Kapitel 7

Charlotte und Gracie arbeiteten gemeinsam in der Küche. Erst hatte Gracie den Steinfußboden geschrubbt, jetzt putzte sie den großen Herd, während Charlotte Brotteig knetete, und in der kühlen Spülküche stand das Butterfass auf der Marmorarbeitsfläche eines Tisches bereit. Das Sonnenlicht fiel durch die offene Tür herein, und die vom Heideland herüberwehende leichte Brise brachte den Geruch von saftigen Gräsern und allerlei Kräutern mit sich. Die Kinder turnten im Apfelbaum herum und lachten von Zeit zu Zeit fröhlich auf.

»Wenn sich der Junge die Hose beim Runterrutschen von dem Baum noch mal zerreißt, weiß ich wirklich nich, was Sie seiner Mutter sagen woll’n!«, klagte Gracie verzweifelt. Sie sprach über Edward, der sich so königlich amüsierte, dass er kein heiles Kleidungsstück mehr besaß. Jeden Abend hatte sich Charlotte bemüht, die Schäden auszubessern, und sogar eine Hose Daniels geopfert, um aus deren Stoff Flicken für die Kleidung der beiden herzustellen. Auch Jemima beteiligte sich an ihren wilden Spielen. Sie hatte im Brustton der Überzeugung erklärt, kein natürliches oder moralisches Gesetz verbiete es Mädchen, ebenso viel Freude am Leben zu haben wie Jungen. Der Behinderung durch ihre langen Röcke entzog sie sich einfach dadurch, dass sie sie hochhob, während sie über steinerne Mauern und andere Einfriedigungen kletterte.

Zum Essen gab es neben Brot, Käse und frischer Wurst vom Dorfmetzger Obst. Sie stopften sich mit so vielen Himbeeren, wilden Erdbeeren und Pflaumen voll, bis ihnen davon fast schlecht wurde. Es war ein Leben, dem zur Vollkommenheit nur Pitt fehlte.

Charlotte sah ein, dass er nicht bei ihnen sein konnte, auch wenn ihr die Gründe dafür im Einzelnen nicht klar waren. Obwohl sie sicher war, dass Voisey nicht wusste, wo sie sich aufhielten, lauschte sie beständig, um sich zu vergewissern, dass sie die Kinder hören konnte. Außerdem ging sie etwa alle zehn Minuten an die Tür und hielt Ausschau nach ihnen.

Zwar äußerte sich Gracie mit keiner Silbe über die Situation, doch hörte Charlotte, wie sie nachts alle Fenster und Türen darauf kontrollierte, ob sie sicher verschlossen waren, obwohl Charlotte selbst dafür sorgte. Auch wenn sie Tellmans Namen nie in den Mund nahm, vermutete Charlotte, dass sie an ihn dachte. Immerhin waren die beiden einander bei der Arbeit an dem Fall um die Verschwörung von Whitechapel näher gekommen. In gewisser Weise war Gracies Schweigen beredter als Worte. Ob sie für ihn mehr empfand als Freundschaft?

Charlotte füllte den Brotteig in Formen, damit er aufgehen konnte, dann wusch sie sich im Garten die Hände unter der Pumpe. Dabei hob sie den Blick zum Apfelbaum und sah Daniel auf dem höchsten Ast, der noch stark genug war, sein Gewicht zu tragen, während sich Jemima an den unmittelbar darunter befindlichen klammerte. Sie wartete einen Augenblick auf das Blätterrascheln, das ihr anzeigen würde, wo sich Edward befand. Es kam nicht.

»Edward!«, rief sie. Noch vor wenigen Minuten war er dort gewesen. »Edward!«

Schweigen. Daniel sah zu ihr herüber.

»Edward!«, rief sie erneut und lief auf den Baum zu.

Stück für Stück hangelte sich Daniel bis zu einer Astgabel herunter und sprang dann zu Boden. Jemima brauchte sehr viel länger, denn nicht nur die Röcke behinderten sie, sondern auch ihre mangelnde Erfahrung beim Klettern.

»Wir können von da oben über die Gartenmauer sehen«, sagte Daniel. »Da hinten gibt es viele wilde Erdbeeren.« Er wies lächelnd in die Richtung.

»Und ist er da?«, wollte Charlotte wissen. Ihre Stimme klang hoch und schrill. Sie merkte selbst, dass es lächerlich wirkte, aber sie konnte nichts daran ändern. Er war einfach hinübergelaufen, um Erdbeeren zu pflücken, wie das jedes andere Kind auch getan hätte. Es gab nicht den geringsten Grund zur Sorge und schon gar nicht zur Panik. Es war nicht gut, wenn die Vorstellungskraft über die Vernunft siegte.

»Ist er da?«, wiederholte sie kaum ruhiger.

»Ich weiß nicht.« Daniel sah besorgt zu ihr. »Soll ich noch mal raufklettern und nachsehen?«

»Ja, tu das. Bitte.«

Jemima landete im Gras und richtete sich auf. Verärgert betrachtete sie einen kleinen Riss in ihrem Kleid. Sie sah, dass Charlotte sie musterte, und zuckte die Achseln. »Röcke sind manchmal blöd!«, sagte sie empört.

Flink erstieg Daniel den Baum erneut. Inzwischen kannte er den Weg genau. »Nein!«, rief er von oben. »Ich kann ihn nicht sehen! Sicher hat er ’ne andere Stelle entdeckt, die vielleicht noch besser ist.«

Charlotte merkte, wie ihr Herz rascher schlug und ihr das Blut in den Ohren dröhnte. Alles um sie herum verschwamm ihr vor den Augen. Und wenn sich nun Voisey damit an Pitt rächte, dass er Emilys Kind entführt hatte? Vielleicht wusste er gar nicht, um wen es sich bei dem Jungen handelte, und hielt ihn für Pitts Sohn. Was konnte sie nur tun?

»Gracie!«, rief sie. »Gracie!«

»Was is?« Gracie stieß die Hintertür auf und kam herbeigerannt. Ihre Augen waren vor Furcht geweitet. »Was is passiert?«

Charlotte schluckte und bemühte sich um Fassung. Auf keinen Fall durfte sie in Panik geraten und damit Gracie Angst machen. Das wäre töricht und ungerecht. Aber sie konnte nichts dagegen tun. »Edward ist fort … Er war da drüben, Erdbeeren pflücken«, stieß sie hervor. »Aber da ist er nicht mehr.« Ihre Gedanken jagten sich, während sie nach einer Begründung für ihr Entsetzen suchte, das Gracie sicherlich nicht verborgen blieb. »Ich habe Angst wegen der Sumpflöcher da draußen. Sogar wilde Tiere verirren sich mitunter dort hinein. Ich …«

Gracie zögerte nicht lange. »Bleiben Sie mit den beiden hier!« Sie wies auf Daniel und Jemima. »Ich seh nach ihm.« Ohne auf eine Antwort zu warten, hob sie die Röcke und eilte verblüffend flink durch das Gras und zum Tor hinaus, das noch eine Weile in den Angeln hin und her schwang.

Jetzt näherte sich Daniel. Sein Gesicht war bleich. »In ein Sumpfloch würde er bestimmt nicht fallen, Mama. Du hast uns doch gezeigt, wie auffällig die sind, so leuchtend und grün. Das weiß er doch!«

»Nein, natürlich nicht«, gab sie ihm Recht und spähte über das Gartentor hinweg. Sie durfte Gracie nicht allein nach Edward suchen lassen. Auf keinen Fall durften sie sich trennen! Sollte sie ihr mit den beiden folgen, oder waren sie an Ort und Stelle sicherer? Sie nahm Daniel an der Hand und eilte so ungestüm auf das Tor zu, dass sie ihn fast umgerissen hätte. »Jemima! Komm. Wir suchen alle miteinander nach Edward. Aber haltet euch beisammen! Wir dürfen einander auf keinen Fall verlieren.«

Sie hatten auf dem Weg etwa hundert Schritte zurückgelegt, indes sie die kleine Gestalt Gracies weitere hundert Schritt vor sich dahineilen sahen, als hinter ihnen ein Einspänner über die Hügelkuppe kam. Charlotte war so erleichtert, Edward neben dem Mann auf dem Bock sitzen zu sehen, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Der Junge wirkte quietschvergnügt.

Sie war wütend auf ihn wegen der Angst, die sie um ihn ausgestanden hatte, und am liebsten hätte sie ihn so lange übers Knie gelegt, bis er nicht mehr sitzen konnte und im Stehen essen musste. Das aber wäre ungerecht gewesen; er hatte es nicht böse gemeint. Sie sah, wie fröhlich er war, und unterdrückte ihre Empfindungen. Sie rief Gracie und ging zu dem Kutscher, der bei ihrem Anblick angehalten hatte.

Gracie kam zurück. Als sie Charlotte ansah, zwinkerte sie heftig, um zu verbergen, wie erleichtert auch sie war. In diesem Augenblick begriff Charlotte, wie sehr sie beide ihre Befürchtungen voreinander verborgen, sich gegenseitig zu schützen versucht und so getan hatten, als gebe es keine Gefahr. Sie war der jungen Frau, mit der sie rein äußerlich so wenig und in Wirklichkeit so viel gemeinsam hatte, dankbar und merkte, eine wie tiefe Zuneigung sie zu ihr empfand.

 

In Pitts Haus in der Keppel Street sah es aus wie immer. Alles war an seinem Fleck. Im Wohnzimmer standen sogar Blumen in der Vase auf dem Kaminsims, und durch die Fenster fiel das Sonnenlicht des frühen Morgens auf die Küchenbank und wärmte den Fußboden. Leise schnurrend lagen die beiden Kater Archie und Angus zusammengerollt im Wäschekorb. Trotz dieses friedlichen Bildes war nichts wie sonst, und die Leere, die Pitt empfand, ließ das Ganze mehr wie ein Genrebild als wie eine Szene aus der Wirklichkeit aussehen. Der Wasserkessel auf dem Herd begann zu singen, doch verstärkte dies die Stille im Hause nur. Man hörte weder Schritte auf der Treppe noch Gracie in der Speisekammer oder Spülküche hantieren. Niemand fragte laut, wo ein Schuh oder eine Socke sein konnte oder ein verlegtes Schulbuch. Es gab keine Antwort von Charlotte, keine Mahnung, dass es Zeit sei, in die Schule zu gehen. Das Ticken der Küchenuhr hallte laut im Raum.

Dennoch war Pitt zufrieden in dem Bewusstsein, dass sie nicht in London waren, sondern sich in Devon in Sicherheit befanden. Immer wieder hatte er sich seine Überzeugung vorgesagt, dass niemand im Inneren Kreis auf den Gedanken kommen würde, sich damit an ihm zu rächen, dass er auf Voiseys Befehl hin seinen Angehörigen etwas antat. Auf keinen Fall würde Voisey jemanden beauftragen, dem er nicht traute, und das Risiko selbst auf sich zu nehmen konnte er sich nicht leisten. Durch die Art und Weise, wie Pitt die Vorfälle in Whitechapel umgemünzt hatte, war Voisey als jemand gebrandmarkt, der nicht nur Verbündete und Freunde verriet, sondern auch die Sache, für die er angeblich eintrat. Eigentlich hätte das im Inneren Kreis für Unfrieden sorgen müssen, doch gab es für Pitt keine Möglichkeit festzustellen, ob es sich so verhielt.

Er konnte den hasserfüllten Blick nicht vergessen, den ihm Voisey zugeworfen hatte, als er im Buckingham-Palast kurz nach seiner Erhebung in den Adelsstand an ihm vorübergekommen war. Diese Auszeichnung durch Königin Viktoria hatten er und Vespasia mittels des von Mario Corena gebrachten Opfers eingefädelt. Damit war Voiseys Ehrgeiz, Präsident einer Republik Großbritannien zu werden, auf alle Zeiten ein Riegel vorgeschoben.

Den gleichen Hass hatte er in den Augen des Mannes erneut aufflammen sehen, als er ihm im Unterhaus begegnet war. Leidenschaften wie diese erstarben nicht. Pitt konnte nur deshalb relativ gelassen an seinem Küchentisch sitzen, weil er wusste, dass sich seine Familie weit fort an einem dem Feind unbekannten Ort in Sicherheit befand. Wie sehr auch immer ihm ihre Gegenwart fehlen mochte, seine Einsamkeit war ein geringer Preis für diese Gewissheit.

Stand der Mord an Maude Lamont im Zusammenhang mit Voiseys Bestreben, einen Sitz im Unterhaus zu erobern? Es gab mindestens zwei mögliche Verbindungslinien: zum einen hatte Rose Serracold zu denen gehört, die am fraglichen Abend bei der Séance anwesend waren, und zum anderen hatte Roland Kingsley, der ebenfalls zu den Besuchern zählte, in den Zeitungen heftige Anwürfe gegen Aubrey Serracold erhoben. Nichts in den von Kingsley früher geäußerten politischen Ansichten ließ vermuten, dass er sich zu einer solchen Haltung veranlasst sehen konnte.

Andererseits förderten Wahlen nun einmal extreme Ansichten zutage. Bei einer drohenden Niederlage kamen oft hässliche Seiten im Charakter eines Menschen zum Vorschein, so wie manche ihren Sieg überraschend aufdringlich herausstrichen, von denen man eigentlich eine großzügige Haltung gegenüber dem Unterlegenen erwartet hätte.

Oder führte die Verbindungslinie zu dem Mann, der seinen Namen hinter einer Kartusche verbarg und möglicherweise ein weit persönlicheres Verhältnis zu dem Medium gehabt hatte? Gab es in dem Fall überhaupt eine Beziehung zu Voisey, oder steckte hinter dieser Mutmaßung lediglich ein Versuch Narraways, dem Mann mit allen verfügbaren Mitteln den Weg an die Macht zu versperren?

Wäre es Cornwallis und nicht Narraway gewesen, hätte Pitt gewusst, dass jeder Schachzug, den dieser unternahm, zwar klug war, aber auch den Regeln entsprach. Cornwallis war durch die harte Schule des Meeres gegangen, ein Mann, der bis zum Schluss kämpfte und dem Gegner dabei ins Auge sah.

Pitt kannte weder Narraways Überzeugungen noch seine Motive und wusste nicht, welche Erfahrungen, Siege und Niederlagen seinen Charakter geformt hatten. Ihm war nicht einmal bekannt, ob Narraway so weit gehen würde, den ihm unterstellten Männern Lügen aufzutischen, um zu erreichen, dass sie taten, was nötig war, damit er seine Ziele erreichte. Pitt tastete sich Schritt für Schritt im Dunklen voran. Um nicht für Ziele missbraucht zu werden, von denen er nicht überzeugt war, musste er zu seiner eigenen Sicherheit sehr viel mehr über Narraway in Erfahrung bringen.

Im Augenblick aber ging es darum festzustellen, warum Roland Kingsley gegen Serracold so ausfallend geworden war. Die Haltung, die er dabei vertreten hatte, entsprach in keiner Weise den Ansichten, die im Gespräch mit Pitt deutlich geworden waren. Hatte ihn die Spiritistin mit der Drohung unter Druck gesetzt, sie werde etwas enthüllen, was ihr bei seinen Fragen an die Toten bekannt geworden war?

Was konnte einen erfolgreichen, praktisch veranlagten Mann – und das schien Kingsley zu sein – überhaupt dazu bringen, ein Medium aufzusuchen? Viele Menschen verloren ihre Söhne und Töchter – gewiss ein trauriges Schicksal, aber die meisten fanden Trost in der Liebe, die sie in der Vergangenheit aneinander gebunden hatte, und in einem festen Glauben an welche Art von Religion auch immer, die ihnen die Überzeugung vermittelte, die göttliche Kraft werde sie eines Tages wieder vereinigen. Sie führten ihr Leben weiter, so gut sie konnten, arbeiteten, wurden von der Liebe anderer getragen, suchten möglicherweise Zuflucht in der Musik, der Literatur, der Einsamkeit der Natur oder widmeten sich der Fürsorge für Menschen, denen es weniger gut ging als ihnen. Auf keinen Fall aber gaben sie sich mit Ektoplasma oder mit Buchstaben- und Zahlentafeln ab, wie sie bei spiritistischen Sitzungen Verwendung fanden.

Was im Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes hatte Kingsley so weit getrieben? Sofern Erpressung im Spiel war – ging sie von Maude Lamont aus, oder hatte das Medium lediglich Angaben an eine andere Person weitergeleitet, an jemanden, der noch lebte und die Möglichkeit hatte, sich diese weiterhin zunutze zu machen?

Konnte dieser Jemand ein Mitglied des Inneren Kreises sein – womöglich Charles Voisey selbst?

Das hätte Narraway am liebsten gesehen, und zwar unabhängig davon, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Möglicherweise stellte Pitt sich Voisey in einer Rolle vor, die er gar nicht spielte. Auch Furcht konnte ein Teil seiner Rache sein, unter Umständen sogar ein quälenderer als ein Pitt tatsächlich zugefügter Schlag.

Er stand auf und verließ das Haus. Das Geschirr ließ er auf dem Tisch stehen. Mrs. Brody würde es forträumen. Er ging ein ganzes Stück zu Fuß, bis er ins Schwitzen kam. Erst an der Tottenham Court Road winkte er eine Droschke herbei.

Den Vormittag verbrachte er damit, die Personalakte durchzuarbeiten, die beim Militär über Roland Kingsley geführt worden war. Zweifellos hätte Narraway das ebenfalls getan, wenn ihm nicht die Fakten ohnehin schon bekannt waren, doch wollte sich Pitt selbst mit ihnen vertraut machen – immerhin bestand die Möglichkeit, dass er die Angaben anders auslegte als sein Vorgesetzter.

Es gab nur wenige zusätzliche Kommentare. Den Unterlagen zufolge war Roland James Walford Kingsley mit achtzehn Jahren ins Heer eingetreten, in dem bereits sein Vater und Großvater gedient hatten. Seine Laufbahn umfasste über vierzig Jahre und reichte von der Grundausbildung und seinem ersten Auslandskommando in den Sikh-Kriegen Ende der vierziger Jahre über den Schrecken des Krimkriegs Mitte der fünfziger, in dessen Verlauf er mehrfach im Tagesbefehl lobend erwähnt worden war, bis hin zum unmittelbar darauf folgenden Blutbad des Aufstandes in Indien.

Mitte der siebziger Jahre hatte er in Afrika am Feldzug gegen die Ashanti und am Ende des Jahrzehnts an den Kämpfen gegen die Zulu teilgenommen und war wegen herausragender Tapferkeit ausgezeichnet worden.

Als er danach schwer verwundet nach England zurückkehrte, war er allem Anschein nach auch seelisch ziemlich gebrochen. Er hatte das Land nie wieder verlassen, wohl aber weiterhin pflichtgemäß seinen Dienst versehen, bis er im Jahre 1890 mit sechzig Jahren seinen Abschied eingereicht hatte.

Als Nächstes nahm sich Pitt die Akte von Kingsleys Sohn vor. Dieser war in den Zulu-Kriegen am 3. Juli 1879 beim fehlgeschlagenen Versuch, den weißen Mfolozi zu überqueren, ums Leben gekommen. In dem Gefecht hatte sich Lord William Beresford das Viktoria-Kreuz verdient, die höchste Auszeichnung für Tapferkeit vor dem Feind. Als Opfer eines von den Zulu äußerst raffiniert gelegten Hinterhalts waren zwei weitere Männer getötet und mehrere verwundet worden. Bei Isandlwana hatten sich die Zulu als nicht nur mutige, sondern auch militärisch äußerst fähige Krieger erwiesen, und bei Rorke’s Drift hatten sich die Briten genötigt gesehen, ihre gesamte Disziplin und Tapferkeit aufzubieten. Dies in die Geschichte eingegangene Gefecht bot der Vorstellungskraft von Jungen wie Männern reichlich Nahrung. Immerhin hatten lediglich acht Offiziere mit hunderteinunddreißig Mann, von denen fünfunddreißig gesundheitlich angeschlagen waren, der Belagerung durch nahezu viertausend Zulu-Krieger widerstanden. Dabei waren siebzehn Briten ums Leben gekommen und elf Männer mit dem Viktoria-Kreuz ausgezeichnet worden.

Pitt schloss die Akte. Die dürren Worte der Berichte unternahmen gar nicht erst den Versuch, die heiße, staubige Landschaft auf einem fremden Kontinent oder die Männer – gute wie schlechte, feige wie tapfere – zu beschreiben, die dem Ruf gefolgt waren und dort unter diesen schwierigen Umständen gelebt oder ihr Leben in den Gefechten verloren hatten. Es war unerheblich, ob sie dem Ruf der Pflicht oder ihrer Abenteuerlust gefolgt waren, ob sie einer inneren Stimme oder einer äußeren Notwendigkeit gehorcht hatten.

Er dankte dem Verwalter und schritt die Stufen des Militärarchivs hinab in die helle Morgenluft. Am leicht bedeckten Himmel stand die Sonne. Während er über den Gehweg ausschritt, spürte er, wie sich in seiner Brust Stolz und Scham mit dem brennenden Verlangen mischten, all das zu bewahren, was in diesem Lande und diesem Volk, das er liebte, gut war. Die Männer, die sich bei Rorke’s Drift dem Feind gestellt hatten, standen für etwas sehr viel Schlichteres und Geradlinigeres als die Geheimnistuerei des Inneren Kreises und der politische Verrat, den manche begingen, um ihren Ehrgeiz zu befriedigen.

Er nahm eine Droschke zu Narraways Büro. Während er dort auf seinen Vorgesetzten warten musste, schritt er auf und ab, wobei sich sein Zorn immer mehr steigerte.

Als Narraway schließlich fast eine Stunde später eintraf, sah er belustigt, dass ihn Pitt wütend anblitzte. Er schloss die Tür. »Ihrem Ausdruck entnehme ich, dass Sie etwas Interessantes gefunden haben.« Es klang wie eine Frage. »Setzen Sie sich doch um Gottes willen, und erstatten Sie ordnungsgemäß Bericht. Ist Rose Serracold in irgendeiner Weise schuldig?«

»Sie kann sich nicht beherrschen«, sagte Pitt und befolgte die Anweisung. »Sonst nichts, soweit ich weiß, aber ich bin mit meiner Suche noch nicht am Ende.«

»Gut«, sagte Narraway knapp. »Dafür bezahlt Ihre Majestät Sie.«

»Ich vermute, dass es Ihrer Majestät ebenso geht wie dem lieben Gott – sie wäre über so manches entsetzt, was in ihrem Namen geschieht«, knurrte Pitt, »wenn sie davon wüsste!« Bevor ihm Narraway ins Wort fallen konnte, fuhr er fort: »Ich habe mich etwas näher mit Generalmajor Kingsley beschäftigt, weil ich wissen wollte, warum er Maude Lamont aufgesucht hat und warum seine Leserbriefe, in denen er Serracold so heruntermacht, derart offen den Ansichten widersprechen, die er im Gespräch vertritt.«

»Ach ja?« Narraway sah ihn scharf und unverwandt an. »Und was haben Sie gefunden?«

»Lediglich seine Personalakte beim Heer«, sagte Pitt vorsichtig. »Außerdem habe ich gesehen, dass sein Sohn bei einem Gefecht in Afrika in eben dem Zulu-Krieg ums Leben gekommen ist, in dem er sich ganz besonders hervorgetan hat. Es sieht so aus, als hätte er sich bis jetzt nicht von diesem Verlust erholt.«

»Es war sein einziger Sohn«, sagte Narraway. »Genauer gesagt, sein einziges Kind. Seine Frau ist ziemlich jung gestorben.«

Aufmerksam betrachtete Pitt Narraways Gesicht und versuchte, dessen Gefühle hinter den ausdruckslos vorgetragenen Fakten zu erkennen. Er fand nichts, worauf er sich mit Sicherheit hätte stützen können. Hatte Narraway so oft mit dem Tod und dem Kummer anderer Menschen zu tun, dass ihn dergleichen nicht mehr beeindruckte? Oder konnte er es sich nicht leisten, Empfindungen zu zeigen, für den Fall, dass sie sein Urteil beeinträchtigten, das er im Interesse aller fällen musste und nicht nur solcher Menschen, an denen ihm lag? So gründlich er in Narraways klugem, von vielen Linien durchzogenen Gesicht zu lesen versuchte, er erfuhr nichts. Er sah Leidenschaft darin, aber war das die Leidenschaft des Herzens oder lediglich die des kühlen Verstandes?

»Wie ist er ums Leben gekommen?«, wollte Pitt wissen.

Narraway hob die Brauen; offenbar überraschte es ihn, dass Pitt danach fragte. »Er gehörte zu den dreien, die bei dem Spähtrupp-Unternehmen am Fluss mit dem Namen weißer Mfolozi gefallen sind. Sie sind geradenwegs in einen gut getarnten Hinterhalt der Zulu gelaufen.«

»Das habe ich in den Unterlagen gesehen. Aber warum geht Kingsley der Sache mit Hilfe eines Mediums wie Maude Lamont nach?«, fuhr Pitt fort. »Und wieso jetzt? Die Sache am Mfolozi liegt dreizehn Jahre zurück.«

In Narraways Augen flammte Zorn auf, dann Qual. »Wenn Sie einen Angehörigen verloren hätten, Pitt, würden Sie wissen, dass der Kummer nicht einfach verschwindet. Die Menschen lernen zwar, damit zu leben und ihn meist zu verbergen, aber man weiß nie, was ihn wieder weckt, und mit einem Mal lässt er sich eine gewisse Zeit lang nicht beherrschen.« Er sprach nun sehr leise. »Ich habe das schon oft mit angesehen. Wer weiß, was in diesem Fall der Auslöser dafür war – vielleicht der Anblick eines jungen Mannes, dessen Gesicht ihn an seinen Sohn erinnert hat? Ein Mann, der im Unterschied zu ihm Enkel hat? Eine Melodie aus früheren Zeiten … es kann alles Mögliche gewesen sein. Die Toten verschwinden nicht, sie verstummen lediglich für eine Weile.«

Pitt merkte, dass in dem Raum mit einem Mal eine sonderbar persönliche Atmosphäre herrschte. Diese Worte hatten nichts mit praktischen Alltagserwägungen zu tun; sie gingen auf die Leidenschaft des Augenblicks zurück. Aber der Schatten in Narraways Augen und seine fest zusammengepressten Lippen zeigten Pitt, dass es nicht tunlich war, der Sache weiter nachzugehen.

Er tat so, als hätte er nichts gemerkt. »Besteht irgendeine Beziehung zwischen Kingsley und Charles Voisey?«, fragte er stattdessen.

Mit einem Mal weiteten sich Narraways dunkle Augen. »Großer Gott, Pitt, glauben Sie nicht, dass ich Ihnen das sagen würde, wenn ich es wüsste?«

»Vielleicht wollten Sie, dass ich es selbst herausbekomme …«

Narraway ruckte vor, die Muskeln seines Körpers waren angespannt. »Für Spiele haben wir keine Zeit!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ich kann es mir nicht leisten, mir auch nur den geringsten Gedanken darüber zu machen, was Sie von mir halten! Wenn Charles Voisey ins Unterhaus kommt, kann nichts ihn aufhalten, bis er die Macht in Händen hat, das höchste Amt im Lande zu korrumpieren. Er steht nach wie vor an der Spitze des Inneren Kreises.« Ein Schatten legte sich auf seine Züge. »Jedenfalls vermute ich das. Es gibt noch eine andere Macht, die dahinter steht, noch aber weiß ich nicht, um wen es sich dabei handelt.«

Er hob die Hand. Zwischen Zeigefinger und Daumen lagen gute zwei Zentimeter. »So wenig hat gefehlt, und er hätte gewonnen gehabt! Das war unser Werk, Pitt! Und das wird er uns nie vergessen. Aber zur Strecke gebracht haben wir ihn nicht. Er setzt neue Stellvertreter ein, und ich habe nicht die geringste Vorstellung, wer das sein könnte. Diese Krankheit frisst die Regierung des Landes von innen her auf, ganz gleich, welche Partei in Westminster sitzt. Ohne Macht können wir nichts ausrichten – und mit ihr auch nicht! Es ist ein Balanceakt. Gewinnen können wir nur dann, wenn wir immer einen Schritt voraus sind, unsere Taktik oft genug wechseln und jede kranke Stelle ausmerzen, sobald wir sie entdecken. Vor allem müssen wir der Vorstellung entgegenwirken, man könne praktisch alles tun, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, der Annahme gewisser Männer, sie seien unfehlbar und unerreichbar. Doch selbst dann haben wir immer nur bis zum nächsten Mal gewonnen. Gleich danach fängt das Spiel mit neuen Spielern wieder von vorn an.«

Mit einem Mal ließ er sich in seinen Sessel fallen. »Stellen Sie selbst fest, welche Beziehung zwischen Kingsley und Charles Voisey besteht und ob sie mit dem Tod dieser Frau zu tun hat oder nicht. Und seien Sie auf der Hut, Pitt! Für Cornwallis waren Sie Kriminalbeamter, jemand, der aufpasste und urteilte. Für mich sind Sie ein Spieler. Auch Sie werden gewinnen oder verlieren. Vergessen Sie das nie.«

»Und Sie?«, fragte Pitt mit leicht belegter Stimme.

Ein Lächeln legte sich auf Narraways Züge, doch seine Augen blieben so hart wie Kohle. »Ich habe die Absicht zu gewinnen!« Er sagte nicht, dass er eher sterben als loslassen würde – wie ein Kampfhund, dessen Kiefer die Beute auch im Tod festhalten. Das verstand sich von selbst.

Pitt erhob sich, murmelte einen Gruß und ging hinaus. In seinem Kopf wirbelten Fragen umher, die weder Kingsley noch Charles Voisey betrafen, sondern Narraway.

Er kehrte kurz nach Hause zurück und hörte auf dem Gartenweg am Ende der Keppel Street eine Stimme, die ihn rief. »Guten Tag, Mr. Pitt!«

Verblüfft wandte er sich um. Wieder war es der Postbote, der ihm lächelnd einen Brief hinhielt. »Guten Tag«, erwiderte er, mit einem Mal erregt, denn er hoffte, dass der Brief von Charlotte war.

»Von Ihrer Frau, nicht wahr?«, fragte der Postbote munter. »Ist sie irgendwo, wo es schön ist?«

Pitt sah auf den Brief, den er in der Hand hielt. Die Handschrift ähnelte der Charlottes, doch sie war es nicht, und abgestempelt war er in London. »Nein«, sagte er, unfähig, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Sie ist ja erst seit einem oder zwei Tagen fort«, tröstete ihn der Mann. »Bei größeren Entfernungen dauert die Post etwas länger. Sagen Sie mir, wo sie ist, und ich kann Ihnen sagen, wie lange ein Brief von dort bis London braucht.«

Pitt holte Luft, um ›Dartmoor‹ zu sagen, doch beim Blick in das lächelnde Gesicht und die forschenden Augen des Mannes spürte er, wie Kälte in ihm aufstieg. Es kostete ihn so große Mühe, sich zur Ruhe zu zwingen, dass er einen Moment lang nicht antworten konnte.

Der Postbote wartete.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Pitt und nannte den ersten Ortsnamen, der ihm einfiel. »Whitby.«

»Aha, in Yorkshire!« Der Mann schien außerordentlich zufrieden mit sich zu sein. »Von Nordost-England bis hierher braucht die Post in dieser Jahreszeit höchstens zwei Tage, vielleicht sogar nur einen. Sie werden sicher bald von ihr hören, Sir. Möglicherweise amüsieren die sich so, dass sie gar nicht zum Schreiben kommen. Guten Tag, Sir.«

»Guten Tag.« Pitt schluckte und merkte, dass seine Hand zitterte, als er den Umschlag aufriss. Der Brief war von seiner Schwägerin. Sie hatte ihn am Nachmittag des Vortages geschrieben.

Lieber Thomas,

mit Rose Serracold bin ich recht befreundet, und nachdem ich sie gestern besucht habe, glaube ich Dinge zu wissen, die für Dich von Bedeutung sein könnten.

Bitte melde Dich bei mir, sobald Du eine Möglichkeit dazu hast.

Emily

Er faltete das Blatt zusammen und steckte es in den Umschlag zurück. Zu dieser Stunde des Nachmittags unternahm oder empfing sie normalerweise Besuche, aber eine bessere Gelegenheit würde sich nicht bieten, und vielleicht war ihm von Nutzen, was sie zu sagen hatte. Er konnte es sich nicht leisten, sich die geringste Spur entgehen zu lassen.

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder in Richtung Tottenham Court Road. Eine halbe Stunde später saß er in Emilys Salon, und sie berichtete ihm nicht ohne Verlegenheit und Stocken von ihrem Zerwürfnis mit Rose Serracold. Sie erklärte, sie komme immer mehr zu der Überzeugung, eine übergroße Angst wovor auch immer habe die Freundin dazu getrieben, trotz der damit verbundenen Gefahr, sich öffentlich bloßzustellen, das Medium aufzusuchen. Im Übrigen habe sie Aubrey zwar nicht gerade hintergangen, aber doch auf jeden Fall unterlassen, ihm etwas davon zu sagen.

Sie fügte hinzu, Rose habe auf ihre Vorhaltungen hin einen solchen Wutausbruch bekommen, dass ihre Freundschaft darunter gelitten habe.

Als sie fertig war, sah sie ihn schuldbewusst an.

»Danke«, sagte er ruhig.

»Thomas …«, setzte sie an.

»Nein«, entgegnete er, bevor sie fortfahren konnte. »Ich weiß nicht, ob sie die Frau umgebracht hat oder nicht, aber auf keinen Fall kann ich Fünfe gerade sein lassen, ganz gleich, wer darunter leiden muss. Ich kann lediglich versprechen, dass ich niemanden unnötig quälen werde, und ich hoffe, dass dir das ohnehin klar war.«

»Ja.« Sie nickte. Ihr Gesicht war bleich. »Natürlich habe ich das gewusst.« Sie holte Luft, als wolle sie noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber offenbar anders und bot ihm Tee an. So gern er die Einladung angenommen hätte, denn er war müde und durstig und auch hungrig, wenn er es recht bedachte, lehnte er dankend ab. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart unbehaglich, denn sie kannten einer des anderen Empfindungen. Er dankte ihr erneut und verabschiedete sich.

 

 

Am Abend rief Pitt Jacks Sekretärin an, um zu erfahren, wo Jack sprechen würde. Sobald er den Ort wusste, machte er sich auf den Weg dorthin. Er wollte ihm zuhören und dabei feststellen, wie die Stimmung im Publikum war. Vielleicht ließen sich daraus Schlüsse auf das ziehen, worauf sich Aubrey Serracold einstellen musste. Hinzu kam, wie er sich eingestand, dass er sich auch um Jack Sorgen machte. Bei dieser Wahl würde es sehr viel knapper zugehen als bei der vorigen, und so mancher liberale Abgeordnete konnte seinen Sitz einbüßen.

Als er eintraf, waren bereits hundert oder zweihundert Personen versammelt, meist Arbeiter aus den nahe gelegenen Fabriken, aber auch eine ganze Anzahl Frauen in tristen Röcken und Blusen, die als Ergebnis harter Arbeit von Schweiß und Schmutz starrten. Manche waren erst vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, bei anderen war die Haut so schlaff und dünn, waren die Leiber so unförmig, dass man ihr Alter nur schwer hätte schätzen können. Sie konnten ohne weiteres sechzig sein – und danach sahen sie aus –, doch war es Pitt klar, dass sie höchstwahrscheinlich nicht einmal vierzig waren und ihr schlechter Zustand auf Erschöpfung und Mangelernährung zurückging. Viele hatte auch die große Zahl an Geburten ausgelaugt, und sie hatten sich in der Fürsorge für ihre Kinder und Männer aufgerieben.

Leise hörte man ungeduldige Unmutsäußerungen, dann ertönten Buhrufe. Weitere Zuhörer kamen herein. Ein halbes Dutzend Leute ging laut murrend.

Pitt trat von einem Fuß auf den anderen. Er bemühte sich mitzuhören, worüber sich die Menschen unterhielten. Was dachten sie, was wollten sie? Gab es etwas, was ihre Wahlentscheidung beeinflussen konnte? Jack hatte in seinem Wahlkreis gute Arbeit geleistet, aber war ihnen das klar? Seine Mehrheit war nicht übermäßig groß. Im Falle eines allgemeinen Wahlerfolgs der Liberalen hätte er sich keine großen Sorgen zu machen brauchen, aber selbst Gladstone wollte offenbar diese Wahl nur halbherzig gewinnen. Er führte den Kampf aus innerer Leidenschaft, politischem Instinkt und weil er immer gekämpft hatte, aber die Schärfe seines analytischen Verstandes stand nicht dahinter.

Mit einem Mal entstand Unruhe, und Pitt hob den Blick. Jack war eingetroffen und bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Hier und da schüttelte er Männern und Frauen die Hand und sogar einem oder zwei Kindern. Dann stieg er auf die Ladefläche eines Fuhrwerks, das man als Behelfspodium hereingebracht hatte, und begann seine Rede.

Kaum hatte er die ersten Worte gesagt, als schon Zwischenrufe ertönten. Ein Mann mit Stirnglatze in einem braunen Mantel fuchtelte mit dem Arm durch die Luft und wollte wissen, wie viele Stunden am Tag er arbeite. Brüllendes Gelächter quittierte das, weitere Buhrufe waren zu hören.

»Nun, wenn ich meinen Unterhaussitz nicht behalte, bin ich arbeitslos!«, rief ihm Jack zu. »In dem Fall müsste die Antwort lauten: ›keine‹!«

Damit hatte er die Lacher auf seine Seite gebracht, und niemand johlte gegen ihn. Gleich darauf kam er auf die Frage der Arbeitszeit zu sprechen. Die Stimmen wurden heftiger, und der Ärger der Leute äußerte sich in immer hässlicherer Weise. Jemand warf einen Stein, verfehlte Jack aber um mehrere Meter, so dass das Geschoss gegen die Wand des Lagerhauses prallte und davonrollte.

Ein Blick in Jacks gut aussehendes Gesicht, das so freundlich wirkte, zeigte Pitt, dass es ihn Mühe kostete, seinen Zorn zu bändigen. Vor einigen Jahren hätte er das möglicherweise nicht einmal versucht.

»Stimmen Sie doch ruhig für die Tories«, sagte er mit weit ausholender Gebärde, »wenn Sie glauben, dass die Ihre Arbeitszeit verkürzen.«

Flüche, Spottrufe und Pfiffe wurden hörbar.

»Keiner von euch Kerlen taugt was!«, kreischte eine dürre Frau und entblößte ihre schadhaften Zähne. »Ihr saugt uns mit den Steuern aus und knebelt uns mit Gesetzen, die kein Mensch versteht.«

So ging es eine halbe Stunde. Nach und nach gelang es Jack mit Geduld und gelegentlichen witzigen Ausfällen, die Leute auf seine Seite zu ziehen, aber an der zunehmenden Anspannung seines Gesichts und der Müdigkeit seines Körpers erkannte Pitt, welch große Anstrengung ihn das kostete. Eine Stunde später stieg er erschöpft, mit Staub bedeckt und verschwitzt von dem Fuhrwerk herunter. Nicht nur das Gedränge der Menschen hatte ihm sichtlich zugesetzt, sondern auch die verbrauchte, klebrige Luft im Raum. Als er der Straße zustrebte, wo er wohl nach einer Droschke Ausschau halten wollte, holte Pitt ihn ein. Wie Voisey vermied auch Jack den taktischen Fehler, in seiner Kutsche vorzufahren.

Überrascht wandte er sich zu seinem Schwager um.

Pitt lächelte. »Gut gemacht«, sagte er aufrichtig, unterließ es aber zu erklären, dass er auf diese Weise sicher gewinnen würde – das erschien ihm zu oberflächlich. Er erkannte nicht nur die Erschöpfung in Jacks Augen, sondern auch den Schmutz in den feinen Linien seiner Haut. Es war die Stunde der Abenddämmerung, und die Gaslaternen auf der Straße brannten schon. Sie mussten am Laternenanzünder vorübergegangen sein, ohne ihn zu bemerken.

»Bist du gekommen, um mir moralische Unterstützung zu gewähren?«, fragte Jack zweifelnd.

»Nein«, gab Pitt zu. »Ich muss mehr über Mistress Serracold erfahren.«

Jack sah ihn überrascht an.

»Hast du schon gegessen?«, erkundigte sich Pitt.

»Noch nicht. Glaubst du etwa, Rose könnte in diesen ekelhaften Mordfall verwickelt sein?« Er blieb stehen und wandte sich dem Schwager zu. »Ich kenne sie schon seit einigen Jahren, Thomas. Sicher, sie ist überkandidelt und hat ziemlich idealistische Vorstellungen, die sich mit Sicherheit nicht verwirklichen lassen, aber das ist etwas völlig anderes, als jemanden umzubringen.« Ganz gegen seine Gewohnheit schob er die Hände tief in die Taschen. Normalerweise achtete er viel zu sehr auf den Sitz seines Anzugs, als dass er sie auf diese Weise missbraucht hätte. »Ich weiß überhaupt nicht, was in sie gefahren ist, ausgerechnet jetzt dieses Medium aufzusuchen. Ich kann mir genau vorstellen, wie die Presse das ins Lächerliche ziehen würde. Aber ganz im Ernst: Voisey räubert ziemlich heftig unter den Wählern der Liberalen. Am Anfang hatte ich angenommen, Aubrey würde es schaffen, solange er sich nicht etwas ganz und gar Törichtes leistet. Jetzt fürchte ich, dass ein Erfolg Voiseys nicht mehr so aussichtslos scheint wie noch vor ein paar Tagen.« Er begann wieder auszuschreiten und hielt den Blick vor sich gerichtet. Beide merkten, dass ihnen in Zivil gekleidete Sicherheitsbeamte im Abstand von etwa zwanzig Schritt folgten.

»Rose Serracold«, nahm Pitt den Faden wieder auf. »Was kannst du mir über ihre Familie sagen?«

»Soweit ich weiß, war ihre Mutter eine für ihre Schönheit weithin bekannte Dame der Gesellschaft«, gab Jack zur Antwort. »Ihr Vater stammte aus einem erstklassigen Stall. Ich wusste mal, wie er hieß, hab den Namen aber vergessen. Ich glaube, er ist ziemlich früh gestorben, an einer Krankheit, nichts Verdächtiges, falls du in diese Richtung denken solltest.«

Pitt ging jeder möglichen Fährte nach. »Wohlhabend?«

Sie überquerten die Straße und bogen nach links ab. Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster.

»Ich glaube nicht«, sagte Jack. »Nein, das Geld stammt wohl von Aubreys Seite.«

»Besteht irgendeine Beziehung zu Voisey?«, fuhr Pitt fort. Er bemühte sich, kein besonderes Gewicht auf die Frage zu legen und alle Empfindungen, die beim bloßen Gedanken an diesen Mann in ihm aufstiegen, aus ihr herauszuhalten.

Jack sah ihn an und wandte sich dann wieder ab. »Rose? Falls ja, lügt sie oder verschweigt zumindest etwas. Sie möchte, dass Aubrey gewinnt. Wenn sie etwas über den Mann wüsste, würde sie das doch bestimmt sagen, oder?«

»Und General Kingsley?«

Jack war verwirrt. »Kingsley? Meinst du den Burschen, der in der Zeitung den Schmähbrief gegen Aubrey geschrieben hat?«

»Mehrere«, verbesserte ihn Pitt. »Ja. Hegt der irgendeinen privaten Groll gegen Serracold?«

»Nicht dass Aubrey wüsste, es sei denn, auch er verbirgt etwas. Ich würde aber schwören, dass das nicht der Fall ist. Er ist ziemlich leicht zu durchschauen. Die Sache hat ihn ganz schön mitgenommen, denn er ist an persönliche Anwürfe nicht gewöhnt.«

»Könnte Rose den Mann kennen?«

Sie befanden sich jetzt auf einem schmalen Gehweg, der an der Mauer eines Lagerhauses entlangführte. Die einzige Straßenlaterne beleuchtete das Straßenpflaster und den ausgetrockneten Rinnstein einige Meter weit.

Erneut blieb Jack stehen, die Stirn gerunzelt und die Augen zusammengekniffen. »Vermutlich soll das eine schönfärberische Umschreibung für ›haben sie ein Verhältnis‹ sein?«

»Ich meine es ganz allgemein«, sagte Pitt eindringlich. »Jack, ich muss wissen, wer Maude Lamont umgebracht hat. Am allerbesten wäre es, wenn ich zweifelsfrei nachweisen könnte, dass Rose auf keinen Fall die Täterin war. Der Spott wegen ihrer Teilnahme an spiritistischen Sitzungen wäre nichts im Vergleich mit dem, wozu Voisey die Zeitungen veranlassen würde, falls irgendein Geheimnis an den Tag käme, das den Schluss zulässt, sie könnte den Mord begangen haben, um etwas zu verdecken.«

Im Schein der Laterne sah Pitt, wie Jack zusammenzuckte. Er schien dabei förmlich kleiner zu werden. Er ließ die Schultern hängen, und die Farbe wich vollständig aus seinem Gesicht.

»Das ist eine ganz widerwärtige Geschichte, Thomas«, sagte er. »Je mehr ich darüber erfahre, desto weniger verstehe ich sie. Und solchen Menschen kann ich fast gar nichts erklären.« Er wies mit der Hand hinter sich zum Hafengebiet.

Pitt bat ihn nicht um eine nähere Erläuterung; ihm war klar, dass Jack sie von sich aus liefern würde.

»Ich hatte immer angenommen, dass es bei einer Wahl darum geht, wer die besseren Argumente hat«, fuhr er fort und begann wieder auszuschreiten. In der immer dunkler werdenden Dämmerung schimmerte vor ihnen einladend das Licht des Gasthauses ›Ziege und Zirkel‹. »In Wahrheit geht es aber um nichts als Emotionen«, fuhr er fort, »Empfindungen, keine Gedanken. Ich weiß nicht einmal, ob ich möchte, dass wir gewinnen … als Partei, meine ich. Natürlich wünsche ich Macht! Ohne sie lässt sich nichts bewirken, wir könnten ebensogut einpacken und der Opposition das Feld überlassen.« Er warf Pitt einen raschen Blick zu. »Unser Land hat als erstes auf der Welt eine Industrialisierung erlebt. Jahr für Jahr erzeugen wir Waren im Wert von Millionen Pfund, und dem damit verdienten Geld verdankt der größte Teil unserer Bevölkerung seinen Lebensunterhalt.«

Sie traten in das Gasthaus, fanden einen freien Tisch, und sogleich ließ sich Jack auf einen Stuhl sinken. Pitt holte an der Theke seinen üblichen Krug Apfelwein und kehrte mit ihm und dem großen Bier, das Jack haben wollte, zurück.

Nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, fuhr Jack fort: »Immer mehr Güter werden auf diese Weise hergestellt. Wenn wir überleben wollen, müssen wir sie an jemanden verkaufen!«

Mit einem Mal verstand Pitt, worauf Jack hinauswollte. »Das Weltreich«, sagte er leise. »Sind wir wieder bei der Frage der Selbstbestimmung für Irland angekommen?«

»Nur dass es dabei um weit mehr geht«, gab Jack zurück. »Nämlich um die Frage, ob es moralisch gerechtfertigt ist, überhaupt ein solches Weltreich zu haben.«

»Ist es für die Frage nicht ein bisschen spät?«, erkundigte sich Pitt trocken.

»Mehrere Jahrhunderte. Aber wie schon gesagt, es geht nicht um nüchterne Gedanken. Für den Fall, dass wir uns jetzt des Weltreichs entledigten, wem können wir dann all unsere Waren verkaufen? Frankreich, Deutschland und die übrigen europäischen Länder, ganz zu schweigen von Amerika, stellen inzwischen selbst Waren im industriellen Maßstab her.« Er biss sich auf die Lippe. »Die Zahl der Güter nimmt zu, und die Märkte werden kleiner. Unser Weltreich zurückzugeben ist eine großartige Vorstellung, geradezu ein Ideal, aber wenn wir unsere Märkte einbüßen, müssen ungezählte Bewohner unseres Landes verhungern. Wenn aber die Wirtschaft des Landes zugrunde gerichtet ist, vermag niemand mehr, ihnen zu helfen, da nutzen die besten Absichten nichts.« Jemandem entglitt ein Glas und zersplitterte auf dem Boden. Wortreiche Flüche ertönten. Eine Frau lachte schrill über einen Witz.

Jack machte eine ärgerliche Handbewegung. »Und jetzt versuch mal, den Wahlkampf zu führen, indem du den Leuten sagst: ›Stimmen Sie für mich, und ich befreie Sie von dem Weltreich, gegen das Sie so sehr sind. Natürlich wird das bedauerlicherweise jeden von Ihnen den Arbeitsplatz und die Wohnung kosten und die Städte ruinieren. Die Fabriken werden schließen müssen, weil es für all die vielen Waren nicht genug Abnehmer gibt, und auch die Läden werden irgendwann schließen. Aber dies Vorgehen stützt sich auf edle Motive und ist zweifellos moralisch einwandfrei.‹«

»Können wir mit unseren Industriegütern nicht gegen die der übrigen Welt konkurrieren?«, fragte Pitt.

»Die Welt braucht sie nicht.« Jack nahm seinen Bierkrug erneut zur Hand. »Was die anderen brauchen, machen sie selbst. Kannst du dir vorstellen, dass irgendjemand unter solchen Voraussetzungen für dich stimmen würde?« Mit weit geöffneten Augen hob er die Brauen. »Oder glaubst du, wir sollten den Leuten sagen, dass wir es nicht tun werden, und es dann einfach tun? Sollen wir sie alle miteinander aus moralischen Gründen hintergehen? Müsste man es nicht ihrer eigenen Entscheidung überlassen, ob sie ihre Seelen um diesen Preis retten wollen?«

Pitt sagte nichts.

Jack erwartete keine Antwort. »So ist die Macht nun einmal beschaffen«, fuhr er leise fort. Nachdenklich hielt er den Blick in die Ferne gerichtet, als säße er nicht in einer vollen Schenke, sondern draußen im Freien. »Kann man ein Schwert zur Hand nehmen, ohne sich dabei selbst zu verletzen? Irgendjemand muss es tun. Aber kannst du es besser handhaben als ein anderer? Glaubst du mit hinreichend großer Überzeugung an etwas, um dafür zu kämpfen? Und was bist du wert, wenn es sich nicht so verhält?« Erneut sah er Pitt an. »Stell dir einmal vor, dir liegt nicht genug an einer Sache, um ein Risiko für sie einzugehen – du würdest sogar verlieren, was du besitzt. Ich kann mir gut vorstellen, was Emily darüber denkt.« Mit schiefem Lächeln sah er auf den Bierkrug hinab. Dann hob er mit einem Mal den Blick zu Pitt. »Aber ich glaube, ich möchte mich immer noch lieber mit Emily darüber auseinander setzen müssen als mit Charlotte.«

Pitt zuckte zusammen. Eine neue Folge von Bildern trat ihm vor das innere Auge und verschmolz mit den anderen. Einen Augenblick lang empfand er Charlottes Abwesenheit so deutlich, dass es ihn fast körperlich schmerzte. Er hatte sie fortgeschickt, damit sie in Sicherheit war, aber nicht, um aus eigener Entscheidung heraus einen edlen Kampf auszufechten. Im Rückblick überlegte er, dass er Voisey unter Umständen ausgewichen wäre, falls er eine Möglichkeit dazu gehabt hätte. »Überlegst du, wie es weitergehen soll, wenn du gewählt wirst?«, fragte er plötzlich.

Die Röte stieg Jack so schnell in die Wangen, dass eine Lüge unmöglich war. »Das weniger. Man hat mich aufgefordert, dem Inneren Kreis beizutreten. Natürlich denke ich nicht daran!« Er sagte das ein wenig zu schnell und sah Pitt dabei an. »Aber die Leute haben mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie meine Gegenspieler auf ihre Seite ziehen werden, wenn ich nicht bei ihnen mitmache. Man kann sich einer solchen Sache nicht vollständig entziehen …«

Es kam Pitt vor, als hätte jemand in einer kalten Winternacht die Tür nach draußen geöffnet. »Und wer hat dich aufgefordert?« , fragte er leise.

Jack schüttelte den Kopf kaum merklich. »Das kann ich dir nicht sagen.«

Pitt lag die Frage schon auf der Zunge, ob es sich womöglich um Voisey gehandelt hatte, doch fiel ihm im letzten Augenblick ein, dass Jack über die Ereignisse in Whitechapel nicht informiert war. Zu seiner eigenen Sicherheit war es besser, dass dies so blieb. Oder doch nicht? Er sah zu Jack hin, der mit dem Bierkrug zwischen den Händen ihm gegenüber saß. Auf seinen Zügen lag noch ein Anflug des Charmes und der Harmlosigkeit, die ihn ausgezeichnet hatten, als sie einander kennen lernten. In den Gewohnheiten und Regeln der gehobenen Gesellschaft war er bewandert gewesen, doch von den dunkleren Seiten des Lebens, der seelischen Gewalttätigkeit, hatte er nichts gewusst. Verglichen mit dem Ausmaß an Boshaftigkeit und Schrecken, das Pitt erlebt hatte, waren die Vertrauensbrüche bei Wochenendeinladungen auf Landsitzen und die Selbstsucht der reichen Müßiggänger harmlos. Würde ihn Wissen besser schützen oder stärker gefährden? Falls Voisey zu dem Ergebnis kam, Jack kenne seine Position als Anführer des Inneren Kreises, könnte das bedeuten, dass er auch ihn als jemanden aufs Korn nahm, den es zu vernichten galt.

Sofern Jack das aber nicht wusste, enthielt ihm Pitt dann nicht einen Schutzschild vor, mit dem er sich gegen die Verlockung der pervertierten Macht wehren konnte? War Jack mehr als lediglich ein x-beliebiger liberaler Unterhauskandidat? Konnte man sich seiner ebenfalls bedienen, um Pitt Schaden zuzufügen? Wenn es gelang, einen Menschen zu korrumpieren, bedeutete das eine unendlich größere Befriedigung, als wenn man ihm eine bloße Niederlage zufügte.

Oder war all das ein reiner Zufall, entsprangen all diese Dämonen lediglich Pitts Vorstellungskraft?

Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf, trank seinen Apfelwein aus und stellte den Krug auf den Tisch. »Lass uns gehen. Wir haben beide einen langen Heimweg, und um diese Tageszeit herrscht auf den Brücken ein ziemliches Gedränge. Vergiss Rose Serracold nicht.«

»Glaubst du, sie hat die Frau umgebracht, Thomas?« Auch Jack erhob sich. Den schal gewordenen Rest Bier in seinem Krug ließ er stehen.

Pitt antwortete erst, als sie sich durch die Menge nach draußen gearbeitet hatten. Auf der Straße war es mittlerweile nahezu vollständig dunkel.

»Als Täter kommt nur sie, General Kingsley oder ein weiterer Mann in Frage, bei dem wir nicht wissen, um wen es sich handelt«, sagte er.

»Dann war der es!«, entfuhr es Jack. »Warum sollte jemand, der nichts zu verbergen hat, ein Geheimnis aus seinem Namen machen, wenn er sich mit Dingen beschäftigt, die zwar ungewöhnlich, vielleicht auch ein wenig absurd, aber ansonsten doch achtbar sind und nicht das Geringste mit Verbrechen zu tun haben?« Er redete sich in Eifer. »Ganz offensichtlich steckt doch mehr dahinter! Wahrscheinlich ist der Mann zurückgekehrt, nachdem die anderen gegangen waren, weil er ein Verhältnis mit ihr hatte. Möglicherweise hat sie ihn erpresst, und er hat sie umgebracht, um sie zum Schweigen zu bringen. Es dürfte kaum eine bessere Gelegenheit gegeben haben, seine Besuche zu tarnen, als dass er zusammen mit anderen Menschen zu diesen spiritistischen Sitzungen ging und so tat, als wenn er mit seinem Urgroßvater oder wem auch immer Verbindung aufnehmen möchte. Das sieht töricht aus, womöglich auch ein bisschen rührselig, aber harmlos.«

»Soweit wir wissen, wollte er mit keiner bestimmten Person Kontakt aufnehmen. Es scheint sich bei ihm um einen Zweifler gehandelt zu haben.«

»Noch besser! Er versucht, das Medium in Misskredit zu bringen, die Frau als Betrügerin hinzustellen. Das dürfte nicht schwer fallen. Allein schon die Tatsache, dass er es nicht getan hat, legt ein anderes Motiv nahe.«

»Denkbar«, stimmte Pitt zu. Der Wind, der von der Themse herüberwehte, wurde ein wenig stärker und trieb Zeitungsblätter über das Pflaster, die nach einer Weile zur Ruhe kamen. In Hauseingängen sah man Bettler. Für sie war es zu früh, sich dort für die Nacht niederzulassen. Eine Prostituierte hielt Ausschau nach Kundschaft. Die Luft roch säuerlich. Nebeneinander strebten die beiden Männer der Brücke entgegen

 

Pitt schlief unruhig. Die Stille im Hause bedrückte ihn. Es wirkte nicht friedlich, sondern leer. Er erwachte spät mit Kopfschmerzen und hatte sich gerade zum Frühstück an den Küchentisch gesetzt, als es an der Haustür klingelte. Er stand auf und ging in Strümpfen hin, um zu öffnen.

Tellman stand vor ihm. Obwohl es ein milder Morgen war, schien er zu frieren. Am Himmel standen nur wenige Wolken. Bis Mittag würde es klar und heiß sein.

»Was bringen Sie?«, fragte Pitt und forderte ihn wortlos auf hereinzukommen, indem er einen Schritt zurücktrat. »Ihrem Gesicht nach ist es nichts Gutes.«

Tellman folgte der Aufforderung. Ein finsterer Ausdruck lag auf seinem hohlwangigen Gesicht. Er sah sich um, als habe er ganz vergessen, dass Gracie nicht da war. Auch er wirkte recht einsam.

Pitt ging mit ihm in die Küche. »Was bringen Sie?«, wiederholte er, während sich Tellman an der gegenüberliegenden Seite des Tisches niederließ, ohne die Teekanne eines Blickes zu würdigen oder sich nach Kuchen oder Gebäck umzusehen.

»Es kann sein, dass wir den Mann gefunden haben, der im Tagebuch verschlüsselt dargestellt war, mit einer – wie haben Sie noch gesagt … einer Kartusche?«, antwortete er mit ausdrucksloser Stimme. Pitt sollte seine eigenen Schlüsse ziehen.

»Tatsächlich?«

Die Stille lastete schwer im Raum. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Man hörte das Rumpeln, mit dem im Nebenhaus ein Sack Kohlen über die Rutsche in den Keller entleert wurde. Eine sonderbare Mutlosigkeit überkam Pitt. Tellmans Züge sahen aus, als habe er eine Tragödie zu verkünden und als habe die Finsternis bereits in ihm Platz gegriffen.

Tellman hob den Blick. »Die Beschreibung passt auf den Mann«, sagte er ruhig. »Größe, Alter, Körperbau, Haarfarbe, sogar die Stimme, wie unser Informant sagt. Andernfalls hätte Oberinspektor Wetron die Meldung wahrscheinlich gar nicht an uns weitergereicht.«

»Und was veranlasst ihn zu der Annahme, dass es sich bei ihm gerade um diesen Mann handelt und nicht um einen von vielen anderen, auf die die Beschreibung ebenfalls zutrifft?«, fragte Pitt. »Schließlich verfügen wir nur über ganz allgemeine Angaben wie ›mittelgroß, wahrscheinlich Anfang sechzig, weder dick noch schlank, graue Haare.‹ Von solchen Männern gibt es sicher Zehntausende, und vermutlich leben Tausende von ihnen in einer Entfernung von der Southampton Row, die sich leicht mit der Eisenbahn überbrücken lässt.« Er beugte sich über den Tisch. »Was gibt es außerdem, Tellman? Warum soll gerade er es sein?«

Gleichmütig sagte Tellman: »Weil er ein Dozent im Ruhestand ist, dessen Frau kürzlich nach langer Krankheit gestorben ist. Die beiden haben alle ihre Kinder schon in jungen Jahren verloren. Er steht völlig allein und hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen. Wie man hört, hat er angefangen, sich  … befremdlich zu benehmen. Er ist herumgezogen und hat junge Frauen angesprochen, wollte wohl sozusagen die Vergangenheit wieder einfangen. Vermutlich hat das mit seinen jung gestorbenen Kindern zu tun.« Er sah elend drein, als hätte man ihn dabei ertappt, wie er sich gleich einem Voyeur am tiefen Kummer eines anderen Menschen weidete. »Die Leute haben angefangen, über ihn zu reden.«

»Wo wohnt der Mann?«, fragte Pitt trübselig. »In der Nähe von Southampton Row?«

»Nein«, sagte Tellman rasch. »In Teddington.«

Pitt glaubte sich verhört zu haben. Das Dorf Teddington lag viele Kilometer stromaufwärts an der Themse, hinter Kew und sogar noch hinter Richmond. Was nur mochte Wetron zu der Annahme veranlassen, dieser unglückliche Mensch könnte etwas mit Maude Lamonts Tod zu tun haben? »Wo?«, fragte er ungläubig.

»In Teddington«, wiederholte Tellman. »Er kann ohne weiteres mit dem Zug in die Stadt gekommen sein.«

»Warum in drei Teufels Namen hätte er das tun sollen?«, hielt Pitt dagegen. »Spiritistinnen gibt es schließlich überall. Warum ausgerechnet Maude Lamont? Sie wäre für einen Dozenten im Ruhestand doch eher ziemlich teuer gewesen, oder?«

»Nun ja«, sagte Tellman und wirkte noch unglücklicher als zuvor. »Er wird hoch geschätzt und ist nach wie vor als profunder Denker bekannt, der zu manchen Themen die maßgeblichen Lehrbücher verfasst hat. Abgelegene Gebiete für Menschen wie Sie und mich, aber die Fachleute halten große Stücke auf ihn.«

»Auch wenn jemand über die nötigen Mittel verfügt, ist das noch keine Erklärung dafür, dass er über eine große Entfernung in die Stadt kommt, um ein Medium aufzusuchen, dessen Sitzungen fast bis Mitternacht dauern«, wandte Pitt ein.

Tellman holte tief Luft. »Vielleicht doch, wenn es um einen bedeutenden Geistlichen geht, dessen Ruf sich auf tiefere Einsichten in den christlichen Glauben gründet.« Erneut lagen auf seinen Zügen Mitleid und Verachtung im Widerstreit. »Wer anfängt, die Antwort auf seine Fragen bei Frauen zu suchen, die Eiweiß und Käseleinen hochwürgen und behaupten, dass es sich um Geister handelt, tut das vermutlich doch so weit wie möglich von zu Hause. Ich würde in dem Fall am liebsten in ein anderes Land gehen! Mich wundert überhaupt nicht, dass er durch die Gartentür gekommen und gegangen ist und nicht bereit war, Miss Lamont seinen Namen zu sagen.«

Mit einem Mal war Pitt die ganze Tragödie klar. Das erklärte alle Besonderheiten des Falles: die Heimlichtuerei und die Besorgnis des Mannes, jemand könnte erraten, wer er war, weshalb er nicht einmal wagte, die Namen der Geister zu nennen, mit denen er in Verbindung treten wollte. So tragisch die Sache war, so leicht ließ sie sich mit ein wenig Vorstellungskraft verstehen. Hier war ein alter Mann, dem man alles genommen hatte, woran sein Herz hing. Der letzte Schlag, den ihm der Tod seiner Frau versetzt hatte, war für sein seelisches Gleichgewicht zu viel gewesen. Selbst die Stärksten erleben auf der langen Reise des Lebens irgendwann eine finstere Nacht der Seele.

Tellman sah ihn aufmerksam an und wartete auf seine Antwort.

»Ich rede mit ihm«, sagte Pitt gequält. »Wie heißt er, und wie lautet seine Anschrift?«

»Udney Road, ein paar hundert Schritt vom Bahnhof an der Linie, die von London in den Südwesten führt.«

»Und wie heißt er?«

»Francis Wray«, sagte Tellman. Er ließ Pitt nicht aus den Augen.

Pitt dachte an die Kartusche mit dem Buchstaben innerhalb des Kreises, der wie ein umgedrehtes f aussah. Jetzt begriff er Tellmans Unbehagen schon eher und verstand, warum er die Sache nicht einfach beiseite schieben konnte, so gern er es getan hätte. »Ich verstehe«, sagte er.

Tellman öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder. Es gab wirklich nichts zu sagen, was nicht beide schon gewusst hätten.

»Was haben Ihre Männer in Bezug auf die anderen Besucher herausgefunden?«, erkundigte sich Pitt nach einer Weile.

»Nicht besonders viel«, gab Tellman mürrisch zurück. »Es handelt sich um alle möglichen Leute. Das Einzige, was alle mehr oder weniger gemeinsam haben, ist genug Geld und Zeit, sich um Mitteilungen von Menschen zu kümmern, die bereits tot sind. Manche sind einsam, andere verwirrt. Sie haben das Bedürfnis zu ergründen, ob ihr Ehemann oder Vater sie noch liebt, oder fühlen sich verpflichtet, sie auf dem Laufenden zu halten.« Seine Stimme wurde immer leiser. »Viele lockt einfach der Nervenkitzel; sie wollen ein bisschen Unterhaltung. Keiner hegt einen so starken Groll gegen das Medium, dass sie Grund gehabt hätten, etwas zu unternehmen.«

»Haben Sie auch über die anderen, die vom Cosmo Place aus durch die Gartentür hereingekommen sind, etwas in Erfahrung gebracht?«

»Nein.« In Tellmans Augen flackerte Missmut auf. »Ich weiß auch nicht, wie ich das anstellen sollte. Wo würde man dabei anfangen?«

»Wie viel hat Maude Lamont mit dieser Tätigkeit in etwa verdient?«

Mit weit geöffneten Augen sagte Tellman: »Etwa viermal so viel wie ich vor meiner Beförderung.«

Pitt wusste genau, wie viel Tellman verdiente. Er konnte ohne weiteres abschätzen, welchen Umsatz Maude Lamont gemacht hatte, wenn sie vier oder fünf Tage in der Woche tätig geworden war. »Das ist immer noch deutlich weniger, als sie für den Unterhalt ihres Hauses und ihre kostspielige Garderobe aufwenden musste.«

»Erpressung?«, fragte Tellman fast automatisch. Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske des Abscheus. »Nicht genug damit, dass sie die Leute hereinlegte, ließ sie die auch noch dafür bezahlen, dass sie ihre Geheimnisse für sich behielt?« Ihm ging es nicht um Antworten, er musste einfach seiner Verbitterung Luft machen. »Manche Leute legen es so darauf an, umgebracht zu werden, dass man sich wundern muss, wie sie es bisher fertiggebracht haben, dem zu entgehen!«

»Das ändert nichts daran, dass wir feststellen müssen, wer sie getötet hat«, sagte Pitt ruhig. »Unter keinen Umständen kann man einen Mord auf sich beruhen lassen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Gerechtigkeit alles in angemessener Weise behandelt und je nach Situation straft oder Gnade walten lässt. Mir ist aber klar, dass das nicht der Fall ist. Sie irrt in beiden Richtungen. Doch wenn es so weit käme, dass jeder nach eigenem Ermessen Rache übt oder sich über die Androhung der Todesstrafe bei Mord hinwegsetzen darf, wäre der Anarchie Tür und Tor geöffnet.«

»Als ob ich das nicht wüsste«, knurrte Tellman.

»Irgendetwas Neues über ihr Dienstmädchen?«, fragte Pitt, ohne auf Tellmans Ton zu achten.

»Nichts, was uns weiterhelfen würde. Auch wenn sie im Großen und Ganzen ziemlich vernünftig zu sein scheint, vermute ich, dass sie mehr über diese spiritistischen Sitzungen und die Art weiß, wie man die Leute hinters Licht geführt hat, als sie uns sagt. Das kann gar nicht anders sein, denn sie hat sich als Einzige immer in der Nähe aufgehalten. Alle anderen im Haus Beschäftigten – Köchin, Wäscherin und Gärtner  – kamen immer nur tagsüber oder stundenweise und waren längst aus dem Haus, bevor die privaten Sitzungen begannen.«

»Ist nicht denkbar, dass auch sie hinters Licht geführt wurde?« , fragte Pitt.

»Dafür ist sie zu vernünftig«, sagte Tellman. Seine Stimme klang eine Spur schärfer. »Sie würde nie auf Kniffe wie Pedale, Spiegel, Phosphoröl und dergleichen hereinfallen.«

»Die meisten von uns neigen dazu zu glauben, was sie glauben möchten«, gab Pitt zu bedenken. »Vor allem bei Dingen, die uns wichtig sind. Mitunter ist das Bedürfnis dazu so groß, dass wir gar nicht wagen, etwas nicht zu glauben, weil das unsere Träume zerstören würde, und ohne die müssten wir zugrunde gehen. Vernunft hat wenig mit all dem zu tun. Es geht ums Überleben.«

Verständnislos sah ihn Tellman an. Wieder schien er etwas dagegen einwenden zu wollen, überlegte es sich dann aber und schwieg. Offensichtlich war ihm noch nicht der Gedanke gekommen, dass es auch in Lena Forrests Herzen Zweifel und Zuneigung geben konnte, dass sie Verstorbene kannte, die einst mit ihrem Leben verwoben waren. Er errötete leicht, als ihm das aufging, wodurch er in Pitts Wertschätzung stieg.

Langsam erhob sich Pitt. »Ich sehe mir diesen Mister Wray einmal an«, sagte er. »Teddington! Möglicherweise war Maude Lamont tatsächlich so gut, dass jemand es der Mühe für wert hielt, dafür den langen Weg von Teddington zur Southampton Row zurückzulegen.«

Tellman sagte nichts darauf.

 

Pitt verschwendete keine Zeit auf die Überlegung, wie er sich Reverend Francis Wray gegenüber verhalten sollte, wenn er ihm gegenüberstand. Die Situation war verfahren, ganz gleich, was er sagte. Da war es am besten, sich gleich ans Werk zu machen, bevor ihn seine Bedenken noch unbeholfener machten.

Am Bahnhof erkundigte er sich nach der besten Möglichkeit, nach Teddington zu gelangen, und erfuhr, dass er unterwegs umsteigen müsse. Glücklicherweise ging der nächste Zug bereits in elf Minuten. Er ließ sich eine Fahrkarte geben, dankte dem Schalterbeamten und kaufte am Eingang zum Bahnsteig eine Zeitung. Darin ging es in erster Linie um die bevorstehende Wahl. Neben den üblichen saftigen Karikaturen fiel ihm eine Anzeige auf, die ankündigte, es werde in zwei Wochen im Volkspalast an der Mile End Road eine Pferde- und Eselverkaufsschau geben.

Auf dem Bahnsteig standen außer ihm zwei ältere Frauen und eine Familie, die wohl einen Tagesausflug machte. Unaufhörlich redend, hüpften die Kinder aufgeregt auf und ab. Wie es wohl Daniel, Jemima und Edward in Devon ergehen mochte? Er überlegte, ob ihnen die Gegend gefiel oder ihnen in der ungewohnten Umgebung die üblichen Spielgefährten fehlen mochten. Und vermissten sie ihren Vater, oder gab es so viele Abenteuer, dass sie nicht an ihn dachten? Außerdem war natürlich Charlotte bei ihnen.

Zu oft hatte er in jüngster Zeit ohne sie auskommen müssen  – erst wegen der Whitechapel-Geschichte und jetzt wegen dieser hier. Im Verlauf mehrerer Monate hatte er so gut wie nie mit Daniel oder Jemima gesprochen und keine Zeit gehabt, sich mit ihnen schwierigeren Themen zu widmen, auf das Ungesagte und nicht nur auf die Worte an der Oberfläche zu hören. Wenn dieser neue Fall um Voisey vorüber war, musste er unbedingt von Zeit zu Zeit einen oder zwei Tage frei nehmen, um mit ihnen zusammen zu sein – ganz gleich, ob der Mörder Maude Lamonts bis dahin gefunden war oder nicht. Zumindest das schuldete ihm Narraway. Er konnte nicht den Rest seines Lebens damit verbringen, dass er vor Voisey davonlief, denn dann hätte sein Gegenspieler kampflos gesiegt.

Er dachte lieber nicht allzu sehr an Charlotte. Ihre Abwesenheit verursachte ihm einen so tiefen Schmerz, dass er sich weder durch Denken noch durch Handeln verdrängen ließ. Selbst die Träume schmerzten viel zu sehr.

Unter dem Zischen von Dampf und dem Dröhnen eiserner Räder auf eisernen Schienen fuhr der Zug ein. Rußflocken wirbelten durch die Luft, in der die Hitze der gebändigten Kraft lag. In diesem Augenblick empfand er die Trennung von Charlotte so stark, als wäre sie vorhin erst abgereist. Er musste sich mit Gewalt in die Gegenwart zwingen, und es kostete ihn Überwindung, die Waggontür zu öffnen. Er ließ die beiden älteren Frauen einsteigen, folgte ihnen dann und suchte sich einen Platz.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Schon vierzig Minuten später befand er sich in Teddington. Wie Tellman gesagt hatte, lag die Udney Road nur eine Nebenstraße vom Bahnhof entfernt, und so stand er schon nach wenigen Minuten Fußweg vor dem schmucken Gartentor des Hauses Nummer vier. Er sah es im Sonnenschein einige Augenblicke an, sog den Duft von einem Dutzend verschiedener Blumen ein und den angenehmen sauberen Geruch frisch gegossener heißer Erde. In all dem lagen so viele Erinnerungen an sein eigenes Zuhause, dass sie ihn einen Augenblick lang überwältigten.

Auf den ersten Blick konnte man glauben, im Garten wachse alles wahllos durcheinander, doch war ihm klar, dass Jahre gewisssenhafter Arbeit darin steckten. Alle verwelkten Blüten waren sorgfältig abgeschnitten, nirgends sah man Unkraut, alles war an seinem Platz. In einer überwältigenden Fülle von Farben standen vertraute und unbekannte Pflanzen beieinander, exotische und einheimische Gewächse. Der bloße Anblick des Gartens sagte ihm viel über den Mann, der ihn angelegt hatte. Ob es Francis Wray selbst gewesen war oder ein bezahlter Gärtner? In letzterem Fall läge dessen wahre Belohnung in seiner Kunst, ganz gleich, wie viel er verdiente.

Pitt trat durch das Gartentor ein, schloss es hinter sich und ging auf das Haus zu. Eine schwarze Katze räkelte sich auf dem Fensterbrett in der Sonne, eine Schildpattkatze strich durch den gefleckten Schatten leuchtend roter Löwenmäulchen. Pitt hoffte inständig, hier die falsche Fährte zu verfolgen.

Er klopfte an die Haustür. Ein Dienstmädchen von höchstens fünfzehn Jahren ließ ihn ein.

»Wohnt hier Mr. Francis Wray?«, fragte Pitt.

»Ja, Sir.« Sie wirkte gelassen. Vielleicht kamen normalerweise lediglich Amtsbrüder oder Gemeindemitglieder ins Haus. »Sir … würden Sie bitte warten, während ich nachsehe, ob er daheim ist?« Sie tat einen Schritt zurück und schien nicht zu wissen, ob sie ihn hereinbitten, vor der Tür stehen lassen oder diese gar wieder schließen sollte, für den Fall, dass er beabsichtigte, das blitzblank geputzte verzierte Messing-Zaumzeug zu stehlen, das die Dielenwand schmückte.

»Darf ich im Garten warten?«, fragte er mit einem Blick auf die Blumenpracht hinter ihm.

Erleichterung breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Natürlich, Sir. Der gnä’ Herr gibt sich wirklich große Mühe damit, nicht wahr?« Mit einem Mal zwinkerte sie, weil ihr Tränen in die Augen traten, und Pitt begriff, dass sich Wray seit seinem großen Verlust in die Gartenarbeit geflüchtet hatte. Vielleicht besänftigte die körperliche Beschäftigung seine Empfindungen zum Teil. Blumen nehmen alle Bemühungen geduldig hin und geben nichts als Schönheit zurück, stellen keine Fragen und stören nicht.

Er brauchte nicht lange in der Sonne zu stehen, von wo aus er der Schildpattkatze zusah, denn schon bald kam Wray zur Haustür heraus und über den kurzen Gartenweg auf ihn zu. Er war von durchschnittlicher Größe, etwa eine Handbreit kleiner als Pitt. In jüngeren Jahren war er vermutlich etwas größer gewesen, denn seine Schultern hingen herab, und sein Rücken war gebeugt. Vor allem aber seinem Gesicht ließen sich die unauslöschlichen Spuren innerer Qual ansehen. Unter seinen Augen lagen Schatten, tiefe Falten waren zwischen Mund und Nase eingegraben, und auf seiner papierdünnen Haut war ihm das Rasiermesser mehr als einmal erkennbar ausgeglitten.

»Guten Tag, Sir«, sagte er ruhig mit bemerkenswert melodiöser Stimme. »Mary Ann hat mir gesagt, dass Sie mich zu sprechen wünschen. Was kann ich für Sie tun?«

Flüchtig dachte Pitt daran zu lügen. Was er zu tun im Begriff stand, konnte nur schmerzlich sein und den Mann in tiefster Seele verstören. Dann verwarf er den Gedanken. Immerhin war es möglich, dass er ›Kartusche‹ vor sich hatte, und dieser könnte zumindest eine weitere Erinnerung an den bewussten Abend beisteuern sowie an andere Gelegenheiten, bei denen er gemeinsam mit Rose Serracold und General Kingsley das Medium aufgesucht hatte. Von einem Mann, der das ganze Leben im Dienst der Kirche zugebracht hatte, durfte man doch gewiss erwarten, dass er ein geschulter Beobachter der Menschennatur war.

»Guten Tag, Mr. Wray«, sagte er. »Ich heiße Thomas Pitt.« Es war ihm alles andere als recht, mit Maude Lamonts Tod beginnen zu müssen, aber er hatte keinen anderen Grund, Wrays Zeit in Anspruch zu nehmen. Andererseits war es nicht nötig, sofort mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. »Ich bemühe mich, an der Aufklärung eines tragischen Vorfalls mitzuwirken, zu dem es kürzlich in London gekommen ist, ein Todesfall unter äußerst unangenehmen Umständen.«

Einen Augenblick lang verzog Wray das Gesicht, doch das Mitgefühl in seinen Augen war ungeheuchelt. »In dem Fall sollten Sie besser mit mir ins Haus gehen, Mr. Pitt. Wenn Sie eigens von London gekommen sind, haben Sie womöglich noch gar nicht zu Mittag gegessen? Bestimmt findet Mary Ann genug für uns beide, vorausgesetzt, dass Sie mit einfacher Kost vorlieb nehmen.«

Pitt sah sich gehalten, die Einladung anzunehmen. Er musste unbedingt mit Wray sprechen. Es wäre ungehobelt, zwar ins Haus zu gehen, aber die Gastfreundschaft abzulehnen. In dem Fall hätte er die Gefühle dieses Mannes lediglich verletzt, um sein eigenes Gewissen zu erleichtern. Doch auf diese Weise künstlich eine Distanz zwischen ihm und sich selbst zu schaffen würde sein Vorgehen weder weniger zudringlich erscheinen noch seinen Verdacht weniger hässlich wirken lassen. Also nahm er dankend an und folgte Wray ins Haus, in der Hoffnung, die junge Mary Ann würde sich nicht wieder durch seine Anwesenheit bedrängt fühlen.

Auf dem Weg zur Studierstube sah er sich um, als Wray kurz in der Diele stehen blieb, um mit dem Mädchen zu sprechen. Außer dem Zaumzeug enthielt der Raum einen kunstvoll gearbeiteten Stock- und Schirmständer aus Messing, einen aus Holz geschnitzten Sessel, der auf den ersten Blick aus der Tudor-Epoche zu stammen schien, und mehrere ausgesprochen schöne Zeichnungen kahler Bäume.

Mary Ann eilte in die Küche, und Wray fragte, als er der Richtung von Pitts Blick folgte: »Gefallen sie Ihnen?« In seiner Stimme lag viel Gefühl.

»Sehr«, gab Pitt zur Antwort. »Die Schönheit eines kahlen Baumes ist ebenso so groß wie die eines belaubten.«

»Können Sie das erkennen?« Wie ein Sonnenstrahl an einem Frühlingstag trat ein flüchtiges Lächeln auf Wrays Züge, verschwand aber gleich wieder. »Sie stammen von meiner verstorbenen Frau. Sie hatte die Gabe, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.«

»Sowie die Gabe, anderen deren Schönheit zu vermitteln«, ergänzte Pitt. Gleich darauf wünschte er, es nicht gesagt zu haben. Er war gekommen, weil er feststellen wollte, ob dieser Mann ein Medium aufgesucht hatte, um etwas von den Menschen zu erhaschen, die er geliebt hatte – im Widerspruch zu allem, was ihn sein ein Leben lang praktizierter Glaube gelehrt hatte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Wray diese Frau sogar getötet hatte.

»Danke«, murmelte Wray und wandte sich rasch ab, um seine Gefühle nicht zeigen zu müssen. Er führte den Besucher in seine Studierstube, einen von Büchern überquellenden kleinen Raum mit einer Dante-Büste auf einem Sockel und einem Aquarell, das eine brünette junge Frau zeigte, die dem Betrachter schüchtern entgegenlächelte. Auf dem Schreibtisch, viel zu dicht an der Kante, stand eine silberne Vase mit Rosen in verschiedenen Farben. Pitt hätte sich gern die Titel von zwei Dutzend der Bücher angesehen, erkannte aber in der kurzen Zeit nur drei: Flavius Josephus’ Über den jüdischen Krieg, Thomas a Kempis’ Über die Nachfolge Christi sowie einen Kommentar zum Heiligen Augustinus.

»Bitte nehmen Sie Platz, und sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann«, forderte ihn Wray auf. »Ich habe reichlich Zeit und nichts Nützliches mehr auf der Welt zu tun.« Das Lächeln, mit dem er das sagte, zeugte mehr von innerer Wärme als von Glücksgefühl.

Jetzt gab es keinen Vorwand mehr, die Sache länger hinauszuschieben. »Sind Sie zufällig mit Generalmajor Roland Kingsley bekannt?«

Wray überlegte einen Augenblick. »Der Name sagt mir etwas.«

»Ein hoch gewachsener Mann, der lange beim Heer in Afrika war«, erläuterte Pitt.

Wray wirkte erleichtert. »Ach ja, natürlich. Waren das nicht die Zulukriege? Soweit ich mich erinnere, hat er sich dabei sehr hervorgetan. Nein, begegnet bin ich ihm nie, aber ich habe von ihm reden hören. Es hat mir sehr Leid getan zu erfahren, dass ihn wieder ein schwerer Schicksalsschlag getroffen hat, denn er hat seinen einzigen Sohn verloren.« In seinen Augen glänzte etwas, und es schien, als könne er einen Augenblick lang nichts sehen, doch beherrschte er seine Stimme und konzentrierte sich auf die Fragen seines Besuchers.

»Ich bin nicht wegen dieses Verlustes hier«, sagte Pitt rasch, bevor er überlegen konnte, ob er sich damit widersprach oder nicht. »Er war kürzlich anwesend, als ein anderer Mensch starb  … jemand, zu dem er gegangen war, um Trost für den Tod seines Sohnes zu finden … oder die Art, wie er gestorben war.« Er schluckte und beobachtete aufmerksam Wrays Gesicht. »Es handelte sich um eine Spiritistin.« Hatte Wray in den Zeitungen davon gelesen? Sie hatten sich in jüngster Zeit hauptsächlich mit der bevorstehenden Wahl beschäftigt.

Der Mann runzelte die Stirn, sein Gesicht verfinsterte sich. »Meinen Sie einen dieser Menschen, die behaupten, sie könnten mit den Geistern der Toten in Verbindung treten, und die das Geld verletzlicher Menschen nehmen, um Stimmen und Zeichen hervorzubringen?« Er konnte seine Missachtung kaum deutlicher formulieren. Ging sie auf seine religiöse Überzeugung oder darauf zurück, dass er sich selbst betrogen fühlte? In seinen Augen lag ungeheuchelter Zorn; nichts war von dem freundlichen und umgänglichen Herrn geblieben, der er noch vor wenigen Augenblicken gewesen war. Er fuhr fort, vielleicht weil er merkte, dass Pitt ihm aufmerksam zuhörte: »So etwas ist äußerst gefährlich, Mr. Pitt. Ich wünsche niemandem etwas Böses, aber solchem Tun sollte unbedingt Einhalt geboten werden, auch wenn ich es nicht für richtig halte, dass jemand das auf gewalttätige Weise getan hat.« Pitt wusste nicht, was er denken sollte. »Gefährlich, Mr. Wray? Vielleicht habe ich Sie in die Irre geführt. Am Tod dieser Frau gab es nichts Okkultes, man hat sie einfach umgebracht. Ich hätte von Ihnen gern etwas über die anderen dabei Anwesenden erfahren, nicht über das Göttliche.«

Wray seufzte. »Sie sind ein Mann Ihrer Zeit, Mr. Pitt. Heute umtanzen wir Mr. Darwin und das goldene Kalb der Naturwissenschaft, statt Gott die Ehre zu geben, der uns geschaffen hat. Doch die Macht von Gut und Böse dauert fort, ganz gleich, wie wir sie jeweils entsprechend dem Zeitgeist maskieren. Sie setzen voraus, dass das Medium nicht die Macht besaß, über das Grab hinauszureichen, und damit haben Sie wahrscheinlich Recht. Das aber bedeutet nicht, dass es eine solche Macht nicht gibt.«

Trotz der Wärme des Raumes überlief es Pitt kalt. Es war voreilig von ihm gewesen, Wray sympathisch zu finden. Er war alt, reizend, freundlich und von großzügigem Wesen, und da er sich einsam fühlte, hatte er Pitt zum Mittagessen eingeladen. Er liebte seinen Garten und seine Katzen. Außerdem glaubte er an die Möglichkeit, die Geister der Toten heraufzubeschwören, und sprach sich zugleich äußerst verärgert über Menschen aus, die das zu tun versuchten. Dieser Fährte musste er auf jeden Fall nachgehen.

»Es war die Sünde Sauls«, fuhr Wray ernsthaft fort, als hätte Pitt laut gesagt, was er dachte.

Pitt verstand ihn nicht. Zwar wusste er, wer Saul war, konnte sich aber aus seiner Schulzeit an nichts erinnern, was zu diesem Hinweis gepasst hätte.

»König Saul«, fuhr Wray fort, plötzlich wieder freundlich. Fast schien es, als wolle er sich für etwas entschuldigen. »Die Hexe von Endor sollte für ihn den Geist des Propheten Samuel heraufbeschwören.«

»Ach.« Pitt war von Wrays angespanntem Gesichtsausdruck gebannt. Mit einem Mal strahlte dieser Mann eine nahezu übermenschlich wirkende Kraft aus. Er konnte nicht umhin zu fragen: »Und ist es dazu gekommen?«

»Selbstverständlich«, gab Wray zurück. »Das aber war der Anfang seines Trotzes, seines Hochmuts gegenüber Gott, der sich zu Neid und Zorn steigerte, in Sünde bis hin zum Tode.« Sein Gesicht war tiefernst. Ein winziger Muskel in seiner Schläfe zuckte unwillkürlich. »Man soll nie die Gefahr unterschätzen, die darin liegt, etwas wissen zu wollen, was wir nicht wissen sollen, Mr. Pitt. Es bringt ungeheures Übel mit sich. Meiden Sie es wie die Pest!«

»Ich habe nicht den geringsten Wunsch, etwas über solche Dinge in Erfahrung zu bringen«, sagte Pitt aufrichtig. Mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schuldbewusstsein merkte er, wie leicht jemand das sagen konnte, der keinen unerträglichen Kummer litt, keine Einsamkeit wie dieser Mann, und keiner wirklichen Versuchung ausgesetzt war.

»Ich hoffe sehr, dass ich, wenn ich jemanden verliere, der mir viel bedeutet, Trost im Glauben an die Auferstehung suchen würde, wie Gott sie uns verheißen hat«, sagte er. Es war ihm peinlich zu merken, dass seine Stimme dabei zitterte. Als ihm der Gedanke an Charlotte und die Kinder kam, die sich ohne ihn an einem Ort befanden, den er nie gesehen hatte, überlief ihn ein plötzlicher Schauder. Waren sie in Sicherheit? Noch hatte er nichts von ihnen gehört! Schützte er sie auf die bestmögliche Weise, und genügte das? Und wenn das nun nicht der Fall war? Wenn Voisey seine Rache auf diesem Weg suchte? Das wäre zwar möglicherweise töricht, unkultiviert und übereilt, auch gefährlich für ihn selbst – doch zugleich für Pitt am schmerzlichsten … und endgültig. Wenn sie tot wären, welchen Wert hätte das Leben dann noch für ihn?

Er sah den gebrochenen alten Mann vor sich an, den das Bewusstsein des erlittenen Verlusts so sehr geprägt hatte, dass es die Luft im Zimmer zu erfüllen schien, und mit einem Mal empfand Pitt selbst den Schmerz dieses Mannes. Ginge es ihm in einer solchen Situation anders? War es nicht dumm und unglaublich überheblich zu glauben, er dürfe sicher sein, dass er nie bei einem Medium, in Tarotkarten, Kaffeesatz oder irgendetwas anderem Trost suchen würde, damit sich die Leere füllte, inmitten derer er in einer Welt voller Fremder lebte, zu deren Herz er keinen Zugang hatte?

»Zumindest hoffe ich das«, sagte er. »Aber ich weiß es natürlich nicht.«

Tränen traten in Wrays Augen und liefen ihm über die Wangen, ohne dass er blinzelte. »Haben Sie Familie, Mr. Pitt?«

»Ja, Frau und zwei Kinder.« Verstärkte er damit den Schmerz des anderen, dass er ihm das sagte?

»Sie dürfen sich glücklich schätzen. Sagen Sie ihnen alles, was Sie für sie empfinden, solange Sie Gelegenheit dazu haben. Lassen Sie keinen Tag vergehen, ohne Gott für das zu danken, was er Ihnen geschenkt hat.«

Pitt bemühte sich, wieder an die Aufgabe zu denken, die ihn hergeführt hatte. Er sollte sich ein für alle Mal vergewissern, dass Wray keinesfalls der Mann war, den die Kartusche in Maude Lamonts Tagebuch bezeichnete. »Ich will es versuchen«, sagte er. »Leider muss ich nach wie vor alles mir Mögliche tun, um Maude Lamonts Tod zu verstehen und dafür zu sorgen, dass nicht der Falsche dafür zur Rechenschaft gezogen wird.«

Wray sah ihn verständnislos an. »Sofern es sich um eine gesetzwidrige Tat gehandelt hat, ist das doch bestimmt eine Sache für die Polizei. Ich kann natürlich gut verstehen, dass Sie die da nicht mit hineinziehen wollen, weil das die Seelenqual noch steigern könnte, aber ich denke, aus moralischen Gründen bleibt Ihnen keine andere Wahl.«

Pitt empfand heftige Scham, weil er diesen Mann in die Irre geführt hatte. »Die Polizei beschäftigt sich bereits mit dem Fall, Mr. Wray. Zu den drei an jenem letzten Abend Anwesenden gehört auch die Gattin eines Mannes, der für das Unterhaus kandidiert, doch einem Dritten ist es bisher gelungen, seine Identität geheim zu halten.«

»Und Sie wollen also wissen, wer das ist?«, fragte Wray in einem Augenblick erstaunlicher Klarsichtigkeit. »Selbst, wenn ich es wüsste, Mr. Pitt, weil es mir jemand im Vertrauen mitgeteilt hätte, wäre es mir nicht möglich, Ihnen das Geheimnis zu verraten. Ich könnte nicht mehr tun, als ihm mit allem mir zu Gebote stehenden Nachdruck zu raten, sich Ihnen zu offenbaren. Das aber würde bedeuten, dass ich schon vorher mit ihm gerungen hätte, um zu erreichen, dass er von einem so sündhaften und gefährlichen Unterfangen ablässt, wie es die Beschwörung von Geistern von Toten ist. Der einzig zulässige Weg, Wissen über solche Dinge zu erlangen, ist das Gebet.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Wie sind Sie nur auf den Gedanken gekommen, dass ich Ihnen helfen könnte? Ich verstehe das nicht.«

Rasch improvisierte Pitt. »Sie sind weithin bekannt wegen Ihres Wissens um diese Dinge und Ihre standhafte Gegnerschaft. Daher hatte ich angenommen, dass Sie mir etwas Nützliches über spiritistische Medien sagen könnten, insbesondere über Miss Lamont. Ihr Ruf reicht sehr weit.«

Wray seufzte. »Bedauerlicherweise ist das wenige, was ich weiß, lediglich ganz allgemeiner Art. Hinzu kommt, dass mein Gedächtnis nicht mehr so gut ist wie in früheren Jahren. Es lässt mich mitunter im Stich, und ich muss leider sagen, dass ich mich gelegentlich wiederhole. So erzähle ich Witze, die mir gefallen, zu oft. Die Menschen verhalten sich mir gegenüber sehr freundlich, doch wäre es mir fast lieber, sie täten es nicht. Jetzt weiß ich nie, ob ich etwas, was ich sage, vorher schon einmal gesagt habe oder nicht.«

Pitt lächelte. »Mir haben Sie nichts zweimal gesagt.«

»Ich habe Ihnen auch keinen Witz erzählt«, sagte Wray betrübt. »Außerdem haben wir noch nicht gegessen, und bestimmt zeige ich Ihnen jetzt jede Blume in meinem Garten zweimal.«

»Blumen sind es wert, dass man sie mindestens zweimal ansieht«, gab Pitt zur Antwort.

Kurz darauf kam Mary Ann herein, um ihnen ziemlich nervös mitzuteilen, dass das Essen bereitstehe. Die Männer gingen in das kleine Esszimmer, wo sich das Mädchen offensichtlich große Mühe gegeben hatte, alles besonders schön herzurichten. In der Mitte des Tisches, auf dem eine sorgfältig gebügelte Decke lag, stand eine Porzellanvase voller Blumen. Mary Ann trug eine dicke Gemüsesuppe sowie krosses Brot, Butter und einen weichen, krümeligen Käse auf; dazu gab es hausgemachtes Chutney, aus Rhabarber, wie Pitt vermutete. Die Speisen wie auch der sorgfältig mit auf Hochglanz poliertem alten Silber und Porzellantellern mit blauem Randdekor gedeckte Tisch riefen ihm ins Gedächtnis, wie sehr ihm die häusliche Behaglichkeit fehlte, seit Charlotte und Gracie fort waren.

Als Nachtisch gab es Pflaumenkuchen mit reichlich Sahne. Es kostete ihn große Überwindung, nicht um eine zweite Portion zu bitten.

Wie es aussah, schätzte Wray keine Tischgespräche. Vielleicht genügte ihm das Bewusstsein, dass jemand mit ihm am Tisch saß.

Als sie anschließend in den Garten hinausgingen, fiel Pitt auf einem Tischchen ein Faltblatt ins Auge, das Maude Lamonts Fähigkeiten anpries und in dem sie sich erbötig machte, Trauernden die Geister ihrer geliebten Abgeschiedenen zurückzubringen, damit sie die Möglichkeit hatten, all das zu sagen, woran sie der frühzeitig eingetretene Tod gehindert hatte.

Wray ging ihm voraus. Das blendende Licht der Sonne wurde von den bunten Blüten und dem leuchtenden Weiß des Zauns zurückgeworfen. Fast wäre Pitt über die Schwelle der Terrassentür gestolpert, als er ihm folgte.