Kapitel 10
Pitt und Tellman suchten das Haus in der Southampton Row noch einmal auf. Pitt hatte immer mehr das Gefühl, dass er jedes Mal beobachtet wurde, wenn er in die Keppel Street kam oder sie verließ, doch hatte er außer dem Postboten und dem Milchmann, der gewöhnlich mit seinem Karren an der Ecke des Gässchens stand, das von dort zum Montague Place führte, nie jemanden gesehen.
Von Charlotte hatte er zwei kurze Briefe bekommen, in denen sie mitteilte, dass alles in Ordnung sei und sie sich äußerst wohl fühlten, davon abgesehen, dass er ihnen sehr fehle. Keiner der Briefe trug einen Absender. Er hatte ihr mehrfach geschrieben und darauf geachtet, die Briefe weit von seiner Wohnung entfernt einzuwerfen, so dass der neugierige Postbote sie auf keinen Fall zu sehen bekam.
Das Haus in der Southampton Row machte in der Hitze des stillen Sommervormittags einen friedlichen Eindruck. Wie immer trugen pfeifende Jungen Botschaften durch die Straßen oder brachten Fisch, Geflügel und sonstige Einkäufe zu den Häusern. Einer von ihnen rief einem Dienstmädchen, das eine Katze vom Hauseingang verscheuchte, ein freches Kompliment zu. Sie schimpfte mit ihm, kicherte aber dabei.
»Verschwinde, Taugenichts! Von wegen Blumen!«
»Veilchen!«, rief er ihr nach und wedelte mit den Armen.
Im Inneren des Hauses allerdings sah es anders aus. Die Vorhänge waren halb zugezogen, wie es sich bei einem Todesfall gehörte.
Im Salon, in dem man Maude Lamont getötet hatte, war offenbar nichts angetastet worden. Lena Forrest, die beide Männer mit angemessener Höflichkeit empfing, wirkte nach wie vor erschöpft und angespannter als beim vorigen Mal. Möglicherweise war ihr mittlerweile aufgegangen, was der Tod ihrer Herrschaft für sie bedeutete und dass sie sich schon bald eine neue Stelle würde suchen müssen. Es konnte nicht einfach für sie sein, allein in einem Haus zu leben, in dem die Frau, die sie ständig in den alltäglichsten Situationen erlebt hatte, erst vor einer Woche ermordet worden war. Es sprach sehr für ihre Seelenstärke, dass es ihr gelang, weiter dort zu wohnen.
Vermutlich hatte sie schon so manchen Todesfall erlebt, und dass sie für Maude Lamont arbeitete, bedeutete nicht zwangsläufig, dass sie eine persönliche Beziehung zu ihr gehabt hatte. Vielleicht war das Medium herrisch, anspruchsvoll, kritiksüchtig und rücksichtslos gewesen. Manche Frauen waren der Ansicht, sie hätten das Recht, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht nach ihrem Dienstmädchen zu schicken, ganz gleich, ob das unerlässlich war oder nicht.
»Guten Morgen, Miss Forrest«, sagte Pitt freundlich.
»Guten Morgen, Sir«, erwiderte sie den Gruß. »Kann ich noch etwas für Sie tun?« Dabei sah sie auch Tellman an. Die beiden standen unbehaglich im Salon, sich dessen bewusst, was dort geschehen war, ohne aber den Grund dafür zu kennen. Pitt hatte gründlich über die Frage nachgedacht und sie Tellman gegenüber angesprochen. »Nehmen Sie doch Platz«, bat er die Frau, dann setzten auch er und Tellman sich.
»Miss Forrest«, begann er. »Da die Haustür verschlossen war, die Türen zum Garten hingegen« – er warf einen Blick darauf – »lediglich zugezogen, aber nicht verschlossen waren und man ausschließlich durch die Tür in der Mauer vom Cosmo Place ins Haus gelangen kann, die verschlossen, aber nicht verriegelt war, ist die Schlussfolgerung zwingend, dass einer der bei der Séance im Hause Anwesenden Miss Lamont getötet haben muss – wenn es nicht alle drei gemeinsam waren, wofür aber nicht die geringste Wahrscheinlichkeit spricht.« Sie hatte ihm aufmerksam zugehört und nickte zustimmend. Auf ihren Zügen lag keine Überraschung. Vermutlich war sie selbst inzwischen zu dem Ergebnis gekommen, das Pitt vorgetragen hatte. Schließlich hatte sie eine ganze Woche Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und wahrscheinlich hatte der Vorfall so gut wie alles andere aus ihren Gedanken verdrängt.
»Ist Ihnen in der Zwischenzeit irgendein Gedanke gekommen, warum jemand Miss Lamont etwas Böses hätte wünschen können?«
Sie zögerte. Auf ihrem Gesicht lag Zweifel. Es war unübersehbar, dass irgendeine tiefe Empfindung in ihr wirkte.
»Bitte, Miss Forrest«, drängte er sie. »Diese Frau hatte die Möglichkeit, einige der tiefsten Geheimnisse im Leben von Menschen aufzudecken, die diese Menschen verletzlich machten, Dinge, für die sie sich möglicherweise außerordentlich schämten, frühere Sünden und Erlebnisse, die so tief in ihr Leben eingegriffen hatten, dass sie sie nicht vergessen konnten.« Er sah, wie sogleich Mitgefühl in ihrem Gesicht aufflammte, als stellte sie sich diese Menschen vor und als könne sie das von diesen Erinnerungen heraufbeschworene Entsetzen in allen fürchterlichen Einzelheiten erkennen. Vielleicht hatte sie früher in Häusern gedient, in denen sie den Kummer der Herrschaft mitbekommen hatte, eine unglückliche Ehe, den Tod von Kindern, Liebesgeschichten, die sie quälten. Nicht allen Menschen war bewusst, wie viel ein Dienstmädchen mitbekam, das zugleich als Zofe arbeitete, so dass sie bisweilen intimste Einzelheiten über das Leben ihrer Herrschaft kannte. Manche mochten sie gar als stumme Vertraute schätzen, während andere die Vorstellung entsetzt hätte, dass eine Außenstehende Einblick in die privatesten Dinge hatte und mehr mitbekam, als einem lieb sein mochte. Für einen Kammerdiener war kein Mann ein Held, und für eine Zofe hatte wohl keine Frau ein Geheimnis.
»Ja«, sagte sie gefasst. »Einem guten Medium bleibt nicht viel verborgen, und sie war sehr gut.«
Pitt sah die Frau an und versuchte in ihrem Gesicht und ihren Augen zu lesen, ob sie mehr wusste, als ihre Worte sagten. Es wäre für Maude Lamont schwierig gewesen, vor ihrem Mädchen einen Komplizen zu verbergen, der ihr geholfen hätte, Manifestationen vorzutäuschen oder persönliche Informationen über künftige Kunden zu erlangen. Auch ein Liebhaber hätte sich früher oder später verraten und sei es nur durch Maudes Verhalten ihm gegenüber. Bewahrte Lena Forrest so viele Geheimnisse aus Treue zu einer Toten oder aus Selbsterhaltungstrieb, weil sie fürchtete, künftig keine Vertrauensstellung zu bekommen, wenn sie zu viel preisgab? Sie konnte in dieser Hinsicht gar nicht vorsichtig genug sein, denn von Maude Lamont würde sie naturgemäß kein Führungszeugnis bekommen. Unter diesen Umständen war es für sie äußerst schwierig, wenn nicht gar aussichtslos, eine neue Stelle zu finden.
»Gab es regelmäßige Besucher, die nicht zu ihren Sitzungen kamen?«, fragte Tellman. »Wir denken dabei an Menschen, die ihr Informationen über Personen lieferten, Dinge … die ihre Besucher hören wollten.«
Lena hob den Blick, als wäre er ihr damit persönlich nahe getreten. »Dazu ist nicht viel nötig. Die Leute verraten sich selbst. Sie verstand es erstklassig, Gesichter zu deuten und zu erfassen, was die Menschen nicht mit Worten ausdrückten. Sie konnte unglaublich schnell etwas erraten. Ich weiß gar nicht, wie oft ich etwas gedacht habe, und sie wusste es, bevor ich den Mund aufgetan hatte.«
»Wir haben im ganzen Haus nach Tagebüchern gesucht«, sagte Tellman zu Pitt, »aber nichts als Listen mit Terminen gefunden. Sie muss sich alles andere gemerkt haben.«
»Wie schätzen Sie die Gabe von Maude Lamont ein, Miss Forrest?«, fragte Pitt mit einem Mal. »Glauben Sie an die Macht, die Geister der Toten heraufzubeschwören?« Er sah sie aufmerksam an. Sie hatte bestritten, dem Medium geholfen zu haben, aber irgendeine Hilfe musste die Frau gehabt haben, und außer ihr hatte es im Hause niemanden gegeben.
Lena holte tief Luft und stieß sie mit einem Seufzer wieder aus. »Ich weiß nicht. Ich habe meine Mutter und meine Schwester verloren und stelle mir vor, dass es schön wäre, wenn ich wieder mit ihnen sprechen könnte.« Man konnte ihr die Tiefe ihrer Empfindung vom Gesicht ablesen, dessen Züge sie kaum zu beherrschen vermochte. Offenkundig machte ihr der erlittene Verlust nach wie vor zu schaffen, und Pitt wollte die Wunde nicht erneut aufreißen, schon gar nicht vor den Augen Außenstehender, denn solchen Kummer musste ein Mensch allein tragen dürfen.
»Waren Sie selbst Zeuge solcher Manifestationen?«, fragte er. Die Lösung des Mordfalls an Maude Lamont war zumindest teilweise in diesem Haus zu finden, und er musste sie entdecken, ganz gleich, ob es Voisey und die Wahl oder was auch immer beeinflusste oder nicht. Er konnte einen Mord nicht einfach auf sich beruhen lassen, was auch immer der Grund dafür und wer auch immer das Opfer war.
»Eine Zeit lang habe ich das gedacht«, sagte sie zögernd. »Das ist aber lange her. Wenn man etwas so dringend wünscht, wie diese Leute …« – sie warf einen Seitenblick auf die Stühle, auf denen die Besucher bei den Séancen zu sitzen pflegten – »sieht man es wohl auf jeden Fall, oder nicht?«
»Sicher«, stimmte er zu. »Aber Sie hatten keinerlei Interesse an den Geistern, mit denen diese Leute in Berührung zu kommen hofften? Überlegen Sie gut, was Sie gehört haben und wovon Sie wissen, dass Miss Lamont es heraufzubeschwören vermochte. Andere Besucher haben von Stimmen und Klängen gesprochen, aber die Levitation scheint nur hier stattgefunden zu haben.«
Sie sah verwirrt drein.
»Dass sie sich in die Luft erhoben hat«, erklärte Pitt. Er sah, wie plötzlich Verstehen in ihren Augen aufflammte. »Tellman, sehen Sie sich den Tisch doch noch einmal gründlich an«, sagte er. Dann wandte er sich erneut Lena Forrest zu. »Können Sie sich erinnern, dass je am Morgen nach einer Sitzung etwas verändert war – sich an einem anderen Platz befand, anders roch, irgendwo Staub oder Pulver lag, was auch immer?«
Sie schwieg so lange, dass er nicht wusste, ob sie sich auf etwas konzentrierte oder einfach nicht antworten wollte.
Tellman saß auf dem Stuhl, auf dem sonst das Medium gesessen hat. Lena ließ ihn nicht aus den Augen.
»Haben Sie je den Tisch bewegt?«, fragte Pitt unvermittelt.
»Bestimmt nicht, er ist auf dem Boden befestigt«, gab Tellman zur Antwort. »Ich habe das schon probiert.«
Pitt erhob sich. »Und was ist mit dem Stuhl?« Mit diesen Worten ging er zu Tellman hinüber. Dieser stand auf und hob den Stuhl hoch. Überrascht sah er dort, wo die Stuhlbeine gestanden hatten, vier kaum wahrnehmbare Einbuchtungen auf den Bodendielen, die keinesfalls durch regelmäßigen Gebrauch des Stuhls entstanden sein konnten. Er ging zu einem der anderen Stühle, hob ihn auf – und fand keine Einkerbungen. Rasch sah er zu Lena Forrest hinüber und erkannte am Ausdruck ihres Gesichts, dass sie davon wusste.
»Wo ist der Hebel?«, sagte er finster. »Sie sind jetzt in einer sehr schwierigen Lage, Miss Forrest. Verderben Sie sich die Zukunft nicht dadurch, dass Sie die Polizei belügen.« Er hätte ihr lieber nicht gedroht, aber ihm blieb nicht nur keine Zeit, die Bodendielen herauszunehmen, um den Mechanismus zu finden, er musste auch unbedingt wissen, inwieweit sie an den Machenschaften beteiligt war. Das konnte später von entscheidender Bedeutung sein.
Sie erhob sich mit bleichem Gesicht und trat auf die andere Seite des Stuhls. Dann beugte sie sich vor und legte den Finger in die Mitte einer der geschnitzten Blumen an der Tischkante.
»Drücken Sie drauf«, gebot er.
Sie tat es, aber nichts geschah.
»Noch einmal!«, forderte er sie auf.
Sie rührte sich nicht.
Langsam stieg der Stuhl Zentimeter für Zentimeter empor. Als Pitt nach unten sah, merkte er, dass sich die Dielen darunter ebenfalls erhoben, und zwar genau jene, die die vier Beine des Stuhles trugen. Alle anderen blieben an Ort und Stelle. Man hörte nicht das leiseste Geräusch, offensichtlich war der Mechanismus glänzend geölt. Als sich der Stuhl knapp zwanzig Zentimeter über dem Boden befand, kam er zum Stillstand.
Pitt sah Lena Forrest an. »Sie wussten also, dass zumindest das Täuschung war.«
»Ich habe es erst vor kurzem gemerkt«, sagte sie mit einem Beben in der Stimme.
»Wann?«
»Nachdem sie tot war. Ich habe angefangen zu suchen. Ich habe es Ihnen nicht gesagt, weil ich dachte …« Sie senkte den Blick und sah Pitt dann rasch wieder an. »Nun, sie ist fort, und vermutlich kann sie nichts mehr kränken. Sie erfährt ja nichts.«
»Ich bin der Ansicht, Sie sollten es uns besser sagen, falls Sie noch mehr herausbekommen haben, Miss Forrest.«
»Sonst nichts, nur das mit dem Stuhl. Ich … habe von jemandem, der vorbeigekommen ist … gehört, was sie alles vollbracht hat … er hat Blumen gebracht und sein Beileid ausgesprochen. Deshalb habe ich nachgesehen. Ich war nie bei einer Sitzung. Wirklich nie!«
Mehr konnte ihr Pitt nicht entlocken. Bei einer gründlichen Untersuchung von Stuhl und Tisch sowie einer Erkundung des Kellers stießen sie auf einen einwandfrei funktionierenden ausgeklügelten Mechanismus sowie auf mehrere Glühbirnen. Das Haus verfügte über eine elektrische Anlage, die ein im Keller befindlicher Generator mit Strom speiste.
»Was wollte sie nur mit so vielen Glühbirnen?«, grübelte Pitt. »Die meisten Räume haben Gasbeleuchtung, geheizt wird mit Kohle – nur im Salon und Esszimmer ist elektrisches Licht.«
»Keine Ahnung«, gestand Tellman. »Insgesamt sind nur drei elektrische Lampen im Haus. Vielleicht wollte sie noch mehr beschaffen? Wahrscheinlich hat sie den Strom in erster Linie für ihre Kunstgriffe gebraucht.«
»Und da hat sie als Erstes die Birnen angeschafft?« Pitt hob zweifelnd die Brauen.
Tellman zuckte seine eckigen Schultern. »Wir müssen feststellen, was sie über ihre drei Besucher gewusst hat und was der Anlass dafür war, dass einer von den dreien sie umgebracht hat. Jeder von ihnen hatte Geheimnisse, und ich gehe jede Wette ein, dass sie diese Leute erpresst hat.«
»Nun, Kingsley wollte Näheres über den Tod seines Sohnes wissen«, sagte Pitt. »Mistress Serracold wollte Verbindung mit ihrer Mutter aufnehmen, also dürfte es bei ihr um eine Familiensache gehen, die in der Vergangenheit liegt. Bleibt die Frage, wer der Mann ist, der sich hinter der Kartusche verbirgt, und was er hier wollte.«
»Und was ihn veranlasst hat, nicht einmal seinen Namen zu nennen!«, ergänzte Tellman aufgebracht. »Mit Sicherheit steckt dahinter jemand mit einem so entsetzlichen Geheimnis, dass er auf keinen Fall Gefahr laufen möchte, erkannt zu werden.« Er knurrte. »Und wenn sie nun herausbekommen hat, wer er ist? Könnte das der Grund dafür sein, dass er sie umbringen musste?«
Pitt dachte kurz darüber nach. »Aber Mistress Serracold und General Kingsley haben übereinstimmend berichtet, dass er mit keiner bestimmten Person in Verbindung treten wollte …«
»Noch nicht! Vielleicht wäre er damit herausgerückt, sobald er wirklich überzeugt war, dass sie dazu imstande war!«, sagte Tellman mit zunehmender Gewissheit. »Es ist doch möglich, dass er sie erst einmal auf die Probe stellen wollte. Nach dem, was die beiden Zeugen sagen, sieht es doch ganz so aus, als ob er genau das getan hätte.«
Pitt gab zu, dass Tellman damit Recht hatte, wusste aber keine Lösung. Keinesfalls hielt er Francis Wray für den Täter, zumal es zur Ausführung der Tat nötig gewesen war, sich Maude Lamont auf die Brust zu knien und ihr gewaltsam Eiweiß und Käseleinen in die Kehle zu pressen und so lange festzuhalten, bis sie erstickt war. Sie dürfte kaum stillgehalten, sondern keuchend und würgend um ihr Leben gekämpft haben.
Tellman sah aufmerksam zu ihm hin. »Wir müssen den Täter finden«, sagte er entschlossen. »Mister Wetrons Überzeugung nach ist es der Mann aus Teddington. Er sagt, dass wir die Beweise finden, wenn wir nur gründlich danach suchen. Er hat durchblicken lassen, dass es am besten wäre, ein paar Männer nach Teddington zu schicken und –«
»Kommt gar nicht in Frage!«, fiel ihm Pitt schneidend ins Wort. »Wenn jemand dort hinfährt, dann ich.«
»Das sollten Sie aber besser gleich heute tun«, sagte Tellman. »Sonst könnte Wetron –«
»Diesen Fall bearbeitet der Sicherheitsdienst«, unterbrach ihn Pitt erneut.
Tellman erstarrte mitten in der Bewegung. Der Widerwille in seinen Augen und seinem angespannten Gesicht war unübersehbar. »Viel haben wir ja bisher nicht aufzuweisen, oder?«
Pitt merkte, dass er errötete. Die Kritik war berechtigt, dennoch schmerzte sie ihn und wurde in ihrer Wirkung dadurch verschlimmert, dass er sich im Sicherheitsdienst nicht zu Hause fühlte und ein anderer auf seinem Stuhl in der Bow Street saß. Er wagte nicht an einen möglichen Fehlschlag zu denken, doch war dieser in seinem Unterbewusstsein stets gegenwärtig, von einem Augenblick auf den anderen bereit, ans Tageslicht zu kommen. Immer, wenn er ermattet und ohne klare Vorstellung, wie er weitersuchen sollte, in seinem leeren Haus saß, schien sich vor seinen Füßen ein schwarzer Abgrund zu öffnen, in den er jederzeit stürzen konnte.
»Ich fahre hin«, sagte er knapp. »Sie sollten festzustellen versuchen, auf welche Weise sie das Material für ihre Erpressungen zusammengetragen hat. Hat sie sich dabei mit Zuhören und Zusehen begnügt, oder hat sie richtig recherchiert? Das zu wissen, könnte nützlich sein.«
Tellman schien unentschlossen. Auf seinen Zügen lagen widerstreitende Empfindungen. Es mochte sich dabei um Zorn und Schuldbewusstsein handeln, vielleicht auch um Bedauern, weil er laut gesagt hatte, was er dachte. »Bis morgen dann«, murmelte er, wandte sich um und ging.
Im Zug überlegte Pitt, auf welche Weise er Näheres über Francis Wray erfahren konnte. Immer wieder drängte sich ihm nicht nur die Erinnerung an das Werbefaltblatt für Maude Lamont auf, das er auf dem Tischchen gesehen hatte, sondern auch daran, mit welcher Empörung Wray auf seine Erwähnung spiritistischer Medien reagiert hatte. Pitt hielt es für ausgeschlossen, dass der Tod seiner Frau den alten Herrn so sehr aufgewühlt hatte, dass er aus dem seelischen Gleichgewicht geraten war und in seinem ersten Kummer entgegen den Grundsätzen seines ein Leben lang befolgten Glaubens ein Medium aufgesucht hatte. Sofern es sich aber doch so verhielt – Pitt hatte durchaus schon von solchen Fällen gehört –, hatte er womöglich die Schuld dafür bei dem Medium gesucht und nur die Möglichkeit gesehen, den Abscheu vor sich selbst, den er deswegen empfand, loszuwerden, indem er sie beseitigte. Je mehr sich dieser Gedanke in Pitts Kopf festsetzte, desto nachdrücklicher bemühte er sich, dagegen anzukämpfen.
In Teddington stieg er aus, ging aber diesmal nicht gleich zur Udney Road, sondern zur High Street. Zwar war es ihm selbst nicht recht, die Dorfbewohner über Francis Wray auszufragen, aber ihm blieb keine Wahl. Wenn er es nicht tat, würde Wetron Männer schicken, die mit ihrem unbeholfenen Vorgehen noch mehr Kummer verursachten.
Er musste sich eines Vorwandes bedienen. Schließlich konnte er nicht gut geradeheraus fragen: »Glauben Sie, dass Mister Wray den Verstand verloren hat?« So legte er sich Fragen zurecht, in denen es um verlorene Gegenstände ging, Gedächtnisausfälle, die Sorge anderer Menschen, dass es Wray nicht gut ging. Das in Worte zu fassen fiel ihm nicht so schwer, wie er gefürchtet hatte, dennoch gehörte es zu seinen schlimmsten Erfahrungen, dass er den Kummer des alten Mannes auf diese Weise ausschlachtete. Nicht den Menschen gegenüber, mit denen er sprach, empfand er das, wohl aber vor sich selbst.
Aus allen Antworten ergab sich mehr oder weniger dasselbe Bild: Francis Wray war geachtet und wurde bewundert, möglicherweise wäre geliebt kein zu starkes Wort dafür. Zugleich äußerten alle, die Pitts Fragen beantworteten, ihre Besorgnis um ihn. Sie waren überzeugt, dass sein Verlust für ihn eine schwerere Last bedeutete, als er zu ertragen vermochte. Gute Bekannte hatten gezögert, ihn zu besuchen, da sie nicht gewusst hatten, ob sie ihn damit belästigen und zu tief in seine Privatsphäre eindringen würden oder ob er einen solchen Besuch wünschte, weil er ihn eine Weile vor der entsetzlichen Einsamkeit des Hauses bewahrte, wo er mit niemandem sprechen konnte als der jungen Mary Ann. Zwar kümmerte sie sich rührend um sein Wohlergehen, dürfte ihm aber als Gesellschaft kaum etwas bedeuten.
Es gelang Pitt, von einem dieser guten Bekannten, einem ebenfalls verwitweten Mann etwa in Wrays Alter, dies und jenes zu erfahren. Er fand ihn in seinem Garten, wo er herrliche übermannshohe rosa Malven hochband.
»Ich frage nur aus Besorgnis«, erläuterte Pitt, »und nicht etwa, weil sich jemand beklagt hätte.«
»Das wäre auch merkwürdig«, sagte Mr. Duncan, wickelte ein Stück Bindfaden von dem Knäuel ab und schnitt ihn schwerfällig mit einer Gartenschere durch. »Wenn Menschen alt und einsam werden, fallen sie bedauerlicherweise anderen zur Last, ohne es selbst zu merken.« Er lächelte ein wenig trübselig. »Ich fürchte, das war bei mir in den ersten ein, zwei Jahren nach dem Tod meiner Frau nicht anders. Manchmal finden wir es unerträglich, mit Menschen zu reden, dann wieder lassen wir sie nicht aus den Fängen. Es ist mir lieb zu hören, dass Sie lediglich feststellen wollen, ob eine Kränkung beabsichtigt war.« Er schnitt ein weiteres Stück Bindfaden ab und sah Pitt dabei entschuldigend an. »Mitunter missverstehen junge Damen die Gründe, warum jemand ihre Gesellschaft sucht, wozu sie zweifellos in manchen Fällen auch Anlass haben.«
Zögernd kam Pitt auf das Thema spiritistische Sitzungen zu sprechen.
»Ach je, ausgerechnet!« Auch Mr. Duncans Gesicht wirkte beunruhigt. »Ich muss sagen, dass er derlei Dingen ausgesprochen ablehnend gegenübersteht. Er war Zeuge einer Tragödie, zu der es in diesem Zusammenhang hier vor vielen Jahren gekommen ist.« Er kaute auf der Unterlippe; seine Malven schien er vergessen zu haben. »Eine junge Frau hat ein Kind bekommen – unehelich, Sie verstehen. Sie hieß Penelope. Das arme Wurm ist praktisch gleich nach der Geburt gestorben. Penelope wusste vor Kummer nicht wohin und hat eine Spiritistin aufgesucht, die ihr versprochen hat, sie mit dem toten Kind in Verbindung zu bringen.« Er seufzte. »Natürlich war das eine Betrügerin, und als Penelope dahintergekommen ist, hat sie aus Kummer fast den Verstand verloren. Sie hatte wohl geglaubt, mit dem Kind gesprochen und von ihm erfahren zu haben, dass es ihm dort sehr gut ging, und das hatte sie getröstet.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Die darauffolgende Enttäuschung war zuviel für sie, und sie hat sich das Leben genommen. Es war einfach grässlich. Der arme Francis hat all das mitbekommen, ohne es verhindern zu können.
Er hat sich dafür eingesetzt, dem Kind ein christliches Begräbnis zu gewähren, ist aber natürlich damit nicht durchgekommen, weil es unehelich und nicht getauft war. Deswegen hat er sich sehr über den Ortsgeistlichen erzürnt und ihm lange gegrollt. Er selbst hätte das Kind unter allen Umständen getauft und die Konsequenzen auf sich genommen. Aber natürlich durfte er das nicht.«
Pitt überlegte, was er sagen könnte, um angemessen auszudrücken, was er angesichts dieser Geschichte empfand, doch fand er keine Worte, die seinem Zorn und seiner hilflosen Empörung gerecht geworden wären.
»Selbstverständlich hat er Penelope nach Kräften zu trösten versucht«, fuhr Duncan fort. »Er wusste, dass das Medium eine Betrügerin war, aber die Ärmste wollte nichts davon hören. Sie war einfach darauf angewiesen, glauben zu dürfen, dass ihr Kind noch irgendwo existierte. Sie war selbst noch sehr jung. Verständlicherweise ist Francis seither gegen Spiritismus jeglicher Art ausgesprochen negativ eingestellt und hat von Zeit zu Zeit geradezu eine Art Kreuzzug dagegen geführt.«
»Ja«, sagte Pitt. Das Mitgefühl wühlte ihn förmlich auf, auch wenn es zu nichts führte. »Ich kann seine Empfindungen verstehen. Kaum etwas kann grausamer sein, selbst wenn es möglicherweise nicht so gemeint ist.«
»Ja«, nickte Duncan. »So ist es in der Tat. Niemand darf ihm vorwerfen, dass er so dagegen angeht. Ich habe damals wohl sehr ähnlich empfunden.«
Pitt dankte dem Mann und entschuldigte sich. Von anderen konnte er nichts Weiteres über Wray in Erfahrung bringen; es war an der Zeit, ihn noch einmal selbst aufzusuchen, um ihn zu fragen, wo er sich an den Abenden aufgehalten hatte, an denen laut Maude Lamonts Tagebuch der Mann, der sich hinter der Kartusche verbarg, das Haus an der Southampton Row aufgesucht hatte.
In der Udney Road ließ ihn Mary Ann ohne Umstände ein, und Wray trat ihm in der Tür seiner Studierstube mit einem Lächeln entgegen. Ohne Pitt zu fragen, ob er gern zum Tee bleiben würde, gab er Mary Ann gleich den Auftrag, Tee, belegte Brote und Teegebäck mit Mirabellenkonfitüre zu machen. »Im vorigen Jahr hatte ich herrliche Mirabellen im Garten«, sagte er begeistert, während er Pitt in die Studierstube führte und ihn zum Sitzen aufforderte. Mit gesenkter und völlig veränderter sehnsuchtsvoller Stimme ergänzte er: »Meine Frau hat immer großartige Konfitüre gemacht, ganz besonders aus Mirabellen.«
Pitt fühlte sich elend. Er war sicher, dass man ihm das Schuldbewusstsein von der Stirn ablesen konnte – schließlich war er gekommen, um den Kummer dieses Mannes zu ergründen, der ihn so offensichtlich schätzte, ihm vertraute und nicht im Entferntesten vermutete, dass Pitt nicht aus Freundschaft gekommen war, sondern um seine Pflicht zu tun.
»Vielleicht sollte ich dann nichts davon nehmen«, sagte Pitt. »Wollen Sie sie nicht lieber behalten und …« Er war nicht sicher, was er sagen wollte.
»Aber nein«, versicherte ihm Wray. »Greifen Sie nur zu. Ich fürchte auch, es ist kein Himbeergelee mehr da, weil ich nicht widerstehen konnte. Ich teile gern mit Ihnen, was ich noch habe. Es war wirklich sehr gut.« Dann sagte er unvermittelt mit besorgtem Ausdruck: »Oder mögen Sie etwa keine Mirabellenkonfitüre?«
»Doch, ganz im Gegenteil!«
»Gut, dann wollen wir sie uns auch gönnen.« Er lächelte. »Und jetzt sagen Sie mir, was Sie hergeführt hat und wie es Ihnen geht, Mister Pitt. Haben Sie den Unglückseligen gefunden, der die ermordete Spiritistin aufgesucht hat?«
Pitt war noch nicht bereit, die Frage anzuschneiden. Er hatte angenommen, einen genauen Plan zu haben, doch zeigte sich jetzt, dass das nicht der Fall war. »Nein … noch nicht«, gab er zur Antwort. »Es ist aber wichtig, dass ich ihn finde. Möglicherweise weiß er etwas, was uns helfen kann zu verstehen, warum man sie getötet hat und wer die Tat begangen hat.«
»Ach je.« Wray schüttelte den Kopf. »Wirklich sehr betrüblich. Aus derlei Dingen entsteht gewöhnlich nur Böses. Man sollte sich mit solchen Praktiken nicht abgeben. Wer das tut, und sei es in aller Unschuld, macht damit den Teufel auf unsere Schwäche aufmerksam. Glauben Sie mir, Mister Pitt, eine solche Einladung lässt er sich nicht entgehen.«
Pitt fühlte sich unbehaglich. Über diese Dinge hatte er sich bisher noch keine Gedanken gemacht, vielleicht, weil sein Glaube mehr auf moralischen Grundsätzen als auf metaphysischen Vorstellungen von Gott und Satan ruhte, auf jeden Fall aber, weil er noch nie an die Möglichkeit geglaubt hatte, Geister heraufzubeschwören. Doch Wray war es mit seinen Worten völlig ernst; ein Blick auf die Leidenschaft, die in seinen Augen leuchtete, zeigte das deutlich.
Pitt entschloss sich zu einem Kompromisskurs. »Es sieht so aus, als wenn sich diese Frau mit einer sehr menschlichen tückischen Praxis beschäftigt hätte, nämlich Erpressung.«
»Dann war es wohl ein Mord aus moralischer Empörung«, sagte Wray ganz ruhig und schüttelte den Kopf. »Die arme Frau. Ich fürchte, sie hat sich ihr Schicksal weitgehend selbst zuzuschreiben.«
Ein Klopfen an der Tür enthob Pitt der Notwendigkeit, mehr zu dem Thema zu sagen, und im nächsten Augenblick trat Mary Ann mit dem Teetablett ein. Es war so voller Geschirr, dass es sehr schwer wirkte, und er sprang auf, es ihr abzunehmen, damit sie es nicht fallen ließ, während sie mit einer Hand die Tür schloss.
»Danke, Sir«, sagte sie verlegen und errötete leicht. »Sie hätten sich nicht bemühen sollen.«
»Es macht mir wirklich nichts aus«, versicherte ihr Pitt. »Das sieht ja exzellent aus und so reichlich. Mir war noch gar nicht aufgefallen, wie großen Hunger ich habe.«
Sie knickste befriedigt und verließ den Raum so rasch, dass Wray den Tee eingießen musste, wobei er Pitt zulächelte. »Ein angenehmes Geschöpf«, sagte er nickend. »Sie tut für mich alles, was sie kann.«
Darauf gab es keine Antwort, die nicht abgedroschen geklungen hätte. Was auf dem Tablett stand, zeigte ihre Fürsorge deutlicher, als es Worte vermocht hätten.
Schweigend aßen und tranken sie eine Weile. Der Tee war heiß und duftete verlockend, die belegten Brote waren köstlich, und das mit Butter und der süßen und zugleich kräftigen Konfitüre bestrichene Teegebäck war genau richtig.
Pitt biss hinein und hob den Blick. Wray sah ihn erwartungsvoll an. Offenkundig wollte er sehen, ob die Mirabellenkonfitüre Pitt wirklich schmeckte, doch hätte er es wohl nicht übers Herz gebracht, ihn zu fragen.
Pitt wusste nicht, ob es besser wäre zu schweigen oder ob er sie überschwänglich loben sollte. Würde das gekünstelt klingen und als Herablassung aufgefasst? Mitleid konnte ausgesprochen verletzend wirken. Andererseits wäre ein beiläufiges Lob mit Sicherheit falsch und uneinfühlsam.
»Es ist mir gar nicht recht, Ihnen das wegzuessen«, sagte er mit vollem Munde kauend. »Etwas derart Delikates mit einem so abgerundeten Geschmack bekommen Sie nie wieder. Offenbar ist es genau die richtige Menge Zucker, denn man schmeckt die Früchte wirklich durch.« Er holte tief Luft und dachte an Charlotte sowie an Voisey und all das, was er verlieren könnte. Ihm ging durch den Kopf, wie dabei alles zerstört würde, was in seiner Welt gut und kostbar war. »Meine Frau macht die beste Orangen-Marmelade, die ich je im Leben gegessen habe«, sagte er. Entsetzt merkte er, dass seine Stimme dabei belegt klang.
»Tatsächlich?« Wray bemühte sich, seine Gefühle zu beherrschen und mit möglichst neutraler Stimme zu sprechen. Hier saßen zwei Männer, die einander kaum kannten, gemeinsam beim Nachmittagstee und dachten dabei an Konfitüren und an die Frauen, die sie mehr liebten, als sich mit Worten ausdrücken ließ.
Tränen traten in Wrays Augen und liefen ihm über die Wangen.
Pitt schluckte den letzten Mundvoll Gebäck mit Konfitüre herunter.
Wray senkte den Kopf. Seine Schultern bebten, dann schüttelte es ihn; seine Empfindungen waren stärker als er.
Wortlos stand Pitt auf, ging um den Tisch und setzte sich auf die Sessellehne des alten Mannes. Erst zögernd, dann entschlossener, legte er ihm eine Hand auf die Schulter, die sich verblüffend zerbrechlich anfühlte. Nach einer Weile legte er tröstend einen Arm um ihn, und Wray ließ seinen Tränen freien Lauf. Vielleicht war es das erste Mal, dass er das seit dem Tode seiner Frau hatte tun können.
Pitt wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatten, als Wray schließlich aufhörte zu zittern und sich langsam wieder aufrichtete.
Er musste dem Mann unbedingt Gelegenheit lassen, seine Würde zu wahren. Ohne ihn anzusehen, stand er auf, ging durch die Terrassentür und in den Garten hinaus, der im Sonnenschein dalag. Er wollte Wray mindestens zehn Minuten lassen, damit er seine Fassung zurückgewinnen und sich das Gesicht waschen konnte. Danach konnten beide so tun, als wäre nichts geschehen.
Vom Garten aus sah er eine hochherrschaftliche Kutsche mit ausgesuchten Pferden und einem livrierten Kutscher. Zu seiner großen Überraschung hielt sie vor Wrays Haus an, und eine Frau stieg aus. Am Arm trug sie einen Korb, der mit einem Tuch verdeckt war. Sie wirkte eindrucksvoll, hatte dunkle Haare und ein Gesicht, das nicht unbedingt schön zu nennen war, dessen Züge aber von Charakter und großer Intelligenz zeugten. Sie ging mit ungewöhnlicher Anmut und schien Pitt erst zu bemerken, als ihre Hand auf dem Türknauf lag. Vielleicht hatte sie ihn ursprünglich für einen Gärtner gehalten, bis sie dann genauer hingesehen und erkannt hatte, wie er gekleidet war.
»Guten Tag«, sagte sie. »Ist Mister Wray zu Hause?«
»Ja, aber er ist ein wenig unwohl«, antwortete er und trat auf sie zu. »Sicher würde er sich freuen, Sie zu sehen, doch wenn Sie es mir nicht übel nehmen, halte ich es für das Beste, ihm einige Minuten zu lassen, damit er sich erholen kann, Mistress …?«
»Cavendish«, sagte sie. Sie sah ihn offen an. »Sie sind nicht sein Arzt, den kenne ich. Wer sind Sie, Sir?«
»Ein Bekannter. Ich heiße Pitt.«
»Sollen wir seinen Arzt rufen? Ich kann meinen Kutscher sogleich hinschicken.« Sie wandte sich halb um. »Joseph! Dr. Trent …«
»Das dürfte nicht erforderlich sein«, sagte Pitt rasch. »In einigen Minuten geht es ihm bestimmt deutlich besser.«
Sie machte ein zweifelndes Gesicht.
»Bitte, Mistress Cavendish. Wenn Sie mit ihm befreundet sind, wird ihm Ihre Gesellschaft möglicherweise mehr als alles andere helfen.« Er sah auf ihren Korb.
»Ich habe ihm einige Bücher gebracht«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Und einige Törtchen. Mit Konfitüre aus Himbeeren, nicht etwa aus Mirabellen.«
»Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen«, sagte er aufrichtig.
»Ich mag ihn sehr«, erklärte sie, »und auch mit seiner Frau war ich gut befreundet.«
Gemeinsam blieben sie einige Minuten in der Sonne stehen, dann trat Wray durch die Terrassentür ins Freie. Er ging ein wenig unsicher, als könne er seinen Beinen nicht recht trauen. Sein Gesicht war gerötet wie auch seine Augen, aber offensichtlich hatte er es mit etwas Wasser besprengt und schien sich gefasst zu haben. Offenkundig verblüffte es ihn, Mrs. Cavendish zu sehen, doch war er nicht im Geringsten verstimmt – höchstens war es ihm peinlich, ihr in einem solchen Zustand gegenüberzutreten. Er sah Pitt nicht an.
»Liebe Octavia«, sagte er voll Wärme. »Wie schön, dass du mich wieder einmal besuchst, und noch dazu so bald. Du bist wirklich sehr aufmerksam.«
Sie lächelte ihm herzlich zu. »Ich denke oft an dich«, sagte sie. »Es war mir einfach ein Bedürfnis. Wir alle mögen dich sehr.« Dabei wandte sie sich von Pitt ab, als wolle sie ihn von dieser Äußerung bewusst ausschließen. Sie nahm das Tuch vom Korb. »Ich habe dir einige Bücher gebracht, die du vielleicht gern lesen möchtest, und einige Törtchen. Ich hoffe, du magst sie.«
»Das ist wirklich lieb von dir«, sagte er und gab sich hörbar Mühe, Freude in seine Stimme zu legen. »Möchtest du auf eine Tasse Tee ins Haus kommen?«
Sie nahm an und ging mit einem forschenden Blick auf Pitt in Richtung Terrassentür.
Wray wandte sich an Pitt. »Sie können auch gern wieder mit hineinkommen. Ich habe nicht den Eindruck, Ihnen besonders geholfen zu haben, muss allerdings gestehen, dass ich auch nicht weiß, wie ich das könnte.«
»Ich bin nicht einmal sicher, dass es eine solche Möglichkeit gibt«, sagte Pitt. Dann ging ihm auf, dass in diesen Worten das Eingeständnis einer Niederlage mitschwang. »Und Sie waren von einer Gastfreundschaft, die ich nie vergessen werde.« Er erwähnte die Konfitüre nicht, merkte aber an der Art, wie Wrays Augen aufleuchteten und ihm die Röte ins Gesicht stieg, dass er genau verstand, wie es gemeint war.
»Danke«, sagte Wray aus tiefem Herzen. Bevor ihn sein Gefühl wieder überwältigte, wandte er sich um und folgte Mrs. Cavendish ins Haus.
Pitt ging zwischen den Blumenbeeten hindurch zur Gartentür und trat auf die Udney Road hinaus.