geweckt. »Sie waren auf der Krim? Das ist ja wunderbar! Nein… Er sagte nur, Sie seien die beste Pflegerin, um extreme Verletzungen zu versorgen. Er hat nicht gesagt, warum.« Er beugte sich lebhaft auf seinem Stuhl vor. »Dann müssen Sie einige furchtbare Dinge mit angesehen haben, Hunger und die Ruhr, Cholera, Pocken…. Wundbrand….«
»Ja«, pflichtete sie ihm bei, während sie das Bett glatt strich.
»Und Zorn und Verzweiflung und Inkompetenz, die jedes vorstellbare Maß überschritt. Und Ratten… Tausende von Ratten.« Die Erinnerung an diese Tiere war etwas, das sie nie vergessen würde: das Geräusch ihrer dicken Leiber, wenn sie sich von den Wänden fallen ließen, um zwischen den Verwundeten hindurchzulaufen. Die Männer lagen auf dem Fußboden, inmitten des Unrats, den zu entfernen niemand die Zeit oder die Gerätschaft hatte… Es war dieses schwere Platschen, das Huschen winziger Füße, das ihr selbst heute noch, vier Jahre später, die Haare zu Berge stehen ließ.
Er schwieg, während sie ihm wieder ins Bett half und die Decken über ihm ausbreitete.
»Nein…«, sagte er schnell, als sie Anstalten machte, die Kissen wegzunehmen. »Bitte, lassen Sie sie liegen. Ich möchte noch nicht schlafen.«
Sie trat einen Schritt zurück.
»Miss Latterly!«
»Ja?«
»Erzählen Sie mir ein wenig von der Krim. Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Sie setzte sich auf den Stuhl und drehte sich mit dem Gesicht zu ihm.
»Ich nehme an, vieles davon ist Ihnen wohl vertraut«, begann sie und ließ ihre Gedanken zurückwandern in jene Zeit vor sechs Jahren, als der Krieg gerade erst begonnen hatte. »Zahllose Männer, einige gerade angekommen und voller Kampfgeist, ohne die geringste Vorstellung, was sie erwartete. Es war ein unglaubliches Gedränge, und die Soldaten waren so voller Mut und bereit loszustürmen, wann immer der Befehl dazu gegeben wurde. Das Herz tut einem weh für sie, weil man weiß, wie anders das alles in nur wenigen Wochen sein wird. Niemand sonst würde glauben, dass eine so kurze Zeit einen Menschen so sehr verändern kann….«
»Ich würde es glauben!«, sagte er sofort. Er wollte sich zu ihr umdrehen und verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht, als er instinktiv versuchte, die Hand auszustrecken, die nicht da war.
Sie ignorierte den Zwischenfall und gab ihm Zeit sich wieder aufzurichten.
»Wussten Sie, dass die ganze Belagerung von Cawnpore nur vom fünften Juni bis zum siebzehnten Juli gedauert hat?«, fragte er. Er musterte sie eindringlich, um zu sehen, was diese Tatsache für sie bedeutete. Hatte sie einige der Berichte über dieses unbeschreibliche Ereignis gelesen? Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was das bedeutete? Die meisten Menschen verstanden nichts von alledem. Er hatte versucht, mit seinem Bruder darüber zu sprechen, aber Athol hatte nie im Leben eine Erfahrung gemacht, mit der er die Belagerung hätte vergleichen können. Gabriel hätte ebenso gut von den Geschöpfen und den Vorkommnissen in einer anderen Welt reden können. Solche Gefühle ließen sich nicht beschreiben, man musste sie erleben. Der Gedanke, Perdita davon zu erzählen, war ihm nie gekommen. Das wenige, was sie vielleicht verstehen würde, würde sie nur verwirren und bekümmern. Seine Leidenschaft und seine Trauer würden ihr Angst machen, sie vielleicht abstoßen. Er musste das Wissen um diese Dinge allein tragen, und es ging beinahe über seine Kräfte.
»Ich hätte den Aufstand zeitlich nicht zuordnen können«, gab sie zu. »Aber ich weiß, dass Ereignisse, die die Blüte einer Generation vernichten und unheilbare Wunden hinterlassen, sich innerhalb von einem oder zwei Tagen abspielen können.«
Er war verunsichert. In seinen Augen flackerte die Hoffnung auf, dass er mit seinen Erinnerungen und seinem Wissen vielleicht doch nicht allein dastand.
»Ich habe den Sturmangriff der Leichten Infanterie bei Balaklava miterlebt«, sagte sie sehr leise. Sie hatte ihre Stimme noch immer nicht recht unter Kontrolle, wenn sie darüber sprach. Schon allein die Worte schnürten ihr die Kehle zu und ließen Träne n in ihre Augen treten. Der süßliche, klebrige Geruch von Blut brachte ihr stets aufs Neue die Erinnerungen zurück, den überwältigenden Schmerz im Angesicht so vieler verstümmelter und sterbender Männer, von denen viele kaum die Zwanzig erreicht hatten. Hinter ihren geschlossenen Augenlidern konnte sie die Männer in den bizarrsten Körperhaltungen sehen, während sie versuchten, mit den Händen ihre eigenen Blutungen zu stillen.
Gabriel schüttelte schweigend den Kopf, und in diesem Augenblick wusste sie, dass er genauso furchtbare Dinge erlebt hatte. Sie brannten hinter seinen Augen und suchten ihn in seinen Träumen heim. Er musste mit irgendjemandem darüber sprechen, nicht offen vielleicht, aber doch in Andeutungen, genug, um seine schreckliche Einsamkeit zu d urchbrechen. Denn es bedeutete Einsamkeit, unter Menschen zu leben, die nichts von alldem wussten, die von diesen Dingen wie von einem Roman sprachen.
Sie stellte ihm die unvermeidliche Frage. Der Aufstand hatte ganz Indien von Kalkutta über Delhi bis hin zu den Bergpässen nach Afghanistan verwüstet, wo die Luft in der großen Höhe immer dünner wurde und Gipfel in den Himmel ragten, auf denen der Schnee seit Jahrtausenden nicht mehr geschmolzen war.
»Waren Sie in Cawnpoe?« Er nickte.
»Bei der Entsatztruppe?«
»Nein… Ich..« Er sah sie mit ruhigem Blick an. »Wir waren über neunhundert, wenn man die Frauen und Kinder und die Zivilisten mitzählt. Ich war einer von vier Überlebenden.« Während er sie mit starrem Blick ansah, füllten seine Augen sich mit Tränen.
Was konnte man darauf erwidern?
»So eine Grausamkeit habe ich nie mit ansehen müssen.« Sie sprach sehr leise, eine simple, schlichte Wahrheit. »Die Toten, die ich gesehen habe, waren auf dem Schlachtfeld gefallen. Männer, die nach Zahl oder Bewaffnung unterlegen waren, ausgesandt, um uneinnehmbare Stellungen zu erstürmen, aber eben doch Soldaten, auch wenn ihr Leben sinnlos verschwendet worden war. Oder Menschen, die an Hunger, Kälte und Krankheiten zu Grunde gingen. Wussten Sie, dass viel mehr Soldaten von Krankheiten dahingerafft werden als von Gewehrschüssen?« Sie schüttelte ein wenig den Kopf. »Aber ja, natürlich wussten Sie das. Aber einen solchen Hass, wie Sie ihn beschreiben, habe ich nie gesehen, eine solche Barbarei, der jedes lebende Wesen zum Opfer fiel. Die Belagerei, der jedes lebende Wesen zum Opfer fiel. Die Belagerung von Sebastopol war zumindest… militärisch.«
Er klammerte sich an ihr Verständnis und ließ sie keine Sekunde aus den Augen.
»Es begann am fünften Juni«, sagte er. »Der Aufstand hatte sich seit Ende Februar schon über das ganze Land ausgebreitet. Es hatte in Meerut und Lucknow Unruhen wegen der Patronen gegeben. Wissen Sie, wie das mit den Patronen war?« Er beobachtete sie genau. »Sie wurden mit tierischem Fett geschmiert. Wenn man Schwein nahm, war es für die muslimischen Soldaten unrein, nahm man Rinderfett, sahen die Hindus es als Blasphemie an, da für sie die Kuh ein heiliges Tier ist. Am siebten Mai brach in Lucknow ein offener Aufstand aus, am sechzehnten Mai rebellierten in Meerut die Pioniere. Bis zum zwanzigsten hatte sich die Rebellion nach Murdan und Allygurh hin ausgeweitet. Am Tag danach begannen wir in Cawnpore mit unserer Verschanzung.«
Sie nickte.
»Am vierundzwanzigsten rebellierte in Hattrass die berittene Truppe von Gwalior«, fuhr er fort. »Bis zum achtundzwanzigsten hatte der Aufstand sich nach Nuseerabad ausgedehnt. Am einunddreißigsten folgte Shahjehanpoor, am dritten Juni Alzimghur, Seetapoor, Mooradabad und Neemuch. Am Tag danach Benares und Jhansi. Am fünften waren wir es.« Er holte tief Atem, aber seine Stimme veränderte sich nicht.
»Später erfuhr ich dann, dass am sechsten Allahabad, Hansi und Bhurtpore hinzukamen. In der folgenden Woche dann Jullunur, Fyzabad, Badulla Serai, Sultanpore, Futtehpore, Pershadeepore… und so weiter und so weiter. Ich könnte Ihnen jede Garnison in Indien nennen. Es war niemand da, der uns hätte helfen können.«
Sie konnte es sich vorstellen. Die Isolation und die verzehrende Angst mussten wie eine Flutwelle gewesen sein, die alles unter sich begrub.
Er musste wissen, dass sie es ertragen konnte, davon zu hören.
»Wie hat es angefangen?«, fragte sie. »Mit Kanonen?«
»Nein. Nein, die gesamten einheimischen Truppen steckten ihre Unterkünfte in Brand und marschierten auf die Schatzkammer zu, wo sich ihnen die Truppen von Nena Sahib anschlossen… Ein Name, den ich übrigens noch immer kaum über die Lippen bringe.« Sein Gesicht war starr vor Kummer.
Sie saß still da und wartete.
»Er hatte tausende einheimischer Soldaten«, fuhr er fort. »Wir waren nur ein paar hundert Mann, mit dreihundert Frauen und genauso vielen Kindern. Dazu kamen dann natürlich noch die Zivilisten, ganz gewöhnliche Leute: Händler und Krämer, Dienstboten und Pensionäre. General Sir Hugh Wheeler führte das Kommando. Er befahl uns, uns in die Kasernen und das Militärhospital zurückzuziehen. Wir konnten unmöglich die ganze Stadt halten.« Er runzelte die Stirn, als seien ihm die Vorgänge von damals noch immer ein Rätsel. »Warum er sich stattdessen nicht für die Schatzkammer entschieden hat, weiß ich nicht. Die Schatzkammer lag an einem erhöhten Platz und hatte weitaus solidere Mauern. Darin hätten wir uns vielleicht verteidigen können. Ich denke… Ich denke, er konnte einfach nicht glauben, dass wir es allein mit ihnen würden aufnehmen müssen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Sepoys sich, wenn es ernst würde, nicht loyal verhalten würden.« Er brach erneut ab. Seine Hand krampfte sich um die Decke, entspannte sich, krampfte sich wieder zusammen. »Natürlich hat er sich geirrt.«
»Ich weiß«, sagte sie leise. »Hatten Sie Lebensmittelvorräte und Munition?«
Er sah sie eindringlich an.
»Die Nahrungsvorräte waren bescheiden, Munition hatten wir genug. Aber es fehlte uns an Deckung. Es dauerte nur wenige Tage, bis die Mauern von Schüssen so durchlöchert waren, dass wir Gräben ausheben mussten und Wagen, Truhen und Möbelstücke über uns ziehen, um uns so gut wie möglich zu schützen. Die Hitze war für viele Menschen unerträglich.«
Sie versuchte, sich Indien im Juli vorzustellen. Es überstieg alles, was sie bisher kennen gelernt hatte.
»Ich weiß nicht, wie viele daran gestorben sind«, sagte er, während er sie noch immer beobachtete. Er musste von dem Verlust seiner Freunde sprechen, der Menschen, die er Unvorstellbares hatte erleiden sehen - und war sich doch gleichzeitig darüber im Klaren, wie dieses Wissen sich auf sie auswirken konnte. Und er musste sicherstellen, dass es keine leeren Beschreibungen waren, denen sie nicht würde folgen können. Er brauchte ihre Kameradschaft und ihren Beistand in seiner Trauer.
»Ich nehme an, es war schlimmer als die Kälte«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe Menschen erfrieren sehen und auch Tiere.«
»Der Geruch«, antwortete er. »Es war der Geruch… und die Fliegen, die ich am meisten gehasst habe. Ich kann das Geräusch von Fliegen noch immer nicht ertragen. Mir wird übel davon, und ich bekomme keine Luft mehr. Ich habe das Gefühl, als müsse ich ersticken, als würde mir das Herz im Leib zerspringen.«
»Sie sind nicht entsetzt worden?« Sie erinnerte sich, dass sie in der Illustrated London News etwas darüber gelesen hatte. Der Bericht war schrecklich gewesen, und das trotz der Zensur für die allgemeine Öffentlichkeit.
»Nein.« Das Wort wog so schwer wie ein Stein. »Wir haben jeden Tag damit gerechnet, dass Hilfe kommen würde. Wir wussten ja nicht, dass das ganze Land in Aufruhr stand. Einer nach dem anderen fielen wir und nahmen so viele Feinde mit, wie wir nur konnten. Noch nie habe ich größeren Mut gesehen. Jeder gesunde Mensch tat, was er konnte, Männer und Frauen gleic hermaßen. Jeder Mann übernahm seinen Teil an der Wache. Die Frauen pflegten die Kranken, kümmerten sich um das Essen und Trinken, versuchten, die Kinder zu schützen.«
Er rieb mit der Hand fest über das Laken. Mit dieser hektischen Bewegung verschaffte er sich ein Ventil für seine Anspannung, auch wenn seine Muskeln vollkommen verkrampft waren. Sie hatte diese Reaktion schon früher bei Männern gesehen, die sich an alptraumhafte Ereignisse erinnerten. Im Raum herrschte vollkommene Stille.
»Wir waren gute Schü tzen«, nahm er den Faden seiner Geschichte schließlich wieder auf. »Wir haben sie in Schach gehalten. Sie haben uns nicht angegriffen und uns auch nicht überrannt. Aber es waren so viele und sie konnten uns mit ihren Gewehren leicht erreichen. Sie schossen auf alles, was sich bewegte. Jeden Tag glaubten wir, dass nun Hilfe käme. Es war so heiß. Kein Entrinnen vor der Hitze. Man konnte den Geruch der Hitze riechen, konnte sie überall spüren. Der Schweiß trocknete, kaum dass er einem ausgebrochen war. Jede Berührung der Haut schmerzte. Sie war rissig und voller Blasen.« Er zuckte kaum merklich die Achseln. »Ich weiß nicht, warum ich das erwähne. Es hat kaum eine Rolle gespielt. Wir sind an Hitzschlag und an der Ruhr gestorben… Zumindest jene, die nicht an ihren Verletzungen zu Grunde gingen. Was spielte es da noch für eine Rolle, wenn Leisten oder Achselhöhlen wie Feuer brannten?«
»Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, das, was man zusätzlich nicht mehr ertragen kann«, antwortete sie. »Für mich waren es die Ratten… Überall Ratten, die von den Wänden fielen.«
Er lächelte - ein unverhofftes, breites Grinsen, das seinem Gesicht trotz der Entstellung Schönheit verlieh. Nicht aus Amüsiertheit, sondern nur aus der wunderbaren Erleichterung heraus, nicht allein zu sein.
»Aber Sie haben überlebt«, sagte sie. Sie vermutete, dass dieser Umstand ein Teil der Folter war, die ihn von innen zerfraß. Sie hatte diese Reaktion schon früher bei Männern beobachtet, die miterleben mussten, wie um sie herum die Gefä hrten fielen - aus keinem anderen Grund als dem, dass der Zufall sie gerade an diesen Platz gestellt hatte. Einen Meter weiter in diese oder jene Richtung, und es hätte einen anderen getroffen. In der einen Minute waren sie lebendig, voller Geist und Gefühl, in der nächsten waren sie nur noch eine verstümmelte Masse aus Blut und Knochen, aufgerissenem Fleisch und Schmerz… Man wurde einfach dieses Schuldgefühl nicht los, zu denen zu gehören, die überlebt haben. Ein Teil der eigenen Seele wünschte sich, bei den anderen zu sein.
Sein Lächeln erlosch, aber er wich auch jetzt ihrem Blick nicht aus.
»Am vierundzwanzigsten Juni kam Mrs. Greenway mit einem Schreiben von Nena Sahib zu unserer Verschanzung. Ich kann noch immer ihr Gesicht sehen. Sie war alt, sehr alt. Sie erschien mir wie eine Verkörperung von Zeit… oder von Tod. Die Rebellen hatten sie gefangen genommen und mit den Kapitulationsbedingungen zu uns geschickt.« Seine Stimme klang rau. »Nena Sahib versprach, nicht nur die Überlebenden der Garnison unbelästigt abziehen zu lassen, sondern ihnen sogar Transportmittel für die Frauen und Kinder zur Verfügung zu stellen, wenn wir nur das ganze Geld, die Vorräte und die Waffen den Aufständischen überließen.«
Sie sah ihm fest in die Augen. Das Entsetzen steckte noch immer so sehr in seinen Knochen, dass es ihn ganz auszufüllen schien. Es war wie ein Sturm kurz vor dem Ausbruch.
»Die Bedingungen wurden angenommen.« Seine Stimme senkte sich zu einem angestrengten Flüstern. »Am siebenundzwanzigsten Juni haben wir uns den Bedingungen entsprechend unterworfen und die Garnison einer nach dem anderen verlassen. Die Frauen und Kinder wurden zu Booten auf dem Fluss geführt… Es waren kleine Strohunterstände darauf… zum Schutz vor der Sonne. Der zuständige Mann hieß Tanteea Topee. Er saß auf einem Podest und behielt alles im Auge. Auf seinen Befehl ertönte ein Signalhorn, dann kamen sie mit Waffen herbeigestürmt, die sie bis dahin verborgen gehalten hatten. Sie haben auf die Boote geschossen. Das Stroh fing Feuer. Frauen und Kinder verbrannten bei lebendigem Leib. Einige sprangen in den Fluss, aber die Sepoys ritten mit ihren Pferden ins Wasser, gingen mit Knüppeln und Säbeln auf sie los und schlugen sie in Stücke. Einige schafften es, sich bis ans gegenüberliegende Ufer zu retten.«
Hester schloss die Augen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie wollte es nicht, tat es aber, ohne darüber nachzudenken.
»Dann befahl Nena Sahib, alle noch verbliebenen Männer zu erschießen«, fuhr Gabriel fort. »Die Frauen und Kinder, die es bis ans Ufer geschafft hatten, ließ er in seine Residenz bringen. Auch sie wurden in Stücke gehackt und ihre Leichen in den Brunnen geworfen.«
Sie sah ihm wieder ins Gesicht. Sie durfte vor diesen Dingen nicht weglaufen. Es war alles Vergangenheit. Nichts davon konnte noch jemandem wehtun. Aber Gabriel durfte mit diesen grauenhaften Erlebnissen nicht allein gelassen werden. Er war der einzige Überlebende dieser Katastrophe, dem sie helfen konnte.
Er sprach weiter.
»Als General Havelocks Männer das Haus schließ lich fanden, war der Boden zwei Zoll tief mit menschlichem Blut bedeckt.
Sie fanden auch die zerhackten Glieder und Leichen im Brunnen. Eine der Töchter General Wheelers hatte zu den massakrierten Frauen gehört. Sie schickten eine Locke von ihrem Haar als Erinnerungsstück an ihre Familie nach Hause, nach England.« In dem stillen Raum, der nach sauberer Wäsche und Kerzenwachs roch, klang seine Stimme sehr tief und leise.
»Den Rest des Skalps teilten sie unter sich auf, und dann zählte jeder Mann die einzelnen Haare auf seinem Stück und schwor beim Himmel und bei dem Gott, der ihn geschaffen hatte, für jedes Haar einen Rebellen zu töten. Ich weiß es, weil einer dieser Männer ein Freund von mir war. Er weinte sogar noch, als er mir davon erzählte. Wenn er sich an dieses Haus und das, was sie darin fanden, erinnerte, schrie er im Schlaf auf.«
»Wie sind Sie entkommen?«, fragte sie ihn.
»Ich bekam einen Schlag auf den Kopf und wäre beinahe ertrunken«, erwiderte er. »Aber der Fluss hat mich ein Stück weiter stromabwärts an Land gespült. Ich habe so lange besinnungslos dagelegen, dass sie mich wahrscheinlich für tot hielten. Als ich wieder zu mir kam, hatten sie ihre Beute und die überlebenden Gefangenen mitgenommen und waren fort. Dann kamen die schlimmsten zwei Wochen meines Lebens… Ich weiß nicht, wie ich es überlebt habe, aber ich habe mich bis nach Futteypore durchgeschlagen und dort General Havelocks Männer getroffen. Ich war fast tot und im Kampf zu nichts mehr nutze, aber sie haben mich gepflegt. Ich habe mich erholt.« Er lächelte, als überraschte ihn diese Tatsache bis heute. »Ich war nicht einmal schwer verletzt; ich hatte lediglich einige Brandwunden, war halb verhungert und dem Zusammenbruch nahe.« Er warf einen Blick auf seinen leeren Ärmel. »Den da habe ich erst vor ein paar Monaten verloren. Bei einer dummen Straßenschlägerei, die ich unterbinden wollte. Aber das brauchen Sie sich nicht anzuhören.«
Was er meinte, war, dass er es nicht noch einmal durchleben wollte.
»Nein, natürlich nicht«, pflichtete sie ihm bei. Dann erhob sie sich langsam und musste feststellen, dass ihre Beine zitterten und sie Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Sie streckte eine Hand aus, um sich abzustützen.
»Danke, dass Sie mir zugehört haben«, sagte er ernst. »Ich… ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr belastet… Aber ich habe sonst niemanden. Die anderen wollen es nicht wissen. Sie glauben, es wäre viel besser für mich, wenn ich alles vergessen würde… Aber wie könnte ich das? Es würde mir als ein schlimmer Verrat erscheinen… Selbst wenn es möglich wäre! Was für ein Mann wäre ich, wenn ich einfach weitermachen könnte, geradeso, als hätten diese Menschen nie gelebt… Und als wären sie niemals auf diese Weise gestorben?«
»Man vergisst nie«, pflichtete sie ihm bei und dachte an einige ihrer eigenen Erinnerungen, an Männer und Frauen, die schwach und tapfer waren und einen schrecklichen Tod erleiden mussten. »Aber Sie können nicht erwarten, dass andere Leute eine Erfahrung mit Ihnen teilen, die sie nicht begreifen.« Sie zog überflüssigerweise die Bettdecken glatt. »Es ist ein Teil Ihres Lebens und wird es immer sein… Aber es ist nicht alles.«
Er sah sie kläglich an, gab aber keine Antwort.
Sie warf einen Blick auf seinen Nachttisch, um sicherzugehen, dass er Wasser und ein sauberes Glas hatte.
»Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun könnte?«
»Nein«, antwortete er tonlos. »Nein, vielen Dank. Werden Sie - werden Sie noch ein wenig mit Perdita zusammensitzen?«
Sie wusste, was er wirklich meinte. Sie war sich darüber im Klaren, wie sehr er darunter litt, dass er nicht mehr der Ehemann, Gefährte und Beschützer sein konnte, der er ihr versprochen hatte zu sein. Stattdessen hätte er ihre Kraft und ihre Hilfe gebraucht, nicht nur in körperlicher, sondern auch in seelischer Hinsicht.
»Ja«, sagte sie mit einem ermutigenden Lächeln. »Sobald ich weiß, dass Sie alles haben, werde ich zu ihr gehen.«
Er entspannte sich. Zumindest um den heutigen Abend brauchte er sich keine Sorgen zu machen. »Ich danke Ihnen. Gute Nacht, Hester.« Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er ihren Vornamen benutzt.
»Gute Nacht, Gabriel«, antwortete sie von der Tür aus und zog sie dann leise hinter sich zu.
Es war nach elf Uhr, aber da sie ein Versprechen gegeben hatte, ging sie die Treppe hinunter, um nachzusehen, ob Perdita noch auf war.
Als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, richtete Perdita sich auf dem Sofa, auf dem sie halb schlafend gelegen hatte, abrupt auf. Ihr Haar war zerzaust, und sie blinzelte in dem trüben Licht der einen Wandlampe, die noch brannte. »Wie geht es ihm?«, erkundigte sie sich ängstlich. »Geht es ihm gut?«
Hester schloss die Tür und ging auf den Stuhl neben dem Sofa zu und setzte sich. Sie betrachtete Perditas erschrockene Augen und ihre weiche Wange, auf der die Falten des Kissens ihre Abdrücke hinterlassen hatten. Sie war etwa zweiundzwanzig Jahre alt, in vielerlei Hinsicht aber noch ein Kind. Sie hatte mit achtzehn nach einem einjährigen Verlöbnis einen Mann geheiratet, der in jeder Weise ihrem Ideal entsprach. Gabriel Sheldon war der perfekte Ehemann gewesen: gut aussehend, charmant, wohlerzogen, mutig und mit einer viel versprechenden Laufbahn vor sich. Und obwohl es eine gesellschaftlich anerkannte Verbindung gewesen war, waren sie auch ineinander verliebt gewesen.
Jetzt lag ihre ganze Welt in Trümmern, ohne dass sie den Grund dafür hätte verstehen können, und diese Tragödie machte sie vollkommen hilflos.
»Er hat sich für die Nacht zur Ruhe begeben«, antwortete Hester. »Ich denke, er wird jetzt gut schlafen.« Sie wusste nicht, ob es wirklich so war oder nicht, aber es hätte keinen Sinn gehabt, das Perdita zu sagen.
Perdita runzelte die Stirn. »Sind Sie sich sicher? Sie waren so lange bei ihm…«
»Oh… ja, wahrscheinlich war ich das. Wir haben einfach nur geredet. Es gab keine Probleme, das kann ich Ihnen versprechen.«
Perdita machte ein unglückliches Gesicht und verkrampfte die Hände auf dem Schoß.
»Ich weiß nie, was ich ihm sagen soll…«, murmelte sie. »Ich kann doch nicht dauernd fragen, wie er sich fühlt. Er sagt sowieso immer nur, es ginge ihm gut. Und ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ich kann nichts tun.« Sie blickte plötzlich auf. Sie hatte sehr blaue Augen, aber bei dieser schwachen Beleuchtung wirkten sie beinahe schwarz. »Was reden Sie denn mit ihm, Miss Latterly?«
Hester zögerte. Wahrscheinlich war es besser, nicht die Wahrheit zu sagen. Er hatte zwar nicht ausdrücklich darum gebeten, aber sie spürte, dass Gabriel mit ihrer Verschwiegenheit rechnete. Sie beide hatten Dinge erlebt, die sie mit niemandem sonst teilen konnten. So nahe sie auch William Monk bisweilen gewesen war, so viele Dinge sie gemeinsam durchgestanden und so viele Tragödien sie mit angesehen hatten, ihre Erfahrung auf dem Schlachtfeld, während der Belagerung oder im Krankenhaus von Scutari würde sie niemals mit ihm teilen. Aber Gabriel verstand.
Sie musste eine Antwort finden, die Perdita nicht noch hilfloser machte und ihr Gefühl des Ausgeschlossenseins verstärkte.
»Für mich ist es leichter«, begann sie und ließ Perdita dabei nicht aus den Augen. »Zwischen uns gibt es keine gefühlsmäßige Bindung. Deshalb brauchen wir auch weniger Angst zu haben, den anderen zu verletzen. Wir haben über Orte gesprochen, an denen wir gewesen sind, darüber, wie es dort war, wodurch sie sich unterscheiden und wo es Gemeinsamkeiten gibt.«
»Oh…«
Glaubte sie ihr? Aus ihrem gesenkten Blick und dem Zögern in ihrer Stimme ließen sich keine Rückschlüsse ziehen.
»Ich habe ihm von einigen meiner Erlebnisse auf der Krim erzählt«, fuhr Hester fort, weil es ihr unmöglich war, es dabei zu belassen.
»Auf der Krim?« Perdita verstand nicht gleich, wovon sie sprach. Dann trat jähes Begreifen in ihre Züge. »Sie waren auf der Krim?«
Hester erkannte sofort, dass das ein Fehler gewesen war.
Perdita hatte genug gehört und gelesen, um zu wissen, dass dieser Konflikt mit seinen Gräueln und den zahlreichen Toten vieles mit dem Aufstand in Indien gemein hatte. Es stand deutlich in ihren Augen zu lesen, dass sie unschlüssig war, was sie davon halten sollte.
»Ja.« Es wäre absurd gewesen, es zu leugnen. »Dort habe ich auch meine Kenntnisse in der Krankenpflege erworben. Ich denke, das ist der Grund, warum Ihr Schwager mich ausgewählt hat.«
»Sie konnten also mit Gabriel reden?«
»Ich habe es vor allem getan, um herauszufinden, welcher Art seine Bedürfnisse sind«, antwortete Hester.
Perdita starrte in das verglühende Feuer. »Er glaubt nicht, dass ich ihm in irgendeiner Weise von Nutzen sein oder ihm Trost schenken könnte.«
»Manchmal gibt es nichts, was man tun kann«, begann sie, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Bisweilen wird er vielleicht den Wunsch haben, über den Aufstand und über die Dinge zu reden, die in Cawnpore geschehen sind, und dann wieder wird es Zeiten geben, in denen er nur vergessen möchte. Niemand kann vorhersagen, zu welcher Zeit das eine oder das andere eintreten wird.«
»Sie meinen, für Sie ist das einfacher?«, fragte Perdita.
»In gewisser Weise ja, natürlich. Nicht nur, weil ich ein Schlachtfeld gesehen habe…«
»Können Sie mir schildern, wie es ist?«, fragte Perdita, und in ihrer Stimme mischten sich Eifer und Furcht. »Damit ich Gabriel verstehen kann? Er will mir nichts erzählen. Ich war zu Hause, als er in Indien war, und mein Vater wollte mir nicht erlauben, in den Zeitungen darüber zu lesen. Er sagte, es sei nicht gut… Weder für mich noch für meine Mutter.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Er meinte, wir müssten über diese Dinge nichts erfahren, und außerdem spiegelten sie nur das wider, was ein Journalist für die Wahrheit hielte. Die Berichte könnten deshalb unkorrekt und übertrieben sein. Jetzt ist es zu spät, weil die Zeitungen alle schon vor Ewigkeiten weggeworfen wurden.«
»Sie können jederzeit in die Bibliothek gehen und sich die alten Ausgaben heraussuchen lassen, wenn Sie wollen«, bemerkte Hester. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee wäre. Wollen Sie etwas darüber wissen… so viel, wie man sich anlesen kann?«
Das Feuer knisterte und einige Funken schossen in die Höhe. Perdita saß reglos da. »Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, ja, dann gibt es Zeiten, da wünsche ich mir, man müsste nie wieder über diese Dinge nachdenken, und dann bin ich froh, dass ich nichts davon weiß.« Sie holte tief Atem und schüttelte leicht den Kopf. »Ich wünsche mir, es würde einfach weggehen und alles könnte so sein wie früher… vor dem Aufstand.« Sie zog die Nase hoch. »Ich hätte nach Delhi oder Bombay gehen können oder in jede andere Stadt, in der ich Gabriel möglichst nahe gewesen wäre. Ich hätte ihn begleiten können und dann wäre nichts von alledem passiert!«
»Er hätte Dinge wie das Massaker in Cawnpore nicht miterlebt«, gab Hester ihr Recht. »Aber er hätte trotzdem seine Freunde verloren, und auch seine eigenen Verletzungen hätte er sich überall zuziehen können. So etwas kann an jedem Ort passieren.«
»Nicht in England!«, rief Perdita und blickte hastig auf.
»O doch, auch in England. Menschen können von Pferden über die Straße geschleift werden, sie können einem Feuer zum Opfer fallen oder allen möglichen anderen Katastrophen. Es gibt keinen Platz auf Erden, wo das Leben absolut sicher is t. Und selbst wenn es einen gäbe, würde das jetzt keine Rolle mehr spielen. Es gibt nur einen Weg, den nach vorn.«
»Das klingt so einfach, wie Sie das sagen!« Es lag Groll in Perditas Stimme und Angst und Selbstmitleid.
»Nein, es ist nicht einfach«, widersprach Hester ihr. »Es ist sogar sehr schwierig, aber es gibt keine Alternative, die eine Überlegung wert wäre. Und vielleicht möchte Gabriel ja gar nicht, dass Sie etwas über den Aufstand erfahren.«
»Sie meinen, er hält mich nicht für stark genug, um es zu ertragen!«, rief Perdita herausfordernd. »Aber Sie sind stark genug! Mit Ihnen kann er stundenlang darüber reden.«
Hester holte tief Luft. »Ich bin nur vorübergehend hier. Bald werde ich wieder fort sein. Es ist nicht wichtig für ihn. was ich weiß oder denke. Und er macht sich auch nicht so große Gedanken über meine Gefühle… Abgesehen von dem natürlich, was die Höflichkeit gebietet. Ich bin eine Fremde, kein Teil seines Lebens.«
Perditas Gesicht wurde eine Spur weicher, und in ihren Augen leuchtete Hoffnung auf.
»Aber wenn er nicht will, dass ich von diesen Dingen erfahre, wenn ich sie nicht mit ihm teilen kann, wie soll ich ihm da jemals von Nutzen sein?« Die Schärfe in ihrer Stimme war kaum wahrnehmbar.
Hester dachte sehr gründlich nach. »Warten Sie ein Weilchen«, schlug sie vor. »Gefühle bleiben nicht immer gleich.
Er ist noch nicht lange zu Hause. Sie können die Entscheidungen für morgen erst treffen, wenn das Morgen kommt. Ich weiß, dass es schwer ist. Man möchte sehen, was vor einem liegt… Aber es ist unmöglich.«
Perdita saß eine Weile schweigend da. Schließlich erhob sie sich und strich ihr Kleid glatt. Es schien ihr nicht aufgefallen zu sein, dass ihr langes hellbraunes, leicht gewelltes Haar sich aus den Nadeln gelöst hatte.
»Ich gehe jetzt wohl besser zu Bett, denn ich bin furchtbar müde, aber irgendwie scheine ich in der letzten Zeit nicht mehr schlafen zu können.«
»Möchten Sie, dass ich Ihnen einen Schlaftrunk mache?«, erbot sich Hester, die sich ebenfalls erhoben hatte. »Oder hätten Sie lieber ein Lavendelkissen? Besitzen Sie eins? Das hilft manchmal.«
»Ja, ich glaube, ich habe eins. Es liegt, wenn ich mich nicht irre, in meiner Taschentuchschublade oder bei der Wäsche.« Sie ging zur Tür, ohne Hester anzusehen. »Ich werde Martha fragen. Gute Nacht, Miss Latterly.«
»Gute Nacht, Mrs. Sheldon.«
Perdita ging hinaus, und Hester hörte ihre Schritte in der Halle, denen tiefe Stille folgte. Kurz darauf ging sie ebenfalls hinaus und nach oben in ihr Zimmer. Sie wusch sich hastig in kaltem Wasser und schlüpfte dann ins Bett. Sie war zu müde, um lange wach zu liegen.
Am Morgen erledigte sie ihre gewohnten Pflichten, die der Pflege Gabriels galten; sie wechselte die Wäsche und sorgte für einen frischen Verband und eine saubere Wunde. Der Arzt war am Tag zuvor da gewesen, und es bestand kein Grund, ihn heute wieder zu bemühen.
Sie hielt sich gerade in der Vorratskammer auf, um sich über die verschiedenen Kräuter und Öle im Haus einen Überblick zu verschaffen, als Perditas Zofe hereinkam. Martha Jackson war eine schmale, dunkelhaarige Frau, die in ihrer Jugend recht hübsch gewesen sein musste, jetzt, mit Mitte vierzig, aber ein wenig hager wirkte. Die Spuren, der Entbehrung hatten sich tief in ihr Gesicht eingegraben, aber es lagen weder Bitterkeit noch Selbstmitleid in ihren Zügen. Hester hatte sie von Anfang an gemocht. Irgendeiner Bemerkung hatte sie entnommen, dass Martha Perditas ehemalige Gouvernante war, die um ihrer Versorgung willen später lieber die Stellung als deren Zofe angenommen hatte, als irgendwo anders eine neue, aber wieder nur vorübergehende Gouvernantenstelle anzutreten. So war aus der besser gestellten, beinahe unabhängigen Angestellten eine Dienstbotin geworden - wenn auch eine, der man viel Vertrauen entgegenbrachte.
»Guten Morgen, Miss Latterly«, sagte sie mit gespielter Munterkeit. »Wie geht es Ihnen heute? Ich hoffe, Sie haben sich gut hier eingelebt. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, würden Sie es mich dann bitte wissen lassen?«
Hester lächelte. »Guten Morgen, Miss Jackson. Ja, ich habe es sehr behaglich, vielen Dank.«
Martha machte sich an die Zubereitung einer Paste, mit der sie matt gewordenes Schildpatt wieder zu neuem Glanz verhelfen wollten. Sorgfältig tröpfelte sie Olivenöl auf einen Teelöffel Polierrot.
»Brauchen Sie irgendetwas Spezielles, Miss Latterly?«, fragte sie ein oder zwei Sekunden später. »Vielleicht fehlt ja irgendetwas, das Sie gerne hätten?« Sie strich die Paste auf einen Kamm und rieb dann mit einem weichen Tuch mit kleinen, kreisenden Bewegungen darüber.
»Ich hätte gern noch mehr Lavendel«, antwortete Hester. »Ich glaube, Mrs. Sheldon hat im Moment Probleme mit dem Schlafen.«
Martha ließ das Tuch weiter über den Kamm kreisen. Sie wandte sich Hester zu.
»Sie hat solche Angst«, sagte sie leise. »Können Sie sie irgendwie trösten? Ich habe mir das Gehirn zermartert, aber ich weiß so wenig über seinen Zustand, und wenn ich ihr die Unwahrheit sage, wird sie mir nie wieder vertrauen. Sie hat sonst niemanden, an den sie sich wenden könnte. Mr. Sheldon ist völlig nutzlos…« Sie hielt abrupt inne. Sie hatte ein Familiengeheimnis preisgegeben, selbst wenn Hester diesen Schluss selbst ziehen konnte. Ganz gleich, was andere wussten oder nicht, sie hatte einen Vertrauensbruch begangen.
Hester sah das Mitleid in Marthas Zügen. Es ging über das hinaus, was ihre Pflichten von ihr verlangten. Sie hatte für Perdita seit ihrer Kindheit gesorgt und kannte sowohl ihre Schwächen als auch ihre Stärken.
»Ich weiß es nicht«, gestand Hester. »Aber ich werde darüber nachdenken.«
»Sie hat ihn so sehr geliebt«, fuhr Martha fort. »Sie hätten ihn sehen sollen, bevor er fortging. Er war so voller Leben, so glücklich. Er hat an so vieles geglaubt… Zumindest hat er diesen Eindruck erweckt.« Sie schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Diese Unschuld kann man nie mehr zurückgewinnen, nicht wahr?« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung, und es schien, als denke sie dabei auch an andere Dinge, an Tragödien, die nichts mit der seinen zu tun hatten.
»Nein«, gab sie ihr Recht. »Sie hat mich gestern Abend gefragt, ob sie etwas über den Aufstand lesen solle, über Cawnpore und Lucknow. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.«
Martha sah sie mit ihren dunklen Augen an. Ihre Wangen waren eingefallen, als hätte sie Perditas Leid mitgetragen - und dennoch lag in ihrem Gesicht eine gewisse Weichheit.
»Das darf sie nicht!«, sagte sie eindringlich. »Sie könnte es nicht ertragen. Sie verstehen nicht, Miss Latterly, sie hat niemals… nie in ihrem Leben… Gewalt kennen gelernt.« Sie hob hilflos die Hände und schwenkte dabei den Putzlappen. »Sie hat noch nie einen… einen Toten gesehen. In Familien wie den Lofftens redet man noch nicht einmal über den Tod, niemals. Die Leute sterben nicht, sie ›gehen hinüber‹, und manchmal treten sie ›die große Reise‹ an. Aber es ist immer friedlich, so als wären sie eingeschlafen. Sie wird diese Dinge ganz langsam begreifen lernen müssen.«
Hester griff nach dem Krug mit den getrockneten Lavendelblüten. »Ich glaube nicht, dass sie die Zeit hat, sehr langsam zu begreifen«, antwortete sie, und ihr wurde bewusst, wie wenig sie über Perdita Sheldon wusste, über ihre Ehe und die Liebe zu ihrem Mann. Sie konnte Martha nicht fragen, ob sie vielleicht nur in die Liebe verliebt gewesen war, in den Gedanken an einen gut aussehenden Ehemann, in einen Traum vom Glück, unberührt von Kummer und Schmerz.
»Vielleicht sollte sie mit der Geschichte Indiens beginnen?«, meinte sie. »Sie könnte vierzig oder fünfzig Jahre zurückgehen.
Dann würde der Aufstand für sie mehr Sinn ergeben.« Sie lächelte und fühlte sich plötzlich an einen lateinischen Ausdruck aus ihrer Schulzeit erinnert. »Peccavi«, meinte sie trocken. »Das sagte Clive, als er die Provinz Sind erobert hatte. Er schrieb es in einer Depesche nach Hause.«
Martha blinzelte.
»Peccavi«, erwiderte Hester. »Das ist Latein… es bedeutet:
›Ich habe gesündigt‹.«
»Oh, ich verstehe.« Martha erwiderte ihr Lächeln, und etwas von der Anspannung wich aus ihrem Gesicht. »Natürlich. Es ist so lange her, dass ich unterrichtet habe… Und damals war es hauptsächlich Französisch und ein wenig Italienisch zu musikalischen Zwecken. Es tut mir Leid.« Sie errötete und fuhr sorgfältig mit dem Tuch über den Schildpattkamm. »Die Dinge haben sich geändert… Aber das hat jetzt nichts mit Miss Perdita zu tun. Glauben Sie, etwas indische Geschichte würde helfen? Ich nehme an… sie muss es wissen. Sie glauben nicht, dass er - Lieutenant Sheldon - besser dran wäre, wenn er es vergessen könnte, nach und nach? Wäre es vielleicht einfacher, wenn sie nichts davon wüsste?«
»Wenn Sie an ihrer Stelle wären, was würden Sie wollen?«, fragte Hester und blickte Martha forschend ins Gesicht.
Plötzlich füllten Marthas Augen sich mit Tränen, und sie wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand hastig über die Wange. »Ich würde es wissen wollen!«, sagte sie heftig. »Ganz gleich, wie die Wahrheit aussähe… ich würde es wissen wollen!« Ihre Stimme klang gepresst und brüchig unter dem Ansturm ihrer Gefühle, und einen Augenblick lang war etwas von dem Schmerz zu spüren, den sie mit sich herumtrug.
Hester konnte nicht so tun, als hätte sie nichts bemerkt, aber sie wollte sich zumindest jeden Kommentars enthalten.
»Dann sollten wir ihr besser ein paar passende Bücher heraussuchen«, sagte sie und nahm sich den nächsten Krug vor, der Schwarzwurzelblätter enthielt. Er war nur halb voll. »Und ich glaube, wir sollten unsere Vorräte an Kräutern und Ölen auffrischen, bevor sie zur Neige gehen.«
Martha hatte sich wieder gefasst und setzte ihre Arbeit an dem Kamm fort. »Ja gewiss, Miss Latterly«, pflichtete sie ihr bei.
»Ich denke, das ist eine sehr gute Idee, vielen Dank für Ihren Rat.« Sie warf ihr einen schnellen, dankbaren Blick zu, und eine Sekunde lang waren die beiden Frauen sich sehr nahe.
Am Nachmittag saß Hester oben bei Gabriel und las ihm aus einem Gedichtband vor, aus einer der Wirklichkeit unendlich fernen Welt. Es war Keats Epos Endymion, und seine wunderschönen Rhythmen labten die Seele.
Plötzlich klopfte jemand energisch an der Tür, und noch bevor Gabriel etwas gesagt hatte, wurde die Tür geöffnet, und Athol Sheldon stürmte herein. Er war genauso groß wie Gabriel, aber breiter gebaut, und er pflegte auf den Fußballen zu gehen, als wolle er gleich in einen Laufschritt verfallen. Er besaß eine lange, gerade Nase und einen direkten Blick.
»Guten Tag, guten Tag«, sagte er munter und sah zuerst Gabriel an, dann Hester. »Ihr kommt gut miteinander aus? Na, bestens.« Er erkundigte sich stets nach dem Wohlergehen anderer, wartete aber nie auf eine Antwort, weil er einfach davon ausging, dass sie ohnehin positiv aus fallen würde. Er selbst besaß eine äußerst robuste Gesundheit und betrachtete diesen Zustand als ein Ideal, das jeder erreichen konnte, wenn auch nicht sofort, dann doch gewiss mit der Zeit und mit der richtigen Einstellung. Es war für ihn eine Frage des Prinzips, dass er sich niemals über irgendetwas beklagte.
»Hallo, Athol«, erwiderte Gabriel wachsam. In seinem gegenwärtigen Zustand fand er eine solche Tatkraft ermüdend.
»Wie geht es dir?«, fragte er gewohnheitsmäßig.
»Sehr gut, sehr gut«, antwortete Atho l und setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe Perdita getroffen, bevor ich heraufgekommen bin.« Seine Miene verdüsterte sich. »Sie ist gar nicht guten Mutes, die Arme. Macht sich ein wenig Sorgen, wenn du mich fragst. Ich muss mal sehen, was sich da tun lässt.« Gabriel seufzte lautlos. »Als sie kurz vor dem Mittagessen hier war, schien alles in Ordnung zu sein. Sie sagte, sie wolle am Nachmittag einen Spaziergang machen… etwas später.«
»Gut«, entgegnete Athol. »Sie sollte wirklich mehr ins Freie gehen. Sie sind gewiss meiner Meinung, Miss Latterly? Nicht genug frische Luft. Ihre Miss Nightingale hat das gesagt - das habe ich irgendwo gelesen.« Er machte ein überaus selbstzufriedenes Gesicht.
»Ja«, pflichtete Hester ihm widerstrebend bei. Athols mangelndes Einfühlungsvermögen brachte sie jedes Mal aufs Neue in Rage. Er erinnerte sie an Soldaten, die sie getroffen hatte, Männer, die immer überzeugt gewesen waren, dass sie Recht hatten, die ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein wie einen Schild vor sich her trugen, Männer, die kaum je einem anderen zuhörten. Nur der Himmel wusste, wie viele Menschen ihretwegen ums Leben gekommen waren.
Vielleicht tat sie Athol Sheldon Unrecht. Er war kein Soldat. Als ältester Sohn hatte er den Familienbesitz in Buckinghamshire geerbt, den er meist selbst verwaltete - immerhin so gut, dass er seinem verwundeten Bruder finanzielle Unterstützung anbieten konnte.
»Da hast du es.« Athol rieb sich die Hände. »Die Pflichten einer Ehefrau gehen natürlich immer vor, - aber sie könnte sich doch irgendeine Beschäftigung suchen, die ihre Tage ausfüllt.
Es gibt ja schließlich jede Menge gute Werke zu tun. Darüber könnte sicher die Pfarrersfrau Auskunft geben. Die brauchen doch immer jüngere Frauen für Wohltätigkeitszwecke. Neue Ideen… Energie.« Er schien sich ein wenig unbehaglich zu fühlen.
»Ich denke, das wird sie tun«, erwiderte Gabriel, während er sich auf seinen Kissen ein wenig höher hinaufzog.
»Hier, nimm noch eins«, sagte Athol sofort und hielt ihm ein weiteres Kissen hin.
»Es geht schon!«, wehrte Gabriel ihn ab, der sich mit seiner einen Hand aufstützte. »Ich kann das allein.«
»Natürlich. Entschuldigung.« Athol machte einen Rückzieher.
»Bald wirst du alle möglichen Dinge tun können, und heute in einem Jahr hast du die ganze Sache überstanden.«
Er schien nicht zu bemerken, wie Gabriels Gesicht einen starren Ausdruck annahm.
»Die Zeit wird die Erinnerung heilen«, fuhr Athol wohlgemut fort. »Perdita wird dir helfen zu vergessen. Reizendes Mädchen.
Blick nach vorne, in die Zukunft! Gibt es sonst noch etwas, das ich für dich tun kann? Brauchst du Lesestoff?«
Gabriel lächelte. »Nein, vielen Dank. Du hast aufs Beste für mich gesorgt.«
»War mir ein Vergnügen, mein lieber Junge.« Athol erwiderte sein Lächeln und schien sich etwas weniger befangen zu fühlen.
»Keine Sorge, das wird sich schon alles von selbst regeln. Du brauchst nur deinen Teil zu tun, dann können wir das Ganze bald hinter uns lassen!«
Hester krümmte sich innerlich. Athol hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach. Für ihn waren der indische Aufstand und seine Gräueltaten lediglich hässliche Sünden der Geschichte kleine dunkle Flecken in der großartigen Historie des britischen Reiches.
Athol stand auf. »Na, dann will ich nicht länger stören.« Er schob sich die Hände unter das Revers seines Jacketts und zog es sich auf den Schultern zurecht. »Ich will doch mal sehen, ob ich den Pfarrer erwische und ein Wort über Perdita mit ihm reden kann. Da lässt sich sicher etwas arrangieren. Es würde ihr bestimmt gut tun. Tut es immer. Man muss sich beschäftigen, das ist das einzige Wahre.«
Gabriel sah hastig und mit forschendem Blick zu Hester hinüber.
Hester erhob sich. »Ich bringe Sie zur Tür, Mr. Sheldon.«
»Nicht nötig, meine liebe Miss Latterly«, sagte er huldvoll.
»Ich will Sie nicht stören. Was lesen Sie denn da? Keats?
Bisschen trübselig, was? Ich bringe Ihnen etwas, das sich besser eignet, etwas Positives.«
Hester konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Schließlich hatte sie niemand gezwungen, Keats zu lesen! »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich.« Aber sie begleitete ihn trotzdem zur Tür und ging an seiner Seite durch den Flur und langsam die Treppe hinunter.
»Mr. Sheldon…«
Er blieb stehen und zögerte eine Sekunde, als hätte auch er die Idee gehabt, sie anzusprechen. »Ja, Miss Latterly?«
»Bitte denken Sie noch einmal darüber nach, ob es klug ist, Mrs. Sheldon gerade jetzt zu sehr auf einem anderen Betätigungsfeld zu belasten«, sagte sie ernst. »Ich - ich glaube nicht, dass ihr das helfen würde.«
»Es ist immer gut, sich zu beschäftigen, Miss Latterly«, sagte er hastig. »Man muss aus dem Haus. Damit man nicht ins Grübeln gerät, Sie wissen schon.« Er hob ein wenig die Stimme, nicht als sei es eine Frage, sondern eher, als wolle er sie ermutigen. »Man darf nicht zu viel über die Dinge nachdenken. Dann geht es nach innen. Ist nicht gesund.«
»Aber…«
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß, Sie wollen das Beste für die beiden«, fiel er ihr ins Wort. »Da Gabriel doch Ihr Patient ist und so weiter. Ehm… wo wir gerade davon sprechen… Es ist schließlich das Natürlichste auf der Welt, das Einzige, was es für eine Frau wirklich zu tun gibt… Pflichttreue, Bescheidenheit… gute Werke…« Er errötete leicht und konnte ihr plötzlich nicht länger in die Augen sehen. »Ich… ehm… nun… glauben Sie, dass sie Kinder bekommen wird, Miss Latterly? Perdita… natürlich…«
»Ich sehe keinen Grund, der dagegen spräche, Mr. Sheldon«, antwortete sie. »Gabriels Verletzungen sind nicht von der Art, und ich rechne damit, dass sich sein Gesundheitszustand mit der Zeit bessern wird. Allerdings…«
»Gut… Gut. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich gefragt habe? Taktlos, ich weiß…«
»Ich habe absolut nichts dagegen«, versicherte sie ihm.
Erleichtert setzte er seinen Weg die Treppe hinunter fort.
Sie hielt mit ihm Schritt, überholte ihn dann und blieb stehen.
Wohl oder übel musste auch er stehen bleiben, wollte er sich nicht mit Gewalt an ihr vorbeidrängen.
»Mr. Sheldon, ich glaube, es ist wichtig, dass Mrs. Sheldon etwas über die tatsächlichen Ereignisse während des Aufstands erfährt und später auch etwas über das Massaker von Cawnpore.«
»Gütiger Gott!« Er lief dunkelrot an. »Ich meine… Barmherziger Himmel!«, verbesserte er sich. »Da kann ich Ihnen absolut nicht Recht geben. Sie sind vollkommen im Irrtum, meine liebe Miss Latterly. Ich weiß selbst etwas darüber. Ich habe damals Zeitung gelesen, da ich doch einen Bruder da draußen hatte und das alles. Ganz schrecklich! Es gehört sich wirklich nicht für eine Frau, darüber auch nur das Geringste zu erfahren. Sie können selbst keine Ahnung davon haben, sonst hätten Sie diesen Vorschlag nicht gemacht. Das kommt absolut nicht in Frage.« Er hob die Hand, um den Gedanken weit von sich zu weisen.
»Ich weiß, dass es furchtbar war.« Sie wich nicht vor ihm zurück, sodass er gezwungen war, ebenfalls stehen zu bleiben, auch wenn er sie um einiges überragte. »Ich habe damals auch Zeitung gelesen, aber was noch wichtiger ist und was der Wahrheit wohl näher kommt, Gabriel selbst hat mir etwas von seinen Erlebnissen dort erzählt…«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Sie hätten ihn nicht dazu ermutigen dürfen, Miss Latterly. Es tut nie gut, lange über Tragödien und über unangenehme Dinge im Allgemeinen nachzugrübeln. Da wird man zu leicht morbid… niedergeschlagen, Sie wissen schon. Und für Perdita ist das völlig unpassend. Würde sie nur unnötig aufregen.«
»Ich glaube nicht, dass es unnötig wäre, Mr. Sheldon«, erwiderte sie. »Es ist die erschütterndste Erfahrung, die er in seinem ganzen Leben gemacht hat…«
»Nun, wirklich…«
»Und er kann es nicht vergessen«, fuhr sie fort, ohne sich um seinen Einwurf zu kümmern. »Man vergisst Freunde nicht, nur weil sie tot sind, und das Ganze war zu grausam und liegt noch nicht lange genug zurück, um nicht jeden Tag in seine Gedanken zu dringen. Wenn sie als Ehefrau und Gefährtin irgendetwas wert sein will, wie sie behauptet hat, muss sie zumindest einen Teil seiner Erfahrungen mittragen.«
»Sie verlangen zu viel, Miss Latterly«, wies er sie zurecht und schüttelte abermals den Kopf. »Und wenn ich das sagen darf, ungehörigerweise. Eine junge Frau, eine Dame von Perditas Herkunft, sollte von Dingen, wie sie sich in Indien zugetragen haben, nichts wissen. Einen Teil ihres Charmes, ihren großen Wert für das Leben eines Mannes, macht doch gerade die Tatsache aus, dass sie eine sichere Insel für ihn darstellt, unberührt von den Tragödien der Welt. Das ist etwas Wunderschönes, Miss Latterly. Versuchen Sie nicht, das zu zerstören oder es den beiden zu rauben.« Er lächelte, als er diese letzten Worte sprach, und ein ruhiger, zuversichtlicher Ausdruck kehrte in seine Züge zurück. Sie wusste, dass er nicht nur sie, sondern auch sich selbst überzeugen wollte. Er brauchte diese Insel, zumindest um sie in Gedanken aufsuchen zu können, wenn auch nicht mehr. Es waren seine eigenen Träume genauso wie die Gabriels, die er schützen wollte.
Ob es irgendeinen Sinn hatte, wenn sie versuchte, ihn dazu zu zwingen, die Wirklichkeit zu sehen?
»Mr. Sheldon, wenn wir unser Entsetzen und unseren Schmerz mit einem anderen Menschen teilen, schaffen wir damit eine Verbindung zu der betreffenden Person, die nur selten wieder zerstört wird. Sollten wir nicht Mrs. Sheldon die Chance geben, diejenige zu sein, mit der Gabriel seine Erfahrungen teilt?«
Er sah sie stirnrunzelnd an.
»Ich meine«, fuhr sie eilig fort, »sollten wir nicht ihr die Entscheidung überlassen, ob sie das möchte oder nicht?«
»Nicht sehr logisch, meine liebe Miss Latterly«, sagte er mit einem gehetzten Lächeln. »Da sie keine Ahnung davon hat, was sie mit ihm teilen würde, kann sie auch keine Entscheidung treffen. Nein, ich bin mir ganz sicher, dass wir sie nicht damit belasten dürfen.« Seine Entschlossenheit nahm zu. »Es ist unsere Pflicht, sie zu beschützen - meine Pflicht, bei der Sie mir von großem Nutzen sein werden.«
»Mr. Sheldon…«, hakte sie nach.
Aber er hob mit einem breiten Lächeln die Hand. »Wir müssen Zuversicht haben, Zuversicht und Stärke, Miss Latterly. Wir werden es schaffen. Ich darf doch darauf vertrauen, dass Sie eine gläubige Christin sind? Ja, natürlich sind Sie das. Sie könnten unmöglich die vielen guten Werke tun, von denen ich bereits Kenntnis habe, wenn Sie keine Christin wären. Nach vorn!« Er hob den Arm. »Wir müssen nach vorn schauen, und wir werden alle Unbill überwinden.« Er schob sich an ihr vorbei und ging mit federndem Schritt die letzten Stufe der Treppe hinunter.
Hester fluchte leise und benutzte Worte, die laut auszusprechen sie sich geschämt hätte. Dann nahm sie denselben Weg zurück, den sie gekommen war.
Am Abend saß Hester über einer Flickarbeit, die nicht wirklich notwendig gewesen wäre. Martha kümmerte sich um solche Dinge, und sie ließ von einer Woche zur nächsten kaum etwas liegen. Hester konnte sich nicht auf ihr Nähzeug konzentrieren, aber müßig herumzusitzen wäre noch schlimmer gewesen.
Es klopfte.
»Herein«, sagte sie erleichtert.
Martha trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Sie sah müde und mutlos aus.
»Haben Sie Zeit, sich zu mir zu setzen?«, lud Hester sie ein.
Sie legte ihre Näharbeit beiseite. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Martha lächelte. »Ich hole welchen. Sicher hätten Sie auch gern eine Tasse, nicht wahr?«
»Vielen Dank«, antwortete Hester, »ja, gern.«
Martha reichte ihr einen Brief. »Das hier ist mit der letzten Post für Sie gekommen.«
»Oh!« Hester nahm den Umschlag erfreut entgegen. Er trug Lady Callandra Daviots Handschrift und war in Fort William, im Norden von Schottland, abgestempelt worden. »Ach, wie schön!«
»Eine Freundin?«, fragte Martha lächelnd. »Ich hole den Tee.
Wie war’s mit ein paar Keksen?«
»Ja, bitte«, sagte Hester, und sobald Martha den Raum verlassen hatte, riss sie den Brief auf und las:
Meine liebe Hester, was für ein wunderbares Land! Ich hätte nie gedacht, dass ich solchen Spaß haben würde. Ich verspüre den heftigen Drang, wieder mit dem Malen anzufangen. Man müsste alles auf feuchtem Papier malen, finde ich, um die Weichheit der Farben und Art und Weise einzufangen, wie das Licht auf das Wasser fällt. Gestern bin ich von der Isle of Skye zurückgekommen. Das Cuillin-Gebirge ist so schön, dass es mir wehtat, denn sobald ich den Blick abwende, weiß ich, dass ich es wieder sehen muss. Und ich kann doch nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, auf ein und derselben Stelle zu stehen und auf das Wechselspiel des Sonnenlichts, den Nebel und die Schatten über dem Meer zu starren. Heute ruhe ic h mich aus und tue nur ganz wenig, abgesehen von den Briefen, die ich an einige Freunde schreiben möchte und von denen Sie und William die Einzigen sind, die vielleicht auch nur annähernd verstehen, was ich empfinde. Daher sind Sie beide auch die Einzigen, an die zu schreiben mir echte Freude bereitet. Bei den anderen ist es wohl mehr die Befriedigung, eine Pflicht erfüllt zu haben. Wie sehr wir doch Sklaven unseres Gewissens sind!
Wie geht es Ihnen? Sind Sie gerade mit irgendwelchen Fällen beschäftigt, die Ihnen am Herzen liegen? Oder pflegen Sie gelangweilte alte Damen, die an Schwermut leiden und mit ihrer Zeit und ihrem Geld nichts anzufangen wissen, als jemanden herumzukommandieren? Oder haben Sie es mit reizbaren, weil gichtgeplagten Colonels zu tun, d ie nur zu heilen wären, wenn sie vom Portwein und dem Stiltonkäse die Finger ließen - was sie natürlich niemals tun werden? Haben Sie in letzter Zeit William einmal gesehen? Seinen wirklich interessanten Fall habe ich leider verpasst. Natürlich hat er mir hinterher alles darüber erzählt, aber das ist kaum dasselbe. Er kommt in letzter Zeit so gut zurecht, dass er meine gelegentliche finanzielle Unterstützung nicht mehr braucht - was mich natürlich ungemein freut. Ich wünsche ihm so sehr, dass er Erfolg hat. Meine Hilfe war nur als eine vorübergehende Einrichtung gedacht, sonst hätte er sie, wie ich sehr wohl weiß, nicht angenommen. Männer sind schon sehr komisch, wenn es um Geld geht - es sei denn, sie heiraten welches. In diesem Fall sind sie der Meinung, es gehöre von Rechts wegen ihnen, wie es das Gesetz ja auch tatsächlich vorsieht. Mir fehlt jedoch die Aufregung, die das Zusammensein mit Ihnen beiden mit sich zu bringen pflegte, dieses unbändige Verlangen, die Wahrheit über irgendeine Gewalttat ans Licht zu bringen, auch wenn sich das Ganze am Ende als Tragödie herausstellte. Ich bin es nicht gewöhnt, auf der Oberfläche des Lebens dahinzutreiben, und ich stelle fest, dass die Geruhsamkeit dieser Existenz mich manchmal eine schreckliche Einsamkeit empfinden lässt, als ginge das Leben an mir vorbei. Sitze ich hinter einem Fenster und betrachte die Welt, von ihr getrennt, durch undurchdringliches Glas?
Hester las weitere Beschreibungen über die majestätische Schönheit des Hochlands, wie Callandra sie auf Easter und Wester Ross kennen gelernt hatte, aber sie achtete mehr auf die Gefühle, die sich hinter diesen Worten versteckten, und dachte an Callandras warmherzige Freundschaft und Aufrichtigkeit. In gewisser Weise hatte Callandra ihr die Familie ersetzt, der sie nicht länger nahe stand, und sie freute sich auf ihre Rückkehr.
Martha kam mit Tee und einem ziemlich großen Teller frisch gebackener Kekse auf einem Tablett zurück. Sie stellte es ab und schenkte ihnen beiden eine Tasse ein.
Hester legte den Brief beiseite.
Martha hielt ihre Tasse hoch und wartete, bis der Tee genügend abgekühlt war, um daran zu nippen. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie machte sich offensichtlich über etwas Sorgen.
Hester konnte sich schon denken, worüber. »Haben Mr. und Mrs. Sheldon darüber gesprochen, dass Mr. Sheldon etwas über indische Geschichte lesen sollte?«, erkundigte sie sich.
Martha sah sie über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Nein, er ist der Ansicht, je weniger man über das Thema spricht, umso schneller kommt alles wieder in Ordnung - was absoluter Unfug ist!« In ihrer Stimme vibrierte ein Zorn, für den sie keine Worte fand. »Sie ist so einsam, weil sie nicht die geringste Ahnung davon hat, was ihm widerfahren ist. Es sind nicht nur der körperliche Schmerz oder die Erinnerungen.« Sie starrte ins Leere, als hätte sie etwas vor Augen, das weit von diesem stillen Raum entfernt war, von diesem Haus, das sich zur Ruhe begab und in dem kein Laut zu hören war außer dem Zischen des Gases und hier und da dem Knarren eines Dielenbretts.
Hester unterbrach sie nicht.
»Es ist nicht gesund«, fuhr Martha fort. »Es ist so, als sei man nur an Schönheit gewöhnt und müsste dann plötzlich Hässlichkeit akzeptieren, Missbildungen…« Es fiel ihr offensichtlich schwer, das Wort auch nur auszuspreche n.
»Entstellungen«, widersprach Hester ihr. »Das ist nicht wirklich dasselbe.«
Martha sah sie flüchtig an. »Nein - nein, natürlich nicht. Es tut mir Leid. Ich war in Gedanken bei etwas anderem. Ich…« Sie sah Hester mit einem seltsamen, beinahe scheuen Ausdruck an, und doch stand in ihren Augen eine deutliche Bitte.
»Sie haben so etwas schon einmal erlebt?«, fragte Hester sehr leise und nahm dann einen Schluck von ihrem Tee, um nicht aufdringlich zu erscheinen.
Martha wandte sich wieder ab und schob den Teller mit den Keksen näher zu Hester. »Mein Bruder Samuel hat eine sehr hübsche Frau geheiratet… Das muss jetzt fünfundzwanzig Jahre her sein. Ihr Name war Dolly. Sie hatte die vollkommenste Haut, die man sich nur vorstellen kann. Und so wunderschöne Augen und wohlgestaltete Züge.« Sie hielt inne, und auf ihrem Gesicht spiegelten sich Zorn, Mitleid und Verwirrung. Die Erinnerung schmerzte sie.
Hester wartete.
»Ich glaube, sie waren glücklich miteinander«, fuhr Martha fort. »Sam himmelte sie an. Sie bekamen ein Kind, ein kleines Mädchen. Phemie nannten sie es. Das war Dollys Idee. Sam hatte der Kleinen einen biblischen Namen geben wollen, irgendetwas Altmodisches.« Sie nippte an ihrem Tee. »Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er zu mir kam, um es mir zu erzählen.« Sie hielt inne und brauchte einen Augenblick, um ihrer Gefühle Herr zu werden. Sie holte tief Luft, und ihre magere Brust hob und senkte sich vor Anstrengung. »Das Kind war nicht in Ordnung.« Ihre Stimme brach. »Die kleine Phemie war missgebildet. Ihr Gesicht. Ihr Mund. Die Lippen waren vollkommen verzerrt. Dolly konnte sie nicht selbst ernähren. Sie war zu erregt. Sie ließ eine Amme kommen, aber selbst diese hatte Mühe, das Kind zum Trinken zu bewegen. Phemie war wirklich lange ein armes kleines Würmchen, aber am Ende überlebte sie doch.«
»Es tut mir Leid«, sagte Hester leise. Sie wusste so gut wie nichts über die Pflege von Kleinkindern. Sie hatte stets nur mit den Ergebnissen von Gewalt und Krankheit Erwachsener zu tun gehabt. Der Gedanke an ein so kleines Geschöpf, das um sein Leben kämpfte, hatte etwas besonders Herzzerreißendes.
Martha nahm noch einen Schluck Tee. »Erst als ungefähr zwei Jahre später Leda zur Welt kam, wurde klar, dass Phemie außerdem taub war.«
Hester schwieg. Sie sah an Marthas Gesicht, dass diese versuchte, sich zu fassen, um weiterzusprechen.
»Auch Leda war missgebildet«, fuhr Martha schließlich im Flüsterton fort. »Es waren ihr Mund und ein Auge. Sie konnte sehen, aber wie ihre Schwester so gut wie nichts hören.« Sie blickte Hester an und wartete darauf, dass sie etwas sagen würde.
»Es tut mir so Leid.« Hester konnte nur versuchen, sich vorzustellen, was die Mutter empfunden haben musste. Sie konnte die Angst um die Zukunft der Kinder nur erahnen, die sie in eine Welt geboren hatte, die sie mit furchtbarer Grausamkeit behandeln würde, manchmal sogar, ohne sich dessen bewusst zu sein. Was würde aus ihnen werden, wenn sie nicht mehr da war, um sie zu beschützen, zu verteidigen und zu lieben?
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Sam liebte die Kinder«, antwortete Martha, biss sich auf die Lippen und starrte ins Leere. »Er kümmerte sich um sie, selbst als Dolly so aus dem Gleichgewicht geraten war, dass sie es nicht schaffte.« Sie hielt abermals inne und war einen Augenblick lang nicht im Stande weiterzusprechen.
Hester saß reglos da.
»Dann starb Sam«, sagte Martha abrupt. »Es war etwas mit seinem Magen. Es ging sehr schnell. Dolly kam ohne ihn nicht zurecht. Sie war von Schmerz überwältigt. Phemie und Leda kamen in ein Heim, und Dolly ging fort. Sie hat uns nicht gesagt, wohin. Ich nehme an, dass sie es wollte, aber irgendetwas in ihr ist einfach… zerbrochen.« Sie sah Hester an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hätte die Mädchen zu mir genommen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Aber ich war ja in Stellung. Für zwei kleine Kinder gab es da keinen Platz. Phemie war kaum drei und Leda erst ein Jahr alt… Und - und es waren keine hübschen Kinder. Sie waren… entstellt. Und sie konnten nicht hören, daher würden sie niemals zu etwas nutze sein.« Hester nahm Martha in die Arme, drückte ihren mageren Leib eng an sich und spürte, wie das trockene Schluchzen die andere Frau schüttelte.
»Natürlich konnten Sie nichts tun«, sagte sie sanft. »Sie mussten arbeiten, um zu leben. Wie wir alle. Manchmal ist das schon schwer genug. Denn welchen Nutzen hat man noch für andere, wenn man sein eigenes Leben nicht bewältigt?«
»Ich wünschte, ich hätte gewusst, wo sie waren!«, sagte Martha verzweifelt. »Ich sehe Lieutenant Sheldon mit seinem Gesicht, das so verunstaltet ist, und ich sehe den Ausdruck in Perditas Augen, und sie war so verliebt in ihn… und jetzt ist sie kaum mehr in der Lage, ihn direkt anzusehen, geschweige denn, ihn zu berühren… Und ich frage mich, was aus diesen armen kleinen Seelen geworden ist. Ich hätte eine Möglichkeit finden müssen, ihnen zu helfen! Wer wird sie lieben, wenn nicht ich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Hester aufrichtig. Falsche Worte des Trostes würden Martha nur das Gefühl geben, sie hätte sie nicht verstanden. Sie drückte sie noch fester an sich.
»Wir können nicht ändern, was bereits geschehen ist, aber wir können versuchen, Gabriel und Perdita zu helfen. Sie muss lernen, ihn zu verstehen, hinter seinem entstellten Gesicht den Mann zu sehen, den sie geliebt hat. Zum Teufel mit Athol Sheldon und seiner Ansicht.«
Martha stieß ein hektisches kleines Lachen aus, das halb erstickt klang. »Er meint es nur gut«, sagte sie, richtete sich auf und strich sich ein paar Strähnen zurück, die sich aus den Nadeln gelöst hatten. »Ihm ist nur nicht klar…«
Hester schenkte frischen Tee ein, der noch immer heiß war und köstlich duftete, und reichte eine der Tassen Martha.
Martha lächelte, holte ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase.
Hester nippte an ihrem Tee und nahm sich einen Keks.
»Vielen Dank übrigens, dass Sie mir den Brief nach oben gebracht haben«, sagte sie beiläufig. »Er kommt aus Schottland. Waren Sie schon mal dort?«