Kapitel 9

Ich kann es nicht glauben!«, rief Jack Radley aus. Er saß am Frühstückstisch und hielt mit bleichem Gesicht und zitternden Händen die Zeitung empor.

»Was?«, fragte Emily. Sofort nahm sie an, es habe mit dem Mord an Maude Lamont zu tun, der gerade eine Woche zurücklag. Hatte Thomas etwas gefunden, was Rose belastete? Erst jetzt ging ihr auf, wie sehr sie diese Möglichkeit gefürchtet hatte. Das Schuldbewusstsein überwältigte sie. »Was hast du da gelesen?« Ihre Stimme klang schrill vor Angst.

»Einen Leserbrief von Aubrey!«, sagte Jack und legte die Zeitung so vor sie hin, dass sie ihn sehen konnte. »Offenbar will er sich damit gegen das zur Wehr setzen, was General Kingsley über ihn geschrieben hat, aber es ist äußerst leichtfertig.«

»Meinst du mit ›leichtfertig‹, dass er unbekümmert drauflos geschrieben hat? Das sieht Aubrey gar nicht ähnlich.« Sie hörte ihn förmlich sprechen – die Wirkung dessen, was er sagte, hing nicht nur mit dem Wohlklang seiner Stimme zusammen, sondern durchaus auch mit seiner Wortwahl. »Was schreibt er?«

Jack holte tief Luft und biss sich auf die Lippe. Offenkundig wollte er nicht antworten, als würde der Text dadurch wirklicher, dass man ihn vorlas.

»Ist es so schlimm?«, fragte sie, von tiefer Sorge ergriffen. »Wird es Folgen haben?«

»Ich denke schon.«

»Nun, lies es mir vor, oder gib es mir«, sagte sie. »Du kannst doch nicht einfach sagen, dass es schlimm ist, und es mir dann vorenthalten!«

Er sah auf das Blatt und begann leise und nahezu ausdruckslos zu lesen: »Vor kurzem hat mir Generalmajor Roland Kingsley in dieser Zeitung vorgeworfen, ich sei ein Idealist mit geringem Bezug zur Wirklichkeit, ein Mann, der bereit sei, die ruhmreiche Vergangenheit unseres Volkes und damit die Männer zu missachten, die gekämpft haben und gestorben sind, um es zu schützen und anderen Ländern die Freiheit und die Wohltaten zu bringen, die mit Recht und Gesetz verbunden sind. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich es der Zeit überlassen zu zeigen, dass er sich irrt, und darauf vertraut, dass mich meine Freunde besser kennen und Fremde sich um ein abgewogenes Urteil bemühen.

Doch ich bewerbe mich bei der unmittelbar bevorstehenden Wahl um den Unterhaussitz von South Lambeth und kann mir daher den Luxus nicht leisten, Zeit verstreichen zu lassen.

In unserer Vergangenheit gibt es viele ruhmreiche Ereignisse, an denen ich weder etwas ändern könnte noch wollte. Die Zukunft aber können wir nach unseren Vorstellungen gestalten. Man mag herrliche Gedichte über militärische Katastrophen wie den Angriff der leichten Kavallerie bei Sewastopol schreiben, bei dem tapfere Männer auf Befehl unfähiger Offiziere sinnlos ihr Leben lassen mussten. Unser Mitleid sollte den Überlebenden solcher verzweifelter Unternehmungen gelten, die lebenslänglich im Lazarett vegetieren müssen oder uns blind oder verstümmelt auf der Straße begegnen. Wir wollen ihre Gräber eines Tages mit Blumen schmücken!

Doch wir sollten auch darauf achten, dass ihre Söhne und Enkel nicht auf die gleiche Weise ums Leben kommen. Das zu verhindern, haben wir nicht nur die Macht, sondern auch die Pflicht.«

»Das ist doch nicht unbedacht!«, wandte Emily ein. »Soweit ich sehen kann, hat er damit Recht. Es scheint mir eine ausgesprochen ausgewogene und durchaus ehrenwerte Einschätzung der Lage.«

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Jack finster.

»Nun, was sagt er noch?«

Er sah erneut auf das Blatt. »Wir brauchen ein Heer, das in Kriegszeiten kämpfen kann, sofern uns fremde Völker bedrohen. Wir brauchen aber keine unter der Flagge des Imperialismus segelnden Abenteurer, die der Ansicht sind, wir als Engländer hätten das Recht, jedes beliebige Land anzugreifen und zu erobern, sei es, weil wir unsere Lebensweise für überlegen halten und der festen Überzeugung sind, diese Länder würden Nutzen daraus ziehen, dass wir ihnen mit Waffengewalt unsere Ordnung und Gesetze aufpfropfen, sei es, weil sie Land, Mineralvorkommen oder andere Bodenschätze besitzen, die wir ausbeuten können.«

»O Jack!« Emily war entsetzt.

»In diesem Stil geht es weiter«, sagte er bitter. »Zwar wirft er Kingsley nicht buchstäblich vor, er wolle auf Kosten des kleinen Mannes seinen eigenen Ruhm mehren, lässt das aber deutlich genug durchblicken.«

»Warum nur?«, fragte sie mit einem flauen Gefühl in der Magengrube. »Ich dachte, er hätte … ein besseres Gespür für die Realität. Selbst wenn das alles stimmt, wird er damit nicht die Menschen als Freunde gewinnen, auf die er angewiesen ist! Wer mit ihm einer Meinung ist, steht ohnehin schon auf seiner Seite; die anderen aber werden ihn um so tiefer hassen!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. »Wie kann er nur so einfältig sein.«

»Wahrscheinlich hat ihn Kingsley aus dem Konzept gebracht«, sagte Jack. »Ich nehme an, dass Aubrey schon immer etwas gegen die Vorstellung vom Recht des Stärkeren und gegen Opportunismus hatte, und genau in diesem Licht sieht er den Imperialismus.«

»Das ist wohl ein bisschen einseitig, nicht wahr?«, sagte sie. Es war keine wirkliche Frage. Sie ließ sich in ihren Ansichten weder von Jack noch von sonst jemandem beeinflussen. Die Dinge hätten anders gelegen, wenn es um Wissen gegangen wäre, aber das hier hatte mit Empfindungen und damit zu tun, andere Menschen zu verstehen. »Ich gelange immer mehr zu der Überzeugung, dass es bei politischen Auseinandersetzungen in erster Linie darum geht, die menschliche Natur richtig zu verstehen. Deshalb sollte man klugerweise den Mund halten, wenn Worte ohnehin nichts ändern würden. Man darf sich nie zu Lügen hinreißen lassen, bei denen man ertappt werden kann, und unter keinen Umständen die Selbstbeherrschung verlieren oder etwas versprechen, wovon sich später nachweisen lässt, dass man es nicht eingehalten hat.«

Er lächelte, aber es wirkte in keiner Weise heiter. »Das hättest du Aubrey vor ein paar Tagen klarmachen sollen.«

»Du glaubst, dass sich das tatsächlich auswirken wird?« Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass es sich anders verhalten könnte. »Das ist doch die Times, nicht wahr? Ja. Wie viele der Wähler in South Lambeth lesen die deiner Ansicht nach?«

»Ich weiß nicht, aber ich gehe jede Wette ein, dass Charles Voisey sie liest«, gab er zur Antwort.

Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie die Wette annehmen und sich von ihm einen neuen Sonnenschirm kaufen lassen sollte, falls sie gewann, dann aber begriff sie, wie sinnlos das war. Natürlich würde Voisey den Artikel lesen – und er würde ihn für sich ausschlachten.

»Aubrey äußert sich über das Militär, als wären die Generäle Dummköpfe«, fuhr Jack mit einer Stimme fort, der anzuhören war, dass er nicht recht wusste, wie man der Situation beikommen konnte. »Wir hatten weiß Gott genug, bei denen das stimmte, aber einen Schlachtplan auszuarbeiten ist schwieriger, als man glaubt. Man muss mit der Gerissenheit des Feindes und mit Wetterumschlägen rechnen, unter Umständen entspricht die Ausrüstung nicht den Anforderungen, oder der Nachschub ist unterbrochen. Manchmal hat man auch einfach Pech. Napoleon hat bei seinen Offizieren weniger darauf geachtet, wie klug sie waren, als darauf, ob sie Glück hatten!«

»Und Wellington?«, hielt sie dagegen.

»Keine Ahnung«, gab er zu und stand auf. »Aber Aubrey hätte er bestimmt nicht haben wollen, denn was der tut, ist weder unanständig noch unbedingt schlechte Politik, aber gegen einen Mann wie Charles Voisey taktisch denkbar ungeschickt.«

 

Am frühen Nachmittag begleitete Emily ihren Mann nach Kennington, wo er sich Voiseys Ansprache vor einer großen Menschenmenge anhören wollte. Der Park war voller Menschen, die in der heißen Sonne spazieren gingen, Eiscreme, Pfefferminzstangen und kandierte Äpfel aßen oder Limonade tranken. Sie hörten zu, weil sie sich ein wenig Unterhaltung erhofften und sich darauf freuten, dass Zwischenrufer den Redner vielleicht aus dem Konzept bringen würden. Anfangs achtete niemand sonderlich auf das, was Voisey zu sagen hatte. Ihm zuzuhören war eine angenehme Möglichkeit, eine Nachmittagsstunde herumzubringen, und auf jeden Fall interessanter als die halbherzige Runde Cricket, die zwei Dutzend Jungen am anderen Ende des Parks spielten. Sofern der Mann ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, würde er etwas sagen müssen, was sie amüsierte, und falls ihm das nicht bereits klar war, würde er das bald merken.

Selbstverständlich besaßen nur wenige der Zuhörer das Wahlrecht, aber da es um die Zukunft aller ging, drängten sie sich um das Musikpodium, auf das Voisey betont selbstsicher gestiegen war und von wo aus er seine Rede hielt.

Emily stand in der Sonne; ein Hut beschattete ihr Gesicht. Sie sah zuerst auf die Menge, dann zu Voisey und warf schließlich einen Seitenblick auf Jack. Sie hörte dem Redner nicht wirklich zu. Sie hatte mitbekommen, dass es um Patriotismus und Nationalstolz ging und er beide Tugenden ganz allgemein pries, wobei es ihm auf feinfühlige Weise gelang, den Zuhörern den Eindruck zu vermitteln, sie hätten einen Anteil am Zustandekommen des britischen Weltreichs, das er allerdings nie mit Namen nannte. Sie sah, wie sich die Menschen ein wenig aufrichteten, unbewusst lächelten, die Schultern strafften und das Kinn leicht hoben. Er tat so, als gehörten sie dazu, als seien sie am Sieg beteiligt, Mitglieder der Elite.

Sie sah, wie Jack die Lippen zusammenkniff. Sein Gesicht war vor Widerwillen verzogen, doch zugleich lag darauf ein Ausdruck von Bewunderung, die er trotz aller Mühe nicht unterdrücken konnte.

Voisey fuhr fort. Er nannte Serracolds Namen nicht ein einziges Mal, als gäbe es einen solchen Menschen überhaupt nicht. Er stellte die Leute nicht vor die Wahl: stimmt für mich oder für den anderen Kandidaten, wählt Tory oder Liberal. Er sprach so zu ihnen, als wäre die Entscheidung bereits gefallen. Sie waren eines Sinnes, weil sie ein und demselben Volk angehörten und das gleiche Schicksal sie einte.

Natürlich ließen sich nicht alle davon einlullen. Auf manchen Gesichtern erkannte sie Widerspruch und störrisches Aufbegehren, Zorn oder Gleichgültigkeit. Aber alle brauchte Voisey auch nicht, nur genug, um zusammen mit denen, die ohnehin für die Tories stimmen würden, die Mehrheit zu gewinnen.

»Er schafft es, nicht wahr?«, fragte sie Jack leise und versuchte die Antwort aus seinem Gesichtsausdruck zu lesen. Er war empört, hilflos und enttäuscht. Zugleich war ihm schmerzlich bewusst, dass es nichts nutzen würde, wenn er sich zu Wort meldete, um Aubrey Serracold zu verteidigen, wie er das gern getan hätte. Damit hätte er zwar Freundestreue bewiesen, zugleich aber auch seinen eigenen Unterhaussitz gefährdet. Nichts mehr war so sicher, wie er noch vor einer Woche angenommen hatte.

Sie sah ihn aufmerksam an, während Voisey fortfuhr und die Menge zuhörte. Jetzt hatte er sie auf seine Seite gezogen, doch wusste Emily, wie unbeständig die Gunst der Menge ist. Wer den Menschen nach dem Mund redet, ihnen mögliche Vorteile vor Augen führt, sie zum Lachen bringt und ihnen zeigt, dass man an dieselben Dinge glaubt wie sie, hat sie auf seiner Seite. Aber der leiseste Hauch von Furcht, eine unbeabsichtigte Kränkung, selbst Langeweile genügt schon, und sie wenden sich wieder ab.

Was würde Jack tun?

Einerseits hätte sie es gern gesehen, wenn er den Beweis für seine Freundschaft geliefert und klargestellt hätte, dass dieser Mann Aubrey nicht gerecht wurde, indem er die Situation so geschickt für sich ausnutzte. Mit seinem Leserbrief hatte Aubrey Voisey geradezu in die Hand gespielt – warum musste er auch so töricht sein? Mutlosigkeit erfasste sie, als ihr die Antwort klar wurde: weil er nicht nur ein Idealist war, sondern auch naiv. Er war ein guter Mensch und meinte es ehrlich mit seinem Traum, aber noch war er kein Politiker, und die Umstände würden ihm wohl auch keine Gelegenheit geben, einer zu werden. Proben gab es auf dieser Bühne nicht, nur die Wirklichkeit der Aufführung.

Erneut sah sie zu Jack hin und erkannte, dass er nach wie vor unentschlossen war. Sie sagte nichts. Noch war sie nicht bereit für seine Antwort, ganz gleich, wie die aussah. Zwar hatte er Recht mit seiner Aussage, dass mancher Preis für die Macht zu hoch war, doch ganz ohne Macht ließ sich nur wenig erreichen, möglicherweise gar nichts. Zum Wesen des Kampfes, für welchen Grundsatz, welchen Sieg auch immer, gehörte es, dass dafür ein gewisser Aufwand getrieben werden musste. Wer sich aus der Auseinandersetzung zurückzog, weil sie ihn schmerzte, musste hinnehmen, dass der Sieg einem anderen zufiel, jemandem wie Voisey. Und was war der Preis dafür? Falls nicht gute Menschen zum Schwert griffen, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, fiel der Sieg dem anderen zu, der das tat. Es war so schwer, sich richtig zu entscheiden.

Sie trat einen Schritt näher zu Jack und hängte sich bei ihm ein. Er wandte sich ihr zu, aber sie blickte ihm nicht in die Augen.

 

An jenem Abend fand ein Empfang statt, von dem sich Emily ursprünglich ein gewisses Vergnügen erhofft hatte. Bei einer solchen Gelegenheit ging es weniger förmlich zu als bei einer Abendgesellschaft, und man hatte weit mehr Gelegenheiten, mit den verschiedensten Menschen zu sprechen, da man nicht Sklave einer Tischordnung war. Gewöhnlich gab es dabei irgendeine Art von Unterhaltung: ein kleines Orchester, zu dessen Begleitung jemand sang, ein Streichquartett oder einen herausragenden Pianisten.

Sie wusste, dass auch die Serracolds zu den Gästen gehörten. Sicherlich würden einige der anderen schon von Voiseys Rede gehört haben, so dass binnen etwa einer Stunde alle Anwesenden nicht nur wissen würden, auf welche Weise sich Aubrey törichterweise in den Zeitungen bloßgestellt hatte, sondern auch, wie glänzend Voisey das in seiner Ansprache pariert hatte. Damit drohte der Abend unangenehm zu werden, wenn nicht gar peinlich. Was auch immer Jack zu unternehmen gedachte, er würde einfach nicht genug Zeit haben, sich in Ruhe zu entscheiden.

Gern hätte sie mit Charlotte über all das gesprochen. So ungerecht das war, ärgerte sie sich über die Abwesenheit der Schwester. Schließlich kannte sie außer ihr niemanden, dem sie ihre Empfindungen, ihre Zweifel und ihre Fragen hätte anvertrauen können.

Wie immer kleidete sie sich sorgfältig an. Es war sehr wichtig, welchen Eindruck man auf andere machte, und ihr war schon lange bewusst, dass eine gut aussehende Frau bei einem Mann mehr zu erreichen vermag als eine unscheinbare. Auch war ihr klar, dass eine Frau anderen Menschen den Eindruck vermitteln konnte, weit schöner zu sein, als sie in Wirklichkeit war, wenn sie sich sorgfältig zurechtmachte, darauf achtete, dass ein Kleid ihr schmeichelte, und sie den Menschen voll Lebensbejahung entgegenlächelte. Sie entschied sich für ein eng tailliertes grünes Kleid mit weitem Rock – diese Farbe hatte ihr immer besonders gut gestanden. Selbst Jack, der sich finsteren Gedanken über Voisey hingab, riss bei ihrem Anblick die Augen auf und machte ihr Komplimente.

»Danke«, sagte sie befriedigt. Zwar hatte sie sich zum Kampf gekleidet, doch war nach wie vor er die Eroberung, auf die es ihr am meisten ankam.

Sie kamen eine Stunde nach der auf der Einladung angegebenen Zeit. Früher einzutreffen wäre in höchstem Grade unschicklich gewesen. Knapp zwei Dutzend andere Gäste waren teils unmittelbar vor ihnen, teils mit ihnen eingetroffen. Alle drängten sich im Vestibül und begrüßten einander. Die Damen entledigten sich ihrer Umhänge, die sie vorsichtshalber mitgebracht hatten. Zwar war es ein milder Abend, doch würde der Aufbruch erst nach Mitternacht erfolgen, und dann war es kühl.

Emily sah außer mehreren guten Bekannten die Ehefrauen einiger Politiker, mit denen sich gut zu stellen ratsam war. Auch war die eine oder andere da, die sie wirklich gut leiden konnte. Jack, das wusste sie, hatte an diesem Abend Pflichten, denen er sich nicht entziehen durfte – sie waren nicht ausschließlich zu ihrem Vergnügen gekommen.

Mit charmantem Lächeln hörte sie den anderen aufmerksam zu, machte wohlüberlegte Komplimente und tauschte ein wenig unverfänglichen Klatsch aus.

Erst zwei Stunden später, als die musikalische Unterhaltung bereits begonnen hatte – die Sängerin war eine der reizlosesten Frauen, die Emily je gesehen hatte, doch besaß sie die Stimme einer wahren Operndiva, die mühelos in die größten Höhen reichte –, entdeckte sie Rose Serracold. Vermutlich war Rose gerade erst eingetroffen, denn sie war so auffällig gekleidet, dass man sie unmöglich hätte übersehen können. Ihr zinnoberrotes Kleid mit schwarzen Streifen war an den Ärmeln und am Busen mit schwarzer Spitze reich besetzt, was ihre schlanke Figur mit den schmalen Hüften betonte. An Busen, Schulter und Rock trug sie je eine zinnoberrote Blume. Steif aufgerichtet saß sie am äußersten Rand einer Stuhlreihe, wo das Licht des Kandelabers auf ihrem hellen Haar schimmerte wie die Sonne auf einem Getreidefeld. Emily hielt Ausschau nach Aubrey, doch er saß weder neben noch hinter ihr.

So sehr schlug die Sängerin die Anwesenden mit ihrer Stimme in ihren Bann, dass niemand auf den Gedanken gekommen wäre, während ihres Vortrags zu sprechen. Doch gleich, als sie geendet hatte, stand Emily auf und ging zu Rose hinüber. Es hatte sich bereits eine kleine Gruppe um sie herum gebildet, und bevor die anderen ein wenig zur Seite traten, um sie in den Kreis einzulassen, hörte sie, was gesagt wurde. Obwohl kein Name gefallen war, war ihr sogleich klar, worum es ging, und ihr Herz sank.

»Ich muss zugeben, dass er sehr viel ausgefuchster ist, als ich dachte«, sagte eine Frau in einem goldfarbenen Kleid bedauernd. »Ich fürchte, wir haben ihn unterschätzt.«

»Ich glaube, Sie überschätzen seine moralischen Grundsätze«, sagte Rose scharf. »Vielleicht lag da unser Fehler.«

Emily öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber eine andere kam ihr zuvor.

»Immerhin muss er etwas Bemerkenswertes geleistet haben, sonst hätte ihn die Königin nicht in den Adelsstand erhoben. Es wäre besser gewesen, das in unsere Erwägungen einzubeziehen. Es tut mir schrecklich Leid, meine Liebe.«

Rose fühlte sich zu einer heftigen Erwiderung veranlasst, möglicherweise wegen der Herablassung, mit der die Frau das sagte. »Ich bin sogar sicher, dass er etwas Besonderes geleistet hat!«, gab sie heftig zurück. »Wahrscheinlich ging es dabei um mehrere tausend Pfund – und seine Leistung bestand darin, das zu einer Zeit einzufädeln, als es noch einen Tory-Premierminister gab, der ihn empfehlen konnte.«

Emily erstarrte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und der Raum schien um sie herum zu verschwimmen. Die Kerzen auf den Kronleuchtern vervielfachten sich vor ihren Augen, als müsse sie im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen. Es war allgemein bekannt, dass vermögende Männer teils in den persönlichen, teils sogar in den erblichen Adelsstand erhoben worden waren, weil sie einer der beiden großen politischen Parteien erhebliche Mittel hatten zukommen lassen. Obwohl jeder wusste, dass sich die eine wie die andere auf diese unschöne und skandalöse Weise finanzierte, galt es als unentschuldbar, offen darüber zu sprechen, dass jemand auf diese Art zu seinem Adelstitel gekommen war. Ganz davon abgesehen konnte es höchst gefährlich für jeden werden, der nicht bereit und in der Lage war, den Beweis für eine solche Behauptung anzutreten. Emily begriff, dass Rose wild um sich schlug, weil sie fürchtete, Aubrey werde die Wahl verlieren. Sie glaubte nicht nur leidenschaftlich an ihn, weil sie ihn liebte, und wünschte ihm den Erfolg nicht nur, weil er sein Herz daran gehängt hatte, sondern auch, weil ihr klar war, wie viel Gutes er in einer solchen Stellung bewirken konnte.

Es mochte auch sein, dass sie sich vor dem Schuldgefühl fürchtete, das sie verzehren würde, falls er verlor, denn dann würde sie auf jeden Fall einen Teil der Schuld bei sich suchen. Ganz gleich, ob die Zeitungen von ihrer Beziehung zu Maude Lamont wussten und davon Gebrauch machten oder nicht, stets würde sie sich den Vorwurf machen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse höher gestellt hatte als Aubreys Karriere.

Jetzt aber ging es in erster Linie darum, der Freundin Einhalt zu gebieten, bevor sie alles noch schlimmer machte. »Das ist eine über alle Maßen gewagte Aussage, meine Liebe«, erklärte die Frau in Gold mit gerunzelter Stirn.

Roses helle Brauen schossen empor. »Wenn wir nicht einmal im Kampf um einen Platz in der Regierung unseres Landes etwas wagen, worauf warten wir dann noch, bis wir endlich sagen, was wir denken?«

Verzweifelt überlegte Emily, was sie sagen konnte, um die Situation zu retten, doch nichts fiel ihr ein. »Rose! Was für ein herrliches Kleid!« Selbst in ihren eigenen Ohren klangen diese Worte läppisch und erzwungen. Wie hirnverbrannt musste es da erst auf die anderen wirken?

»Guten Abend, Emily«, erwiderte Rose kühl.

Emily hatte kein Wort vergessen, das bei ihrer Auseinandersetzung gesagt worden war. Alle Wärme der Freundschaft war dahin. Vielleicht hatte Rose bereits begriffen, dass Jack nichts unternehmen würde, um Aubrey zu helfen, wenn es so aussah, als würde er damit seinen eigenen Unterhaussitz gefährden. Und selbst wenn der Preis nicht ganz so hoch war, konnte es zumindest sein, dass Gladstone es sich überlegen würde, ob er Jack angesichts einer so unklugen Freundschaft wirklich eine herausgehobene Position anbieten sollte. Wäre Aubrey erst als unzuverlässig gebrandmarkt, würde jeder ihm aus dem Wege gehen, weil er so gefährlich war wie ein Geschütz, das sich an Deck eines von der See hin und her geschleuderten Schiffes aus der Verankerung gerissen hatte. Sofern Rose ihm nicht helfen konnte, bei dieser Wahl ins Unterhaus einzuziehen, musste sie zumindest dazu beitragen, seine Ehre und seinen Ruf für die nächste zu wahren, bis zu der es aller Voraussicht nach nicht mehr allzu lange dauern würde.

Emily zwang sich zu einem Lächeln, von dem sie fürchtete, dass es ebenso abscheulich aussah, wie sie sich dabei fühlte. »Wie diskret von dir, nicht ausdrücklich zu sagen, was er getan hat!« Sie hörte ihre Stimme, die sich ein wenig überschlug, aber auf jeden Fall die Aufmerksamkeit aller im Kreise auf sich zog. »Doch fürchte ich, du hast mit deinen Worten den falschen Eindruck erweckt, es handele sich um bares Geld und nicht um einen bedeutenden Dienst, der einem solchen Betrag annähernd gleichgesetzt werden könnte …«

Sie versuchte, rasch zusammenzukratzen, was sie von Charlotte oder Gracie im Zusammenhang mit dem Fall von Whitechapel und der dabei von Voisey gespielten Rolle erhascht hatte. Ausgerechnet diesmal waren sie mit Informationen besonders zurückhaltend gewesen. Der Henker mochte es holen! Sie lächelte noch ein wenig breiter und sah sich zu den anderen Damen um, die verblüfft und gespannt warteten, was sie noch sagen würde.

Rose holte tief Luft.

Emily musste rasch eingreifen, um zu verhindern, dass sie etwas sagte, was alles verdarb. »Natürlich weiß auch ich nicht alles«, fuhr sie eilends fort. »Frag mich also bitte nicht nach Einzelheiten! Auf jeden Fall ging es dabei um einen äußerst mutigen und gefährlichen Einsatz … Mehr darf ich nicht sagen, denn ich möchte niemanden ins falsche Licht setzen oder möglicherweise gar verleumden … Wie auch immer – er hat damit Ihrer Majestät und der Tory-Regierung einen bedeutenden Dienst erwiesen. Da ist es nur natürlich und gerecht, dass man ihn dafür angemessen belohnt.« Mit warnendem Unterton, von dem sie hoffte, dass ihn Rose nicht überhören würde, fügte sie hinzu: »Bestimmt wolltest du doch darauf hinaus!«

»Ein Opportunist ist er«, gab Rose spitz zurück. »Er strebt nicht etwa nach dem Amt, um an der Ausarbeitung von Gesetzen mitzuwirken, die dafür sorgen, dass den Armen, den Unwissenden und Entrechteten, denen unsere Fürsorge in erster Linie gelten muss, Gerechtigkeit widerfährt, sondern ausschließlich zur Befriedigung seines persönlichen Ehrgeizes. Ich denke, das müsste jedem hinreichend klar geworden sein, der ihm aufmerksam ein wenig zugehört hat und sich nicht von seinen Emotionen hat hinreißen lassen.« Es war eine Beschuldigung, die sie an alle Anwesenden richtete.

Panische Furcht erfasste Emily. Rose schien zur Selbstvernichtung entschlossen zu sein. Da sie Aubrey in dem Fall automatisch mitreißen würde, wäre das Ergebnis eine endlose Kette von Schuldgefühlen und Schmerz. Sah sie denn nicht, was sie da anrichtete?

»Alle Politiker haben den Hang, das zu sagen, wovon sie glauben, dass sie damit eine Wahl gewinnen können«, sagte Emily ein wenig zu laut. »Es ist eben sehr verlockend, auf die Bedürfnisse einer Menschenmenge einzugehen und Dinge zu sagen, die den Leuten gefallen.«

Roses Augen glänzten böse. Offenbar war sie überzeugt, Emily greife sie in voller Absicht an und verrate damit ihre Freundschaft ein weiteres Mal. »Nicht nur Politiker sind der Versuchung erlegen, sich wie eine Schmierenkomödiantin in Szene zu setzen und dem Affen Zucker zu geben!«, gab sie zurück.

Emily verlor die Beherrschung. »Ach ja? Sagst du mir auch, worauf du mit deinem Vergleich hinaus willst? Vermutlich weißt du mehr über Schmierenkomödiantinnen als ich.«

Eine der Damen kicherte nervös, dann eine weitere. Andere sahen ausgesprochen unbehaglich drein. An diesem Punkt des Streits wollten sie lieber nicht länger zusehen und suchten einen Vorwand, sich zu einer anderen Gruppe zu gesellen. Unverständliche Entschuldigungen murmelnd, ging eine nach der anderen davon.

Emily fasste Rose am Arm, wobei sie spürte, wie sich diese ihr widersetzte. »Was zum Teufel ist nur in dich gefahren«, zischte sie. »Bist du verrückt geworden?«

Der letzte Rest von Farbe wich aus Roses Gesicht, als wäre alles Blut daraus verschwunden.

Emily ließ Roses Arm nicht los, damit sie nicht zu Boden sank. »Komm, setz dich«, gebot sie rasch. »Hier, bevor du ohnmächtig wirst.« Sie zog sie die wenigen Schritte bis zum nächsten Stuhl und drückte sie trotz ihres Widerstandes nieder, bis ihr Kopf fast auf den Knien lag. Dabei stellte sie sich so vor sie, dass ihr Körper sie vor neugierigen Blicken abschirmte. Gern hätte sie ihr etwas zu trinken geholt, wagte aber nicht, sie zu verlassen.

Rose blieb regungslos sitzen.

Emily wartete.

Niemand trat zu ihnen.

»Du kannst nicht den ganzen Abend so sitzen bleiben«, sagte Emily schließlich sehr freundlich. »Ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, was dir fehlt. Die Situation lässt sich nicht mit Zornesausbrüchen, sondern ausschließlich mit Vernunft bewältigen. Warum verhält sich Aubrey so unklug? Hat es mit dir zu tun?«

Rose fuhr wütend hoch. Auf ihren Wangen zeichneten sich zwei leuchtend rote Flecken ab. Ihre Augen glänzten wie blaues Glas. »Aubrey ist kein Dummkopf«, sagte sie ganz ruhig, aber mit einem Nachdruck, der Emily verblüffte.

»Das weiß ich selbst«, sagte sie etwas besänftigter. »Aber er führt sich wie einer auf, und du erst recht. Habt ihr eine Vorstellung davon, wie abstoßend es wirkt, Voisey auf diese Weise anzugreifen? Nicht einmal dann, wenn alles der Wahrheit entspräche, was ihr gegen ihn vorbringt, und du imstande wärest, es zu beweisen, was du aber nicht kannst, würde euch das auch nur eine Stimme mehr einbringen. Die Menschen schätzen es nicht, wenn man ihre Helden vom Sockel stürzt oder ihre Träume zerstört. Zwar hassen sie jeden, der sie täuscht, aber ebenso sehr hassen sie diejenigen, die ihnen zeigen, dass man sie getäuscht hat. Wenn sie jemanden für einen Helden halten wollen, werden sie das tun – und dann wirkt alles, was du sagst, verzweifelt und tückisch. Dabei ist es völlig unerheblich, ob du Recht hast oder nicht.«

»Das ist ungeheuerlich!«, begehrte Rose auf.

»Natürlich ist es das«, stimmte ihr Emily zu. »Aber es ist ausgesprochen unvernünftig, das Spiel nach den Regeln zu spielen, die du gern hättest. In einem solchen Fall wirst du automatisch jedes Mal verlieren. Du musst nach den allgemein üblichen Regeln spielen … oder von mir aus gern nach besseren, aber nie nach schlechteren.«

Rose sagte nichts darauf.

Emily stellte ihr noch einmal die entscheidende Frage, weil sie nach wie vor annahm, dass sich alles um sie drehte – die Frage, die ihrer festen Überzeugung nach im Mittelpunkt der ganzen verfahrenen Geschichte stand. »Was wolltest du bei dieser Spiritistin? Sag mir bloß nicht, du wolltest nur Verbindung mit deiner Mutter aufnehmen, um dich mit ihr zu unterhalten. Zu einer so kritischen Zeit würdest du das nie tun und Aubrey auch nicht darüber täuschen. Man sieht förmlich, dass du unter deinen Schuldgefühlen fast zusammenbrichst, und trotzdem machst du weiter. Warum nur, Rose? Was willst du aus der Vergangenheit erfahren, wofür du einen so hohen Preis zu zahlen bereit bist?«

»Das hat mit dir nichts zu tun!«, sagte Rose kläglich.

»Aber selbstverständlich hat es das«, widersprach ihr Emily. »Es wird sich auf Aubrey auswirken, ach was, das hat es bereits getan. Damit aber wirkt es sich auch auf Jack aus, falls Ihr erwartet, dass er versucht, ihn bei der Wahl zu unterstützen und ihm zur Hand zu gehen. Es würde ziemlich demonstrativ aussehen, wenn er sich jetzt zurückzöge, findest du nicht auch?«

Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte Rose etwas dagegen sagen. Ihre Augen blitzten empört, doch sie schwieg, als kämen ihr die Worte im selben Augenblick sinnlos vor, in dem sie darüber nachdachte.

Emily zog einen zweiten Stuhl herbei und setzte sich ihr gegenüber. Nachdem sie ihre Röcke geordnet hatte, beugte sie sich ein wenig vor. »Hat dich das Medium erpresst, weil du die Séancen besucht hast?« Sie sah, wie Rose zusammenzuckte. »Oder wegen etwas, was du von deiner Mutter erfahren hast?«, setzte sie nach.

»Nein!« Zwar war das keine Lüge, aber Emily merkte, dass es auch nicht die ganze Wahrheit war.

»Rose, lauf doch nicht vor allem davon!«, bat sie. »Die Frau ist ermordet worden. Irgendjemand hat sie so sehr gehasst, dass er sie umgebracht hat. Das war mit Sicherheit kein Verrückter, der zufällig von der Straße hereingekommen ist, sondern jemand, der an jenem Abend bei der Sitzung anwesend war. Das ist dir wohl auch selbst klar!« Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Warst du es? Hat sie dir mit etwas so Entsetzlichem gedroht, dass du dageblieben bist, nachdem die anderen gegangen waren, und ihr das Zeug in den Rachen gestopft hast? Wolltest du Aubrey damit schützen?«

Rose wirkte aschfahl, ihre Augen waren nahezu schwarz. »Nein!«

»Warum dann? Irgendetwas in deiner Familie?«

»Ich hab sie nicht umgebracht! Gott im Himmel, ich schwöre dir, dass es mir lieb wäre, wenn sie noch lebte!«

»Warum? Was hat sie für dich getan, was dir so wichtig ist?« Sie glaubte Rose kein Wort, wollte sie dahin treiben, dass sie endlich die Wahrheit sagte. »Hat sie dir Geheimnisse über die anderen verraten? Ging es um Macht?«

Rose war entsetzt. Auf ihrem gequälten Gesicht lagen Wut und Scham. »Emily, wie kannst du so etwas von mir denken? Du bist abscheulich!«

»Tatsächlich?«, fragte sie herausfordernd, immer noch auf der Suche nach der Wahrheit.

»Ich habe nichts getan, was jemandem geschadet hat …« Sie senkte die Augen. »Außer Aubrey.«

»Und hast du den Mut, dich dem zu stellen?« Emily war nicht bereit aufzugeben. Als sie sah, dass Rose zitterte und kurz vor dem Zusammenbruch stand, nahm sie ihre Hände, nach wie vor darauf bedacht, sie vor den Blicken der anderen Gäste zu schützen, die eifrig miteinander redeten, klatschten, flirteten, Bündnisse schlossen und brachen. »Was wolltest du so dringend wissen?«

»Ob mein Vater möglicherweise nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, als er starb«, flüsterte Rose. »Mitunter tue ich unbedachte Dinge, und gerade vorhin hast du mich noch gefragt, ob ich verrückt geworden wäre. Bin ich das? Werde ich eines Tages den Verstand verlieren und völlig allein in irgendeinem Irrenhaus sterben?« Ihre Stimme brach. »Wird sich Aubrey den Rest seines Lebens darüber Sorgen machen müssen, was ich tun werde? Werde ich ihm zur Last, jemand, den er fortwährend im Auge behalten, für den er sich überall entschuldigen und von dem er immer wieder fürchten muss, dass er etwas Entsetzliches sagt oder tut?« Sie schluckte. »Er würde mich nicht einsperren lassen, so ist er nicht. Er gehört nicht zu den Menschen, die sich dadurch selbst retten, dass sie anderen wehtun. Er würde warten, bis ich ihn vollständig zugrunde gerichtet hätte, und diese Vorstellung ist mir unerträglich!«

Emily war so von Mitgefühl durchdrungen, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie hatte das Bedürfnis, Rose fest in die Arme zu schließen und ihr auf diese Weise Wärme und Trost zu spenden – das aber war nicht möglich. In diesem Raum voller Menschen würde sie damit das Aufsehen aller auf sich lenken, und alle würden sie begaffen. Da sie der Freundin nichts als Worte anbieten konnte, mussten es unbedingt die richtigen sein.

»Du handelst aus Furcht so unbedacht, nicht aus erblichem Wahnsinn. Was du getan hast, ist nicht törichter, als was wir alle gelegentlich tun. Wenn du in Erfahrung bringen möchtest, woran dein Vater gestorben ist, muss es doch Möglichkeiten geben, den Arzt zu fragen, der bei ihm war.«

»Dann wüssten es aber auch alle anderen!«, sagte Rose voll Panik. Sie umklammerte Emilys Hände. »Dieser Gedanke wäre mir unerträglich!«

»Sie brauchen es nicht zu erfahren -«

»Aber Aubrey …«

»Ich komme mit«, versprach Emily. »Wir sagen einfach, dass wir einen Ausflug machen, und dann suchen wir den Arzt auf, der deinen Vater behandelt hat. Er wird dir nicht nur sagen, ob er geistesgestört war oder nicht, sondern kann dir für den Fall, dass es tatsächlich so gewesen sein sollte, auch sagen, ob die Sache erblich ist oder nicht. Es gibt nicht nur eine Art des Irreseins, sondern viele verschiedene.«

»Und wenn die Zeitungen dahinterkommen? Glaub mir, Emily, was sie dann schreiben würden, wäre nichts verglichen mit dem, was darin stehen würde, wenn sie wüssten, dass ich an einer Séance teilgenommen habe.«

»Dann warte einfach bis nach der Wahl.«

»Ich muss es unbedingt vorher wissen! Falls Aubrey ins Unterhaus kommt und man ihm ein Regierungsamt anbietet, zum Beispiel im Außenministerium … werde ich…« Sie brachte es nicht fertig, die schrecklichen Worte zu sagen, und verstummte.

»Dann wird es entsetzlich«, beendete Emily Roses Gedanken. »Falls es sich aber nicht so verhält, sondern die Angst dich verrückt macht, hast du all eure Aussichten für nichts und wieder nichts geopfert, und das Nichtwissen ändert an der Sache auch nichts.«

»Würdest du tatsächlich mitkommen?«, fragte Rose. Dann änderte sich ihr Gesicht, die Hoffnung schwand daraus, und es nahm wieder den trübseligen und gequälten Ausdruck an. »Vermutlich gehst du dann hin und erzählst alles deinem Schwager bei der Polizei!« Es war eine verzweifelte Anklage.

»Nein«, gab Emily zurück. »Ich will gar nicht wissen, welche Antwort dir der Arzt gibt, und an welcher Krankheit dein Vater gestorben ist, geht die Polizei nicht das Geringste an – es sei denn, sie hat dich dazu gebracht, Maude Lamont zu töten, weil sie davon wusste.«

»Ich war es nicht! Ich … ich hatte überhaupt keine Gelegenheit, den Geist meiner Mutter zu fragen.«

Überwältigt von Elend, Angst und dem Gefühl der Peinlichkeit vergrub sie den Kopf erneut in den Händen.

Die herrliche Stimme der Sängerin ertönte wieder aus dem Nebenraum. Emily merkte, dass sie allein waren. Nur am anderen Ende des Raumes nahe der Tür zum Vestibül führten etwa ein Dutzend Männer eine ernste Unterhaltung. »Komm«, sagte sie entschlossen. »Wasch dir das Gesicht mit kaltem Wasser, trink im Esszimmer eine Tasse heißen Tee, und dann gehen wir wieder zu den anderen. Wir könnten ihnen erklären, dass wir ein Gartenfest oder dergleichen planen … um Geld für einen wohltätigen Zweck zu sammeln. Wir sollten aber unbedingt dieselbe Geschichte erzählen. Komm jetzt!«

Schwerfällig erhob sich Rose, straffte die Schultern und folgte Emily.