7
Während Rathbone sich im Gerichtssaal vergeblich abmühte, wohl wissend, dass er nur verlieren konnte, dachte Monk über jeden nur möglichen Weg nach, wie er bei einem Mitglied der Familie Lambert eventuelle Schwächen bloßlegen konnte. Zillah selbst war diejenige, bei der eine derartige Enthüllung die größte Tragweite hätte, daher begann er mit ihr.
Er sah aus dem Fenster und beobachtete die Fußgänger auf der Straße.
Es war nicht einfach für ihn, mehr als das Offensichtliche über eine junge Dame der Gesellschaft in Erfahrung zu bringen. Er gehörte nicht zu ihren Kreisen. Er war nach London gegangen, um sein Glück als Bankkaufmann zu versuchen, und war am Ende nach einer Reihe von Abenteuern bei der Polizei gelandet, erfüllt von dem leidenschaftlichen Wunsch, die Art von Ungerechtigkeit zu bekämpfen, die seinen Mentor in den Ruin getrieben hatte.
Er begann rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen.
Zillah Lambert war nicht einmal halb so alt wie er, ein verwöhntes Kind, das alle Privilegien genoss und mit den Sitten und Gebräuchen der Welt in keiner Weise vertraut war. Soweit er wusste, war dies das erste Unglück, das sie getroffen hatte. Wie konnte er ihr Leben auch nur annähernd verstehen?
Er hätte gern Hesters Rat eingeholt und erst recht den von Callandra. Aber Callandra war immer noch in Schottland, und Hester konnte er unmöglich schon wieder aufsuchen, obwohl sie ihm seltsamerweise nicht aus dem Kopf ging.
Er brauchte keinen Klatsch, aber etwas Handfestes, um Lambert zum Rückzug zu bewegen. Es war ein unschöner Gedanke, nach etwas Derartigem suchen zu müssen, außer natürlich, Zillah hatte tatsächlich ein Geheimnis, das Melville entdeckt hatte, nachdem es bereits zu spät war. Und nun schwieg er aus Rücksicht auf sie oder ihren Vater, der sein Gönner und Freund gewesen war oder vielleicht auch deshalb, weil er es nicht beweisen konnte.
Er hörte auf, im Zimmer auf und ab zu gehen, nahm Hut und Mantel und machte sich auf den Weg, jemanden zu suchen, der Zugang zu den gleichen Kreisen hatte wie die Lamberts. Er musste nach einer Person Ausschau halten, die irgendetwas verriet, dem er nachgehen konnte. Zwar hatte er nur eine verschwommene Idee, an wen er sich wenden konnte, aber die betreffenden Personen würden wohl kaum zu ihm in die Fitzroy Street kommen.
Er überquerte die Tottenham Court Road und achtete nur flüchtig auf den Verkehr, weil ihm plötzlich ein besserer Gedanke gekommen war. Wenn Melville irgendeinen Makel an Zillah entdeckt hatte, dann musste er nicht sie unter die Lupe nehmen, sondern Melville. Und das würde weitaus einfacher sein. Er änderte abrupt die Richtung und ging nach Süden Richtung Oxford Street. Er hatte jetzt ein klares Ziel vor Augen.
Am späten Nachmittag wusste er erheblich mehr über Killian Melvilles Gewohnheiten, seine Arbeitszeit, die ungewöhnlich lang war, sein überaus eingeschränktes Gesellschaftsleben und seine Freizeitgestaltung. Er verbrachte seine arbeitsfreie Zeit mit Spaziergängen, die er allein unternahm und wohl zum Nachdenken nutzte. Er besuchte häufig Kunstgalerien und anscheinend ebenfalls eine Art Intellektueller, der einer künstlerischen Arbeit nachging, obwohl diese eher literarischer Natur war.
Seine plötzliche Eingebung hatte zu nichts geführt. Wenn Melville etwas über Zillah Lambert erfahren hatte, dann war dies zufällig geschehen und keinesfalls das Ergebnis seines gewohnten Tagesablaufs.
Monk kehrte müde und schlecht gelaunt zurück, war aber fest entschlossen, nicht aufzugeben. Wenn gewöhnliche Intelligenz versagte, würde er es mit dem Mut der Verzweiflung und - um es klar auszudrücken - einigen Lügen versuchen müssen.
Als ihm noch durch sein regelmäßiges, wenn auch nicht sehr üppiges Einkommen bei der Polizei mehr Geld zur Verfügung gestanden hatte, hatte er viel für Kleidung ausgegeben. Und aus seinen Tagen als Bankkaufmann besaß er noch Seidenhemden, gut geschnittene Stiefel und Tanzschuhe, zwei Smokings und einige sehr hübsche Kragen und Manschettenknöpfe.
Er kleidete sich mit äußerster Sorgfalt an und machte sich auf den Weg zu einem langen und anstrengenden Abend.
Er hatte keine Ahnung, wo Gesellschaften, die er suchte, an diesem Abend stattfinden mochten. Er nahm einen Hansom und wies den Fahrer an, in Mayfair und Belgravia die Straßen auf und ab zu fahren, bis er ein hell erleuchtetes Haus entdeckte, vor dem eine große Anzahl von Kutschen anhielt und elegante Damen und Herren ausstiegen, um hineinzugehen.
Er ließ den Fahrer halten, entlohnte ihn und stieg ebenfalls aus. Er forderte das Schicksal heraus, aber er hatte keine andere Wahl. Er zögerte und tat so, als durchsuche er seine Taschen, bis er sich einem halben Dutzend Gästen, von denen vier Frauen waren, anschließen konnte, sodass es den Anschein erweckte, zu ihnen zu gehören. Tatsächlich schien eine der jüngeren Damen den Gedanken recht reizvoll zu finden.
Im Haus drängten sich in der Haupthalle bereits die Gäste, und es kamen ständig weitere hinzu. Anscheinend fand ein Ball statt, und wenn er Glück hatte, würde die Gastgeberin einen einzelnen und präsentablen Herrn, der obendrein tanzen konnte, mehr als willkommen heißen.
Es war fast Mitternacht, als er in all dem Lärm, der durch die Musik, das schrille Gelächter, das Stimmengewir r und das Klirren von Gläsern verursacht wurde, endlich eine blau gekleidete Dame in mittleren Jahren ins Gespräch verwickeln konnte. Die Dame kannte Delphine Lambert gut und hatte nichts dagegen, über sie zu plaudern.
»Charmant«, sagte sie und sah Monk direkt in die Augen. Monk hatte nicht die leisesten Gewissensbisse.
»Wie überaus großzügig von Ihnen«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln. »Wenn sie selbst in Ihrer Gesellschaft einen solchen Eindruck hinterließ, muss sie in der Tat eine außergewöhnliche Frau sein.«
Das Orchester spielte wieder auf, und er hätte am liebsten getanzt.
»Sie schmeicheln mir, Mr. Monk«, erwiderte sie mit unverhohlenem Entzücken.
»Aber keineswegs«, leugnete er pflichtschuldigst. »Sie sehe ich vor mir, während Mrs. Lambert lediglich ein Name für mich ist. Sie hat keine Anmut, keinen Humor, kein Fünkchen Geist oder Charakterstärke, über die ich etwas zu bemerken wüsste.« Er sah sie so direkt an, dass sie seine Andeutung nicht missverstehen konnte - dass sie selbst nämlich all diese Dinge im Überfluss besäße.
So viel wohlwollende Aufmerksamkeit war ihr seit langem nicht mehr zuteil geworden. Sie hatte nicht die Absicht, sich Monk so rasch durch die Finger schlüpfen zu lassen. Außerdem war sie sich bewusst, dass ihre Freundinnen nur wenige Schritte von ihr entfernt standen und sie voller Neid beobachteten. Sie würde über Delphine reden, so lange dieser wunderbare und faszinierende Mann es wünschte.
Eine hübsche junge Frau in Hellrosa wirbelte an ihnen vorbei; sie blickte lachend zu ihrem Partner auf und nutzte den kurzen Augenblick, da ihre Mutter sie nicht im Blick hatte, zu einem hemmungslosen Flirt.
Ein Herr mit rötlichem Haar stieß mit einem Kellner zusammen.
»Es ist nicht so, dass sie über besonders viel Witz oder Humor verfügte«, erklärte sie. »Natürlich könnte man auch nicht behaupten, dass ihr diese Eigenschaften vollkommen abgehen«, räumte sie ein. »Aber ihr Charme liegt eher in ihrer außerordentlichen Grazie und ihrer Schönheit. Es ist nicht…«, sie dachte kurz nach, »…die Schönheit eines zarten Teints oder besonders prachtvoller Haare, obwohl sie wirklich eine sehr ebenmäßige Stirn hat. Ihre Figur ist durchaus hübsch zu nennen, aber sie ist nicht sehr groß.« Sie selbst war nur acht oder zehn Zentimeter kleiner als Monk. »Ich meine eher die Schönheit der Perfektion«, fuhr sie fort. »Jene Art Schönheit, bei der selbst das winzigste Detail makellos ist. Sie macht nie einen Fehler. Oh…« Sie stieß ein leises Lachen aus. »Ich schätze, das gehört zu den Dingen, die nur eine andere Frau bemerkt. Ein Mann würde vielleicht nur feststellen, dass irgendetwas weniger perfekt ist, als es sein könnte, aber er wäre nicht in der Lage, den Finger darauf zu legen. Delphine jedoch… Mrs. Lambert… ist über die Kleinigkeiten, die uns andere zu Fall bringen, stets erhaben.«
Der Walzer war zu Ende, und das Orchester spielte eine sehr langsame Pavane oder etwas in der Art. Für den Augenblick war die Versuchung zu tanzen, nicht mehr allzu groß.
»Wie interessant«, sagte er und sah sie dabei so durchdringend an, als sei sie die einzige Person im Raum. »Sie sind außerordentlich aufmerksam, Mrs. Waterson. Sie haben einen scharfen Blick.«
»Vielen Dank, Mr. Monk.« Sie errötete ein wenig.
»Und Sie wissen mit Worten umzugehen«, fügte er hinzu. Sie brauchte keine weitere Ermutigung. Sie stürzte sich in einen wahren Redeschwall, bei dem es nicht nur um Delphine ging, denn mit einer kleinen Ermunterung seinerseits kam sie bereitwillig auch auf Zillah zu sprechen. Sie gab ihm eine lebhafte Schilderung ihres Debüts in der Gesellschaft. Angestachelt durch Monks Schmeicheleien, bewies sie in der Tat eine scharfe Beobachtungsgabe, was das Benehmen der fraglichen Personen betraf, ihre Schwächen und all die Kleinigkeiten, die auf ihren Charakter schließen ließen.
Ein Kellner bot ihnen Champagner an, und Monk nahm ein Glas für Mrs. Waterson und eins für sich. Er brauchte es inzwischen dringend.
»Nur ein aufmerksamer Beobachter bemerkt etwas Derartiges«, fuhr Mrs. Waterson fort. Sie kam Monk ein klein wenig näher und senkte vertraulich die Stimme. »Aber das ganze Mieder war auseinander genommen und wieder zusammengenäht worden, wobei man den Stoff über Kreuz genommen hatte. Das Ergebnis war ausgesprochen schmeichelhaft.« Sie nickte. »Und dann ihre Verwendung von Farben. Es ist mehr als nur Eleganz, verstehen Sie, bei ihr ist es geradezu eine Kunst. Keine Mühe ist ihr zu groß, wenn das Ergebnis Schönheit verspricht.«
Sie beobachtete ihn genau. »Ich habe einmal gehört«, erklärte sie ernsthaft, »dass die Fähigkeit, stets Schönheit auszustrahlen, weniger eine Frage der Gesichtszüge ist, die einem die Natur mitgegeben hat, sondern der Kunst, das Auge des Betrachters stets auf die wirklich außergewöhnlichen dieser Züge zu lenken.« Ihr Gesicht leuchtete triumphierend auf. »Man darf sich niemals entschuldigen oder den Anschein erwecken, als schäme man sich oder versuche etwas zu verbergen.« Sie hob das Kinn. »Halte dich stolz aufrecht, lächle und fordere die Welt heraus, dich zu deinen eigenen Bedingungen zu akzeptieren. Sei von deiner eigenen Schönheit überzeugt, dann werden andere es ebenfalls sein. Dazu braucht man erheblichen Mut, Mr. Monk, und große Willenskraft.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, pflichtete er ihr bei und wünschte, sie würde endlich auf etwas zu sprechen kommen, das vielleicht etwas mit Rathbones Fall zu tun hatte. »Ein unschätzbarer Rat einer Mutter für ihre Tochter.«
»Oh, ich bin überzeugt davon, dass sie dem Mädchen diesen Rat mit auf den Weg gegeben hat«, sagte Mrs. Waterson mit einem leichten Achselzucken. »Miss Lambert ist ein reizendes Persönchen und hatte nie die Chance, etwas anderes zu sein. Selbst den winzigsten Einzelheiten wurde allergrößte Aufmerksamkeit gewidmet. Selbstverständlich hat die Natur ihr wunderbar in die Hände gespielt!«
Das Orchester stimmte wieder einen Walzer an. Konnte er tanzen und dann zu dem Thema zurückkehren? Nein, natürlich nicht. Die Damen Lambert wären in Vergessenheit geraten, und eine Wiederaufnahme ihres Gesprächs hätte etwas Erzwungenes gehabt. Obendrein ging er das Risiko ein, Mrs. Waterson an einen anderen Tanzpartner zu verlieren. Zum Teufel mit Rathbone!
Der Zeitpunkt für einige weitere wohl überlegte Schmeicheleien war gekommen. Man konnte nicht von einer Frau erwarten, dass sie mehr als eine Stunde bei einer Lobrede auf eine andere Frau verweilte.
»Angenehme Gesichtszüge sind ja gut und schön«, meinte er beiläufig, »aber ohne Intelligenz werden sie doch bald langweilig. Einer Frau, die über Intelligenz und Ausdruckskraft verfügt, könnte ich den ganzen Abend zuhören, während es mir unmöglich wäre, einen Abend lang nur eine einzige Frau anzusehen, ganz gleich, wie reizvoll ihr Gesicht auch sein mag.«
»Sie besitzen bemerkenswerte Scharfsicht und großes Einfühlungsvermögen, Mr. Monk«, antwortete sie mit vor Freude geröteten Wangen. »Ich fürchte, es gibt nur sehr wenige Männer, die solche Dinge wirklich zu schätzen wissen.«
Er hob die Augenbrauen. »Meinen Sie wirklich, Mrs. Waterson? Wie freundlich von Ihnen, das zu sagen. Ich glaube nicht, dass mir irgendjemand schon mal ein derartiges Kompliment gemacht hat.« Den Gedanken, was Hester zu dem Schauspiel, das es hier bot, gesagt hätte, schob er weit von sich.
Er begann von neuem. »Es muss eine große Versuchung sein, die Macht solcher Schönheit auszuspielen, erst recht, wenn es sich um ein junges Mädchen ohne Erfahrung handelt.« Er durfte nicht vergessen, dass Mrs. Waterson die Fünfunddreißig mit Sicherheit überschritten hatte.
»Natürlich«, stimmte sie ihm zu.
Er wartete gespannt auf weitere Einzelheiten und ignorierte die junge Frau, die drei oder vier Schritte von ihm entfernt stand und ihn musterte. Ihre leuchtenden Augen hatten einen herausfordernden Blick; sie langweilte sich offensichtlich mit ihrem überaus korrekten und ziemlich jungen Partner.
»Vielleicht ist sie der Versuchung nicht erlege n?«, fragte er tugendhaft.
»Oh, ich fürchte doch«, erwiderte Mrs. Waterson sofort und mit einiger Befriedigung. »Man konnte unmöglich übersehen, dass sie dazu erzogen wurde, der Schönheit allergrößte Wichtigkeit beizumessen, und sie müsste schon eine Heilige sein, um ihre Macht nicht zu erproben. Und diese Macht war natürlich größer, als sie erwartet hatte, so groß, dass sie sie nicht mit Anstand zu lenken wusste.« Sie wartete auf Monks Reaktion. Würde er es ihr ankreiden, wenn sie sich zu kritisch gäbe?
»Wie überaus verständnisvoll Sie doch sind, Mrs. Waterson«, sagte er und biss sich auf die Zunge. »Aus Ihren Worten klingt das Mitgefühl eines Menschen, der die Dinge aus eigener Anschauung kennt.« Er verzog keine Miene. Ohne die Fähigkeit zur Verstellung konnte man kein erfolgreicher Ermittler sein, und er war fest entschlossen, Erfolg zu haben.
»Nun…« Sie rang mit sich, ob sie bescheidene Zurückhaltung üben solle oder nicht, und warf dann alle Vorsicht über Bord. Das Orchester spielte gerade eine rhythmische, fröhliche Melodie, und sie hatte mehrere Gläser Champagner getrunken, wo sie sich sonst nur Limonade gönnte. Die Menschen um sie herum waren beschwingt und ausgelassen. Mr. Waterson war ein sehr einnehmender Mann, hatte aber viel zu wenig Phantasie. Er nahm die Dinge für selbstverständlich. »In jüngeren Jahren - das war natürlich vor meiner Heirat - hatte ich selbst ein oder zwei Abenteuer«, gestand sie. »Vielleicht war ich nicht immer klug.«
»Ein Umstand, der Sie nur umso interessanter macht, dessen bin ich gewiss«, sagte er mit einem Lächeln. »War Miss Lambert ebenso… klug?«
Sie zierte sich ein wenig. Es stand keiner Frau gut zu Gesicht, unfreundlich zu erscheinen.
»Nun… vielleicht nicht. Sie legte größeren Wert auf Schönheit, als ich es je getan habe. Ich war schon immer der Meinung, ein guter Charakter sei wichtiger, und eine gewisse Intelligenz leistete einem am Ende bessere Dienste.«
»Wie Recht Sie doch haben. Und genauso ist es in Ihrem Fall ja auch gewesen.« Er nahm einem vorbeigehenden Kellner ein Tellerchen mit Süßigkeiten ab und hielt es ihr hin.
Sie unterhielten sich noch eine halbe Stunde, aber er erfuhr nicht mehr, als dass Zillah von ihrem Charme durchaus Gebrauch machte und dass sie ihren äußeren Vorzügen unter der sachkundigen Anleitung ihrer Mutter größere Aufmerksamkeit widmete als andere, weniger gut beratene Mädchen ihres Alters. Das war indes kaum ein Vergehen. Tatsächlich konnte man es sogar als Tugend betrachten. Man bewunderte es im Allgemeinen, wenn eine Frau weder Zeit noch Mühe scheute, um ihr Erscheinungsbild zu verbessern. In vieler Hinsicht war ein solches Verhalten ein Kompliment an einen Mann, auch wenn es für unsichere oder ängstliche Naturen ein klein wenig entmutigend sein mochte.
Als Monk um Viertel vor drei am Morgen nach Hause kam, war er müde und erschöpft. Er hatte ein klareres Bild von Zillah und ihrer Mutter gewonnen, aber wie es aussah, nichts Nützliches erfahren. Es gab an beiden Frauen nichts auszusetzen, worüber Melville sich hätte beklagen können.
Er schlief lange und wachte mit Kopfschmerzen auf. Nach einem ausgiebigen Frühstück fühlte er sich jedoch schon beträchtlich besser.
Sein Blick fiel auf die Morgenzeitung, aber er kam zu dem Schluss, dass er keine Zeit habe, sie zu lesen, und falls etwas Interessantes für ihn drinstand, würde Rathbone es ohnehin wissen und hätte ihm eine entsprechende Nachricht geschickt.
Er musste Hesters Meinung einholen. Sie hatte wenig Ähnlichkeit mit Zillah Lambert, aber auch sie war einmal ein sechzehnjähriges Mädchen gewesen - was jetzt ungefähr achtzehn Jahre her sein musste. Sie würde sich gewiss daran erinnern. Und zu jener Zeit hatte sie noch zu Hause bei ihren Eltern gelebt, denn das war lange vor dem Ruin ihres Vaters gewesen und auch lange bevor der Krimkrieg ausbrach. Die meisten Menschen hatten damals wohl nicht einmal gewusst, wo die Krim lag! Und Florence Nightingale selbst hatte auf der Suche nach einem passenden Ehemann gewiss die üblichen Bälle, Soireen und Abendgesellschaften besucht. Dasselbe galt für Hester Latterly. Sie würde das Spiel und seine Regeln kennen.
Von der Fitzroy Street zum Tavistock Square war es nicht weit, und er ging zu Fuß durch die sonnenbeschienenen Straßen, vorbei an vornehmen Damen, die einen Spaziergang machten, und Herren, die sich die Beine vertraten und sich den Anschein gaben, Dinge von großer Wichtigkeit zu erörtern, während sie sich in Wirklichkeit nur die Zeit vertrieben. Monk beobachtete, wie sie vor weiblichen Bekannten den Hut zogen und sich gehörig aufplusterten. Mehrere Herrschaften fuhren in eleganten Kutschen vorbei.
Als er beim Haus der Sheldons ankam, ließ ihn der Lakai, der sich noch seiner erinnerte, ein und erklärte ihm, dass Miss Latterly derzeit beschäftigt sei, Lieutenant Sheldon ihn aber in Kürze sicher gern empfangen werde, wenn er so lange warten wolle.
Monk nahm das Angebot an, weil er sich sonst hätte verabschieden müssen, er aber unbedingt bleiben wollte.
Außerdem hatte er eine tiefe Wertschätzung für den jungen Mann entwickelt und wollte ihn auf keinen Fall mit einer Zurückweisung kränken, auch wenn sie nichts mit seiner Einstellung zu tun hatte.
»Vielen Dank. Das ist sehr freundlich.«
»Wenn Sie sich dann ein paar Minuten im Salon aufwärmen wollen, Sir, werde ich Lieutenant Sheldon informieren, dass Sie hier sind.«
»Natürlich.«
Er fror eigentlich nicht, und der Lakai kam auch schon bald zurück und brachte ihn nach oben.
Gabriel hatte das Bett heute verlassen und war voll bekleidet, obwohl es ihn offensichtlich große Anstrengung kostete. Er ermüdete sehr schnell, und die Amputation bereitete ihm immer noch Schmerzen. Monk hatte oft gehört, dass die Patienten den Arm oder das Bein noch lange nach der Amputation spüren können. Der Blässe und der Art, wie er gelegentlich die Zähne zusammenbiss, nach zu schließen, hatte Gabriel dieses Stadium noch nicht überwunden. Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, das durch das Fehlen eines Arms beeinträchtigt war.
Er freute sich jedoch, Monk zu sehen, erhob sich lächelnd und hielt ihm die rechte Hand hin.
»Guten Morgen, Mr. Monk. Wie geht es Ihnen? Wie nett von Ihnen vorbeizuschauen.«
Monk nahm die ihm dargebotene Hand und schüttelte sie kräftig. Gabriel erwiderte den Händedruck.
»Danke, bestens. Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir noch einmal zu gestatten, Miss Latterly aufzusuchen. Ich fürchte, ich bin, was diesen Fall betrifft, mit meinem Latein am Ende, und die Meinung einer Frau dazu ist meine letzte Hoffnung.«
»Ach.« Gabriel setzte sich unbeholfen und wies einladend auf den anderen Stuhl. »Können Sie darüber reden?«
»Ich habe nichts zu verlieren«, gestand Monk. »Die Verhandlung wegen eines gebrochenen Gelöbnisses…« Gabriel widmete ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit, und fast eine Stunde lang erzählte Monk ihm, was er bisher unternommen hatte, wobei er seinen Bericht über die Begegnung mit Mrs. Waterson vom vergangenen Abend so veränderte, dass die Dame in einem etwas günstigeren Licht erschien. An dem amüsierten Aufblitzen in Gabriels Augen vermeinte er jedoch zu erkennen, dass er ihn diesbezüglich nicht hatte täuschen können.
»Es tut mir Leid«, sagte Gabriel, als er zum Ende kam, »aber es sieht so aus, als sei Miss Lambert genau das, was sie zu sein scheint. Warum glauben Sie, dass es etwas an ihr auszusetzen gibt… abgesehen natürlich von Ihrer Hoffnung, Sie könnten etwas für Ihren Klienten tun?«
»Ich glaube es ja gar nicht«, gab Monk zu. »Es ist nur so, dass ich mich nicht gern geschlagen gebe.«
Gabriel seufzte. »Das muss nicht immer eine schlechte Erfahrung sein. Die Angst davor ist das Schlimmste. Wenn es erst einmal so gekommen ist, und Sie haben’s überlebt, werden Sie sich nie wieder so sehr davor fürchten.«
Monk wusste, was er meinte. Er sprach nicht wirklich von irgendwelchen Fällen, nicht einmal von Melville selbst, aber das zu bemerken war nicht notwendig.
»Oh, ich bin schon früher geschlagen worden«, sagte er hastig. »Und noch dazu bei wichtigeren Fällen als diesem. Das Ganze ist nur einfach so unsinnig und töricht! Es hätte sich leicht vermeiden lassen. Der Mann hat sich ruiniert…. und das ist deshalb so tragisch, weil er ein Genie ist.«
»Ist er das?«, fragte Gabriel interessiert.
»O ja«, antwortete Monk. »Ich war in einem seiner Häuser. Es ist noch nicht ganz fertig, aber es ist trotzdem so voller Licht und Luft.« Er hörte die Begeisterung in seiner Stimme. »Es ist wie bei einem vollkommenen Musikstück…. man kann nicht glauben, dass es von Menschenhand stammt. Es offenbart etwas, das man sofort wieder erkennt«, er versuchte es zu beschreiben, »es ist eine Art Glück, das sich mit nichts anderem vergleichen lässt. Das ist es, was mich so in Rage bringt… Der Mann hat kein Recht, sich zu Grunde zu richten, erst recht nicht wegen einer solchen Nichtigkeit!«
Gabriel biss sich auf die Unterlippe. »Das macht die wahre Tragödie aus: dass sie vermeidbar gewesen wäre. Vielleicht wird jemand mal ein großes Theaterstück darüber schreiben.«
»Dafür gibt der Stoff nicht genug her«, sagte Monk verächtlich. »Es ist eine Farce.«
»Sie glauben trotzdem, dass Hester helfen könnte?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Gabriel lächelte. Wenn er glaubte, dass Monk vielleicht aus einem anderen Grund gekommen war, so war er jedenfalls zu taktvoll, es nicht auszusprechen.
Sie unterhielten sich bereits über andere Dinge, als Perdita Sheldon eintrat. Sie trug ein grünes Kleid mit weiten Röcken, wie es gerade der Mode entsprach, und einem Spitzenbesatz auf dem Mieder.
Wäre sie nicht so bleich und furchtsam gewesen, hätte sie reizend ausgesehen.
»Mrs. Hanning ist hier. Willst - willst du sie sehen? Du brauchst es nicht…«
Der Name sagte Gabriel offensichtlich nichts. Sein Gesicht verriet lediglich eine Abneigung gegen jeglichen Besuch.
»Hanning«, wiederholte Perdita. »Major Hannings Frau.« Sie sah ihn ängstlich an. Ihre Haltung war verkrampft, und sie strich sich nervös über ihre ausladenden Röcke. »Er ist bei Gwalior gefallen.«
»Oh…« Gabriel erwiderte ihren Blick und atmete ganz langsam ein. Sein Kiefer verkrampfte sich, und seine Lippen schlossen sich auf seiner unversehrten Gesichtshälfte fest zusammen, während die Narbe und die Schwellungen seltsam starr blieben. Merkwürdigerweise machte gerade diese Starre seine Angst umso offensichtlicher.
»Ich sage ihr, dass dein Gesundheitszustand es nicht zulässt«, erklärte Perdita hastig.
»Nein…«
»Sie wird es verstehen!« Sie rührte sich nicht von der Stelle.
Sie glaubte zu wissen, was sie tun musste, um ihn zu schützen, und doch fiel ihr selbst diese Entscheidung schwer. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um zu einem Entschluss zu gelangen, und sah ihn Bestätigung heischend an. »Vielleicht… später… in ein paar Wochen.«
»Nein. Nein, ich werde heute mit ihr sprechen.« Auch er musste all seine Kraft zusammennehmen.
Monk fragte sich, wer Hanning gewesen sein mochte und warum seine Witwe so bald bei Sheldon vorsprach. Geschah es aus Pflichtgefühl oder aus Mitleid, oder waren es persönliche Gründe?
»Ich werde Miss Latterly fragen.« Perdita drehte sich um und eilte davon. Sie hatte eine Lösung gefunden. Wenn etwas außer Kontrolle geriet, würde Hester da sein, um die Dinge in die Hand zu nehmen.
Bei der Erwähnung von Hesters Name n hatte Gabriel sich ein wenig entspannt. Auch er verließ sich auf sie.
Ein jähes Gefühl der Ungeduld stieg in Monk auf. Diese Menschen waren Erwachsene, keine Kinder, die fremde Hilfe benötigten, um mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Aber dann musste er an die Erschöpfung in Gabriels Gesicht denken. Er brauchte alle Kräfte, um gegen die körperlichen Schmerzen und die schrecklichen Erinnerungen anzukämpfen. Mit seiner jungen, unerfahrenen Frau konnte er diese Erfahrungen nicht teilen. Für sie war Indien ein schwarzer Fleck auf der Landkarte, ein Wort ohne Bedeutung.
Und es war nicht Perditas Schuld, dass sie verwirrt und verängstigt war. Sie war beschützt aufgewachsen und hatte sich ihr Leben nicht selbst ausgesucht. Es war die Rolle, die man ihr zugewiesen hatte, und nur wenige Frauen wie zum Beispiel Hester schafften es, sich daraus zu befreien.
»Möchten Sie die Dame lieber allein empfangen?«, fragte Monk. Er stand nicht auf, sah Gabriel aber offen ins Gesicht.
Als hätte er zumindest einen Teil seiner Gedanken erraten, erwiderte Gabriel sein Lächeln.
»Ich habe Hanning ziemlich gut gekannt, aber seiner Frau bin ich noch nie begegnet. Er hat manchmal von ihr gesprochen, allerdings habe ich daraus entnommen, dass sie… ein wenig schwierig ist. Sie haben sich ziemlich oft gestritten. Ich weiß wirklich nicht, was ich ihr sagen soll. Vielleicht ist es eine Art Arroganz, die mich dazu verleitet, mich dieser Prüfung zu stellen. Ich möchte mir selbst beweisen, dass ich es schaffen kann.« Er zuckte die Achseln. »Und ich baue darauf, dass Hester die Scherben aufsammelt, wenn ich es nicht kann… für mich und für Perdita. Ich spüre, dass Hester Ihnen viel bedeutet.« Er ignorierte Monks plötzliches Unbehagen. »Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie bleiben würden - selbst wenn das eine Zumutung sein sollte…«
Waren seine Gefühle für Hester so offensichtlich? Es war Freundschaft, was er empfand, keine romantische Liebe. Hatte Gabriel das begriffen? Vielleicht sollte er es ihm erklären. Aber welche Worte konnte er wählen, um keinen falschen Eindruck zu erwecken?
»Natürlich«, stimmte er zu und ließ sich entspannt auf dem Stuhl zurücksinken. »Wir sind seit einiger Zeit befreundet, seit mehreren Jahren, um genau zu sein.«
Gabriel lächelte, und seine Augen weiteten sich ein wenig. Zum Teufel, an der Sache war nichts Komisches! »Sie hat einiges Talent bei der Einschätzung von Menschen, und sie war mir bei verschiedenen Fällen überaus nützlich«, fügte er hinzu.
»Sie ist eine wirklich bemerkenswerte Frau«, erwiderte Gabriel. »Es fällt mir leichter, mit ihr zu reden als mit irgendjemandem sonst, selbst mit anderen Männern, die das Gleiche erlebt haben wie ich.«
»Tatsächlich?« Monk war beeindruckt. Dabei hatte Gabriel sie doch gerade erst kennen gelernt! Wie konnte er seine Freundschaft mit Hester, seine Abhängigkeit von ihr im selben Atemzug erwähnen wie Monks Beziehung zu ihr? Er wollte gerade etwas über ihre pflegerischen Fähigkeiten sagen, als ihm eine unglaubliche Selbsterkenntnis das Blut in die Wangen trieb: Er war eifersüchtig!
Er fuhr erschrocken herum, als er ein Geräusch von der Tür her hörte. Hester war eingetreten. Sie trug dasselbe blaugraue Kleid, das sie für gewöhnlich im Dienst anhatte.
Sie sah Gabriel mit fragender Miene an, sagte aber nichts.
Dann zögerte sie kurz und akzeptierte schließlich seine Entscheidung. Sie wandte sich um, um Mrs. Hanning zu holen.
Gabriel und Monk warteten schweigend auf den neuen Gast.
Die Uhr tickte auf dem Kaminsims, und das Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, zeichnete Muster auf den Teppich. Ein Windstoß blähte die Vorhänge für einen Augenblick auf. Der Raum war plötzlich erfüllt vom Duft der Blätter und der Erde draußen.
Kurz darauf trat Mrs. Hanning ein. Sie war eine auffällige, extravagante Frau mit einem ziemlich hochmütigen Gebaren. Sie hatte eine lange, gerade Nase, sehr volle Lippen und gerade Augenbrauen. Wären die Brauen gewölbt gewesen, hätte man sie als eine echte Schönheit bezeichnen können. Sie war, wie es sich für eine Witwe ziemte, schwarz gekleidet.
Sie starrte Gabriel an, und es war offensichtlich, dass ihr die Worte fehlten. Sie schlug sich die behandschuhte Hand vor den Mund, als wolle sie einen Schrei unterdrücken.
Perdita, die hinter ihr stand, war den Tränen nahe. Sie litt mit Gabriel und wusste nicht, was sie sagen oder wie sie ihn schützen konnte.
Gabriel vermittelte einen Moment lang den Eindruck eines Menschen, der sich selbst zum ersten Mal mit den Augen eines anderen sah. Monk versuchte sich vorzustellen, was für ein Gefühl das sein musste. Monk sah es als seine Pflicht an, etwas zu sagen. Er stand auf und lächelte Mrs. Hanning an.
»Guten Tag, Mrs. Hanning. Mein Name ist William Monk.« Er reichte ihr die Hand. »Ich bin ein Freund von Gabriel, und hier, um seinen Rat zu einem kleinen Problem einzuholen, das ich für einen Freund lösen soll. Im Augenblick habe ich noch nicht viel erreicht.«
Mrs. Hanning hielt die Luft an. »Oh… wirklich? Das tut mir Leid, Mr…. Monk.« Sie war sich unschlüssig darüber, ob sie erleichtert oder verärgert sein sollte, dass sie mit ihm spreche n musste. Fest stand für sie nur, dass sie kein Interesse an ihm hatte. Ihre Stimme klang flach und übertrieben höflich. »Wie unangenehm.«
»Er hat mir sehr geholfen, meine Gedanken zu ordnen«, fuhr er fort, als sei ihre Antwort überaus charmant gewesen.
Der Wortwechsel hatte lange genug gedauert, um Gabriel Zeit zu geben, sich wieder zu fassen.
„Guten Morgen, Mrs. Hanning. Wie freundlich von Ihnen, mich aufzusuchen.« Seine Stimme zitterte ein wenig, und er musste sich zwingen, ihr in die Augen zu blicken.
»Es war…« Sie war drauf und dran gewesen, ›Pflichterfüllung‹ zu sagen, besann sich dann aber eines Besseren. Sie versuchte ihn ganz normal anzusehen, was ihr misslang. Sie heftete den Blick starr auf seine Augen. »Ich hatte schon lange die Absicht zu kommen«, fügte sie schwach hinzu.
»Ich hatte bisher nur… ähm…«
»Selbstverständlich«, sagte er in dem Bemühen, ihr zu helfen.
»Wir alle waren furchtbar getroffen, als wir von Major Hannings Tod bei Gwalior erfuhren. Wir haben so viele Freunde verloren, dass es den Anschein hatte, als würde die Trauer niemals enden - als würde es nur immer schlimmer werden.«
»Ja…« Sie wusste noch immer nicht, was sie sagen sollte. »Es muss schrecklich für Sie gewesen sein. Mein Mann…«, sie schluckte hörbar, »…mein Mann hat immer mit größter Hochachtung von Ihnen gesprochen.« Ihre Worte klangen steif, als sei sie die Gattin eines ranghöheren Offiziers, die einen Pflichtbesuch machte, obwohl sie nicht die geringste Vorstellung von den Ereignissen oder Gefühlen hatte, von denen sie sprach.
Wo war Hester? Ihr würde gewiss etwas einfallen, um die Situation zu retten. Monk erblickte über Mrs. Hannings Schulter hinweg zuerst die aschfahle Perdita und dann Hester, die hinter ihr stand. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
Er nickte und presste die Lippen zusammen. Warum ließ sie das zu? Es war qualvoll!
»Das ist typisch für ihn«, antwortete Gabriel, der Mrs. Hannings Blick weiterhin standhielt. »Er war ein großherziger Mann. Wir waren gute Freunde und haben zusammen viele Kämpfe durchgestanden. Wir hatten gemeinsame Freunde, gute Freunde… die wir verloren haben. Er hat Indien geliebt, das Land, die Nächte, die Gerüche der Gewürze und des Staubs und der vielen Dinge, die dort wuchsen.« Er lächelte ein wenig, und seine Stimme wurde weich. »Wenn man die Hitze und das Leben des Dschungels einmal erlebt hat, vergisst man es nie wieder. Oder die Märkte. Der Lärm, die…« Er hielt abrupt inne. Sie konnte ihm nicht glauben. Im Gegensatz zu Perdita war sie in Indien gewesen, hatte aber nur die abgeschirmten Bergfestungen kennen gelernt, und dort war sie nur mit den anderen Offiziersgattinnen zusammen gewesen.
»Ich glaube, Sie - Sie irren sich. Sie müssen ihn mit jemand anderem verwechselt haben.« Sie zwang sich, sein Lächeln zu erwidern, als hätte sie sich ins Gedächtnis gerufen, dass er verwundet war. Vielleicht hatte ja auch sein Gehirn Schaden erlitten. Ja, das würde alles erklären. Die Gedanken waren so deutlich von ihrem Gesicht abzulesen, als hätte sie sie laut ausgesprochen.
Monk sah Hester an. Sie schwieg immer noch.
Perdita machte einen Schritt ins Zimmer hinein. Sie hatte die Arme verschränkt, und ihre Stimme zitterte.
»Sie scheinen Indien nicht gemocht zu haben, Mrs. Hanning. Das tut mir Leid. Ich bin leider nie dort gewesen, aber ich dachte immer, dass mir das Land gefallen würde. Gabriel hat so wunderbare Briefe geschrieben, und ich habe vor kurzem ein Buch über die indische Geschichte gelesen. Natürlich betrifft das meiste, was ich weiß, die Zeit nach dem Erscheinen der Briten im Land, aber ich habe auch ein klein wenig über die Jahre davor erfahren. Das hätte ich schon lange tun sollen…« Sie bedachte Mrs. Hanning mit einem trotzigen Lächeln, als wolle sie sie herausfordern, ihr zu widersprechen. Sie ging noch weiter ins Zimmer hinein. »Ich hätte Gabriel eine bessere Gefährtin sein sollen.«
Mrs. Hanning holte Luft. Es ließ sich unmöglich feststellen, ob sie sich gekränkt fühlte oder nicht.
Perdita wusste, was sie getan hatte, war aber nicht bereit, auch nur einen Schritt zurückzuweichen.
»Da ich ihn damals nicht begleitet habe, ist es das Mindeste, was ich heute tun kann.« Sie lächelte und reckte das Kinn noch eine Spur höher.
»Aber sicher, wenn Sie glauben, es sei Ihre Pflicht.« Mrs.
Hanning erwiderte ihr Lächeln, beinahe ohne die Lippen zu bewegen. »Dann wird es Ihnen zweifellos Trost schenken. Es freut mich, dass Sie etwas gefunden haben… in Ihrer Situation…. meine Liebe.«
»Es geht mir nicht um Pflicht«, korrigierte Perdita sie. »Es ist mir eine Freude, und natürlich nimmt es mich sehr mit, von all dem Leid zu erfahren, von den Ungerechtigkeiten…«
»Sie meinen die Barbarei der Inder - ihre Undankbarkeit«, beendete Mrs. Hanning ihren Satz.
»Nein, ich meinte die Ungerechtigkeiten, die wir den Indern gegenüber begangen haben«, widersprach Perdita. »Ich glaube nicht, dass es falsch ist, sein eigenes Land zu verteidigen. Ich würde England gewiss verteidigen wollen, wenn indische Armeen hier einrückten und versuchten, uns zu einem Teil ihres Reichs zu machen…«
Mrs. Hanning lachte. »Das ist wohl kaum dasselbe, meine Liebe! Die Inder sind Barbaren. Wir sind Engländer.«
»Ich glaube, wenn Sie die Berichte über einige unserer Eroberungen lesen, würden Sie feststellen, dass wir ebenfalls Barbaren sind.« Perdita ließ nicht locker. »Wir verstehen uns einfach nur besser auf dieses Geschäft.«
»Sie sind noch sehr jung«, entgegnete Mrs. Hanning geduldig.
»Vielleicht sollte jemand Sie bei der Auswahl einer passenden Lektüre beraten.« Ihre Stimme wurde leiser. »Aber Ihr Arzt wird Ihnen gewiss sagen, dass Lieutenant Sheldon Ruhe braucht, ein stilles, liebevolles Heim und eine Ehefrau, die ihm ein wenig Klaviermusik vorspielt oder angenehme Dinge vorliest, statt ihn über die Geschichte Indiens zu belehren. Erlauben Sie mir, Sie diesbezüglich ein wenig anzuleiten, meine Liebe.«
»Vielen Dank«, entgegnete Perdita. »Ihre Absichten sind gewiss die besten, und es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns besucht haben, aber ich möchte mehr über Indien erfahren, damit ich eine verständige Gesprächspartnerin sein kann, falls Gabriel darüber zu reden wünscht.«
»Ich denke, Sie werden feststellen, dass er Sanftmut braucht, nicht Intelligenz«, sagte Mrs. Hanning mit selbstsicherem Lächeln. »Ein Mann hat nicht den Wunsch, mit seiner Frau über ernste Themen zu diskutieren. Dafür gibt es Freunde und Kollegen - Gentlemen wie Mr. Monk.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu.
Monk sah wiederum Hester an. In ihren Augen blitzte Befriedigung auf. Sie empfand Stolz für Perdita und Gabriel, und der Sieg der beiden war ihr Sieg. Ihm war bisher nicht klar gewesen, wie viel Gefühl sie in ihre Arbeit investierte, wie tief ihre Zuneigung zu ihren Patienten war. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Bewunderung für sie, gleichzeitig aber auch mit Neid, weil dieses Verhalten so vorbehaltlos und großmütig war. Es lag eine Wärme darin, wie er sie für seine Klienten nicht empfand.
Er begegnete ihnen stets mit einer kühlen Zurückhaltung, in die sich manchmal sogar Zorn mischte.
Mrs. Hanning hatte ihren Pflichtbesuch absolviert. Er war kein Erfolg gewesen. Sie machte Anstalten, sich zu verabschieden.
Perdita dankte ihr noch einmal, dass sie gekommen war, und begleitete sie nach unten. Sie ging sehr gerade und hocherhobenen Hauptes, auch wenn die zu Fäusten geballten Hände ihre Angespanntheit verrieten.
Monk drehte sich wieder zu Gabriel um. Er saß noch immer aufrecht und steif da, aber die unversehrte Seite seines Gesichts zeigte den Anflug eines Lächelns.
Hester trat ins Zimmer.
Monk fragte sich, ob sie den Zwischenfall erwähnen würde oder nicht. Sie sah erst Gabriel, dann Monk an, und in ihren Augen stand echte Besorgnis. Sie war sich nicht sicher, ob sie richtig gehandelt hatte. Ohne nachzudenken, stand er auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Es war eine Geste der Kameradschaft, der Wunsch, sie wissen zu lassen, dass er verstand.
»Wie kommt Ihr Fall voran?«, fragte sie ihn. Ihre Stimme bebte.
»Überhaupt nicht«, erwiderte er. »Ich bin in der Hoffnung hergekommen, Sie könnten mir vielleicht einen Rat geben, obwohl ich nicht weiß, ob uns jetzt noch irgendetwas helfen könnte.«
»Warum? Was ist passiert?« Jetzt vergaß sie seine Geste und dachte nur noch an den Fall.
»Nichts«, sagte er. »Das ist es ja gerade. Der Fall wird zum Ende kommen, ohne dass Rathbone auch nur das Geringste zur Verteidigung seines Mandanten beitragen konnte.« Hester sah zu Gabriel.
Er lächelte, und seine Augen leuchteten, obwohl die Hände auf der Decke geballt waren. Keiner von ihnen sagte etwas. Eine so vollkommene Stille erfüllte den Raum, dass Monk Pferdehufe auf der Straße hinter der Gartenmauer hören konnte, das Echo eines Tabletts, das irgendwo im Haus heruntergefallen war, und die Haustür, wie sie geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann kamen Schritte näher, und Perdita trat ins Zimmer. Ihr erster Blick galt Gabriel, der zweite Hester.
»Ich war furchtbar unhöflich, nicht wahr?«, fragte sie. »Ich hätte diese Bemerkung, dass ich eine gute Gefährtin sein möchte, nicht machen dürfen. Schließlich ist ihr Mann tot!« Sie unterdrückte ein Schluchzen.
»Nun…«, begann Gabriel.
»Ja, Sie waren unhöflich«, gab Hester ihr mit einem Lächeln Recht. »Ich vermute, dass es das erste Mal war, dass die Ehefrau eines Lieutenants sie ungestraft beleidigt hat. Es wird ihr ungemein gut tun.« Sie fuhr herum. »Nicht wahr, Gabriel?«
Er blickte von Hester zu Perdita, als sähe er sie zum ersten Mal. Ihre Beziehung hatte sich verändert. Sie mussten ganz neu beginnen.
»Ja…«, sagte Gabriel zaghaft. »Ja, ich…« Er lachte ein wenig. »Nachdem ich sie kennen gelernt habe, bekomme ich ein ganz neues Bild von John Hanning. Ich sehe Dinge an ihm, die ich vorher nicht wahrgenommen habe.«
»Was war er für ein Mensch?«, fragte Perdita rasch.
»Nun - er war…«
Hester nahm Monk am Arm und führte ihn aus dem Zimmer, damit Gabriel Perdita von John Hanning erzählen konnte: von seinem Charakter, seinen Schwächen und Stärken, wie er gekämpft, was er geliebt oder gehasst hatte, von seinen Erinnerungen an seine Jugend und sein Zuhause, davon, wie er während des Aufstands in Gwalior gestorben war.
Draußen auf dem Flur sah Hester ihm forschend in die Augen. Er erwiderte ihren Blick lange und ruhig. Es war ein angenehmes Gefühl. Ausnahmsweise gab es keine Spannung zwischen ihnen, keinen Kampf. Erklärungen waren unnötig.
Sie lächelte.
Er legte ihr einen Arm um die Schultern und spürte durch den Stoff ihres dicken Wollkleids ihre Wärme. Sie war knochig und mager, und das war sie schon gewesen, als er sie das erste Mal mit ihrer Schwägerin in der Kirche gesehen hatte. Damals war Josephine ihm so viel schöner erschienen als Hester, aber bis zu diesem Augenblick hatte er diese vollkommen vergessen.
»Wie kann ich Ihnen bei Ihrem Fall helfen?«, fragte sie, während sie die Tür zum Salon öffnete.
»Wahrscheinlich gar nicht«, antwortete er und folgte ihr hinein. »Zillah Lambert scheint eine normale hübsche junge Frau zu sein, die gern ein wenig flirtet, deren Ruf jedoch tadellos ist. Ich weiß nicht einmal, wonach ich suchen soll.«
Sie setzte sich auf einen chintzbezogenen Sessel und dachte nach. Er blieb stehen und sah aus dem Fenster.
»Sie glauben immer noch, dass Melville irgendetwas über sie herausgefunden hat?«, fragte sie.
»Nein, das glaube ich keineswegs. Ich vermute, er konnte den Gedanken an die Ehe einfach nicht ertragen, an die damit verbundene Vertrautheit, an den Verlust seiner Selbstständigkeit, die Verantwortung für einen anderen, das - das Gefühl, eingeengt zu sein, beobachtet zu werden, das Gefühl, dass ein anderer Mensch von einem abhängig ist…«, er breitete die Hände aus, »… die ganze… Palette der damit verbundenen Dinge!«
»Manche Menschen finden es recht angenehm, verheiratet zu sein«, sagte sie.
Er hörte den warnenden Tonfall in ihrer Stimme. Einen Augenblick lang schwankte er zwischen Ärger und Lachen. Dann setzte sich das Lachen durch.
Sie starrte ihn an. »Was ist da so komisch?«, fragte sie mit blitzenden Augen.
»Zwingen Sie mich nicht, es zu erklären!«, erwiderte er. »Das ist auch gar nicht nötig, Hester, denn Sie verstehen mich genau - so, wie ich Sie verstehe. Ich möchte etwas finden, das Rathbone verwenden kann, um Melville aus diesem Schlamassel herauszuhelfen. Er hat sich wie ein Idiot benommen, aber er hat es nicht verdient, dass man ihn dafür ruiniert. Wenn ich irgendeinen Makel entdecken könnte, würde Rathbone ihn nicht vor Gericht benutzen, sondern Lambert lediglich dazu bringen zu verhandeln, bevor es zu spät ist.«
Sie saß wieder so steif da, als hätte sie ein Lineal im Rücken.
»Ist es möglich, dass einer ihrer Flirts zu weit gegangen ist, dass das Resultat vielleicht eine kleine Verantwortungslosigkeit war?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Nun, ihre Eltern würden gewiss nicht darüber reden«, sagte sie mit Überzeugung. »Ihr Vater würde wahrscheinlich nicht einmal etwas davon wissen, aber ihre Mutter durchaus. Mütter durchschauen ihre Töchter im Allgemeinen sehr gut.« Sie lächelte still vor sich hin, und ihr Blick schien auf einen Punkt weit in der Vergangenheit gerichtet zu sein. »Ich wollte ein rotes Kleid tragen. Da war dieser junge Mann, den ich einfach himmlisch fand. Er hatte rötliches Haar und einen prächtigen Schnurrbart…«
Monk konnte nur mit Mühe an sich halten. Er versuchte sich Hester mit sechzehn vorzustellen und verabscheute den jungen Mann mit dem Schnurrbart.
»Ich wollte Eindruck auf ihn machen«, fuhr sie fort. »Das Kleid war sehr gewagt. Er himmelte Lavinia Wentworth an. Sie hatte schwarzes Haar und Locken. Ich dachte, das rote Kleid würde alles entscheiden.« Ihr Lachen verriet echte Erheiterung, kein Selbstmitleid, kein Bedauern. Ihre Augen leuchteten. »Ich hätte schrecklich ausgesehen! Ich war so blass und viel zu knochig, um Rot zu tragen. Mama zwang mich zu Weiß und Grün. Der junge Mann mit dem Schnurrbart ignorierte mich völlig. Ich glaube nicht, dass er mich überhaupt bemerkt hat.«
»Lavinia Wentworth?« Er musste einfach fragen.
»Nein - es war Violet Grassmore.« Sie sagte das, als überrasche es sie noch immer. »Sie erzählte mir später, er hätte klebrige Hände gehabt und sei furchtbar langweilig gewesen. Lavinia Wentworth spazierte mit einem jungen Mann davon, der in einer Uniform steckte. Die beiden kamen sich sehr nah, aber er war aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, nicht standesgemäß. Lavinias Mutter brachte sie nach Brighton oder Hove oder sonst wohin.«
Sie fuhr zu ihm herum.
»Das ist es, wonach Sie suchen sollten! Eine Verbindung, der Zillahs Mutter ein Ende machte. Das wäre der richtige Ansatzpunkt.«
»Ich danke Ihnen. Diese Idee ist immerhin besser als gar nichts. Aber wir haben so wenig Zeit.«
»Dann verschwenden Sie sie besser nicht«, erwiderte sie, stand aber nicht auf. »Möchten Sie eine Tasse und vielleicht etwas zu essen, bevor Sie Ihre Suche beginnen?«
»Ja«, erwiderte er sofort. Er hatte tatsächlich großen Hunger und blickte seinen Nachforschungen mit wenig Begeisterung entgegen.
Er leistete Hester und Martha Jackson bei einer kalten Wildpastete mit sauer eingelegtem Gemüse und einer Kanne frischem Tee Gesellschaft und gönnte sich zum Schluss noch eine Portion Pflaumenpudding. Sie unterhielten sich über verschiedene Themen von sehr allgemeinem Interesse. Monk musste die ganze Zeit an sein Versprechen denken, nach Marthas Nichten zu suchen. Er hatte noch nicht einmal damit angefangen. Rathbones Fall würde sich nur noch ein oder zwei Tage hinziehen, dann konnte Monk mit seiner Suche nach den Mädchen beginnen.
Er lächelte Martha über den Tisch hinweg an, und seine Gewissensbisse verschwanden.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Hesters Lippen sich verzogen. Sie hatte seine Miene richtig gedeutet und wusste genau, was in ihm vorgegangen war. Er brummte etwas Unverständliches und bat noch um ein wenig Pflaumenpudding. Falls die Sache sich als zu schwierig erwies oder er die Antwort fand und sie zu schrecklich war, würde er es Martha verschweigen; denn es war besser, mit einem Geheimnis zu leben, das ihrer Phantasie und ihrer Hoffnung Raum ließ.
Er würde es auch Hester nicht sagen. Sie verstand sich nicht besonders gut darauf, etwas zu verbergen.
Er nahm noch eine Tasse Tee, dankte den beiden Frauen und verabschiedete sich dann. Ihm blieben noch zwei Tage, um etwas über Zillah Lambert herauszufinden. Danach würde Rathbone seine Niederlage eingestehen müssen, und er könnte mit der Suche nach den beiden missgebildeten Kindern von Samuel Jackson beginnen.
Zuerst hatte er nicht gewusst, wo er bei Zillah anfangen sollte. Es war vollkommen lächerlich, in der Kürze der ihm verbliebenen Zeit noch etwas in Erfahrung bringen zu wollen. Dann musste er wieder an Mr. Burnhams Bericht über Barton Lambert denken und an den Aristokraten, der die Festhalle bauen lassen und Prinz Albert widmen wollte. Anscheinend hatte Mylords Sohn eine Zuneigung zu Zillah gefasst, und sie hatte sich zumindest für eine Weile auch zu ihm hingezogen gefühlt. Falls es je einen Fehltritt gegeben haben sollte, könnte er durchaus in dieser Richtung liegen.
Es war nicht einfach, Unterlagen über das geplante Gebäude oder das Ende dieses Projekts zu finden. Er wurde mehrmals abgewiesen, und als er endlich herausfand, was er wissen musste, hatte er mit so vielen Personen gesprochen, dass Lambert einfach von seinen Nachforschungen erfahren musste.
Was er fand, waren Gerüchte, Klatsch und nur wenige Tatsachen, aber sie hatte in der Tat geradezu unerhört mit Lord Tainbridges ältestem Sohn geflirtet. Möglich, dass die Sache die Grenzen des Schicklichen überschritten hatte, aber niemand wagte zu behaupten, sie habe vielleicht sogar ihre Unschuld verloren.
Monk konnte nur Vermutungen anstellen, und möglicherweise war Zillah keine Jungfrau mehr. Aber schließlich war das eine rein private Angelegenheit…. sofern man ihr überhaupt Bedeutung beimessen konnte.
Zu guter Letzt blieb ihm nichts anders übrig, als zu Rathbone zu gehen und einzugestehen, dass er nichts Konkretes in der Hand hatte als Vermutungen. Er grübelte über das Thema Ehe und Schönheit nach und welche Maßstäbe die Gesellschaft an die Tugenden einer Frau anlegte und welche Wertvorstellungen für sie selbst galten.
Er schob die Hände in die Taschen und überquerte die belebte Straße, indem er sich zwischen Kutschen, Fuhrwerken, einem mit Teppichen beladenen Wagen und einem Kohlenkarren hindurch schlängelte, bevor er auf der anderen Seite auf den Gehsteig trat. Unbewusst beschleunigte er seinen Schritt.
Als er zu Rathbones Wohnung kam, ließ der Lakai ihn ein.
Rathbone stand vor dem verlöschenden Feuer und war im Begriff, sich für die Nacht zurückzuziehe n. Er sah müde und unglücklich aus. In seinen Augen flackerte für einen Moment die Hoffnung auf, als Monk eintrat, dann kehrte rasch die Niedergeschlagenheit zurück.
»Es tut mir Leid«, sagte Monk aufrichtig. Er hatte sich so sehr gewünscht, mit guten Neuigkeiten aufwarten zu können, nicht nur um seiner eigenen Eitelkeit willen, sondern auch für Rathbone und sogar für Melville.
»Nichts?«, fragte Rathbone.
»Sie könnte eine Affäre mit Lord Tainbridges Sohn gehabt haben, aber dafür gibt es keine Beweise, nur Spekulationen. Sie könnten damit drohen, etwas Derartiges in der Öffentlichkeit anzudeuten, aber ich bezweifle, dass Sie da mehr erreichen würden, als die Geschworenen vor den Kopf zu stoßen - und Sacheverall dürfte das sehr wohl wissen.
Rathbone stand am Feuer und starrte in die langsam verglimmenden Flammen. »Ich glaube nicht, dass das viel nutzen würde. Melville ist ruiniert. Sie haben die Zeitung noch nicht gelesen, oder?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Nein. Warum?« Monk wurde flau im Magen. »Warum?«, wiederholte er und trat ebenfalls an den Kamin.
Ohne ihn anzusehen, erzählte Rathbone ihm von Isaac Wolff und von Sacheveralls Beweisen gegen ihn.
Monk hörte ihm schweigend zu. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, denn diese Dinge hätte er selbst in Erfahrung bringen können. Wenn er es herausgefunden hätte, hätte er Rathbone warnen können, und diesem wäre es vielleicht gelungen, Melville zu einem Vergleich zu überreden.
»Es tut mir Leid«, entschuldigte er sich. »Ich habe nach Frauen Ausschau gehalten. An so etwas habe ich nie gedacht. Hätte es aber tun müssen.«
Rathbone zuckte mit den Schultern. »Ich auch.« Er sah sich um und lächelte. »Wir haben keine besonders gute Figur gemacht, wie?«
Sie standen eine Weile schweigend nebeneinander vor dem Kamin, bis es an der Tür klopfte und der Lakai mit bleichem Gesicht und aufgerissenen Augen eintrat.
»Sir Oliver.« Seine Stimme bebte. »Ich fürchte, Sir, ich habe gerade eine Nachricht erhalten… Sir…«
»Ja?«
Monk ballte die Fäuste und spürte, wie eine Woge der Kälte durch seinen Körper lief.
»Es tut mir Leid, Sir«, fuhr der Lakai, inzwischen nur noch flüsternd, fort. »Aber man hat Mr. Melville aufgefunden. Tot.«
Rathbone starrte ihn an.
»Es tut mir Leid, Sir Oliver. Ich fürchte, jeder Zweifel ist ausgeschlossen.«
Rathbone schloss die Augen und sah eine Sekunde lang so aus, als werde er in Ohnmacht fallen.
Monk machte einen Schritt auf ihn zu.
Rathbone hob die Hände und wehrte ihn ab. Er rieb sich die Augen. »Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben. Das ist alles.«
»Sehr wohl, Sir.« Der Mann zog sich diskret zurück.
Rathbone, aus dessen Gesicht jegliche Farbe gewichen war, drehte sich zu Monk um. Die tiefen Schatten unter seinen Augen verrieten Trauer und Schuldgefühle.