Kapitel 4
Isadora Underhill saß an einem üppig gedeckten Tisch und schob das Essen auf ihrem Teller mit wohleinstudierter Eleganz herum. Gelegentlich führte sie den einen oder anderen Bissen zum Munde. Es waren durchaus gut zubereitete Speisen, lediglich ein wenig fade, und im Großen und Ganzen genau das, was es schon beim vorigen Mal gegeben hatte, als sie in diesem prächtigen Raum voller Spiegel mit den Anrichten aus der Zeit Louis XV. und den riesigen vergoldeten Kronleuchtern diniert hatte. Soweit sie sich erinnern konnte, waren auch fast ausnahmslos dieselben Menschen anwesend. Am Kopfende des Tisches saß ihr Gatte, der Bischof. Wie sie ihn so ansah, merkte sie, dass er verschwollene Augen hatte und bleich aussah, als hätte er schlecht geschlafen und zu viel gegessen. Er hatte seine Speisen fast noch nicht angerührt – das mochte daran liegen, dass er sich unwohl fühlte, ging aber wohl eher darauf zurück, dass er vor lauter Reden nicht zum Essen kam.
Er und der Erzdiakon priesen die Tugenden einer vor langer Zeit verstorbenen Heiligen, von der sie noch nie gehört hatte. Wie war es nur möglich, dass jemand in derart langweiligen Worten von wahrer Herzensgüte, gar Heiligkeit sprach, von der Überwindung der Furcht, der kleinen Eitelkeiten und Täuschungen des Alltagslebens, der Geistesgröße, die es einem Menschen erlaubte, über Kränkungen hinwegzusehen, von der Liebe zu allem Lebenden und seelischer Heiterkeit? Eine solche Haltung war doch einfach großartig!
»Hat sie je gelacht?«, fragte sie unvermittelt.
Um den ganzen Tisch herum trat Schweigen ein. Alle fünfzehn Anwesenden sahen sie an, als hätte sie ihr Weinglas umgestoßen oder ein ungehöriges Geräusch von sich gegeben.
»Nun, hat sie?«, ließ sie nicht locker.
»Sie war eine Heilige«, gab ihr die Gattin des Erzdiakons geduldig zu verstehen.
»Wie kann jemand heilig sein, wenn er keinen Humor hat?«, fragte Isadora.
»Das ist eine äußerst ernsthafte Angelegenheit«, erklärte der Erzdiakon und sah sie streng an. »Sie war Gott sehr nahe.«
»Man kann nicht Gott nahe sein, ohne seine Mitmenschen zu lieben«, sagte Isadora beharrlich und mit großen Augen. »Und wie könnte man andere Menschen lieben, wenn einem das Absurde an bestimmten Dingen und Situationen nicht bewusst ist?«
Der Erzdiakon zwinkerte. »Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen.« Er war breitschultrig und hatte ein schweinchenrosa Gesicht. Sie sah auf seine kleinen braunen Augen und seinen Mund, dem nie ein unbedachtes Wort zu entschlüpfen schien. »Nein«, stimmte sie zu, fest überzeugt, dass er überhaupt nur wenig verstand. Allerdings war er ihrer eigenen Einschätzung nach vom Stand eines Heiligen weit entfernt. Sie konnte sich unmöglich vorstellen, wie jemand, und sei es ein Heiliger, den Erzdiakon lieben konnte. Flüchtig überlegte sie, was seine Frau wohl empfinden mochte. Warum hatte sie ihn geheiratet? Aus Zweckmäßigkeit, wenn nicht gar aus Verzweiflung? Oder war er damals ein anderer Mensch gewesen?
Die arme Frau.
Isadora sah zu ihrem Mann hin. Sie versuchte, sich zu erinnern, warum sie ihn geheiratet hatte und ob sie beide wirklich vor dreißig Jahren so anders gewesen waren. Sie hatte Kinder gewollt, die aber waren ihr versagt geblieben. In jungen Jahren war er ein aufrichtiger Mann gewesen, vor dem eine viel versprechende Zukunft lag, und er hatte sie höflich und achtungsvoll behandelt. Was aber hatte sie in ihm zu sehen geglaubt, in seinem Gesicht und seinen Händen, was sie veranlasst hatte, ihm zu gestatten, dass er sie berührte? Was an seinen Worten hatte sie dazu gebracht, ihm für den Rest ihres Lebens zuzuhören? Wie waren seine Träume beschaffen gewesen, dass sie sie hatte teilen wollen?
Sofern ihr das je klar gewesen war, hatte sie es vergessen.
Jetzt wandte sich das Gespräch der Politik zu. Endlos wurden die Stärken der einen und die Schwächen der anderen diskutiert und über die Frage gesprochen, warum es den Anfang vom Ende des Weltreiches bedeuten würde, wenn man den Iren Selbstbestimmung gewährte, und dass damit das Ende aller missionarischen Bemühungen gekommen sei, der übrigen Welt das Licht der christlichen Tugenden zu bringen.
Sie sah sich im Kreise der Anwesenden um und fragte sich, wie viele der Frauen tatsächlich zuhören mochten. Sie alle waren so gekleidet, wie es die Mode verlangte und es sich für eine festliche Abendeinladung gehörte: eng geschnürt, hoch geschlossen, Kleider mit Puffärmeln. Vermutlich betrachtete so manche von ihnen lieber das weißleinene Tischtuch, die Teller, die Gewürzständer, die peinlich genau arrangierten Gestecke von Blumen aus dem Gewächshaus und stellte sich dabei vor, wie der Mond auf die Meeresbrandung schien, wie die aufrührerische See mit weißen Schaumkronen herbeistürmte und sich mit endlosem Donner am Ufer brach. Vielleicht auch dachten sie an den blassen Sand einer glutheißen Wüste, in der sich Reiter mit Gewändern, die sich im Wind blähten, als schwarze Umrisse vor dem Horizont abzeichneten.
Die Teller wurden gewechselt, ein neuer Gang wurde aufgetragen. Sie sah nicht einmal hin, wollte nicht wissen, was es war.
Einen wie großen Teil ihres Lebens hatte sie damit zugebracht, von anderen Orten zu träumen, zu wünschen, sie wäre dort?
Der Bischof hatte den Gang vorübergehen lassen. Vermutlich litt er wieder an Verdauungsstörungen. Allerdings hinderte ihn das nicht daran, die Schwächen des Mannes hervorzuheben, der in South Lambeth für die Liberalen kandidierte, vor allem seinen Mangel an Religiosität. Die Frau dieses Mannes schien seinen besonderen Zorn hervorgerufen zu haben, obwohl er offen einräumte, dass er sie seines Wissens nie gesehen hatte. Wohl aber hatte er gehört, sie sei voller Bewunderung für einige der sonderbaren Sozialisten, die sich selbst als Bloomsbury-Gruppe bezeichneten und radikale, wenn nicht widersinnige, Vorstellungen von Reform hatten. So etwas war unverzeihlich.
»Gehört nicht auch Sidney Webb dazu?«, fragte der Erzdiakon mit einem Anflug von Abscheu in der Stimme.
»In der Tat, wenn er nicht gar der Anführer ist«, sagte ein anderer, dessen Schultern ein wenig herabhingen. »Er hat diese armen Frauen ermuntert zu streiken.«
»Und so etwas bewundert der Kandidat für South Lambeth?« , fragte die Frau des Erzdiakons ungläubig. »Damit öffnet er doch der Unruhe in der Gesellschaft und dem völligen Chaos Tür und Tor! Das kann nur in die Katastrophe führen.«
»Soweit ich weiß, hat Mistress Serracold diese Ansicht vertreten«, berichtigte der Bischof. »Doch hätte ihr Gatte das nie zugelassen, wenn er ein Mann von Charakter wäre und Urteilskraft besäße.«
»So ist es.« Der Erzdiakon nickte nachdenklich.
Diese Worte und der Anblick der Gesichter ließen Isadora innerlich Partei für Mrs. Serracold ergreifen, obwohl auch sie ihr noch nie begegnet war. Wenn sie das Stimmrecht besäße, würde sie den Mann wählen, der da in South Lambeth kandidierte. Eine solche Entscheidung wäre keineswegs läppischer als die der meisten Männer bei ihrer Wahl, die gewöhnlich so stimmten, wie sie es bei ihren Vätern gesehen hatten.
Jetzt sprach der Bischof salbungsvoll über die Heiligkeit der Rolle der Frau als Hüterin des Hauses und Wahrerin dieses Hortes des Friedens und der Unschuld. Dorthin konnten sich die Männer nach den Kämpfen in der Welt zurückziehen, dort konnten sie die Wunden heilen, die ihre Seelen davongetragen hatten, und ihren Geist erquicken, so dass sie die Kraft hatten, sich am nächsten Morgen erneut in die Schlacht zu stürzen.
»Du beschreibst uns, als wären wir eine Mischung aus einem heißen Bad und einem Glas warmer Milch«, sagte Isadora, als ein kurzes Schweigen eintrat, weil der Erzdiakon Luft holte, um auf die Worte des Bischofs zu antworten.
Dieser sah sie an. »Glänzend formuliert, meine Liebe«, sagte er. »Reinigend und erfrischend, eine Wohltat für den inneren wie den äußeren Menschen.«
Wie konnte er sie nur so missverstehen? Er kannte sie seit über einem Vierteljahrhundert, und da glaubte er, dass sie seiner Meinung sei? War er für Sarkasmus gänzlich unempfänglich? Oder wandte er, was sie gesagt hatte, geschickt gegen sie und entwaffnete sie damit, dass er so tat, als nehme er es wörtlich?
Sie suchte über den Tisch hinweg seine Augen und hoffte fast, dass er über sie spottete. Zumindest wäre das eine Art Verständigung. Aber das war nicht der Fall. Er erwiderte ihren Blick ausdruckslos und wandte sich dann der Gattin des Erzdiakons zu, um sich ihr gegenüber in Erinnerungen an seine selige Mutter zu verbreiten, die allerdings nicht die blasse Gestalt gewesen war, als die er sie hinstellte, sondern, wie Isadora genau wusste, ein Mensch mit durchaus eigenem Charakter.
So viele Menschen, die sie kannte, sahen ihre Eltern mit anderen Augen als die übrige Welt, als reinste Klischees von Mutter und Vater, die entweder gut oder schlecht waren. War es möglich, dass auch sie ihre Eltern nicht besonders gut gekannt hatte?
Die Damen am Tisch sagten kaum etwas. Sie sahen sich außerstande, an den Gesprächen der Herren teilzunehmen, und es galt als unschicklich, eigene Unterhaltungen zu führen, während diese miteinander sprachen. Die Damen waren überzeugt, dass Frauen von Natur aus gut waren – zumindest die besseren unter ihnen; die Übelsten waren ohnehin der Quell der Verdammnis. Dazwischen gab es nicht viel. Doch ein guter Mensch zu sein war nicht dasselbe wie zu wissen, was darunter zu verstehen war. Frauen fiel die Rolle zu, Gutes zu tun, Männer hingegen die, darüber zu reden und erforderlichenfalls den Frauen zu sagen, wie sie es zu tun hatten.
Da eine Beteiligung an der Unterhaltung von ihr nicht erwartet wurde und sie höchstens das Recht hatte, gelegentlich einen interessanten oder freundlichen Einwurf zu machen, gestattete sie es ihren Gedanken, ziellos umherzuschweifen. Sonderbar, wie viele ihrer inneren Bilder mit fernen Orten zu tun hatten, vor allem mit dem Meer. Sie stellte sich die ungeheure Weite des Ozeans vor, den zu beiden Seiten nur der Horizont begrenzte, und überlegte, wie es wohl sein mochte, nichts als einige Decksplanken unter den Füßen zu haben, ständig in Bewegung zu sein, Wind und Sonne auf dem Gesicht zu spüren, zu wissen, dass man in der Enge des Schiffes alles mit sich führte, was man zum Überleben brauchte. Wie mochte es sein, wenn man seinen Kurs in der weglosen Unendlichkeit finden musste, die entsetzliche Stürme bereithielt und durchaus imstande war, das Schiff wie mit einer Riesenfaust zu zerquetschen? Bei anderen Gelegenheiten wieder konnte die See so ruhig daliegen, dass der Wind nicht ausreichte, die Segel zu füllen.
Und was mochte es unter der Oberfläche geben? Schöne Lebewesen? Schreckliche? Unvorstellbare? Oben dienten als einziger Anhalt die Sterne am Himmel oder natürlich die Sonne und ein möglichst genau gehender Chronometer, vorausgesetzt, man verstand damit umzugehen.
»… muss wirklich einmal jemand etwas darüber sagen«, betonte eine Frau in einem braunen Kleid mit tabakfarbener Spitze. »Wir verlassen uns auf Sie, Bischof.«
»Gewiss, Mistress Howarth.« Er nickte weise und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Gewiss.«
Isadora wandte den Blick ab. Sie wollte nicht in das Gespräch hineingezogen werden. Warum unterhielten sie sich nicht über den Ozean? Er war das ideale Bild für die Einsamkeit eines jeden Menschen auf der Lebensreise und zeigte, wie man alles, was man braucht, in sich selbst haben muss und die Richtung, die man einzuschlagen hat, ausschließlich in seiner Kenntnis des Himmels finden kann.
Kapitän Cornwallis hätte sie verstanden. Sie errötete, als sie merkte, wie selbstverständlich ihr sein Name in diesem Zusammenhang eingefallen war und wie angenehm sie sich dabei fühlte. Sie kam sich wie durchsichtig vor. Hatte einer der anderen ihr Gesicht gesehen? Natürlich hatten sie und Cornwallis nie über dergleichen gesprochen, jedenfalls nicht offen, aber ihr war klar, dass er ebenso empfand, und zwar deutlicher, als wenn man es mit Worten gesagt hätte. Er war imstande, mit einem oder zwei Sätzen vieles zu sagen, während all die Männer um sie herum den Abend in Worten ertränkten, mit denen sie fast nichts aussagten.
Der Bischof redete immer noch. Sie konnte seinem selbstgefälligen Gesicht ansehen, dass er den anderen nicht zuhörte. Mit einem Entsetzen, das körperlich so spürbar war, als wimmele es in ihr von Insekten, ging ihr auf, dass sie ihn verabscheute. Wie lange empfand sie schon so? Erst seit sie John Cornwallis begegnet war oder auch schon früher? Worauf hatte sich ihr ganzes Leben gestützt, dass sie es täglich in der Gegenwart – sie konnte nicht gut Gesellschaft sagen – eines Mannes zugebracht hatte, den sie nicht wirklich mochte, geschweige denn liebte? Pflichtgefühl? Innere Disziplin? Hatte sie es vergeudet?
Wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, wenn sie Cornwallis einunddreißig Jahre früher begegnet wäre?
Sie hätte ihn damals wohl nicht geliebt und er sie vielleicht auch nicht. Sie beide waren so viel anders gewesen und hatten die Lektionen der Zeit und der Einsamkeit noch nicht gelernt. Ohnehin war es sinnlos, darüber zu spekulieren. Keine Vergangenheit lässt sich je ungeschehen machen.
Doch die Zukunft konnte sie nicht auf die gleiche Weise abtun. Wenn sie nun mit dieser Farce Schluss machte und einfach davonginge? Wäre das möglich? Zu Cornwallis gehen? Natürlich hatte keiner von beiden je über eine solche Möglichkeit gesprochen – so etwas war undenkbar –, aber ihr war klar, dass er sie liebte, wie auch sie ihn liebte. Das hatte sie im Laufe der Zeit gemerkt. Er war mutig und aufrichtig und besaß eine Schlichtheit des Denkens, die ihrem seelischen Durst erquickend wie frisches Wasser erschien. Gewiss besaß er auch Humor, obwohl sich der noch nicht gezeigt hatte. Sie würde darauf warten müssen, und sie war sicher, dass er nie verletzend sein würde. Der Gedanke an Cornwallis schmerzte sie und machte diese lachhafte Abendgesellschaft, an der teilzunehmen sie sich gezwungen sah, zu einer noch größeren Qual. Ahnte einer dieser Menschen auch nur von ferne, in welche Richtung ihre Gedanken schweiften? Bei dieser Vorstellung übergoss flammende Röte ihre Gesicht.
Man sprach noch immer über Politik. Nach wie vor ging es darum, wie gefährlich extreme liberale Positionen seien, die schon jetzt die christlichen Werte unterhöhlten und eine Bedrohung für die Tugenden wie Mäßigung, regelmäßigen Kirchenbesuch, Heiligung des Feiertages, Gehorsam ganz allgemein und Achtung vor höher Gestellten bedeuteten. Sie stellten sogar die Unantastbarkeit des heimischen Herdes in Frage, deren Garant die züchtige Ehefrau war.
Worüber Cornwallis und sie sich wohl unterhalten hätten? Bestimmt nicht darüber, was andere Menschen tun, sagen oder denken sollten! Sie würden über herrliche Orte miteinander reden, über antike Städte an den Gestaden ferner Meere, die im Mittelpunkt von Abenteuern und altüberlieferten Sagen standen, Städte wie Istanbul, Athen und Alexandria. In ihrer Vorstellung war die Luft warm, und die Sonne schien grell von einem blauen Himmel herab. Das Licht war so gleißend, dass man die Augen davor schließen musste. Sie würde gar nicht hinzufahren brauchen, wäre schon zufrieden, wenn sie ihm zuhören und träumen konnte. Die bloße Gewissheit, dass er dachte wie sie, würde ihr genügen.
Was würde geschehen, wenn sie zu ihm ginge? Was würde sie verlieren, wenn sie das hier hinter sich ließe? Natürlich ihren Ruf. Man würde sich lautstark das Maul über sie zerreißen. Die Männer wären empört und hätten natürlich Angst, ihre Ehefrauen könnten auf den gleichen Einfall kommen und ihrem Beispiel folgen. Noch aufgebrachter als sie wären die Frauen, denn die würden sie gleichzeitig beneiden und verabscheuen. Nahezu alle würden vor Tugendhaftigkeit platzen, weil sie sich dem Ruf der Pflicht nicht entzogen.
Mit keinem dieser Menschen würde sie je wieder ein Wort wechseln können. Man würde sie auf der Straße schneiden, als wäre sie unsichtbar. Schon eigenartig, dass man ausgerechnet bei einer Frau, die sich so auffällig verhielt, so tat, als könne man sie nicht sehen. Dabei sollte man doch im Gegenteil annehmen, dass sie den Menschen mehr ins Auge stäche als alle anderen! Bei diesem Gedanken lächelte Isadora vor sich hin. Sie merkte, dass die Frau, die ihr gegenüber saß, sie verwirrt ansah. Die Unterhaltung war ja wohl alles andere als lustig!
Dann kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Alles war nur ein Tagtraum, eine angenehme und zugleich schmerzliche Art, einer langweiligen Abendgesellschaft zu entfliehen. Selbst wenn sie den verzweifelten Mut aufbrächte, zu Cornwallis zu gehen, würde er das Angebot, das sie ihm damit machte, nie und nimmer annehmen. Es galt als äußerst unehrenhaft, Hand an die Frau eines anderen zu legen. Würde es für ihn wenigstens eine Versuchung bedeuten? Möglicherweise nicht einmal das. Vermutlich wäre es ihm peinlich, würde er ihre Dreistigkeit und den Gedanken, dass sie annehmen könnte, er werde ein solches ruchloses Spiel mitmachen, als schmachvoll empfinden.
Würde ein solches Verhalten sie unerträglich schmerzen?
Nein. Wenn er zu den Männern gehörte, die solche Gelegenheiten nutzen, würde sie nichts mit ihm zu tun haben wollen.
Das Gespräch um sie herum ging weiter. Inzwischen ereiferte man sich über irgendeine theologische Meinungsverschiedenheit.
Wenn Cornwallis sie aber würde haben wollen, würde sie dann zu ihm gehen? Die Frage schwebte nur einen Moment unbeantwortet in ihrem Kopf. Sie fürchtete – in diesem Augenblick, da sie die unerträglichen Äußerungen von Aufgeblasenheit um den Tisch herum hörte, an dem lauter steife und unglückliche Menschen saßen – ja… ja! Bestimmt würde sie die Gelegenheit ergreifen und sich davonmachen!
Aber sie war felsenfest überzeugt, dass es dazu nicht kommen würde. Diese Gewissheit war wirklicher als das Licht der Kronleuchter oder die harte Tischkante, die sie unter ihren Händen spürte. Die Stimmen um sie herum schwollen an und nahmen ab. Niemand merkte, dass sie schon eine ganze Weile stumm geblieben war und nicht einmal von Zeit zu Zeit höflich zugestimmt hatte.
Auch wenn die Vorstellung, zu Cornwallis zu gehen, ein Tagtraum war, den sie nie und nimmer verwirklichen würde, war ihr mit einem Mal die Frage ungeheuer wichtig, ob er sie hätte haben wollen, wenn das möglich gewesen wäre, ob es auf irgendeine Art und Weise eine reale Möglichkeit gegeben hätte. Nichts anderes war auch nur annähernd so wichtig. Sie musste ihn wiedersehen, einfach mit ihm reden, und sei es über nichts Bestimmtes. Sie musste unbedingt wissen, ob ihm nach wie vor an ihr lag. Sagen würde er das nicht, das hatte er nie getan. Es war gut möglich, dass sie von ihm nie die Worte »ich liebe dich« hören würde, dass sie sich mit Stillschweigen begnügen musste, mit Betretenheit, dem Blick seiner Augen und seinem plötzlichen Erröten.
Wo konnten sie einander treffen, ohne dass man sich darüber ereiferte? Es musste ein Ort sein, den beide gewöhnlich aufsuchten, damit es zufällig aussah. Vielleicht eine Kunstausstellung oder dergleichen. Sie wusste nicht, welche Ausstellungen es gerade gab, hatte bisher noch nicht das Bedürfnis gehabt nachzusehen. In der Nationalgalerie gab es immer etwas. Sie würde ihm eine beiläufig formulierte kurze Mitteilung schicken, in der sie ihn einlud, mit ihr anzusehen, was auch immer es war. Gleich am nächsten Morgen. Sie könnte darauf hinweisen, dass es sich um eine interessante Ausstellung handelte, und fragen, ob er sie auch gern sehen würde. Sofern es sich um Seestücke handelte, war kein Vorwand nötig; wenn es etwas anderes war, spielte es nicht unbedingt eine Rolle, ob er ihr glaubte oder nicht. Entscheidend war, dass er kam. Es war zuchtlos, genau das zu tun, wogegen der Erzdiakon vom Leder gezogen hatte, aber was hatte sie zu verlieren? Was besaß sie schon außer diesem inhaltsleeren Spiel, den Worten, in denen sich niemand mitteilte, Nähe ohne Vertrautheit, Leidenschaft, Gelächter oder Zärtlichkeit?
Sie war entschlossen. Mit einem Mal empfand sie einen Hunger, den die vor ihr stehende Karamelcreme nicht zu stillen vermochte. Sie hätte die vorigen Gänge nicht vorübergehen lassen sollen. Jetzt war es zu spät.
In der Nationalgalerie wurden Hogarth-Zeichnungen gezeigt – Porträts, nicht seine politischen Karikaturen und Kommentare zu Tagesereignissen. Während ihn die Kritiker zu seinen Lebzeiten vor gut hundert Jahren als kläglichen Schmierer abgetan hatten, war sein Ansehen inzwischen beträchtlich gestiegen. Der Hinweis, dass es sich lohnen könnte festzustellen, ob die Kritiker Unrecht gehabt hatten oder nicht, würde ihr nicht schwerfallen.
Sie schrieb rasch, um nicht Opfer ihrer eigenen Befangenheit zu werden und den Mut zu verlieren.
Lieber Kapitän Cornwallis, mir ist heute Morgen aufgefallen, dass in der Nationalgalerie die Porträts von Hogarth gezeigt werden, die zu seinen Lebzeiten der Gegenstand von viel Spott waren, aber mittlerweile deutlich günstiger beurteilt werden. Es ist bemerkenswert, zwischen welchen Polen die Meinungen zu einer einzigen Begabung schwanken können. Ich würde mir die Bilder gern selbst ansehen und mir ein eigenes Urteil bilden.
Da mir nicht nur Ihr Interesse an der Kunst, sondern auch Ihre eigene Fähigkeit auf diesem Gebiet bekannt ist, nehme ich an, dass auch Sie sich gern selbst eine Ansicht über diesen Künstler bilden wollen.
Mir ist bewusst, dass Sie für derlei Dinge nur wenig Zeit haben, doch hoffe ich, dass Sie sich trotz Ihrer Pflichten etwa eine halbe Stunde freinehmen können, und so hielt ich es für angebracht, Sie von dieser Ausstellung in Kenntnis zu setzen. Ich habe mir vorgenommen, ihr mindestens eine halbe Stunde zu widmen, vielleicht gegen Ende des heutigen Nachmittags, wenn meine Anwesenheit im Hause nicht erforderlich ist. Meine Neugier ist geweckt: Ist Hogarth so schlecht, wie man ursprünglich gesagt hat, oder so gut, wie man ihn jetzt einschätzt?
Ich hoffe, ich habe Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch genommen.
Aufrichtig Ihre
Isadora Underhill
Ganz gleich, wie oft sie den Brief überarbeitete, er würde jedes Mal schwerfälliger werden, als sie es gern gehabt hätte.
Sie musste ihn aufgeben, bevor sie ihn erneut durchlas und der Mut sie verließ, ihn abzuschicken.
Rasch brachte sie ihn zum Briefkasten an der Straßenecke; jetzt konnte sie ihn nicht mehr zurückholen.
Um vier Uhr zog sie ein Sommerkostüm in Altrosa an, von dessen Ärmeln bis zu den Ellbogen weiße Spitze fiel, denn sie wusste, dass es ihr besonders gut stand. Dann setzte sie ihren Hut eine Spur kecker auf als sonst und verließ das Haus.
Als die Droschke auf den Trafalgar Square einbog, kam sie sich plötzlich lächerlich vor. Sie wollte dem Kutscher sagen, dass sie es sich anders überlegt habe, unterließ es aber. Wenn sie nicht hineinging und Cornwallis gekommen war, würde er es als bewusste Zurückweisung empfinden. Sie hätte damit einen Schritt getan, den sie nicht tun wollte und den sie nie wieder ungeschehen machen konnte. Es würde keine Möglichkeit geben, ihm das näher zu erklären. Er würde jede künftige Begegnung vermeiden, um sich nicht wieder so verletzen zu lassen.
Sie lehnte sich zurück und wartete, bis die Droschke vor den breiten Stufen anhielt, die zu den gewaltigen Säulen und dem eindrucksvollen Eingang der Galerie emporführten. Nachdem sie ausgestiegen war und den Kutscher entlohnt hatte, stand sie im Licht der Sonne, den Blick auf die eindrucksvollen Steinlöwen gerichtet, umgeben von Verkehrslärm, Tauben, Touristen und Blumenverkäuferinnen.
Die Langeweile, die sie am Vorabend empfunden hatte, musste ihr den Verstand geraubt haben! Mit ihrem Brief an Cornwallis hatte sie sich in eine Position gebracht, in der ihr keine Wahl blieb: sie musste vorwärts oder zurück. Keinesfalls konnte sie bleiben, wo sie war – einsam, unentschlossen, voller Träume, aber ängstlich. Sie kam sich vor wie ein Mensch, der am Spieltisch stand und darauf wartete, dass die Würfel, die er geworfen hatte, ausrollten und sein Schicksal besiegelten.
Nein, das war übertrieben. Sie hatte lediglich einen guten Bekannten auf eine interessante Ausstellung hingewiesen, die sie sich ansehen wollte.
Warum aber zitterten ihre Beine, als sie die Treppe emporstieg und die Steinplatten zum Eingang überquerte?
»Guten Tag«, sagte sie zum Türsteher.
»Guten Tag, meine Dame«, gab dieser höflich zurück und legte die Hand an den Mützenschirm.
»Wo geht es zur Hogarth-Ausstellung?«, erkundigte sie sich.
»Nach links, meine Dame«, erwiderte er und wies mit dem Kopf auf eine große Tafel.
Heiß stieg ihr die Schamröte ins Gesicht, und sie dankte ihm mit erstickter Stimme. Er musste sie für blind halten! Wie konnte jemand so tun, als schätze er Gemälde, wenn er nicht einmal eine meterhohe Ankündigungstafel sah?
Sie rauschte an ihm vorüber in den ersten Saal, in dem zumindestens ein Dutzend Menschen standen. Auf den ersten Blick sah sie zwei, die sie kannte. Sollte sie die Frauen ansprechen oder nicht? Wenn sie es tat, würde sie damit die Aufmerksamkeit auf sich lenken, unterließ sie es, konnten sie sich vor den Kopf gestoßen fühlen. Das würde böses Blut geben, und sie würden es mit Sicherheit weitererzählen.
Bevor sie zu einer bewussten Entscheidung kam, siegte ihre Erziehung, und sie sprach die beiden an. Im selben Augenblick fürchtete sie, sich damit um die Möglichkeit gebracht zu haben, mehr als einige flüchtige, bedeutungslose Worte mit Cornwallis zu wechseln. In Gesellschaft war es so gut wie unmöglich, dass sie oder er das sagte, was ihnen am Herzen lag.
Doch das Bedauern kam zu spät, es gab kein Zurück. Sie erkundigte sich nach dem Ergehen der beiden Bekannten, äußerte sich über das Wetter und hoffte inständig, dass sie gingen. Sie hatte nicht den geringsten Wunsch, mit ihnen über die Bilder zu reden. Schließlich nahm sie ihre Zuflucht zu einer Ausrede und behauptete, im Raum nebenan eine ältere Dame zu sehen, die sie kenne und mit der sie unbedingt sprechen müsse.
Auch dort befand sich etwa ein Dutzend Menschen – doch keine Spur von Cornwallis. Ihr Herz sank. Warum hatte sie angenommen, er werde kommen, als könne sie über ihn bestimmen und als habe er nichts anderes zu tun, als Kunstausstellungen zu besuchen, wenn ihm der Sinn danach stand? Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er sich von ihr angezogen fühlte, aber Anziehung war keine Liebe, war nicht das tiefe und bleibende Gefühl, das sie empfand.
Die beiden Damen, mit denen sie gesprochen hatte, kamen herein. Es gab keinen Ausweg. Eine weitere halbstündige Unterhaltung folgte. Sie war verzweifelt. Letztlich war es gleichgültig – das ganze Unternehmen war höchst unvernünftig gewesen. Hätte sie doch nie an ihn geschrieben! Wäre doch der Brief auf immer in der Post verloren gegangen!
Dann sah sie ihn. Er war also doch gekommen! Sie hätte ihn an seiner Körperhaltung überall erkannt. Im nächsten Augenblick würde er sich umwenden und sie sehen, und sie würde auf ihn zugehen müssen. Jetzt galt es, das heftige Schlagen ihres Herzens zu beherrschen. Sie hoffte zu Gott, dass ihr Gesichtsausdruck sie nicht verriet, und überlegte rasch, was sie sagen konnte, damit sich möglichst bald ein Gespräch entwickelte, ohne dass sie zu eifrig wirkte, denn das würde sie linkisch erscheinen lassen und ihn abstoßen.
Er drehte sich um, als habe er ihren Blick gespürt. Sie sah, wie seine Augen vor Freude aufleuchteten und er sich rasch bemühte, es zu verbergen. Um es ihm nicht unnötig schwer zu machen, vergaß sie ihr Vorhaben und trat auf ihn zu.
»Guten Tag, Kapitän Cornwallis. Ich bin entzückt, dass Sie die Zeit erübrigen konnten, sich die Ausstellung selbst anzusehen.« Sie wies auf eins der größten Gemälde. Es trug den Titel Hogarths Dienstboten und zeigte sechs Köpfe, die dem Betrachter von der Leinwand herunter über die linke Schulter sahen. »Ich denke, die Leute haben sich geirrt«, sagte sie entschlossen. »Das sind wirkliche Menschen, und sie sind glänzend gezeichnet. Sehen Sie doch nur, wie besorgt der Ärmste in der Mitte dreinschaut und wie gelassen die Frau links von ihm ist.«
»Den obersten könnte man für ein halbes Kind halten«, sagte er, doch kaum hatte er einen Blick auf das Bild geworfen, als seine Augen schon zu ihrem Gesicht wanderten und es aufmerksam betrachteten. »Ich freue mich, dass wir einander hier begegnet sind«, sagte er und zögerte dann, als wäre diese Äußerung zu beiläufig gewesen. »Es … es ist lange her … jedenfalls kommt es mir so vor. Wie geht es Ihnen?«
Unmöglich konnte sie ihm die Wahrheit anvertrauen, so sehr sie sich danach sehnte, ihm zu sagen: »Ich bin so einsam, dass ich mich in Tagträume flüchte. Ich habe gemerkt, dass mich mein Mann nicht nur langweilt, sondern ich ihn buchstäblich verabscheue.« Also sagte sie das Übliche: »Sehr gut, vielen Dank. Und Ihnen?« Sie nahm den Blick vom Bild und sah ihn an.
Seine Wangen waren kaum wahrnehmbar gerötet. »Oh, sehr gut«, antwortete er und wandte sich ab. Er tat einen oder zwei Schritte nach rechts und blieb vor dem nächsten Bild stehen. Es war ebenfalls ein Porträt, aber das eines einzelnen Menschen. »Es war wohl die Mode«, sagte er nachdenklich. »Ein Kritiker hat dem anderen nachgeplappert. Wie könnte ein unvoreingenommener Mensch das als unzulänglich ansehen? Das Gesicht lebt doch und trägt unverwechselbare Züge. Was kann man von einem Porträt mehr verlangen?«
»Ich weiß nicht«, ewiderte sie. »Vielleicht wollten die Leute, dass es etwas aussagte, was sie gern gesehen hätten. Manche Menschen sind lediglich bereit, sich anzuhören, was ihre eigene Meinung stützt.« Bei diesen Worten dachte sie an den Bischof und die endlosen Abende, an denen sie hatte mit anhören müssen, wie Männer Gedanken verwarfen, ohne sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Möglicherweise waren sie nicht gut, aber auch das Gegenteil war ohne weiteres möglich. Wer sich nicht gründlich mit ihnen auseinandersetzte, würde das nie wissen. »Es ist so viel einfacher zu tadeln als zu loben«, sagte sie.
Er sah sie rasch an. Seine Augen waren voller Fragen, aber er stellte sie nicht. Natürlich nicht. So etwas war ungehörig und aufdringlich.
Auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass das Gespräch versandete. Sie war hergekommen, um ihn zu sehen und festzustellen, ob sich seine Gefühle ihr gegenüber nicht geändert hatten. Sie konnte nahezu mit Sicherheit nichts tun, musste aber unbedingt wissen, ob er sich ebenso nach ihr sehnte wie sie sich nach ihm.
»In Gesichtern liegt so vieles, finden Sie nicht auch?«, sagte sie, als sie auf ein weiteres Porträt zugingen. »Dinge, die man nicht aussprechen kann, die aber gleichwohl da sind, wenn man nach ihnen sucht.«
»Da haben Sie Recht.« Er senkte den Blick zu Boden und hob dann die Augen wieder zu dem Bild empor. »Wenn man etwas erlebt hat, erkennt man es in anderen wieder. Ich … muss an einen früheren Bootsmann denken. Er hieß Phillips. Ich konnte den Mann nicht ausstehen.« Er sah sie nicht an. »Eines frühen Morgens hatten wir vor den Azoren entsetzliches Wetter. Sturmböen vom Westen, sechs, sieben Meter hohe Wellen. Jeder normale Mensch hätte sich davor gefürchtet, aber es war zugleich schön. Die Wellentäler waren dunkel, und das Licht des frühen Morgens brach sich auf den Kämmen. Kurz bevor sich Phillips abwandte, sah ich in seinem Gesicht, dass auch ihm diese Schönheit etwas bedeutete. Ich weiß nicht einmal mehr, was er gerade tat.« Sein Blick war in die Ferne gerichtet, galt einem Augenblick seiner Vergangenheit, in dem er etwas begriffen und den Zauber des Verstehens erlebt hatte.
Sie lächelte, nahm mit ihm daran teil, versetzte sich in die Welt, die er da heraufbeschwor. Sie stellte sich ihn gern auf dem Deck eines Schiffes vor. An einem solchen Ort schien er ihr in seinem Element zu sein, er war ihm weit angemessener als ein Schreibtisch im Polizeipräsidium. Allerdings hätte sie ihn nie kennen gelernt, wenn er noch dort wäre, und falls er je zur See zurückkehrte, würde sie unablässig das Wetter im Auge behalten, jedes Mal um ihn fürchten, wenn es stürmte, und wenn sie hörte, dass ein Schiff in Seenot sei, sich jedes Mal fragen, ob es wohl das seine war.
Er erkannte die Wärme in ihren Augen und sah sie an. »Tut mir Leid«, entschuldigte er sich rasch und wandte sich ein wenig unbeholfen ab, weil er merkte, dass er rot wurde. »Das sind so Tagträume.«
»So etwas habe ich oft«, sagte sie.
»Tatsächlich?« Überrascht wandte er sich ihr wieder zu. »Wo sind Sie dann … ich meine, wohin zieht es Sie?«
»Überallhin, wo Sie sind«, wäre die Wahrheit gewesen. »Wo ich noch nicht war«, sagte sie stattdessen. »Vielleicht ans Mittelmeer. Wie wäre es mit Alexandria oder irgendwo in Griechenland?«
»Ich glaube, dort würde es Ihnen gefallen«, sagte er leise. »Das Meer ist blau, und das Licht ist mit keinem anderen vergleichbar, hell und klar. Aber Westindien ist auch sehr schön … ich meine die Inseln. Wenn man sich nicht zu weit südlich aufhält, ist die Malariagefahr nicht besonders groß. Ich denke an Jamaika oder die Bahamas.«
»Wären Sie gern noch auf See?« Sie fürchtete die Antwort. Vielleicht zog es ihn dorthin.
Er sah sie an. Für einen Moment schien er alle Vorsicht und Diskretion zu vergessen. »Nein.« Es war nur ein einziges Wort, doch der Nachdruck in seiner Stimme erfüllte es mit allem, was sie hatte hören wollen.
Sie spürte, wie die Röte in ihr aufstieg. Vor Erleichterung wurde ihr fast schwindelig. Er war nicht anders als zuvor, hatte nichts Besonderes gesagt, lediglich eine einfache Frage über Reisen beantwortet. Es war ein einziges Wort, doch sie fühlte sich vom Sinn, der darin lag, wie von einer riesigen Welle hoch in die Luft gehoben. Sie lächelte ihm zu und zeigte flüchtig unverhüllt, was sie empfand. Dann wandte sie sich wieder dem Bild zu und machte eine belanglose Bemerkung über Farbe und Oberflächenstruktur. Sie hörte selbst nicht auf das, was sie sagte, und ihr war klar, dass auch er es nicht tat.
Sie schob die Heimkehr so lange wie möglich hinaus. Sie würde das Ende eines Traumes bedeuten, die Rückkehr in die Wirklichkeit ihres Alltags, der sie entflohen war. Sie wäre zwangsläufig mit Schuldgefühlen verbunden, weil sie nur mit dem Körper dort sein würde, wo sie sein sollte, aber nicht mit dem Herzen.
Kurz vor sieben Uhr schloss sie die Haustür auf und fühlte sich in der Trostlosigkeit des Hauses gefangen, kaum dass sie es betreten hatte. Es war einfach lachhaft. In Wahrheit war es ein sehr angenehmes Haus, behaglich eingerichtet und voller fröhlicher Farben. Die Trostlosigkeit kam aus ihrem Inneren. Sie ging zur Treppe, die nach oben führte. Gerade, als sie den Fuß auf die unterste Stufe setzte, kam der Bischof aus seinem Arbeitszimmer. Seine Haare waren ein wenig zerzaust, als wäre er mit der Hand hindurchgefahren. Sein Gesicht war bleich, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen.
»Wo warst du?«, fragte er gereizt. »Weißt du, wie spät es ist?«
»Fünf Minuten vor sieben«, gab sie mit einem Blick auf die Standuhr an der Wand gegenüber zur Antwort.
»Das war eine rhetorische Frage, Isadora«, blaffte er sie an. »Ich kann die Uhr selbst lesen. Damit hast du noch nicht gesagt, wo du warst.«
»In der Nationalgalerie. Ich habe mir die Hogarth-Ausstellung angesehen«, gab sie mit ausdrucksloser Höflichkeit zurück.
Er hob die Brauen. »So spät noch?«
»Ich habe einige Damen getroffen und mich mit ihnen unterhalten«, erklärte sie wahrheitsgemäß. Es ärgerte sie, sich ihm gegenüber gerechtfertigt zu haben. Sie wandte sich ab, um nach oben zu gehen und sich zum Abendessen umzukleiden.
»Das ist äußerst unpassend«, sagte er scharf. »Er hat Lebemänner und Halbweltdamen gemalt, Menschen, für die du dich auf keinen Fall interessieren solltest! Mitunter habe ich den Eindruck, dass du überhaupt nicht an deine Verantwortung denkst, Isadora. Es wird Zeit, dass du deine Position sehr viel ernster nimmst.«
»Es ist eine Ausstellung seiner Porträts!«, erwiderte sie bissig und wandte sich ihm wieder zu. »Daran gibt es überhaupt nichts Unpassendes. Einige zeigen Dienstboten mit ausgesprochen angenehmen Gesichtern. Sie sind ordentlich angezogen und tragen sogar Hüte!«
»Es gibt keinen Anlass, die Sache ins Lächerliche zu ziehen«, entgegnete er. »Als ob du nicht genau wüsstest, dass niemand tugendhaft ist, nur weil er einen Hut trägt.«
Verblüfft fragte sie ihn: »Und woher sollte ich das wissen?«
»Weil dir ebenso wie mir bekannt ist, was für gottlose und lästerliche Reden viele der Frauen führen, die jeden Sonntag zur Kirche gehen«, sagte er, »und die tragen auch Hüte.«
»Das ist doch absurd«, sagte sie aufgebracht. »Was fehlt dir? Geht es dir nicht gut?« In diesen Worten lag keine Besorgnis, denn er neigte zur Wehleidigkeit, und sie war nicht mehr bereit, das mitzumachen. Mit einem Mal fiel ihr auf, welche Veränderung mit ihm vorging. Der letzte Rest von Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Sehe ich etwa krank aus?«, erkundigte er sich.
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte sie ernst. »Was hast du zu Mittag gegessen?«
Seine Augen weiteten sich leicht, als sei ihm plötzlich ein angenehmer und erfreulicher Gedanke gekommen. Dann wurden seine Wangen rot vor Zorn. »Gebratene Scholle!«, knurrte er. »Ich möchte heute Abend lieber allein essen. Ich muss noch an einer Predigt arbeiten.« Ohne ein weiteres Wort und ohne sie anzusehen, wandte er sich auf dem Absatz um, kehrte in sein Arbeitszimmer zurück und schloss die Tür mit vernehmlichem Nachdruck.
Bis zum Abendessen hatte er es sich offenkundig anders überlegt. Isadora hatte keinen großen Appetit, doch da die Köchin eine Mahlzeit zubereitet hatte, wäre es ihr unfreundlich erschienen, nichts davon zu essen. Als sie sich an den Tisch gesetzt hatte, erschien mit einem Mal auch der Bischof. Sie überlegte, ob sie seinen Sinneswandel kommentieren sollte, beschloss aber, nichts zu sagen. Vielleicht würde er ihre Worte als Sarkasmus oder Kritik auslegen – oder ihr, schlimmer noch, ausführlicher, als sie wollte, mitteilen, wie es ihm ging.
Die Suppe aßen sie schweigend. Als das Mädchen den Lachs und das Gemüse hereinbrachte, ergriff er das Wort.
»Es steht nicht zum Besten. Ich nehme an, dass du nichts von Politik verstehst, aber es sieht ganz so aus, als ob neue Kräfte Macht und Einfluss über gewisse Teile der Gesellschaft gewinnen, Menschen, die sich von neuen Gedanken einfach deswegen verlocken lassen, weil sie neu sind –« Er hielt inne. Offensichtlich hatte er vergessen, was er sagen wollte.
Sie wartete, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.
»Ich mache mir Sorgen um die Zukunft«, sagte er leise und sah auf seinen Teller.
Da sie an seine hochtrabenden Äußerungen gewöhnt war, verblüffte es sie, dass sie ihm diesmal tatsächlich glaubte. Sie hörte Angst in seiner Stimme. Hier ging es nicht um frömmlerische Bedenken in Bezug auf das Schicksal der Menschheit, sondern um eine wirkliche, tief empfundene Angst von der Art, die einen Menschen nachts schweißnass und mit wild schlagendem Herzen aus dem Schlaf schreckt. Was mochte er erfahren haben, das ihn so aus seiner üblichen Selbstgefälligkeit herausgerissen hatte? Die Gewissheit, immer Recht zu haben, war ihm zur zweiten Natur geworden und schirmte ihn vor den Pfeilen des Zweifels, denen die meisten Menschen von Zeit zu Zeit erlagen.
Konnte es sich um etwas Wichtiges handeln? Sie wollte es eigentlich nicht wissen. Vermutlich ging es um irgendeine belanglose Kränkung oder Streitigkeit innerhalb der Kirchenhierarchie, möglicherweise war es auch etwas, was schwerer wog: jemand, der ihm am Herzen lag, konnte in Ungnade gefallen sein. Sie hätte ihn fragen müssen, brachte aber an diesem Abend nicht die nötige Geduld auf, sich eine weitere Variation alter Themen anzuhören, die er ihr in der einen oder anderen Gestalt während ihres ganzen Ehelebens immer wieder vorgetragen hatte.
»Mehr als dein Bestes kannst du nicht tun«, sagte sie ganz ruhig. »Ich denke, wenn du dir die Dinge eins ums andere vornimmst, wird es gehen.« Dann aß sie weiter.
Beide schwiegen eine Weile. Als sie den Blick wieder hob, erkannte sie Panik in seinen Augen. Er sah sie mit einem Ausdruck an, als reichte sein Blick weit über sie hinaus zu etwas Unerträglichem. Seine Hand mit dem Fischmesser zitterte, und auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen.
»Reginald, was ist geschehen?«, fragte sie beunruhigt. Unwillkürlich empfand sie Sorge um ihn. Sogleich ärgerte sie sich darüber. Sie wollte nichts mit seinen Empfindungen zu tun haben, konnte sich aber der Erkenntnis nicht entziehen, dass ihn etwas bis ins Innerste seines Wesens ängstigte. »Reginald?«
Er schluckte. »Du hast ganz Recht«, sagte er und beleckte sich die rissigen Lippen. »Eins ums andere.« Er sah auf seinen Teller hinab. »Es ist nichts. Ich hätte dich nicht beunruhigen sollen. Natürlich ist es nichts. Ich sehe« – bei diesen Worten zitterte er so sehr, dass es seinen ganzen Körper erschütterte – »zu weit in die Zukunft. Ich sollte mehr Vertrauen in die göttliche … in die göttliche Vorsehung …« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich esse nicht weiter. Bitte entschuldige mich.«
Sie erhob sich halb. »Reginald …«
»Lass es gut sein!«, sagte er kurz angebunden und ging.
»Aber …«
Er warf ihr einen funkelnden Blick zu. »Bausch die Sache doch nicht unnötig auf. Ich werde etwas arbeiten und lesen. Ich muss mich näher mit der Sache beschäftigen, muss mehr darüber in Erfahrung bringen.« Er schlug die Tür zu und ließ sie allein und verwirrt im Esszimmer zurück. Sie war ebenso verärgert wie er und fühlte sich immer unbehaglicher.
Das Häuschen am Rande von Dartmoor war hübsch. Genau so etwas hatte sich Charlotte erhofft. Doch fehlte ihm ohne Pitt die Seele und damit, was Charlotte betraf, das Wesentliche. Die Verschwörung von Whitechapel, mit der er sich hatte beschäftigen müssen, hatte ihr sehr zugesetzt, und sie hatte die Ungerechtigkeit, mit der man ihn behandelt hatte, stärker empfunden als er selbst. Sie sah ein, dass es sinnlos war, dagegen anzugehen, ohne dass diese Erkenntnis ihre Wut im Geringsten gelindert hätte. Bei der Zeremonie anlässlich der Erhebung Voiseys in den Adelsstand im Buckingham-Palast hatte sie den Eindruck gehabt, man würde Pitt letzten Endes doch Gerechtigkeit widerfahren lassen – immerhin war er wieder auf seinen früheren Posten in der Bow Street berufen worden. Tante Vespasia allerdings hatte einen hohen Preis dafür zahlen müssen, dass Voisey nie Gelegenheit haben würde, Präsident einer Republik Großbritannien zu werden.
Jetzt war in unerklärlicher Weise alles wieder dahin. Der Innere Kreis war keineswegs in sich zusammengebrochen, wie sie gehofft hatte. Allem zum Trotz besaß er nach wie vor die Macht, dafür zu sorgen, dass Pitt erneut aus seinem Amt entfernt und zurück in den Sicherheitsdienst geschickt wurde. Dort war er nicht nur in untergeordneter Stellung tätig, er besaß auch keine der für diese Arbeit erforderlichen Fähigkeiten und unterstand Victor Narraway, dem Begriffe wie Treuepflicht und Ehrgefühl fremd zu sein schienen. Hätte er sonst sein Wort gebrochen und Pitt daran gehindert, einen Urlaub anzutreten, den er mehr als verdient hatte?
Auch hier gab es wieder keine Möglichkeit, sich zu wehren oder auch nur zu beschweren. Pitt war auf die Arbeit im Sicherheitsdienst angewiesen, die nahezu ebenso gut bezahlt wurde wie seine Aufgabe in der Bow Street, und außer seinem Gehalt verfügten sie über keinerlei Einkommen. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging Charlotte auf, dass sie nicht nur sehr sorgfältig mit dem Geld haushalten musste, sondern dass durchaus die Möglichkeit bestand, eines Tages nichts mehr zum Haushalten zu haben.
Also schluckte sie ihre Wut hinunter und tat den Kindern und Gracie gegenüber so, als hätte sie sich nichts Besseres wünschen können als diesen Aufenthalt in der von Sonne und Wind ausgedörrten unwirtlichen Landschaft und als würden sie nur eine kurze Weile allein bleiben. Sie verschwieg ihnen die Befürchtung, dass sie in London nicht sicher waren und sich deshalb an diesem Ort aufhielten, an dem Voisey sie nicht finden würde.
»Ich hab im ganzen Leben noch nicht so viel Luft gesehen!«, sagte Gracie verblüfft, während sie einen langen, steilen Hang emporstiegen und den Blick über die Unendlichkeit der Heidelandschaft streifen ließen, die sich in den verschiedensten Tönen von Grün und Rotbraun, hie und da mit Gold gesprenkelt, bis weit in die Ferne erstreckte. Einzelne Wolken zogen am Himmel dahin. »Lebt außer uns hier keiner?«, fragte sie tief beeindruckt. »Sind wir die Einzigen?«
»Es gibt Bauern«, erwiderte Charlotte und ließ den Blick von den dunklen Schatten des Hochmoors im Norden bis zu den sanfteren und weniger trüben Hügeln und Taleinschnitten im Süden gleiten. »Die meisten Dörfer liegen im Windschatten der Hänge. Sieh nur … dahinten steigt Rauch auf!« Sie wies auf eine schlanke graue Rauchsäule, die so undeutlich war, dass man sich anstrengen musste, sie zu erkennen.
»He!«, rief Gracie mit einem Mal. »Keine Frechheiten, Euer Lordschaft!«
Edward grinste ihr breit zu und rannte, von Daniel gefolgt, über den mit Gras bedeckten Boden. Lachend wälzten sich die Jungen im grünen Farn, so dass man nur noch ein Gewirr von Armen und Beinen sah.
»Jungs!«, stieß Jemima angewidert hervor. Dann überlegte sie es sich anders und rannte ihnen nach.
Unwillkürlich musste Charlotte lächeln. Selbst ohne Pitt konnte es hier schön sein. Das Häuschen lag einen knappen Kilometer von der Dorfmitte, eine angenehme Spazierentfernung. Die Menschen wirkten freundlich und waren hilfsbereit. Im Unterschied zur Stadt waren die Straßen schmal und gewunden, und nichts hinderte den freien Blick aus den Fenstern im Obergeschoss. Die Stille der Nacht war unvertraut, und sobald man die Kerze ausblies, war man von vollständiger Finsternis umhüllt.
Aber sie waren in Sicherheit, und wenn ihr das auch nicht vorrangig erschien, so war es doch für Pitt so. Er hatte gespürt, dass unter Umständen Gefahr drohte, und diese Fahrt in die Sommerfrische war alles, was sie hatte tun können, um sie zu vermeiden.
Sie hörte ein Geräusch hinter sich. Als sie sich umwandte, sah sie einen leichten Einspänner, der den Weg emporkam. Ein Mann mit von Wind und Wetter gegerbtem Gesicht spähte mit zusammengekniffenen Augen um sich, als suche er etwas. Als er Charlotte erreicht hatte, sah er sie aufmerksam an.
»Tach«, sagte er freundlich. »Bestimmt sind Sie die Frau, die das Häuschen von Garth da hinten gemietet hat.« Die Art, wie er in die angegebene Richtung nickte, zeigte an, dass er keine Antwort erwartete.
»Ja«, gab Charlotte zurück.
»Hab ich doch gleich gewusst«, sagte er befriedigt, nahm die Zügel wieder auf und trieb das kleine Pferd erneut voran.
Charlotte sah zu Gracie hin. Diese erweckte den Anschein, als wolle sie dem Mann folgen, blieb dann aber stehen. »Vielleicht is er ja nur neugierig«, sagte sie nachdenklich. »Hier passiert bestimmt nich viel.«
»Du hast wahrscheinlich Recht«, sagte Charlotte. »Sieh trotzdem zu, dass du die Kinder nie aus den Augen verlierst, und nachts wollen wir das Haus abschließen. Sicher ist sicher.«
»Ja … natürlich«, pflichtete ihr Gracie bei. »Dann kommen auch keine wilden Tiere ins Haus … Füchse und dergleichen, oder was die hier haben.« Sie sah nachdenklich in die Ferne. »Is es nich … großartig? Ob ich vielleicht Tagebuch führen sollte? Vielleicht seh ich so was im Leben nich wieder.«
»Ein sehr guter Gedanke«, erwiderte Charlotte. »Das wollen wir alle tun. Kinder! Wo seid ihr?« Sie war sonderbar erleichtert, als sie die Stimmen aller drei hörte und sie über die Grasbüschel auf sie zugerannt kamen. Keinesfalls durfte sie ihnen die Freude mit grundlosen Befürchtungen verderben.