6
Als Rathbone am Montagmorgen im Gericht erschien, hatte er nicht mehr Beweise in der Hand als am vorhergehenden Freitag. Er hatte mit Monk gesprochen und sich angehört, was dieser zu berichten wusste, aber es war nichts dabei gewesen, was ihm von Nutzen hatte sein können. Es war dumm von ihm gewesen, sich überhaupt Hoffnungen zu machen.
Die Galerie füllte sich nur langsam. Das Publikum hatte das Interesse an diesem Fall verloren.
Rathbone sah Melville von der Seite an. Er saß vornübergebeugt da wie ein Mann, der sich vor einem Schlag zu schützen versuchte, den er nicht abwehren konnte. Er schien keinen Funken Kampfbereitschaft mehr in sich zu haben, ja nicht einmal Hoffnung. Rathbone hatte selten einen Mandanten gehabt, der seine Bemühungen so vereitelt hatte wie er. Selbst Zorah Rostova, die gleichermaßen entschlossen gewesen war, einen scheinbar hoffnungslosen Fall durchzufechten, war von der leidenschaftlichen Überzeugung gewesen, im Recht zu sein, - sie hatte allen Mut der Welt besessen, um für ihre Sache zu kämpfen.
»Melville!«, sagte Rathbone scharf und beugte sich zu ihm hinunter.
Melville drehte sich um. Sein Gesicht war sehr blass.
»Um Gottes willen!«, bedrängte Rathbone ihn. »Sagen Sie es mir, wenn Sie irgendetwas über Zillah Lambert wissen! Ich werde es vor Gericht nicht benutzen, aber ich könnte Sacheverall dazu bringen, mit seinen Mandanten zu reden. Gibt es irgendetwas, wovon Sie wissen und Zillahs Vater nicht? Schützen Sie sie vor irgendetwas?«
Melville lächelte, und in der Tiefe seiner leuchtend blauen Augen blitzte so etwas wie ein Lachen auf. »Nein.«
»Wenn sie es wert ist, dass Sie sich ihretwegen ruinieren, dann wird sie es nicht zulassen!«, fuhr Rathbone fort und rückte noch ein wenig näher an ihn heran. »So, wie die Dinge liegen, können Sie nämlich nicht gewinnen!« Er legte Melville eine Hand auf den Arm und spürte, wie der andere zusammenzuckte.
»Sie können die Augen nicht länger vor der Realität verschließen. Spätestens heute oder morgen wird Sacheverall zum Abschluss kommen, und ich habe nichts in der Hand, womit ich Sie verteidigen könnte. Sagen Sie mir einfach die Wahrheit! Vertrauen Sie mir!«
Melville lächelte, und seine Stimme war sehr leise. »Es gibt nichts, was ich Ihnen sagen könnte. Ich scheine Sie vor eine unmögliche Aufgabe gestellt zu haben. Es tut mir Leid.«
Er kam nicht weiter, weil Sacheverall gerade durch den Saal ging. Er hatte die Lippen leicht geschürzt und hielt den Kopf hoch erhoben: selbst sein Gang wirkte großspurig. Er strahlte eine noch größere Selbstzufriedenheit aus als an dem Nachmittag, an dem das Gericht sich vertagt hatte. Schließlich ließ er sich auf seinem Platz nieder. Einen Augenblick später rief der Gerichtsdiener die im Saal Anwesenden zur Ordnung. Der Raum war immer noch halb leer.
McKeever nahm nun ebenfalls seinen Platz ein.
»Mr. Sacheverall?«, fragte er. Sein Gesicht zeigte keine Regung, und seine sanften blauen Augen blickten neugierig und unschuldig. Wenn er zu irgendwelchen Schlüssen gekommen war, so ließ er sich nichts anmerken.
Sacheverall erhob sich. Er lächelte. Seine ganze Haltung drückte Zuversicht aus.
»Ich rufe Isaac Wolff in den Zeugenstand«, sagte er deutlich. Er drehte sich halb zu Melville um. Diese Geste war ein Zeichen dafür, wie sicher er sich seiner Sache war.
»Wer ist Wolff?«, fragte Rathbone Melville leise.
»Ein Freund«, erwiderte Melville, ohne den Kopf zu wenden.
»Von wem? Von Ihnen oder von Lambert?«
»Von mir. Lambert hat ihn, soweit ich weiß, nie kennen gelernt.« Seine Stimme war so leise, dass Rathbone Mühe hatte ihn zu verstehen.
»Warum ruft Sacheverall ihn dann in den Zeugenstand?«, verlangte Rathbone zu wissen. Sacheverall bluffte nicht. Das konnte man an seinem ganzen Auftreten sehen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Melville und hob den Blick ein wenig, um zu verfolgen, wie ein hoch gewachsener Mann mit düsterer Miene durch den Saal ging und die Stufen zum Zeugenstand hinaufstieg. Er wandte sich dem Gericht zu und starrte Sacheverall an. Seine Augen unter den geraden Brauen schienen schwarz zu sein, und sein volles Haar, das ihm seitlich über die Schläfen fiel, war so dunkel wie Kohle. Es war ein leidenschaftliches, faszinierendes Gesicht, und der Mann, dem es gehörte, musterte Sacheverall mit einer Mischung aus Argwohn und Abneigung. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass er freiwillig den Zeugenstand betreten hätte.
»Mr. Wolff«, begann Sacheverall, der den Augenblick voll auskostete. »Sind Sie mit Mr. Killian Melville, dem Angeklagten in diesem Fall, bekannt?«
»Ja.«
Rathbone sah zu den Geschworenen, um ihre Reaktion zu beobachten. Sie zeigten kaum Interesse. Sie hatten keine Erfahrung mit den Strategien der Prozessführung, sodass sie Sacheveralls Zuversicht nicht verstanden.
»Kennen Sie sich gut, Sir?« Sacheveralls Stimme war sanft, und er lächelte, während er sprach.
Ein Ausdruck verhaltenen Ärgers huschte über Wolffs Gesicht, aber seiner Antwort war nichts davon anzumerken.
»Ich kenne ihn seit einiger Zeit. Ich weiß nicht, nach welchen Maßstäben ich meine Bekanntschaft mit ihm Ihrer Meinung nach messen soll.«
Sacheverall machte eine ausladende Geste. »Oh! Das werden Sie gleich, Mr. Wolff, das werden Sie. Es ist nämlich genau der Punkt, auf den ich hinaus will. Erlauben Sie mir, es auf meine Art zu tun. Wie haben Sie Mr. Melville kennen gelernt?«
Der Richter sah Rathbone an und forderte ihn mehr oder weniger dazu auf, Einspruch zu erheben, dass die Frage irrelevant sei. Rathbone wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte. Er schüttelte den Kopf, und McKeever wandte den Blick wieder ab.
»Mr. Wolff?«, hakte Sacheverall nach. »Sie werden sich doch gewiss daran erinnern?«
Wolff lachte und zeigte dabei seine Zähne. »Es war vor geraumer Zeit, etwa vor zwölf Jahren. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich genau erinnere.«
Das war nicht die Antwort, die Sacheverall hatte hören wollen. Er verriet seinen Unmut mit einer ruckartigen Armbewegung.
»War es ein gesellschaftlicher Anlass, Mr. Wolff, oder ein beruflicher?«
»Ein gesellschaftlicher.«
»Dann erinnern Sie sich also?«
»Nein. Wir haben nur keine gemeinsamen beruflichen Interessen.«
Rathbone erhob sich mehr der Form halber und nicht weil er damit Sacheveralls Vorhaben unterlaufen wollte. Die Anspannung war beinahe körperlich zu spüren. Melville saß stocksteif neben ihm am Tisch.
»Mylord…«
»Jaja«, stimmte McKeever ihm zu. »Mr. Sacheverall, wenn Ihre Fragen auf etwas Bestimmtes abzielen, dann kommen Sie jetzt bitte zur Sache. Mr. Wolff hat eingeräumt, dass er Mr. Melville kennt. Wenn diese Tatsache irgendeinen Einfluss auf dessen Eheversprechen Miss Lambert gegenüber hat, dann legen Sie dies bitte jetzt offen.«
»Oh, die beiden Dinge haben in der Tat miteinander zu tun, Mylord, unbedingt«, sagte Sacheverall leidenschaftslos. »Sehr zu meinem Bedauern, wie ich hinzufügen möchte.« Er drehte sich wieder zum Zeugenstand. »Sind Sie verheiratet, Mr. Wolff?«
»Nein.«
»Sind Sie es je gewesen?«
»Nein.«
McKeever runzelte die Stirn. »Mr. Sacheverall, es fällt mir schwer zu glauben, dass es das sein soll, worauf Sie hinauswollen.«
»Oh, aber genau das ist es, Mylord«, antwortete Sacheverall.
»Ich komme gleich zur Sache.« Und ohne auf McKeever zu achten, wendete er sich wieder Wolff zu. »Sie leben allein, Mr. Wolff, aber Sie sind kein Einsiedler, sondern pflegen vielmehr eine enge Freundschaft, nicht wahr? Ich spreche von Ihrer Freundschaft mit Mr. Killian Melville.«
Wolff erwiderte seinen Blick, aber seine Miene war starr, und seine Augen wirkten hart.
»Ich betrachte Mr. Melville als einen guten Freund. Und das seit einiger Zeit.«
Rathbone war klar, was Sacheverall als Nächstes sagen würde, aber er hatte keine Möglichkeit, es zu verhindern. Jeder Protest hätte jetzt die Sache nur noch schlimmer gemacht. Es wäre der Eindruck entstanden, er selbst hätte über diese Dinge Bescheid gewusst, was die Schlussfolgerung nahe legte, dass sie der Wahrheit entsprach. Er fühlte eine jähe Leere in sich.
Sacheverall machte sich nicht einmal die Mühe, ihn anzusehen.
»Ist das alles, Mr. Wolff?« Er hob fragend die Augenbrauen.
»Würden Sie ihn nicht eher als einen intimen Freund bezeichnen mit all den subtilen und mannigfaltigen Bedeutungen, die dieses Wort haben kann? Ich benutze es mit Vorbedacht.«
Auf der Galerie schnappten mehrere Zuschauer hörbar nach Luft. Einer der Geschworenen legte die Hand vor den Mund, ein anderer schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.
Ein Dritter war blass vor Zorn.
McKeever räusperte sich, sagte aber nichts.
Rathbone sah Melville an. Seine Augen brannten, und seine helle Haut war gerötet. Er starrte stur geradeaus.
»Sie können jedes Wort benutzen, das Ihnen gefällt, Sir«, antwortete Wolff mit belegter Stimme, aber äußerlich scheinbar gelassen. »Wenn Sie damit andeuten wollen, dass meine Beziehung zu Killian Melville in irgendeiner Weise unnatürlich ist, dann befinden Sie sich im Irrtum.« Auf der Galerie brach ein Tumult aus; jemand stieß einen empörten Aufschrei aus, und eine jähe Bewegung lief durch die Reihen. Ein Journalist zerbrach einen Bleistift und fluchte. »Diese Unterstellung entspringt einzig Ihrer Phantasie«, fuhr Wolff fort und hob die Stimme, um sich Gehör zu verschaffen. »Ich stehe unter Eid, und ich schwöre, dass es so ist. Ich habe no ch nie in meinem Leben eine sexuelle Beziehung zu einem anderen Mann gehabt, noch könnte ich mir etwas Derartiges vorstellen.« Diesmal war die Unruhe im Saal noch größer. Jemand rief eine Anschuldigung in den Raum, ein anderer ein Schimpfwort.
McKeever schlug wütend mit dem Hammer auf sein Pult und verlangte Ruhe.
»Ich erwarte nicht, dass Sie es zugeben, Mr. Wolff.« Sacheverall schien nicht im Mindesten aus dem Gleichgewicht gebracht zu sein. Er zuckte kaum merklich die Achseln, entfernte sich einige Schritte vom Zeugenstand, fuhr dann auf dem Absatz herum und hob plötzlich anklagend die Stimme.
»Aber ich werde Zeugen aufrufen, Mr. Wolff! Ist es das, was Sie wollen, Sir? Ich werde es zweifellos tun, wenn Sie mich dazu zwingen! Gestehen Sie Ihre Beziehung zu Killian Melville, und raten Sie ihm als Ihrem Freund und Geliebten, in dieser Sache nachzugeben.« Er sprach das Wort ›Geliebter‹ mit unendlichem Abscheu und verächtlich geschürzten Lippen aus.
»Hören Sie auf, zu verteidigen, was nicht zu verteidigen ist!
Versuchen Sie nicht, Ihre Kräfte mit mir zu messen, Sir, denn ich warne Sie, Sie werden den Kürzeren ziehen!«
Melville saß wie erstarrt da. Sein Gesicht war aschfahl, sodass die Sommersprossen wie dunkle Farbkleckse hervorstachen. Er ließ Wolff nicht aus den Augen, und sein Schmerz war so überwältigend, dass Rathbone ihn beinahe selbst fühlen konnte. Einige Sekunden lang kam ihm gar nicht zu Bewusstsein, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, bis seine Fingernägel kleine Halbmonde in sein Fleisch gebohrt hatten.
Im Gerichtssaal herrschte gespanntes Schweigen.
Isaac Wolff stand ebenfalls vollkommen reglos da. Der Blick, mit dem er Sacheverall bedachte, war vernichtend. Ein weniger selbstbewusster Mann wäre ins Wanken geraten und hätte zumindest einen Hauc h von Selbstzweifel gezeigt, statt zu lächeln.
»Wenn Sie die Absicht haben, meinen Namen oder den eines anderen in den Schmutz zu ziehen, indem Sie Menschen in diesen Zeugenstand berufen, die dort sagen, was auch immer Sie wünschen, dann müssen Sie das tun«, erklärte Wolff bedachtsam. Er sprach sehr langsam, als mache es ihm Mühe, die Worte über die Lippen zu bringen und seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben. »Das ist eine Sache, die Sie selbst entscheiden müssen, nicht ich. Ich werde nichts zugeben, was nicht der Wahrheit entspricht. Ich habe bereits geschworen, dass ich niemals sexuelle Beziehungen zu anderen Männern hatte, nur zu Frauen.« Ein erregtes Summen ging durch die Menge, die bei derart offenen Worten sichtlich verlegen wurde.
»Ich kann und werde an dieser Erklärung nichts ändern, welche Drohungen Sie auch gegen mich aussprechen mögen«, fuhr Wolff fort. »Und wenn Sie jemanden dazu bringen, einen falschen Schwur oder einen Meineid zu leisten, dann tragen Sie die Verantwortung dafür, und Sie machen sich größter Unaufrichtigkeit schuldig, Sir, wenn Sie irgendjemanden glauben machen wollen, ich hätte das zu verantworten.«
Sacheverall schob seine großen Hände in die Taschen seines Mantels.
»Sie zwingen mich dazu, Sir! Ich habe nicht den Wunsch, Ihne n das anzutun! Um Himmels willen, ersparen Sie sich die Schande! Wenn Sie schon nicht an sich selbst denken, so denken Sie wenigstens an Mr. Melville.«
»Indem ich ein Verbrechen gestehe, dessen sich keiner von uns beiden schuldig gemacht hat?«, entgegnete Wolff verbittert.
Rathbone erhob sich. »Mylord, dürfte ich um eine Vertagung des Gerichts bitten, damit ich mit meinem Mandanten und Mr. Sacheverall sprechen kann? Vielleicht können wir zu einer Verständigung kommen, die gewiss besser wäre als die augenblickliche Anschuldigung, die im Übrigen nichts beweist.«
»Ich denke, das wäre ratsam«, stimmte McKeever ihm zu.
Während er erneut zu seinem Hammer griff, hörte man von der Galerie ein enttäuschtes Raunen, und mehrere Geschworene murmelten etwas, obwohl sich unmöglich sagen ließ, ob dieses Geräusch Zustimmung oder Missbilligung bedeutete.
»Mr. Sacheverall?« Er wartete die Antwort nicht erst ab, sondern setzte sie als selbstverständlich voraus. »Gut. Das Gericht vertagt sich auf heute Nachmittag, zwei Uhr.«
Rathbone beugte sich zu Melville, der nach wie vor reglos dasaß, und umfasste seinen Arm.
»Was kann er beweisen?«, flüsterte er ungehalten. »Was bedeutet Wolff Ihnen?«
Melvilles Anspannung wich nur langsam von ihm, als erwache er aus einer Trance.
Ein Lächeln, in dem ein Anflug von Hysterie lag, huschte über sein Gesicht und war sogleich wieder verschwunden.
»Er ist jedenfalls nicht mein homosexueller Geliebter!«, stieß er voller Entrüstung hervor. »Ich schwöre das im Namen Gottes! Er ist so normal und männlich, wie ein Mann nur sein kann.«
»Aber was hat das alles dann zu bedeuten? Ist er ein Verwandter, ein Blutsverwandter oder angeheiratet?« Noch während er fragte, ging Rathbone durch den Sinn, dass er unmöglich ein Blutsverwandter sein konnte. Die beiden Männer waren in körperlicher Hinsicht denkbar verschieden. Wolff musste zehn oder zwölf Zentimeter größer sein. Er war dunkelhaarig, Melville hingegen blond; ein düsterer, mystischer, keltischer Typ, während Melville offen, klar und angelsächsisch war. »Was ist es?«, wiederholte er unerbittlich.
Aber Melville weigerte sich zu antworten.
Der Justizwachtmeister stand neben dem Tisch.
»Mr. Sacheverall erwartet Sie, Sir Oliver. Ich werde Sie zu ihm führen.«
»Wollen Sie aufgeben?«, fragte Rathbone, der Melville nach wie vor fixierte. »Diese Entscheidung kann ich Ihnen nicht abnehmen. Ich weiß nicht, was Sacheverall herausfinden wird oder was diese Zeugen sagen können.«
»Ich weiß es genauso wenig!«, erwiderte Melville fahrig.
»Aber ich werde Zillah Lambert nicht heiraten.« Er schloss die Augen. »Tun Sie einfach, was Sie können…« Seine Stimme versagte, und er wandte sich ab.
Rathbone blieb nichts anderes übrig, als dem Wachtmeister zu folgen und sich mit Sacheverall zu treffen, ohne die geringste Ahnung, was er aus dem Chaos, in das man ihn hineingestürzt hatte, retten könnte. Nur dass er, wenn er ehrlich war, zugeben musste, dass man ihn nicht hineingestürzt hatte - er war vielmehr selbst hineingesprungen. Seine eigene Gedankenlosigkeit hatte ihm diesen Schlamassel eingebracht.
Sacheverall lehnte in einer halb sitzenden Position an dem kahlen Tisch in dem kleinen Raum, der eigens für derlei Besprechungen vorgesehen war. Er erhob sich auch nicht, als Rathbone eintrat und die Tür hinter sich schloss. Seine hellen Augenbrauen hoben sich fragend an.
»Bereit zum Rückzug?«
Rathbone setzte sich auf einen der Stühle und schlug die Beine übereinander. Ihm wurde klar, dass er Sacheverall nicht mochte, aber nicht weil dieser den Prozess gewinnen würde - er hatte schon früher Fälle verloren und das an Gegner, die er durchaus schätzte und bewunderte. Was ihm an diesem Mann missfiel, war die Art, wie er all das Elend, das Melville bevorstand, auch noch auskostete. Er genoss die Rolle, die er selbst dabei spielte. Es widerstrebte Rathbone zutiefst, diesem Mann auch nur das Geringste in die Hand zu geben.
»Wenn Sie meinen, ob ich bereit bin zu kapitulieren, nein, das bin ich nicht. Wenn Sie glauben, dass wir die Situation erörtern sollten, dann bin ich natürlich bereit dazu. Ich dachte, dass hätte ich mit meiner Bitte um eine Vertagung bereits deutlich gemacht.«
»Um Gottes willen, Mann!«, sagte Sacheverall mit einem schiefen Lachen. »Sie sind geschlagen! Nehmen Sie Ihre Niederlage mit Anstand hin, und ich rufe meine Zeugen nicht auf, die Wolff und Melville in den intimsten und kompromittierendsten Situationen zusammen gesehen haben! Natürlich will der Mann nicht heiraten!« Seine Stimme troff vor Verachtung. »Er ist homosexuell… Ich benutze das höflichste Wort, das ich für das, was er tut, finden kann.« Seine Miene machte allzu deutlich, welche Worte ihm wirklich auf der Zunge lagen.
»Sie können jedes Wort benutzen, das Ihnen geläufiger ist«, antwortete Rathbone mit einem höhnischen Lächeln, das er nicht einmal zu verbergen suchte. »Sie brauc hen hier drinnen nicht auf Ihren Ruf zu achten.«
Sacheverall errötete. Vielleicht war es ihm deutlicher bewusst, als er sich anmerken ließ, was für eine jämmerliche Figur er neben Rathbone abgab, ungelenk, unelegant, mit zu großen Ohren.
»Wenn Sie glauben, ich würde diese Sache nicht ausschlachten, dann irren Sie sich!«, sagte er wütend. »Ich werde es tun! Jede schmutzige Einzelheit, die notwendig ist, um die Sache meiner Mandantin zu unterstützen und den Schadenersatz zu fordern, der ihr zusteht. Melville wird im Gefängnis landen… Und genau dort gehört er hin.«
»Wenn es das ist, was Barton Lambert will«, sagte Rathbone leise, »dann muss er Melville hassen… oder ihn fürchten…. und zwar weit mehr, als sich durch die Ereignisse, die uns bisher bekannt sind, erklären ließe! Ich habe allerdings einen exzellenten Ermittler auf den Fall angesetzt, und falls es auch nur den geringsten Makel in der Vergangenheit eines Mitglieds der Familie Lambert geben sollte - vom Tag ihrer Geburt an -, dann wird er es herausfinden.«
Er sah, wie Sacheveralls Gesicht sich vor Zorn rötete, und ignorierte es. »Und natürlich wird, sobald Sie dieser Art von Verleumdung erst einmal Tür und Tor geöffnet haben, alles erlaubt sein. Die Galerie wird begeistert sein. Die Presse wird sich wie ein Rudel tollwütiger Hunde auf sie stürzen.« Rathbone arrangierte seine Beine ein wenig eleganter. »Sie und ich, wir sind uns darüber natürlich im Klaren. Wir haben so etwas schon früher erlebt. Aber sind Sie sich sicher, dass die Lamberts wissen, was auf sie zukommt? Sind Sie sich absolut sicher, dass Mrs. Lambert bereit ist mit anzusehen, wie ihr Leben, jeder Flirt, jedes Geschenk, jeder kleine Zwischenfall, jeder Brief, jede Vertraulichkeit auf diese Weise unter die Lupe genommen wird?«
Inzwischen hatten sich purpurne Flecken auf Sacheveralls Wangen ausgebreitet, und er beugte sich mit geradem Rücken und hochgezogenen Schultern vor.
»Wie können Sie es wagen!«, stieß er wütend hervor. »»Sie sind tiefer gesunken, als ich es für möglich gehalten hatte! Ihr Mandant hat sich einer Verhaltensweise schuldig gemacht, die die gesamte zivilisierte Welt als verwerflich betrachtet! Er hat eine durch und durch unschuldige junge Frau getäuscht und betrogen, um seine ehrgeizigen Ziele zu erreichen - und Sie drohen ihr mit Verleumdung, um ihm zu helfen, der gerechten Strafe für seine Tat zu entgehen!« Er stach mit dem Finger in Rathbones Richtung, und seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Sie beweisen damit, dass Sie hinter dieser Fassade eines Gentleman ein Mann ohne Ehre und Prinzipien sind. Bestenfalls kann ich mir vorstellen, dass Sie ehrgeizig und habgierig sind, schlimmstenfalls hegen Sie eine Sympathie für Ihren Mandanten, die erheblich zu weit geht, als Sie es vor den Augen der Öffentlichkeit bloßgelegt sehen möchten.«
Rathbone durchfuhr es kalt, als ihm bewusst wurde, was Sacheverall meinte, dann musste er lachen. Schließlich verwandelte sich seine Abneigung gegen den Mann in etwas weitaus Stärkeres.
»Sie haben eine schmutzige Phantasie, Sacheverall, die auf ein bestimmtes Gebiet fixiert zu sein scheint. Der Grund für meine Weigerung, diese Tat im Namen meines Mandanten zuzugeben, ist außerordentlich simpel. Er hat mir entsprechende Anweisungen gegeben. Seine Wünsche sind bindend für mich, sowie Sie sich an die Wünsche Ihrer Mandantschaft gebunden fühlen - oder jedenfalls gebunden fühlen sollten.« Er legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich weiß nicht, warum es Mr. Melville so sehr widerstrebt, die junge Dame zu heiraten, nachdem er sie so gut kennen gelernt hat. Aber wenn Sie auch nur ein Jota Verstand zwischen den Ohren haben…«, er sah Sacheverall erröten - er hatte seine Ohren mit voller Absicht erwähnt, »… dann werden Sie auch die Möglichkeit erwägen, dass der Grund keineswegs bei Isaac Wolff, sondern einzig und allein bei Miss Lambert selbst liegen könnte.«
»Sie hat absolut nichts zu verbergen!«, stieß Sacheverall hervor. »Glauben Sie denn, sie wäre so dumm, sich sonst auf so etwas einzulassen? Ihr Vater ist schließlich kein Idiot!«
Rathbone lächelte geduldig. »Wenn er glaubt, alles über das Leben seiner Tochter zu wissen, dann ist er mehr als ein Idiot.« Sacheverall war erschüttert und zugleich wütend. Seine Gefühle spiegelten sich in seinen Augen wider. Seine Hand, die auf dem Tisch lag, zitterte.
Rathbone erhob sich langsam. »Denken Sie noch ein Weilchen über die Angelegenheit nach, bevor Sie Ihre Zeugen aufrufen und sich auf das Gebiet privater Beziehungen begeben, um Melville zu ruinieren. Ich denke, Sie werden feststellen, dass es nicht das ist, was Lambert wünscht. Vielleicht sollten Sie einmal allein mit Miss Lambert sprechen? Möglicherweise stellen Sie dann fest, dass sie durch die Umstände in diesen Prozess hineingetrieben wurde und sich jetzt nicht zurückziehen kann, ohne weit mehr erklären zu müssen, als ihr lieb ist. Väter können gelegentlich sehr… blind sein… wenn es um ihre Töchter geht. Es ist noch nicht zu spät, die Sache privat beizulegen.«
»Mit vollem Schadenersatz?«, wollte Sacheverall wissen.
»Und einer Erklärung, dass Miss Lambert nicht der leiseste Vorwurf trifft?«
»Mr. Melville hat nie etwas anderes angedeutet, als dass sie eine durch und durch reizvolle und begehrenswerte junge Dame ist, eine wunderbare Braut für jeden Mann«, sagte Rathbone wahrheitsgemäß. »Er möchte sie nur nicht selbst heiraten. Seine Gründe gehen niemanden sonst etwas an. Vielleicht gehören Miss Lamberts Gefühle einem anderen, aber sie kann es sich nicht leisten, das einzugestehen - falls der Gentleman unpassend sein sollte oder gar verheiratet.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Sacheverall sofort und mit großer Erregung.
»Wahrscheinlich«, pflichtete Rathbone ihm bei. Er stand mittlerweile an der Tür. »Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass die Möglichkeiten vielfältig sind und keine davon das Gesetz oder die allgemeine Öffentlichkeit etwas angehen muss. Beraten Sie sich mit Ihren Mandanten und lassen Sie mich das Ergebnis wissen.« Und bevor Sacheverall noch irgendwelche Einwände erheben konnte, verließ Rathbone den Raum und zog die Tür hinter sich zu, wobei er überrascht feststellte, dass seine Hände feucht waren und seine Kehle wie zugeschnürt.
Wie der Zufall es wollte, wurde die Verhandlung während der nächsten zwei Tage nicht fortgesetzt, und Rathbone nutzte die Zeit. Als Erstes suchte er Isaac Wolff auf, dessen Adresse er von Melville erhalten hatte. Er wusste nicht, was er sich von dieser Begegnung erhoffte. Vielleicht lauerte irgendwo in seinen Gedanken die Angst, dass Sacheverall Recht haben könnte und ein Besuch bei Wolff diesen Verdacht bestätigen würde.
Als er die Wakefield Street gleich hinter dem Regent Square entlangging und nach der richtigen Hausnummer Ausschau hielt, wurde ihm klar, wie wenig Konkretes er über Killian Melville wusste. Er kannte den Mann überhaupt nicht. Er spürte lediglich ein tiefes Gefühl in dem anderen Mann. Die Liebe zu seiner Kunst war echt. Man brauchte sich nur die Arbeit selbst anzusehen. Die Schönheit, die seine Bauwerke ausstrahlten, sagten mehr über das Wesen dieses Mannes, über seine Träume und seine Wertvorstellungen, als er es jemals mit Worten vermocht hätte.
Aber da war dennoch etwas schwer Fassbares in ihm, etwas, das er sorgfältig verborgen hielt. Darüber hatte er sich noch kein Urteil bilden können.
Er kam zu dem Haus, in dem Wolff wohnte, und betätigte den Glockenzug an der Tür. Ein Lakai ließ ihn ein und führte ihn die Treppe hinauf in eine sehr geschmackvolle Halle, von der einige Wohnungen abzweigten, die die gesamte Front des Hauses einnahmen.
Isaac Wolff bat ihn herein und führte ihn in ein Wohnzimmer mit Blick auf die Straße, aber die Vorhänge vor den Fenstern waren dick genug, um keine neugierigen Blicke von außen eindringen zu lassen. Es war eine altmodische Wohnung, die zwar nichts von der Eleganz und Phantasie von Killian Melvilles Architektur besaß, aber dennoch außerordentlich behaglich wirkte. Die Möbel waren dunkel und schwer und die Wände von Bücherregalen gesäumt, obwohl Rathbone keine Zeit hatte festzustellen, welchen Themen sie gewidmet waren.
Wolff sah ihn unverwandt an. Sein Blick war nicht unfreundlich, aber wachsam. Er rechnete mit einem Angriff.
Rathbone fragte sich, ob ihm dergleichen schon früher begegnet war - Argwohn, Anschuldigungen, Andeutungen.
»Guten Tag, Mr. Wolff.« Rathbone hörte den entschuldigenden Unterton in seiner eigenen Stimme. Sein Besuch war eine Störung, die dem Mann verhasst sein musste.
»Es tut mir Leid, aber ich muss vor der morgigen Beweisaufnahme mit Ihnen reden. Ich habe mich bereits mit Mr. Sacheverall beraten, und es ist möglich, dass er Mr. Lambert dazu überreden kann, die Sache außergerichtlich beizulegen, aber das ist nur eine winzige Hoffnung, und wir können uns nicht darauf verlassen.«
Wolff holte lautlos Luft. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen.
»Sie müssen äußerst tüchtig sein, Sir Oliver. Was um alles in der Welt haben Sie ihm gesagt, dass er eine gütliche Einigung auch nur in Betracht zieht? Er scheint den Sieg doch in der Tasche zu haben. Was er sagt, stimmt zwar nicht, aber ich habe keine Möglichkeit, meine Behauptung zu beweisen.«
»Niemand kann solche Dinge je beweisen«, pflichtete Rathbone ihm bei. Er ging ein oder zwei Schritte in den Raum hinein und setzte sich dann auf den Stuhl, auf den Wolff gewiesen hatte. »Das ist das Wesen der Verleumdung. Sie funktioniert mit Hilfe von Andeutungen, Vorurteilen und der Phantasie und zielt auf die hässlichste Seite der menschlichen Natur ab, tut das aber auf so raffinierte Weise, dass man sich nicht davor schützen kann. Sie ist das Werkzeug eines Feiglings, und wie die meisten Menschen habe ich nur Verachtung für dergleichen übrig.« Er blickte in Wolff s Gesicht mit den leuchtenden Augen und dem empfindsamen Mund. »Aber wie ich Mr. Sacheverall bereits erklärt habe, ist es eine Waffe, die beinahe in jede Hand passt, in meine ebenso gut wie in seine, wenn es sich nicht vermeiden lässt.«
»In Ihre Hand?« Wolff sah ihn überrascht an. Er war stehen geblieben, mit dem Rücken zum Fenster, sodass das Licht seine Silhouette nachzeichnete. »Wen könnten Sie verleumden, und was würde es nützen? Würde ein solches Vorgehen Melville nicht in einem sehr schlechten Licht erscheinen lassen?«
»Ja, wahrscheinlich. Und es ist vorstellbar, dass er sich ohnehin weigern würde, etwas dergleichen zu tun«, erwiderte Rathbone. »Aber das weiß Sacheverall nicht, noch würde er es wagen sich darauf zu verlassen. Er kann sich nicht sicher sein, ob Melville nicht, wenn er den Ruin vor Augen hat, seine bisherige Ehrenhaftigkeit aufgibt und zuschlägt.«
»Das würde er nicht tun«, sagte Wolff schlicht. In seinen Worten lag nicht der Hauch eines Zweifels.
»Ich glaube Ihnen«, antwortete Rathbone, und er meinte es ernst. Es überraschte ihn, wie felsenfest er selbst davon überzeugt war, dass Melville eher seiner eigenen Vernichtung ins Auge sehen würde, als so tief zu sinken, Lügen über Zillah Lambert zu verbreiten. Sein Verhalten in dieser Angelegenheit war eine Abfolge von Handlungen, die keiner offenkundigen Logik folgten. Rathbone war sich einmal mehr darüber im Klaren, dass es da irgendetwas gab, von dem er nichts wusste, das aber alles erklären würde.
Wolff entspannte sich kaum merklich. Er wartete darauf, dass Rathbone weitersprach.
»Sacheverall setzt das Wohlergehen seiner Mandantin wie auch sein eigenes aufs Spiel, deshalb muss er absolut sicher sein.« Rathbone schlug die Beine übereina nder und lächelte Wolff an, um dem anderen das Gefühl zu geben, dass sie gemeinsam gegen ein Vorurteil kämpften, gegen Auffassungen, die sie beide zutiefst verachteten, aber das Thema war zu heikel, als dass man es in Worte hätte fassen können. »Und er ahnt oder weiß vielleicht auch, dass Melville nicht mit einem Gegenangriff reagieren würde, aber er ist sich eben nicht sicher.
Auch ich werde im Interesse meines Mandanten handeln und ihn nicht unbedingt vorher um seine Erlaubnis bitten.«
»Würden Sie so etwas wirklich tun?«, fragte Wolff.
»Ich weiß es nicht.« Rathbone lachte in sich hinein. Es war die Wahrheit; er wusste nicht, was er tatsächlich enthüllen würde, falls Monk irgendetwas herausfinden sollte. Eines wusste er allerdings ohne jeden Zweifel: Er würde Monk antreiben, alles herauszufinden, was es zu wissen gab: über Zillah Lambert, über ihren Vater, ihre Mutter und alles andere, was möglicherweise mit dem Fall zu tun haben könnte. »Ich habe keine Ahnung, ob da etwas ist, aber Sacheverall weiß es ebenso wenig.«
Wolff stieß langsam den Atem aus.
»Aber ich muss herausbekommen, was die anderen über Melville in Erfahrung bringen können«, fuhr Rathbone widerstrebend fort. »Nicht, was wahr ist oder unwahr…. sondern, welche Zeugen er aufruft, und was sie möglicherweise sagen werden?«
Wolff versteifte sich wieder, und seine Stimme klang unnatürlich ruhig. »Dass Melville und ich Freunde sind«, erwiderte er, ohne den Blick abzuwenden. »Dass er mich hier besucht hat, manchmal tagsüber, manchmal abends.«
»Ist er auc h über Nacht geblieben?«
»Nein.«
Rathbone war sich nicht sicher, ob er tatsächlich ein Zögern in der Antwort gehört hatte oder ob es Einbildung gewesen war, denn sobald jemand ein bestimmter Gedanke nahe gebracht wurde, neigte er dazu, sich davon beeinflussen zu lassen.
»War da sonst noch etwas?«, fragte Rathbone. »Bitte sagen Sie die Wahrheit, Mr. Wolff. Ich kann weder Melville noch Sie vor etwas schützen, von dem ich nichts weiß.«
Aber Wolff war genauso halsstarrig wie Melville. Er sah ihn mit dem gleichen ausdruckslosen Blick an und leugnete es abermals.
»Wie lange kennen Sie Melville schon?«, hakte Rathbone nach.
Wolff dachte einen Augenblick nach. »Etwa zwölf Jahre, vielleicht noch nicht ganz.«
»Wissen Sie, warum er seine Meinung in Bezug auf eine Ehe mit Miss Lambert geändert hat?«
Wolff stand immer noch mit dem Rücken zum Fenster, aber das Licht fiel auf sein Profil, und Rathbone konnte sein Mienenspiel verfolgen. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht im Geringsten.
»Er hat seine Meinung nicht geändert«, erwiderte er. »Er hatte nie die Absicht, sie zu heiraten. Er mochte sie.
Es war eine Freundschaft, von der er glaubte, dass sie sie auf gleicher Ebene erwidere. Er war entsetzt, als ihm klar wurde, dass sowohl sie als auch ihre Familie da etwas ganz anderes hineingedeutet hatten.«
Rathbone spürte, dass er von Wolff nichts mehr erfahren würde. Er zog kurz in Erwägung, die Nachbarn zu befragen, aber Monk war darin sicher weit geschickter als er, und er hatte andere Dinge zu tun. Er erhob sich, dankte Wolff für seine Mühe und warnte ihn noch einmal, dass ihre Hoffnungen auf eine außergerichtliche Regelung nach wie vor äußerst gering waren. Als er ging, war er wütend und enttäuscht, obwohl er nicht hätte sagen können, was herauszufinden er gehofft hatte.
»Was soll ich für Sie in Erfahrung bringen?«, fragte Monk, als sie bei einem exzellenten Mahl - gebratener Hammelrücken und Frühlingsgemüse - zusammensaßen. Rathbone hatte Monk in eins seiner bevorzugten Gasthäuser zum Essen eingeladen. Der Speiseraum summte von Leben, war aber nicht überfüllt. Sie hatten einen Tisch abseits der Tür gefunden, wo sie weder zu abgelegen saßen noch von allzu lauten Tischnachbarn belästigt wurden.
»Ich will, dass Sie das Schlimmste von dem, was die anderen entdecken könnten, Ihrerseits herausfinden. Dass Sie feststellen, was man aus wirren und voreingenommenen Beobachtungen für Schlüsse ziehen könnte«, beantwortete er Monks Frage, als die Bedienung einen Humpen Bier vor sie hinstellte und er ihr dankend zunickte.
Monk nahm sich noch eine der knusprigen Ofenkartoffeln.
»Ich gehe davon aus, dass Sie mit diesem Wolff bereits gesprochen haben und auch mit Melville selbst.«
»Natürlich. Sie leugnen es beide, haben aber sonst wenig hinzuzufügen.«
»Glauben Sie ihnen?« Monk war neugierig; in seinem Blick deutete nichts darauf hin, dass er die Antwort auf diese Frage bereits vorweggenommen hatte.
Rathbone dachte, während er langsam kaute, nach. Das Hammelfleisch war hervorragend.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »In irgendeinem Punkt lügen sie beide. Bei Wolff kann ich es spüren, und bei Melville bin ich mir dessen gewiss, aber ich habe keine Ahnung, worum es sich handelt. Ich bin mir keineswegs sicher, dass es das ist.«
»Aber was ist es dann?«
»Ich weiß es nicht!«, erwiderte Rathbone scharf. »Wenn ich es wüsste, brauchte ich Sie nicht.«
Monk sah ihn belustigt an.
»Ich muss etwas gegen Lambert in der Hand haben, wenn Sacheverall nicht zu einer Einigung bereit ist«, fuhr Rathbone fort. »Und ich glaube nicht, dass er sich da auf irgendetwas einlässt. Er wird zu Lambert gehen und ihn fragen, ob es irgendetwas gibt, das ich herausfinden könnte. Lambert wird schwören, dass es keine dunklen Flecken in der Vergangenheit seiner Familie gibt. Wenn Sacheverall auch nur einen Funken Verstand hat, wird er mit Zillah allein darüber sprechen und sie ebenfalls befragen. Was immer da ist oder auch nicht ist, ich weiß nichts.«
»Aber Sie müssen es wissen«, beendete Monk seine Überlegungen für ihn, bevor er sich vorbeugte und sich die letzte Kartoffel nahm.
»Genau.«
»Und wenn da etwas wäre, würden Sie es benutzen?«, fragte Monk neugierig.
»Das braucht nicht Ihre Sorge zu sein. Es sei denn, Sie wollen den Auftrag nicht übernehmen, falls ich etwas Nachteiliges über die Familie Lambert an die Öffentlichkeit bringen würde?«
Monk lachte. »Ich habe mich oft gefragt, wie weit Sie in einem Prozess gehen würden, falls man Sie auf die Probe stellt. Welche Waffen Sie vielleicht einsetzen würden. Ich werde herausfinden, was ich kann.«
»Und mir dann nur das sagen, was Sie mir sagen wollen?«, erwiderte Rathbone trocken.
»Natürlich. Ich nehme an, Sie bezahlen die Rechnung selbst?«
»Selbstverständlich. Würden Sie mir jetzt bitte die Pfefferminzsauce reichen?«
Monk kam seiner Bitte mit einem breiten Lächeln nach.
Sacheverall schickte Rathbone eine sehr klare und schroff formulierte Nachricht, dass sein Mandant nicht zu einer außergerichtlichen Einigung bereit sei, und am Donnerstagmorgen waren sie alle wieder vor Gericht versammelt. Sacheverall stand vor dem erhöht gelegenen Zeugenstand und wandte sich zuerst an den Richter, dann an die Geschworenen. Er tat so, als ignoriere er die Zuschauerbänke, auf denen jetzt wieder weit mehr Menschen Platz genommen hatten.
»Ich rufe Major Albert Hillman in den Zeugenstand.«
Major Hillman trat pflichtschuldigst in den Saal und ging mit einem deutlichen Humpeln auf seinen Platz zu. Er blickte stur geradeaus und sah weder zu Rathbone noch zu Melville hinüber, schenkte allerdings auch Sacheverall keine Beachtung, der ein wenig breitbeinig und mit durchgedrücktem Rücken dastand und Ähnlichkeit mit einem Zirkusdirektor hatte. Der Major stieg mit einiger Mühe die Stufen hinauf und legte den Eid ab.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie in dieser unglücklichen Angelegenheit bemühen muss, Sir«, entschuldigte Sacheverall sich bei ihm. »Ich hoffe, Ihre Verletzung bereitet Ihnen nicht allzu große Schmerzen?«
Rathbone seufzte. Das Gebrechen des Zeugen würde sich gewiss als Kriegsverletzung erweisen, auf höchst ehrenhafte Weise erworben, was auch der Grund war, warum Sacheverall darauf aufmerksam gemacht hatte. Es war alles sehr durchschaubar, aber deswegen nicht minder wirkungsvoll.
»Meine Pflicht, Sir«, erwiderte der Major steif. Sein Widerwille stand ihm ins Gesicht geschrieben und drückte sich auch in seiner Stimme aus.
»Natürlich«, nickte Sacheverall. »Ich werde mich so kurz wie möglich fassen. Das alles wäre nicht notwendig gewesen, hätte Mr. Melville sich bereit gefunden, seine Schuld einzugestehen.« Er sah kurz zu Rathbone hinüber, wandte den Blick aber sogleich wieder ab. »Dann hätten wir uns diese unerfreulichen Enthüllungen ersparen können.«
Der Richter beugte sich vor. »Sie haben sich hinreichend entschuldigt, Mr. Sacheverall. Bitte kommen Sie jetzt zur Sache.«
»Mylord.« Sacheverall verbeugte sich.
McKeevers große blaue Augen schienen sich nicht im Mindesten zu verändern, und doch konnte Rathbone selbst von seinem Platz aus die Kälte in ihnen sehen. Dieser ganze Fall hätte nicht vor Gericht kommen dürfen.
Das Ganze war lächerlich. Ohne nachzudenken, hatte Rathbone sich erhoben.
»Mylord! Bevor wir damit beginnen, das Privatleben zweier Männer vor der Öffentlichkeit auszubreiten und Dinge zu unterstellen, die sich nicht beweisen lassen und die uns nichts angehen sollten…«
Sacheverall fuhr herum und starrte Rathbone mit übertriebenem Erstaunen an.
»Mylord! Will Sir Oliver sagen, dass sexuelle Perversion und Verderbtheit die Öffentlichkeit nichts angehen, nur weil sie nicht mitten auf der Straße vollzogen werden?« Er warf mit einer dramatischen Gebärde die Arme hoch. »Ist ein Verbrechen deswegen kein Verbrechen, weil es hinter verschlossenen Türen stattfindet? Ist das seine Anschauung von Moral? Ich hoffe, er meint nicht ernst, was er da sagt?«
Rathbone war außer sich vor Wut. Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg.
»Mr. Sacheverall weiß, dass ich nichts dergleichen andeuten will!«, fuhr er auf. »Ich möchte lediglich darum bitten, dass wir uns nicht in die Niederungen obszöner, unbeweisbarer Spekulationen über das Privatleben zweier Männer herabbegeben, um Missverständnisse, Oberflächlichkeit oder schlimmstenfalls Verantwortungslosigkeit zu rechtfertigen. Das kann niemandem helfen! Alle Beteiligten würden dadurch verletzt werden, und das vielleicht vollkommen zu Unrecht. Sie…«
»Mit anderen Worten, Mylord«, unterbrach ihn Sacheverall höhnisch, »Sir Oliver möchte, dass meine Mandantin seinem Mandanten verzeiht und die Sache einfach fallen lässt, was bedeuten würde, dass Miss Lamberts Ruf nach wie vor in Zweifel stünde, als wäre dieser und ihre zutiefst verletzten Gefühle ohne jede Bedeutung. Ich fürchte, Sir Oliver lässt es deutlich an Wertschätzung für die Reinheit und das Feingefühl der Frauen fehlen! In Anbetracht seiner Abneigung gegen skandalöse Mutmaßungen, die sich nicht beweisen lassen, möchte ich hier nicht darüber spekulieren, welches seine Gründe sein mögen!«
Rathbone machte einen Schritt nach vorn. »Ich betrachte Miss Lamberts Ruf als äußerst wichtig«, sagte er wütend. »Der Unterschied zwischen uns ist der, dass ich auch an Mr. Melvilles Ruf denke… und an Mr. Wolffs! Er hat nichts mit diesem Fall zu tun, und doch hat er viel zu verlieren, ohne dass seine Schuld nachgewiesen werden könnte und ohne dass er irgendjemandem geschadet hätte!«
»Das bleibt abzuwarten«, gab Sacheverall zurück. »Und was die Frage betrifft, ob derlei Taten falsch sind - oder nicht -, das wird ein anderes Gericht entscheiden. Aber ich weiß, was die Öffentlichkeit denkt!« Er lachte beinahe, als er das sagte, und wandte sich wieder halb der Galerie zu, als habe er sich zum Sprecher der Zuschauer dort gemacht.
McKeever seufzte. Er sah Sacheverall voller Abneigung an.
»Ja, das wissen Sie zweifellos«, sagte er leise. »Aber dies ist eine Gerichtsverhandlung, Mr. Sacheverall, und nicht der Ort für öffentliche Spekulationen und Klatsch.« Er sah Rathbone an.
»Ich bedaure, Sir Oliver, aber so leidenschaftlich Ihr Plädoyer ist, vor dem Gesetz ist es kein Argument. Wenn Mr. Sacheveralls Mandantin diese Art der Befragung weiterzuverfolgen wünscht, muss ich es gestatten.«
Rathbone fuhr herum, um Barton Lambert anzusehen, der zusammen mit seiner Frau nicht weit hinter Sacheverall saß. Delphine Lamberts hübsches Gesicht verriet absolute Entschlossenheit. Zuvor, als sie ganz Charme und Eleganz gewesen war, war ihm nicht klar geworden, welche innere Stärke sie besaß. Er war überzeugt davon, in ihr die treibende Kraft hinter diesem Prozess sehen zu können. Sie war es, die wusste, welcher Schaden ihrer Tochter zugefügt würde, wenn sich herumsprach, dass ein junger Mann, der in sie verliebt gewesen war, das Verlöbnis in letzter Sekunde gelöst hatte. Barton Lambert mochte vielleicht Mitleid mit Melville haben. Delphine ganz gewiss nicht.
Rathbone kehrte zu seinem Platz zurück und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Und es kam. Sacheverall fragte den Major nach seiner Adresse, und er nannte dasselbe elegante Gebäude, in dem Isaac Wolff wohnte. Er fragte ihn, zu welcher Tages oder Abendzeit die Besuche Killian Melvilles erfolgt seien, soweit er sich daran erinnern konnte. Er fragte, was Melville getragen, wie er aufgetreten sei und wie er sich verhalten habe. Er nötigte den Major zu beschreiben, wie Wolff Melville an der Tür empfangen hatte und kam auch auf die augenfällige Freude zu sprechen, mit der die beiden einander zu begrüßen pflegten. Alle Fragen waren so geschickt formuliert, dass Rathbone keinerlei Einwände erheben konnte. Mehrfach fing er McKeevers Blick auf und sah dessen Widerwillen, aber der Richter war seinerseits fest entschlossen, dem Gesetz Genüge zu tun.
Als Sacheverall eine Stunde später fertig war und sich mit einem einladenden Lächeln zu Rathbone umwandte, hatte er bewiesen, dass die Begegnungen der beiden Männer einem immer gleichen Muster folgten und dass sie sich regelmäßig über mehrere Stunden erstreckten. Er konnte und wollte nicht mutmaßen, was in Wolffs Wohnung geschah, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, aber die Röte seiner Wangen, seine offenkundige Verlegenheit und sein wachsender Ärger machten seine Gedanken transparent.
Rathbone erhob sich, innerlich aufgewühlt. Er hatte sich selten einem Fall so wenig gewachsen gefühlt, ebenso wie er kaum je auf einen Gegner so wütend gewesen war. Er hatte oft hart gekämpft und häufiger verloren, als ihm lieb war, aber aus besseren Gründen und gegen würdigere Gegner.
Er verachtete Wyston Sacheverall, nicht deshalb, weil ihm ein leichter Sieg in den Schoß fallen würde, sondern weil der Mann etwas Obszönes an sich hatte, das ihn anwiderte.
»Major Hillman«, begann er höflich und trat vor den Zeugenstand. »Ich bin überzeugt, Sie wären in dieser Angelegenheit lieber nicht hierher gekommen, und ich würde Sie nicht bedrängen, wenn es nicht absolut wichtig wäre.«
»Vielen Dank, Sir«, antwortete der Major steif. Er wusste nicht, was er von Rathbone halten sollte, und die Zweifel standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Sind Sie mit Mr. Wolff bekannt? Unterhalten Sie sich mit ihm, wenn Sie sich im Treppenhaus oder auf dem Flur begegnen?«
»Ja - ja, jedenfalls habe ich das bis jetzt getan.« Hillman war offensichtlich verwirrt.
»Aber irgendetwas hat jetzt Ihre Meinung geändert?«, hakte Rathbone scheinbar hilfsbereit nach. »Etwas, das heute gesagt wurde?«
Hillmann wirkte unglücklich. Er stand mit durchgedrückten Schultern und steifem Rücken da, den Blick starr geradeaus gerichtet, als sei er noch beim Militär.
»Vielleicht kann ich es Ihnen sagen?«, erbot Rathbone sich.
»Mr. Sacheverall hat eine Beziehung angedeutet, die durch und durch ungehörig wäre, und das würde Ihnen widerstreben?«
»Das will ich meinen, Sir! Das will ich meinen…« Hillmans Stimme zitterte vor Erregung.
»Zutiefst widerstreben?«
Hillmann schürzte die Lippen. »Zutiefst.«
Sacheverall beugte sich mit einem schiefen Lächeln über den Tisch.
Die Geschworenen hörten Rathbone wie gebannt zu.
Melville hatte den Kopf gesenkt.
»Ganz recht«, stimmte Rathbone zu. »Sie sind nicht allein, Major Hillman. Die meisten von uns wollen gar nichts über die intimen Einzelheiten aus dem Leben anderer Menschen wissen. Wir halten eine derartige Einstellung bestenfalls für aufdringlich, schlimmstenfalls für krankhafte emotionale Neugierde.«
Sacheverall sprang auf.
McKeever bedeutete ihm zu schweigen, aber der Blick, den er Rathbone zuwarf, warnte ihn, weiterzugehen.
»Aber bevor Sie heute hierher kamen, Major Hillman«, sagte Rathbone mit einem Lächeln, »sind Ihnen derartige Gedanken nie gekommen? Sie haben sich nicht freundlich mit Mr. Wolff unterhalten, während Sie ihn gleichzeitig in Verdacht hatten, die Dinge zu tun, die Mr. Sacheverall angedeutet hat?«
»Ganz gewiss nicht, Sir!«, sagte Hillman scharf. »Ich habe ihn für einen normalen Mann, in der Tat für einen Gentleman gehalten.«
»Dann ist es also Mr. Sacheverall, der Ihre Meinung geändert hat?«
»Jawohl, Sir.«
Rathbone lächelte. »Und da haben wir gedacht, Ihre Aussage sei es, die seine Meinung geändert hätte. Vielen Dank, dass Sie unseren Irrtum berichtigt haben, Sir. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Nun brauche ich Sie nicht weiter zu bemühen.«
Leises Lachen war zu hören. Aber es war ein kurzlebiger Sieg, wie Rathbone sehr wohl gewusst hatte. Auf Major Hillman folgte ein Mann von weniger tadellosem Ruf, ein Müßiggänger mit schmutziger Phantasie, der nichts Besseres zu tun hatte, als zu beobachten und Schlüsse zu ziehen. Seine Aussage war außerdem kunstvoll ausgeschmückt. Die Verachtung der Geschworenen für den Mann im Zeugenstand war unübersehbar, aber sie mussten sich seinen schlüpfrigen Schilderungen dennoch anhören, und so sehr sie auch versuchen mochten, sie aus ihren Gedanken zu verbannen - es war nicht möglich. Man kann nicht vergessen, nur weil man es will. Und sie hatten geschworen, die Beweise, und zwar alle Beweise, abzuwägen, ungeachtet ihrer persönlichen Gefühle - ein Sachverhalt, auf den Sacheverall sie mehr als einmal hinwies.
Rathbone hätte die Glaubwürdigkeit des Mannes erschüttern können, aber das hatte dieser schon selbst besorgt. Es wäre sinnlos gewesen, seine eigentliche Aussage in Zweifel zu ziehen. Jede Aufmerksamkeit, die er ihr widmete, konnte sie nur umso fester in den Köpfen der Geschworenen verankern.
»Nein danke, Mylord«, lehnte Rathbone ab. »Mir fällt beim besten Willen nichts ein, was ich mit einem solchen Mann zu bereden hätte.«
Die Mittagspause war kurz, gerade so lange, um ein hastiges Mahl einzunehmen, dann kehrten sie in den Gerichtssaal zurück. Ein Bewohner des Hauses, in dem Melville wohnte, schwor mit unglücklichem Gesichtsausdruck, gesehen zu haben, dass Isaac Wolff Melville besuchte und einige Zeit blieb. Aber wie sehr Sacheverall ihn auch bedrängte, er wollte sich nicht auf eine bestimmte Uhrzeit festlegen. Unlogischerweise machten gerade seine Aufrichtigkeit und sein Widerstreben seine Aussage glaubwürdig. Es war offenkundig, dass er Melville schätzte und das Verfahren als einen Einbruch in die Intimsphäre eines Mannes betrachtete.
Dem Mienenspiel der Geschworenen nach zu urteilen, maßen sie seinen Worten großes Gewicht bei. Er weigerte sich rundheraus, Spekulationen anzustellen.
Sacheverall entließ ihn mit nicht zu übersehender Befriedigung aus dem Zeugenstand.
Rathbone warf einen Blick auf Barton Lambert und Zillah, die neben ihm saß und vor Kummer und Entsetzen wie betäubt war. Er hatte nur noch eine einzige Karte, die er ausspielen konnte, und es war eine Verzweiflungstat.
Er bat um eine Vertagung des Gerichts um fünfzehn Minuten, damit er sich mit Sacheverall beraten könne.
McKeever kam seinem Wunsch nach, vielleicht eher aus Mitleid denn aus juristischen Gründen.
Draußen in der Halle sah Rathbone Monk und sprach ihn kurz an, aber Monk hatte ihm nichts mitzuteilen, und ein paar Minuten später ging er mit langen Schritten hinter Sacheverall her, sodass Melville allein zurückblieb.
»Nun?«, fragte Sacheverall mit einem Grinsen. »Was jetzt?«
»Fragen Sie Lambert, ob er diesen Weg weiter verfolgen will!«, verlangte Rathbone. Sacheveralls Augenbrauen hoben sich überrascht. »Um Gottes willen, weshalb denn? Er kann nicht verlieren!«
»Er kann den Fall nicht verlieren«, pflichtete Rathbone ihm bei, »aber er kann das Glück und den Seelenfrieden seiner Tochter verlieren. Haben Sie ihr Gesicht gesehen? Glauben Sie, das macht ihr Freude? Sie hat ihre Rache gehabt, sie hat es nicht nötig, Melville auch noch zu ruinieren - und sie will es auch gar nicht. Fragen Sie Lambert, ob er weitermachen will.«
»Das brauche ich nicht!«, sagte Sacheverall mit einem breiten Grinsen.
»O doch!« Rathbone war wütend, versuchte es aber zu verbergen. »Für den Fall, dass Sie es vergessen haben sollten, Sie vertreten die Interessen der Familie Lambert, nicht Ihre eigenen!«
Sacheverall errötete. »Ich werde ihn fragen«, erklärte er mürrisch. »Aber ich werde ihn auch beraten. Wenn das alles ist, was Sie zu sagen hatten, sollten wir das Gericht nicht länger warten lassen.« Und während er noch auf Rathbones Antwort wartete, drehte er sich schon auf dem Absatz um und marschierte in den Gerichtssaal zurück, sodass Rathbone nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen.
Sacheverall rief seine letzte Zeugin auf, und ihre Aussage war eine Katastrophe. Sie mochte sich selbst als Abenteurerin bezeichnen, war aber nur eine um Aufmerksamkeit heischende Prostituierte, die mit den Begierden von Männern und Frauen bestens vertraut war. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Wolff und Melville ein Liebespaar waren, und ihre Ausführungen waren ebenso anschaulich wie unerfreulich. Sie deutete auch nicht an, dass die Beziehung oberflächlicher Natur sei oder einfach der Befriedigung eines körperlichen Verlangens diene, sondern benutzte das Wort ›Liebe‹, weil sie genau diese Empfindung meinte.
Es gab nichts, was Rathbone hätte tun können. Er war vernichtend geschlagen. Seine Niederlage ließ sich nicht nur aus Sacheveralls triumphierendem Gesichtsausdruck ablesen, sondern auch in den Mienen der meisten Geschworenen. Selbst die wenigen, die bisher Mitleid gehabt haben mochten, konnten nicht bestreiten, dass Killian Melville sein Eheversprechen gegenüber Zillah Lambert gebrochen hatte und der Grund dafür bei ihm lag. Er hatte sie getäuscht, und sie hatte jedes Recht, Schadenersatz von ihm zu verlangen.
Rathbone blickte zu ihr hinüber. Ihr Gesicht spiegelte ihre Gefühle deutlich wider. Ungläubigkeit und Verwirrung waren so offenkundig, dass die neben ihr Sitzenden sich schämten, sie anzustarren. Das Mädchen verstand ja kaum, was die Anspielungen bedeuteten. Rathbone bezweifelte, dass sie viel über die intimen Dinge normaler Liebe wusste, ganz zu schweigen von der zwischen zwei Männern. Die meisten Mädchen ihres Alters und ihrer gesellschaftlichen Stellung erfuhren vor ihrer Hochzeitsnacht nur wenig über das, was sie diesbezüglich erwartete. Sie tat ihm von Herzen Leid, wie sie stocksteif dasaß und ins Leere blickte. In diesem Augenblick zweifelte er nicht im Mindesten daran, dass Zillah Melville wirklich geliebt hatte und er ihr - bewusst oder unbewusst - ein furchtbares Leid zugefügt hatte.
Er musterte Barton Lambert, der neben seiner Tochter saß. Seine Miene verriet ganz andere Gefühle. Sein Gesicht war gerötet vor Wut und Ohnmacht. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und ignorierte seine Frau, die ihm ebenfalls mit geröteten Wangen etwas zuflüsterte. Hatte einer der beiden überhaupt eine Vorstellung davon, was sie ihrer Tochter antaten?
Er dachte flüchtig darüber nach, ob Sacheverall wohl wirklich mit Lambert gesprochen hatte. Wahrscheinlich nicht. Er kostete noch immer seinen Sieg aus, beobachtete die Geschworenen und wich dem Blick des Richters aus.
McKeever vertagte die Sitzung und erklärte, dass sie am kommenden Morgen wieder zusammentreten würden, damit Rathbone das Plädoyer für die Verteidigung halten konnte.
In der Galerie hatten die Zuschauer es eilig fortzukommen. Die Journalisten verfassten wohl schon in Gedanken ihre Artikel, während sie sich nach einer Droschke umsahen, die sie in die Fleetstreet zurückbrachte.
Rathbone betrachtete Melville, der sich langsam aufrichtete und den Kopf hob. Er sah schrecklich aus, so als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Man konnte sich nicht einmal vorstellen, was er durchmachte.
»Ich denke, wir sollten gehen«, sagte Rathbone leise. »Hier können wir nicht reden.«
Melville schluckte. »Es gibt nichts zu sagen«, erwiderte er.
»Ich wollte Zillah niemals wehtun… und Isaac auch nicht. Aber genau das scheine ich getan zu haben. Zillah wird sich erholen und wieder zu sich finden.« Er verzog das Gesicht, als litte er an einem körperlichen Schmerz. »Was wird mit Isaac geschehen? Wird er ruiniert se in? Werden sie versuchen, ihn ins Gefängnis zu schicken?«
Das war nicht der Zeitpunkt für falsche Hoffnungen.
Sacheveralls Gesichtsausdruck hätte ohnehin alle Illusionen hinweggefegt.
»Vielleicht. Wenn die Sache vor Gericht kommt, gibt es im Grunde keine Verteidigung. Normalerweise kümmern die Gerichte sich nicht um derlei Dinge, sofern kein Minderjähriger in die Sache verwickelt ist und die Öffentlichkeit nicht damit belästigt wird.«
Melville begann zu lachen; es war ein leises Lachen, aber erfüllt von einer wilden Verzweiflung, die ahnen ließ, dass er den Tränen nahe war.
Ausnahmsweise ließ Rathbone alle Bedenken fahren und legte Melville eine Hand auf die Schulter.
»Kommen Sie«, befahl er. »Das, was Sie jetzt brauchen, ist ein wenig Ungestörtheit.« Mit diesen Worten zog er Melville auf die Füße und schob ihn durch das allgemeine Gedränge, wobei er sich, für ihn höchst untypisch, sogar seiner Ellbogen bediente.
Draußen im Flur richtete Melville sich auf. »Vielen Dank«, sagte er zittrig. »Ich habe mich jetzt wieder gefasst. Ich komme schon… zurecht.«
Er sah erbärmlich aus, aber sein Blick war ruhig. Er verschwieg nach wie vor etwas, von dem Rathbone keine Ahnung hatte, etwas von größter Bedeutung.
Rathbone holte Luft, um ihn noch einmal zu fragen, begriff dann aber, dass es Zeitverschwendung gewesen wäre.
»Wollen Sie, dass ich einen Vergleich anbiete?«, fragte er und sah Melville forschend an, um hinter den klaren blauen Augen den Mann selbst zu entdecken. Was war da noch außer den grandiosen Ideen und dem umfassenden technischen Wissen? Wie sahen seine privaten Träume aus, seine Gefühle, Vorlieben und Abneigungen, seine Ängste und Erinnerungen? Oder gab es in seinem Leben keinen Raum für solche Dinge?
»Ich werde sie nicht heiraten«, wiederholte Melville leise.
»Ich habe sie nie gebeten, mich zu heiraten. Wenn ich mich jetzt darauf einlasse und sage, ich sei im Unrecht gewesen, obwohl das nicht stimmt, was wird in Zukunft aus all den anderen Männern, wenn ich jetzt nachgebe?«
»Sie haben nicht nachgegeben«, antwortete Rathbone. »Sie haben verloren.«
Melville drehte sich um und ging mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf davon. Er rempelte jemanden an, ohne es zu bemerken.
Verwirrt, wütend und voller Mitleid für den jungen Mann eilte Rathbone hinter ihm her, entschlossen, ihm zumindest eine Kutsche zu beschaffen und dafür zu sorgen, dass er nicht weiter belästigt oder beschimpft wurde. Er holte ihn schließlich ein und begleitete ihn bis zum Hintereingang. Einige Männer, die Melville ansprechen wollten, bedachte er mit einem zornigen Blick.
Am Straßenrand rief er in befehlendem Ton einen Hansom herbei, um Melville fast hineinzustoßen. Dann nannte er dem Fahrer die Adresse und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld.
Als die Droschke abgefahren war, kehrte er ins Gerichtsgebäude zurück, ohne die geringste Vorstellung zu haben, was er am nächsten Tag tun konnte. Wenn die Verhandlung wieder aufgenommen wurde, musste er einen Weg finden, die gegenwärtige Meinung zu ändern. Welche Möglichkeiten gab es? Die letzte Zeugin hatte nicht wieder gutzumachenden Schaden angerichtet. Seine einzige Waffe war der Angriff, aber was konnte ihm das jetzt noch nutzen? Melville war ruiniert, wie auch immer das Urteil ausfiel. Der einzige Vorteil bestand darin, dass er wenigstens nicht auch finanziell zugrunde gerichtet wurde.
Rathbones letzte Hoffnung, dieses Ziel zu erreichen, falls ein Appell an die Menschlichkeit nichts fruchtete, bestand darin, dass er etwas über Lambert oder seine Familie in Erfahrung brachte, das dieser lieber nicht vor den Augen der Öffentlichkeit ausgebreitet sehen wollte.
Aber wenn Monk diese Information nicht innerhalb der nächsten zwölf Stunden beibrachte, waren ihm die Hände gebunden.
Persönlich hätte Rathbone Melville den Rat gegeben, England zu verlassen und zu versuchen, sich in einem anderen Land eine neue Karriere aufzubauen. Vielleicht konnte er auch einen Ort finden, wo man eine freizügigere Auffassung vom Privatleben eines Mannes hatte. Solche Länder gab es gewiss, und Melvilles Talent war international, anders als die Sprache zum Beispiel. Gott sei Dank war er kein Dichter!
Einige Schritte vor ihm stand Zillah Lambert neben ihren Eltern. Sie wirkte immer noch verwirrt, als wüsste sie nicht, was der Lärm und die Hektik um sie herum zu bedeuten hatten.
Sache verall trat lächelnd auf sie zu.
Delphine erblickte ihn, und ihre Miene veränderte sich sofort; plötzlich war sie ganz Charme und Dankbarkeit.
»Mr. Sacheverall«, begrüßte sie ihn freudig. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen für Ihre Unterstützung in unserem, in Zillahs Fall sind. Es war eine schlimme Zeit für uns alle, aber besonders für unsere Tochter.« Sie senkte ihre Stimme ein wenig, aber da sie, ohne es zu bemerken, von Zillah weggerückt und Rathbone näher gekommen war, konnte er sie, wenn er sich anstrengte, immer noch verstehen. »Natürlich wird es ein Weilchen dauern, bis sie sich von diesem schrecklichen Erlebnis erholt hat. Solch eine Enthüllung ist für ein junges Mädchen mehr als beängstigend. Sie wird all unsere Güte und Ermutigung brauchen.«
»Ich verspreche Ihnen, dass sie sie erhalten wird«, sagte Sacheverall herzlich. »Ihre Unschuld ist in dieser Angelegenheit für jedermann offensichtlich. Die Würde, mit der sie dieses Martyrium ertragen hat, finde ich bewundernswert.«
»Ja, nicht wahr«, stimmte Delphine ihm zu. Sie lächelte und senkte dann hastig den Blick, um nicht allzu unbescheiden zu erscheinen. »Ich gestehe, Mr. Sacheverall, dass ich sehr stolz auf sie bin. Aber wie viele Mädchen ihres Alters hätten sich unter diesem Druck so gut gehalten und keine Spur von Bitterkeit, Hysterie oder Selbstmitleid gezeigt? Sie ist wirklich von ausgesprochen liebenswertem Wesen.«
Rathbone blickte an Delphine vorbei zu Zillah, die diesem Gespräch ebenfalls gelauscht haben musste. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen brannten. Er konnte nur ahnen, wie gedemütigt sie sich fühlte, wie tief ihre Scham ging. Sie stand immer noch ganz unter dem Eindruck des eben Erlebten, und da ergriff ihre Mutter die erstbeste Gelegenheit, um sie einem anderen Mann anzupreisen, dessen Interesse an ihr mehr als offensichtlich war.
Sacheverall schien sich nicht im Mindesten der Peinlichkeit der Situation bewusst zu sein. Er machte einen Schritt nach vorn, um Zillah selbst anzusprechen.
»Es tut mir so Leid«, sagte er mit ernster Stimme zu ihr. »Ich wünschte mir mehr, als Sie ahnen können, dass dies alles nicht notwendig gewesen wäre.«
»Ach, tun Sie das?«, entgegnete sie kalt. »Ich bin froh, dass Sie mir das sagen, Mr. Sacheverall, denn sonst hätte ich es nicht bemerkt. Sie sind ein hervorragender Schauspieler, Sir. Ich hatte den Eindruck, dass Sie Ihren Sieg bis zur Neige auskosten.« Sie sah ihn direkt an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber ihre Entschlossenheit geriet keinen Moment ins Wanken.
Zum ersten Mal verlor Sacheverall vollkommen die Fassung. Das war die letzte Reaktion, die er erwartet hatte. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder zu fangen.
»Natürlich sind Sie bekümmert«, sagte er beschwichtigend.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie…« Er war sich nicht sicher, welches Wort er benutzen sollte.
»Ich sehe selbst, dass Sie das nicht können«, pflichtete sie ihm bei, obwohl es ihr offensichtlich zunehmend schwer fiel, nicht in Tränen auszubrechen. Ihr Zorn auf ihn, auf ihre Mutter, auf die ganze schreckliche Situation setzte zu guter Letzt all die Gefühle frei, die sie während der endlosen und qualvollen Tage der Verhandlung zurückgehalten hatte. »Aber bitte entschuldigen Sie sich nicht. Es spielt keine Rolle. Ich bin überzeugt davon, Sie haben Ihr Bestes getan. Wir sind Ihnen geziemend zu Dank verpflichtet.«
Mit einer Ohrfeige hätte sie keinen größeren Erfolg erzielen können.
Rathbones Hochachtung für sie stieg. Es fiel ihm schwerer denn je zu begreifen, warum Melville sie nicht heiraten wollte, es sei denn, Sacheveralls Anschuldigungen entsprachen der Wahrheit. Das war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab. Aber da er seine Neigungen schließlich kennen musste, wäre seine Werbung um sie bestenfalls verantwortungslos, schlimmstenfalls verwerflich und grausam gewesen. In diesem Fall würde es tatsächlich so aussehen, als hätte er sie einfach benutzt, um die Unterstützung ihres Vaters zu gewinnen und vielleicht auch, um seine Affäre mit Wolff zu verschleiern.
Delphine redete versöhnlich auf Sacheverall ein und versuchte den Schaden wieder gutzumachen. Seinem Gesichtsausdruck nach hatte sie Erfolg damit. Wahrscheinlich war er, nachdem Melville nun nicht mehr in Frage kam, ein akzeptabler Ehemann. Er war im richtigen Alter, kam aus einer guten Familie, hatte günstige berufliche Aussichten und mehr als genug Geld, um Zillah nicht nur aus finanziellen Gründen zu umwerben, obwohl eine solche Ehe seine Situation zweifellos verbessern würde.
Barton Lambert hatte sich kaum an dem Gespräch beteiligt und die Hände tief in den Taschen vergraben. Zwei oder dreimal blickte er zu Rathbone hinüber, als wolle er ihn ansprechen. Seine Haltung verriet Bekümmerung, und Rathbone vermutete, dass er die ganze Angelegenheit bedauerte. Seine Zuneigung zu Melville war echt gewesen. Sie ließ sich nicht durch irgendeine Enthüllung zerstören, ganz gleich welcher Art. Gefühle erfahren in solch kurzer Zeit selten eine wirklich grundlegende Wendung. Die Wunde war noch frisch, und man sah es ihm an. Er war insofern ein ungewöhnlicher Mann, als er nicht versuchte, seinen Schmerz hinter Zorn zu verbergen.
Sein Benehmen nötigte Rathbone Achtung ab. Vielleicht hatte Zillah ihren Charakter doch nicht allein von ihrer Mutter geerbt.
Rathbone verließ das Gericht und trat in den strahlenden Nachmittag hinaus, wo Sonnenschein und Wind einen klaren Abend versprachen. Die Dämmerung würde erst nach acht einsetzen. Die Nacht würde schnell vorüber sein. Wenn Monk bis Morgen nicht irgendetwas herausfand, würde er Zeugen aufrufen müssen, einfach um Zeit zu gewinnen. Aber Zeugen wofür?
Er ging energisch auf einen Hansom zu, änderte dann aber seine Meinung und beschloss, zu Fuß zu gehen, bis er zumindest einem Teil seines Ärgers Luft gemacht hatte.
Er hatte auswärts zu Abend gegessen, und es war fast neun Uhr, als er in seine Wohnung kam und sein Kammerdiener ihm die Abendzeitungen reichte.
»Es tut mir Leid«, entschuldigte er sich.
Rathbone sah sofort, was diese Bemerkung und den bekümmerten Ausdruck auf dem melancholischen Gesicht des Dieners ausgelöst hatte. Die Schlagzeilen waren schauerlich und vulgär und trieben die Spekulationen noch weiter. Weder an Melville noch an Isaac Wolff wurde ein gutes Haar gelassen. Nicht einmal Zillah entkam den obszönen Anspielungen. Sie war der Katalysator selbstgerechter Empörung, aber die Details der Berichterstattung ließen erkennen, dass niemand einen Gedanken an ihre Gefühle verschwendet hatte.
Rathbone war zu rastlos, um zu Hause zu bleiben, und von einem Zorn erfüllt, der körperliche Betätigung verlangte.
Er nahm Mantel, Hut und Stock - und machte sich dann auf den Weg zu Monk.
Dieser jedoch war nicht zu Hause, und es hatte keinen Sinn, in seinem leeren und ziemlich kalten Zimmer auf ihn zu warten, obwohl seine Vermieterin es ihm angeboten hatte. Er verabschiedete sich und ging in seinen Klub.
Dort saß er fast eine Stunde lang grübelnd über einem Malzwhisky und versuchte einen kreativen Gedanken zu fassen, bis ein alter Freund sich zu ihm setzte und einen neuen Whisky mitbrachte, da Rathbone sein Glas inzwischen fast geleert hatte.
»Abscheuliche Sache«, sagte er mitfühlend. »Man weiß nie, wo man auf diese Mistkerle trifft, nicht wahr?«
Rathbone blickte auf. »Was sagten Sie?«
»Man weiß nie, wo man auf diese Mistkerle trifft«, wiederholte der Mann. Sein Name war Boothroyd, und er war ein auf Familienrecht spezialisierter Anwalt.
»Was für Mistkerle?«, fragte Rathbone gereizt.
»Die Homosexuellen.« Boothroyd schob das Glas, das er Rathbone hingestellt hatte, über den Tisch. »Um Himmels willen, zieren Sie sich nicht! Da ist jetzt ohnehin nichts mehr zu retten. Sie sind zweifellos wütend auf sich selbst, weil Sie’s nicht erraten haben, aber andererseits waren Sie immer schon ein klein wenig naiv, mein lieber Junge. Sie hatten immer nur die großen Verbrechen im Kopf, Mord, Brandstiftung und Diebstahl im großen Stil, keine schmutzigen kleinen Schlafzimmergeschichten.«
Rathbones Gedanken gerieten in Aufruhr, als ihm klar wurde, dass Boothroyd in einem Punkt Recht hatte: Er hätte selbst darauf kommen müssen. Gleichzeitig aber empfand er Zorn über die Selbstgefälligkeit des Mannes.
Er sah Boothroyd an und ignorierte den Whisky.
»Ich habe mir wahrscheinlich eingebildet, dass das, was ein Mann in seinem Schlafzimmer tut - vorausgesetzt, es kommt niemand zu Schaden - seine eigene Angelegenheit ist«, sagte er sehr klar und deutlich.
Boothroyd fuhr überrascht auf. Seine hervortretenden Augen weiteten sich vor Verblüffung.
»Wollen Sie damit sagen, Sie können Homosexualität gutheißen?«, fragte er mit einer scharfen Betonung des entscheidenden Wortes.
»Es gibt viele Dinge, die ich nicht gutheißen kann«, antwortete Rathbone mit einer Bedachtsamkeit, die sein kühles Verhalten noch unterstrich. »Ich kann nicht gutheißen, wenn ein Mann seine Frau ohne Liebe oder Rücksicht auf ihre Gefühle benutzt. Ich kann nicht billigen, wenn eine Frau ihren Körper verkauft, um materielle Güter, Macht oder sonst eine Vergünstigung zu erlangen, sei es innerhalb oder außerhalb der Ehe. Ich kann Grausamkeit nicht billigen, sei sie körperlicher oder seelischer Art.« Er sah Boothroyd unverwandt an. »Ich kann Lügen und Manipulationen nicht gutheißen, ebenso wenig wie Nötigung oder Erpressung, und ich billige weder Habgier noch Müßiggang, noch Eifersucht. Aber ich glaube nicht, dass wir unsere Gesellschaft bessern können, indem wir versuchen, Gesetze gegen diese Dinge zu erlassen. Wir würden damit lediglich erreichen, dass sich jede missgünstige Klatschtante und jeder heuchlerische Besserwisser in einen Schnüffler oder Verräter verwandelt.«
Boothroyd starrte ihn an, als traue er seinen Ohren nicht.
»Von allen Dingen, die ich missbillige«, fuhr Rathbone mit gesenkter Stimme fort, »geht mich die Liebe zweier Männer, solange sie sich bei ihnen zu Hause abspielt, am wenigsten an. Und ich werde auch in Zukunft kein Interesse daran haben.«
»Es überrascht mich, dass Sie das Liebe nennen!«, sagte Boothroyd scharf. »Obwohl es mich vielleicht gar nicht überraschen sollte.«
»Liebe ist für viele Beziehungen nur eine Umschreibung«, gab Rathbone heftig zurück. Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss, als ihm klar wurde, was Boothroyd meinte, aber er war zu wütend, um den anderen Mann in die Schranken zu weisen.
»Die Bibel sagt, es sei eine Sünde«, bemerkte Boothroyd.
»Ich denke, da sind sich alle Christen einig.«
»Dasselbe sagt die Bibel von der Begierde nach einer Frau«, hielt Rathbone ihm entgegen. »In dieser Hinsicht hat Christus sich ziemlich klar ausgedrückt. Und doch haben sich die meisten von uns dieses Vergehens schuldig gemacht. Ich habe es getan, und ich werde es wahrscheinlich weiterhin tun. Wollen Sie ein Gesetz dagegen erlassen?«
»Das ist lächerlich!«
»Ganz genau«, pflichtete Rathbone ihm bei. »Es gibt viele Dinge, über die zu urteilen wir besser Gott überließen, und ich glaube, was Melville und Wolff tun, wenn sie allein sind, gehört ebenfalls zu diesen Dingen.«
»Mit dieser Meinung befinden Sie sich in der Minderheit!«, versetzte Boothroyd und stürzte den Whisky hinunter, den er ursprünglich für Rathbone mitgebracht hatte. Dann erhob er sich.
»Das heißt nicht, dass ich im Unrecht bin«, antwortete Rathbone.
»Aber es heißt, dass man Sie verdammt leicht missverstehen könnte!«, warnte Boothroyd ihn.
»Das sehe ich.« Rathbone hob sarkastisch die Augenbrauen und blieb sitzen. »Aber ich finde nicht, dass das ein einleuchtender Grund ist, meine Meinung zu ändern.«
»Das müssen Sie dann auf Ihre eigene Kappe nehmen!«
Boothroyd drehte sich um und ging davon. Rathbone blieb wütend und erschrocken zurück, war aber fest entschlossen, seine Meinung nicht zu ändern.