Kapitel 5
Die Zeitungen hielten den Mord an Maude Lamont für so bedeutend, dass sie ihn am folgenden Tag zusammen mit Meldungen über die bevorstehende Wahl und Ereignisse im Ausland auf der ersten Seite brachten. Niemand äußerte den geringsten Zweifel daran, dass es kein Unfall oder natürlicher Todesfall war, sondern sich um ein Verbrechen handelte. Die Anwesenheit der Polizei legte diese Annahme nahe, doch wurden keine Einzelheiten berichtet. Es hieß lediglich, das Hausmädchen, Miss Lena Forrest, habe sie gerufen. Das Mädchen hatte der Presse gegenüber nichts sagen wollen, und Inspektor Tellman hatte lediglich erklärt, man gehe dem Fall nach.
Pitt stand am Küchentisch und goss sich eine zweite Tasse ein. Tellman, der ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat, lehnte den ihm angebotenen Tee ab.
»Wir haben mit einem halben Dutzend ihrer anderen Besucher gesprochen«, sagte er mit finsterer Miene. »Sie alle halten große Stücke auf sie und behaupten, dass sie das begabteste Medium war, das sie je erlebt haben – was auch immer das bedeuten mag.« Er stieß diese Worte wie eine Herausforderung hervor, als erwarte er von Pitt, dass er es ihm erklärte. Er war über die ganze Angelegenheit zutiefst unglücklich, doch hatte sich seine Einstellung dem Thema gegenüber nach ihrer vorigen Begegnung unübersehbar geändert. Vermutlich hatte es mit etwas zu tun, was er seither erfahren hatte.
»Was hat sie diesen Leuten gesagt, und auf welche Weise?«, wollte Pitt wissen.
Tellman sah ihn finster an. »Geister sollen aus ihrem Mund gekommen sein«, sagte er und wartete auf den Spott, der seiner Meinung nach nicht ausbleiben konnte. »Irgendwie verschwommen… aber die Leute waren ganz sicher, dass es sich dabei um das Gesicht von Menschen handelte, die sie kannten.«
»Und wo befand sich Maude Lamont dabei?«, fragte Pitt weiter.
»Auf ihrem Stuhl am Kopfende des Tisches oder in einer Art Schrank, den man speziell gebaut hatte, damit ihre Hände nicht hinauskonnten. Sie hatte das selbst angeregt, damit ihr die Leute nicht misstrauten.«
»Was hat sie dafür verlangt?« Er trank seinen Tee.
»Jemand sagte zwei Guineen, jemand anders fünf«, gab Tellman zur Antwort und biss sich auf die Lippe. »Aber solange es zur Unterhaltung diente und niemand Klage gegen sie erhob, hätten wir nichts unternehmen können. Einen Geisterbeschwörer, für den die Leute freiwillig zahlen, kann man nicht gut festnehmen. Vermutlich ist das ein gewisser Trost … oder?«
»Das gehört wahrscheinlich in dieselbe Schublade wie Wundermittel, die man auf dem Jahrmarkt kauft«, sagte Pitt nachdenklich. »Wer daran glaubt, dass ihn die von seinen Kopfschmerzen befreien und er in Zukunft besser schläft, dem helfen sie vielleicht auch. Und warum sollte man Leuten verbieten, so etwas auszuprobieren?«
»Weil es Unsinn ist!«, gab Tellman heftig zurück. »Die Frau verdiente ihren Lebensunterhalt dank der Leichtgläubigkeit von Menschen, die es nicht besser wissen, und sagte ihnen, was sie hören wollten. Das könnte doch jeder.«
»Wirklich?«, fragte Pitt rasch. »Lassen Sie Ihre Männer die Leute noch einmal gründlich befragen. Wir müssen unbedingt herausfinden, ob sie Dinge wusste, die nicht allgemein bekannt waren und bei denen man nicht sagen kann, wie sie davon erfahren haben könnte.«
Ungläubig und beunruhigt riss Tellman die Augen auf.
»Falls sie einen Informanten hatte, möchte ich wissen, wer das ist!«, sagte Pitt kurz angebunden. »Und damit meine ich einen Menschen aus Fleisch und Blut.«
Erleichterung trat auf Tellmans Züge, dann wurde er puterrot.
Pitt lächelte breit. Es war das erste Mal, dass er etwas lustig fand, seit ihm Cornwallis mitgeteilt hatte, er sei erneut zum Sicherheitsdienst abgeordnet. »Vermutlich haben Sie bereits herumgefragt, ob man an jenem oder einem anderen Abend in der Nähe von Cosmo Place jemanden gesehen hat«, fuhr er fort, »der unser unbekannter Besucher sein könnte.«
»Selbstverständlich! Dafür habe ich schließlich meine Leute«, gab Tellman bissig zurück. »So schnell können Sie das doch nicht vergessen haben! Ich begleite Sie zu diesem Generalmajor Kingsley. Zwar bin ich sicher, dass Sie ihn richtig einschätzen werden, aber ich möchte mir ein eigenes Urteil bilden.« Sein Mund wurde schmal. »Außerdem ist er einer von lediglich zwei Zeugen für das, was bei dieser … Séance passiert ist.« An der Art, wie er das Wort förmlich ausspie, war seine ganze Wut und Enttäuschung darüber zu erkennen, dass er sich mit Menschen herumschlagen musste, die sich freiwillig zum Narren machten und ihn die Folgen ausbaden ließen. Er war weder bereit, Verständnis für sie aufzubringen, noch gar Mitleid für sie zu empfinden. Von seinem Gesicht ließ sich deutlich ablesen, wie sehr er sich bemühte, die Sache nicht an sich herankommen zu lassen, doch war zugleich unübersehbar, dass er diesen Kampf bereits verloren hatte.
Pitt suchte auf dem Gesicht seines Gegenübers nach Hinweisen auf Angst oder Aberglauben, fand aber nicht die geringste Spur davon. Er stellte seine leere Tasse ab.
»Was ist?«, fragte Tellman.
Pitt lächelte, nicht belustigt, sondern freundschaftlich, was ihn selbst überraschte. »Nichts«, sagte er. »Wir wollen uns jetzt diesen Kingsley vornehmen, um zu erfahren, was er bei Miss Lamont wollte und was sie für ihn tun konnte – vor allem an dem Abend, den sie nicht überlebt hat.« Er wandte sich um und ging zur Haustür. Nachdem Tellman hinausgegangen war, schloss er sie ab.
»Guten Morgen, Sir«, sagte der Postbote munter. »Wieder mal ’n herrlicher Tag.«
»Ja«, stimmte Pitt zu, obwohl er den Mann nicht kannte. »Guten Morgen. Sind Sie neu in diesem Bezirk?«
»Ja, Sir. Seit zwei Wochen«, sagte der Mann. »So allmählich lernt man die Leute kennen. Vor ein paar Tagen hab ich mit Ihrer Frau gesprochen. Eine sehr angenehme Dame.« Dann stutzte er und fuhr fort: »Seitdem hab ich sie gar nich mehr gesehen. Sie is doch hoffentlich nicht krank? Um diese Jahreszeit wird man ’ne Erkältung nur schlecht los. Dabei is es so schön warm.«
Gerade als Pitt sagen wollte, dass sie Urlaub mache, durchfuhr ihn eiskalt der Gedanke, der Mann könne im Dienst anderer stehen und weiterberichten, was er erfuhr.
»Nein«, sagte er forsch. »Vielen Dank, es geht ihr gut. Guten Tag.«
»Guten Tag, Sir.« Leise pfeifend ging der Postbote weiter.
»Ich rufe eine Droschke«, erbot sich Tellman.
»Wir können ohne weiteres zu Fuß gehen«, entgegnete Pitt und dachte nicht weiter an den Postboten. Mit langen Schritten eilte er dem Russell Square entgegen. »Es ist doch kaum einen Kilometer bis zur Harrison Street, gleich hinter dem Findlingsspital.«
Knurrend machte Tellman einige rasche Schritte, um Pitt einzuholen, der vor sich hinlächelte. Pitt war klar, dass sich Tellman fragte, wieso er ohne Unterstützung der Polizei wusste, wo Kingsley lebte. Bestimmt überlegte er, ob sich der Sicherheitsdienst bereits aus anderen Gründen für den Mann interessierte.
Schweigend gingen sie um den Russell Square herum, überquerten den verkehrsreichen Woburn Place und setzten ihren Weg durch die Berner Street zum Brunswick Square fort, an dem das riesige altmodische Gebäude des Findlingsspitals aufragte. Sie wandten sich nach rechts, sorgten aber dafür, dass ihr Weg nicht über den Kinderfriedhof führte. Wie immer, wenn er dort war, wurde Pitt von Trauer erfasst, und ein verstohlener Blick zeigte ihm, dass Tellmans Lippen leicht zitterten und er die Augen gesenkt hielt. Mit einem Mal ging ihm auf, dass er in all den Jahren der gemeinsamen Arbeit kaum etwas über die Vergangenheit dieses Mannes erfahren hatte. Lediglich Tellmans flammenden Zorn über die so oft unverhüllt zu Tage tretende Armut kannte er, und der war ihm inzwischen so vertraut, dass er sich nicht einmal mehr fragte, was für qualvolle Erfahrungen dahinter stehen mochten. Wahrscheinlich wusste Gracie mehr über den Mann mit der undurchdringlichen Miene als Pitt selbst. Allerdings stammte sie auch aus den gleichen schmalen Gässchen und kannte den Überlebenskampf von klein auf. Ihr brauchte man nichts zu sagen, und sie verstand ihn, auch wenn sie möglicherweise eine andere Sicht der Dinge hatte.
Pitt war als Sohn des Wildhüters auf dem Landgut Sir Arthur Desmonds aufgewachsen, auf dem auch seine Mutter in Dienst stand. Seinen Vater hatte man wegen Wilderei angeklagt und zur Deportation verurteilt – zu Unrecht, davon war Pitt überzeugt. Obwohl der Makel dieser Verurteilung seither auch dem Sohn anhaftete, hatte er nie länger als einen Tag auf sein Essen verzichten müssen und nie in der Gefahr gelebt, überfallen zu werden, höchstens von Gleichaltrigen. Das Schlimmste, was er erlitten hatte, waren einige Schrammen, und gelegentlich hatte ihm der Obergärtner den Hintern versohlt, was er auch reichlich verdient hatte.
Schweigend gingen sie an dem Kinderfriedhof vorüber. Es gab zu viel zu sagen, und so schwiegen sie.
»Er hat Telefon«, erklärte Pitt schließlich, als sie in die Harrison Street einbogen.
»Wie bitte?« Offenbar hatte er Tellman mit dieser Äußerung aus seinen Gedanken gerissen.
»Kingsley hat Telefon«, wiederholte Pitt.
»Haben Sie ihn angerufen?«, fragte Tellman. Er schien verblüfft.
»Nein, aber seine Nummer nachgesehen«, erwiderte Pitt.
Tellman errötete bis an die Haarwurzeln. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, dass eine Privatperson ein Telefon besitzen könnte, obwohl er wusste, dass es im Hause Pitt eines gab. Vielleicht würde er sich das eines Tages auch leisten können, aber noch war es nicht so weit. Erst kürzlich war er befördert worden, und die neue Stellung war ihm unbehaglich wie ein neuer Kragen. Sie passte noch nicht zu ihm – schon gar nicht jetzt, da Pitt ihm Tag für Tag auf den Fersen saß und ihm seinen ersten Fall praktisch aus der Hand nahm.
Sie gingen bis zum Hause Kingsleys nebeneinander. Dort wurden sie eingelassen und durch ein ziemlich dunkles, mit Eiche getäfeltes Vestibül geführt, in dem an drei Wänden Schlachtengemälde hingen. Sie hatten keine Zeit, auf den Messingschildern darunter nachzusehen, um welche Schlachten es sich handelte. Auf den ersten Blick sah es aus, als gehe es bei allen um die napoleonischen Kriege. Eins schien eine Begräbnisszene zu zeigen. Die Verteilung von Licht und Schatten auf ihm war besser als auf den anderen, auch hatte es eine gewisse tragische Wirkung durch die dicht aneinander gedrängten Leiber. Vielleicht zeigte es den Tod Sir John Moores in der Schlacht von La Coruña.
Das in Grün und Braun eingerichtete Empfangszimmer machte mit seiner ledernen Sitzgarnitur und Bücherschränken, in denen schwere einheitlich gebundene Bände standen, einen ausgesprochen männlichen Eindruck. An einer Wand hingen Assagaie und andere Speere, afrikanische Waffen, die deutliche Gebrauchsspuren aufwiesen. Auf dem Tisch in der Mitte stand eine exquisite stilisierte Bronzestatue eines Husaren zu Pferde. Das Tier war glänzend getroffen.
Als der Butler den Raum verlassen hatte, sah sich Tellman aufmerksam um, fühlte sich aber unbehaglich. Es war offenkundig, dass hier ein Mann der höheren Gesellschaftsschicht und ein Angehöriger einer Berufsgruppe lebte, den Tellman erziehungsbedingt verachtete. Zwar hatte er einmal nicht umhin gekonnt, einen Offizier im Ruhestand als menschlich, verletzlich und geradezu bewunderungswürdig anzusehen, doch hielt er diesen nach wie vor für eine Ausnahme. Der Mann, der hier wohnte und dessen Leben sich in diesen Bildern und Einrichtungsgegenständen spiegelte, musste von exzentrischem, ja, geradezu widersprüchlichem Wesen sein. Wie konnte jemand, der das Verabscheuungswürdigste getan hatte, was sich vorstellen ließ, nämlich Männer in den Krieg zu führen, seine Beziehung zur Wirklichkeit so weit verlieren, dass er sich bei einer Frau Rat holte, die behauptete, mit Geistern zu sprechen?
Die Tür öffnete sich, und ein hoch gewachsener, ziemlich hagerer Mann trat ein. Sein Gesicht wirkte aschgrau, als wäre er krank. Sein Haarschnitt war militärisch kurz und sein Schnurrbart kaum mehr als ein dunkler Fleck auf der Oberlippe. Er hielt sich aufrecht, doch keinesfall aus Vitalität, sondern weil er es ein Leben lang so gewohnt war.
»Guten Morgen, meine Herren. Mein Butler sagt mir, dass Sie von der Polizei sind. Was kann ich für Sie tun?« In seiner Stimme lag keine Überraschung. Vielleicht hatte er in den Zeitungen von Maude Lamonts Tod gelesen.
Pitt war bereits entschlossen, seine Tätigkeit für den Sicherheitsdienst nicht anzusprechen. Mochte Kingsley ruhig annehmen, er und Tellman bearbeiteten den Fall gemeinsam.
»Guten Morgen, General Kingsley«, sagte er. »Ich bin Oberinspektor Pitt, und das ist mein Kollege Inspektor Tellman. Es tut mir Leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Miss Maude Lamont vor zwei Tagen ums Leben gekommen ist. Man hat sie gestern Morgen tot in ihrem Haus aufgefunden. Wegen der Umstände ihres Ablebens sind wir gezwungen, der Sache sehr gründlich nachzugehen. Ich nehme an, dass Sie bei ihrer letzten Séance anwesend waren?«
Tellman erstarrte. Wie unverblümt Pitt sprach!
Kingsley holte tief Luft und schien sichtlich erschüttert. Er forderte die Besucher zum Sitzen auf und ließ sich dann selbst in einen der großen Ledersessel sinken. Eine Erfrischung bot er ihnen nicht an.
»Würden Sie uns sagen, was nach dem Zeitpunkt Ihres Eintreffens im Haus in der Southampton Row geschehen ist?«, begann Pitt.
Kingsley räusperte sich. Die Antwort schien ihn Mühe zu kosten. Pitt kam es sonderbar vor, dass einen Offizier, der doch gewiss an Tod und Gewalteinwirkung gewöhnt war, ein Mord so durcheinander bringen konnte. Was war Krieg anderes als Mord im großen Maßstab? Zogen nicht die Männer mit der festen Absicht in den Kampf, möglichst viele Feinde zu töten? Es konnte kaum damit zu tun haben, dass es sich diesmal um eine Frau handelte, denn Frauen waren nur allzu häufig Opfer der mit dem Krieg verbundenen Gewalttätigkeit, von Plünderung und Zerstörung.
»Ich bin kurz nach halb zehn dort angekommen«, begann Kingsley. »Wir wollten um Viertel vor zehn beginnen.«
»War die Séance von längerer Hand vorbereitet?«, unterbrach ihn Pitt.
»Wir hatten die Verabredung in der Vorwoche getroffen«, gab Kingsley zur Antwort. »Es war mein vierter Besuch.«
»Waren jedes Mal dieselben Personen anwesend?«, fragte Pitt rasch.
Kingsley zögerte nur kurz. »Nein. Es war erst das dritte Mal mit genau denselben.«
»Wer waren die anderen?«
Diesmal kam die Antwort ohne das geringste Zögern. »Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie waren doch gemeinsam dort?«
»Wir waren gleichzeitig dort«, verbesserte ihn Kingsley. »Wir gehörten in keiner Hinsicht zusammen, außer dass … dass es hilfreich ist, die seelischen Kräfte mehrerer Personen zur Verfügung zu haben.« Er erläuterte nicht, wie das zu verstehen war.
»Können Sie die anderen beschreiben?«
»Sie wissen, dass ich dort war, kennen meinen Namen und meine Anschrift – da müssten Sie doch über die anderen dasselbe wissen?«
Aus dem Augenwinkel sah Pitt, dass in Tellmans Gesicht etwas aufblitzte. Endlich fing Kingsley an, sich wie jemand zu verhalten, dem die Führung anderer Menschen anvertraut war. Pitt überlegte, welches erschütternde Ereignis der Auslöser dafür gewesen sein mochte, dass dieser Mann eine Spiritistin aufsuchte. Im Leben anderer Menschen herumwühlen zu müssen war schmerzlich und abstoßend, aber nur allzu häufig verbargen sich die Motive für einen Mord in grässlichen Vorfällen der Vergangenheit, und um der Sache auf den Grund zu kommen, musste er alles wissen. »Ich kenne den Namen der Frau«, sagte er, »aber nicht den des anderen Mannes. Miss Lamont hat ihn in ihrem Tagebuch lediglich mit einer kleinen Zeichnung in Form einer Kartusche benannt.«
Kingsley runzelte die Brauen. »Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, denn ich ahne nicht, welchen Grund sie dafür gehabt haben könnte.«
»Können Sie ihn mir näher beschreiben … oder war es doch eine Frau?«
»Nicht genau«, gab Kingsley zurück. »Da es nicht um ein gesellschaftliches Zusammentreffen ging, sind wir einander nicht vorgestellt worden. Soweit ich mich erinnern kann, ist er von durchschnittlicher Größe. Trotz der warmen Jahreszeit trug er einen Mantel, und so kann ich Ihnen über seinen Körperbau nichts sagen. Seine Haare wirkten eher hell als dunkel, möglicherweise sind sie grau. Er hielt sich im Hintergrund des Raumes im Schatten, und die roten Lampenschirme haben alles ein wenig verfärbt. Ich könnte mir denken, dass ich ihn wiedererkenne, wenn ich ihm noch einmal begegne, aber sicher bin ich nicht.«
»Wer kam als Erster?«, mischte sich Tellman ein.
»Ich«, gab Kingsley zur Antwort. »Danach die Frau.«
»Können Sie sie beschreiben?«, fragte Pitt. Er dachte an das lange helle Haar, das um den Knopf an Maude Lamonts Ärmel gewickelt war.
»Ich dachte, Sie wissen, wer sie ist?«, gab Kingsley zurück.
»Ich weiß den Namen«, korrigierte Pitt. »Ich wüsste gern, welchen Eindruck Sie von ihr hatten.«
Kingsley fügte sich. »Sie war groß, größer als die meisten Frauen, sehr elegant, hatte aschblondes Haar und trug eine Art…« Er verstummte.
Pitt spürte, wie sich ihm die Kehle zusammenzog. »Fahren Sie bitte fort!«, murmelte er.
»Der andere Mann kam als Letzter«, sagte Kingsley. »Soweit ich mich erinnere, war das auch bei den vorigen Malen so gewesen. Er kam durch die Terrassentür aus dem Garten und verließ das Haus als Erster.«
»Und wer ging als Letzter?«, fragte Pitt.
»Die Frau«, sagte Kingsley. »Sie war noch da, als ich ging.« Er wirkte unglücklich, als sei er mit der Antwort nicht zufrieden und habe sich damit noch nicht vom Verdacht reingewaschen.
»Der andere Mann ist also durch die Terrassentür in den Garten gegangen«, fasste Pitt sicherheitshalber nach.
»Ja.«
»Hat Miss Lamont ihn begleitet und das Tor zum Cosmo Place hinter ihm verschlossen?«
»Nein, sie ist bei uns geblieben.«
»Und das Mädchen?«
»Sie ist kurz nach unserer Ankunft gegangen. Vermutlich hat sie das Haus durch den Kücheneingang verlassen. Jedenfalls habe ich sie um die Zeit der Abenddämmerung durch den Garten gehen sehen. Sie trug eine Laterne, die sie vor der Haustür abstellte und dort stehen ließ.«
Pitt stellte sich den Gartenweg von der hinteren Seite des Hauses an der Southampton Row vor. Er führte ausschließlich zur Tür in der Mauer, die auf den Cosmo Place ging. »Sie ist also durch die Seitentür hinausgegangen?«, fragte er laut.
»Ja«, sagte Kingsley. »Wahrscheinlich hat sie deshalb die Laterne mitgenommen. Anschließend hat sie sie auf der Treppe vor der Haustür abgestellt. Ich habe ihre Schritte auf dem Kies gehört und das Licht gesehen.«
Tellman zog die Schlussfolgerung aus seinen Worten. »Dann hat entweder diese Frau Miss Lamont getötet – oder Sie oder der andere Mann sind durch das Seitentürchen zurückgekommen und haben die Tat begangen. Oder ein bisher Unbekannter ist später gekommen, und Miss Lamont hat ihn selbst zur Haustür eingelassen. Aber das ist unwahrscheinlich, und soweit das Mädchen gesagt hat, war Miss Lamont nach einer Séance gewöhnlich müde und hat sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, sobald die Besucher gegangen waren. Das Tagebuch erwähnt keinen weiteren Besucher. Niemand ist gesehen oder gehört worden. Um wie viel Uhr sind Sie gegangen, General Kingsley?«
»Ungefähr eine Viertelstunde vor Mitternacht.«
»Für einen weiteren Besucher wäre das ziemlich spät«, sagte Pitt.
Kingsley fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als habe er Kopfschmerzen. Er wirkte müde und erschöpft. »Ich habe wirklich keine Vorstellung von dem, was nach meinem Weggang dort geschehen sein könnte«, sagte er ruhig. »Ihr schien nichts zu fehlen. Sie wirkte in keiner Weise besorgt oder bekümmert und machte auch nicht den Eindruck, als hätte sie Angst vor jemandem oder erwarte jemanden. Sie war müde, das ja. Die Geister der Abgeschiedenen heraufzubeschwören kostete sie jedes Mal ungeheuer viel Kraft. Sie brachte es danach kaum noch fertig, uns zu verabschieden und zur Tür zu begleiten.« Er hielt inne und sah kläglich in die Leere, die vor ihm lag.
Tellman warf einen flüchtigen Blick zu Pitt hinüber. Wie peinlich ihm die Tiefe von Kingsleys Gemütsbewegung und das sonderbare Gesprächsthema waren, ließ sich deutlich an der starren Haltung seines Körpers und der Art erkennen, wie er seine Hände unruhig im Schoß knetete.
»Können Sie uns bitte den Verlauf des Abends beschreiben, General Kingsley?«, sagte Pitt. »Was ist geschehen, nachdem alle anwesend waren? Hat es eine Unterhaltung gegeben?«
»Jeder … jeder war aus seinen ganz eigenen Gründen gekommen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mit den anderen darüber zu reden, und vermutlich ging es ihnen ebenso.« Bei diesen Worten sah ihn Kingsley nicht an, als sei die Sache nach wie vor privat. »Wir setzten uns um den Tisch und warteten, während Miss Lamont sich konzentrierte, um … die Geister zu beschwören.« Er sprach zögernd. Vermutlich war ihm Tellmans Skepsis ebenso wenig entgangen wie dessen Schwanken zwischen Mitleid und Verachtung.
Pitt wusste nicht recht, was er selbst empfand. Es war eher ein Unbehagen, eine Art von Bedrückung, als Verachtung. Er hätte nicht sagen können, woran das lag, aber er hielt den Versuch, die Geister von Toten heraufzubeschwören, ob das nun möglich war oder nicht, für unangebracht.
»Wo haben Sie gesessen?«, fragte er.
»Miss Lamont auf dem hochlehnigen Stuhl am Kopfende des Tisches«, erwiderte Kingsley. »Ich saß rechts von ihr, mir gegenüber die Frau, links von ihr der Mann mit dem Rücken zu den Fenstern. Natürlich haben wir uns bei den Händen gehalten.«
Unbehaglich rutschte Tellman auf seinem Sessel hin und her.
»Ist das üblich?«, erkundigte sich Pitt.
»Ja, um jeden Verdacht eines Betrugsversuchs auszuschalten. Manche Medien sitzen sogar in einem Schrank, um doppelt festgehalten zu sein, und ich glaube, auch Miss Lamont hat das gelegentlich getan. Allerdings war ich dabei nicht anwesend.«
»Warum nicht?«, fragte Tellman dazwischen.
»Es gab keinen Anlass zum Misstrauen«, versetzte Kingsley mit einem raschen ärgerlichen Blick. »Jeder von uns glaubte ihr. Wir hätten sie nie auf diese Weise … gekränkt. Uns ging es um Wissen, eine höhere Wahrheit, nicht um billige Sensationen.«
»Aha«, sagte Pitt ruhig, ohne Tellman anzusehen. »Und was geschah dann?«
»Soweit ich mich erinnere, fiel Miss Lamont in Trance«, sagte Kingsley. »Sie schien etwa eine Handbreit über ihrem Sitz in der Luft zu schweben und sprach nach einer Weile mit vollständig veränderter Stimme. Ich …« Er sah auf den Boden. »Ich nehme an, dass ihr Geisterführer durch sie zu uns sprach.« Die Worte kamen so leise, dass Pitt sie kaum verstehen konnte. »Ein junger Russe, der irgendwo im hohen Norden in der Nähe des Polarkreises bei schrecklicher Kälte ums Leben gekommen war. Er erkundigte sich, was wir wissen wollten.«
Diesmal machte Tellman nicht die geringste Bewegung.
»Und hat ihm einer von Ihnen etwas gesagt? Und was?«, fragte Pitt. Er musste herausbekommen, was Rose Serracold hatte wissen wollen, und fürchtete zugleich, dass Kingsley, falls er diese Antwort zuerst gab und Tellmans Reaktion darauf erkannte, seine eigenen Gründe verbergen würde. Vielleicht aber waren auch die von Bedeutung. Immerhin hatte er den scharfen politisch motivierten Angriff gegen Aubrey Serracold verfasst, auch wenn er wohl nicht gewusst hatte, dass es sich dabei um den Gatten der Frau handelte, die mit ihm an Maude Lamonts Tisch gesessen hatte. Oder war ihm das doch bekannt gewesen?
Kingsley schwieg eine Weile.
»General Kingsley«, drängte Pitt. »Was wollten Sie durch Miss Lamont erfahren?«
Es kostete Kingsley große Mühe zu antworten. Den Blick nach wie vor zu Boden gerichtet, sagte er: »Mein Sohn Robert hat in den Zulu-Kriegen in Afrika gedient und ist dort gefallen. Ich…« Seine Stimme versagte. »Ich wollte mich vergewissern, dass sein Tod … dass seine Seele in Frieden ruht. Es hat … abweichende Berichte über das Gefecht gegeben. Ich musste mir Gewissheit verschaffen.« Er hob den Blick nicht, als wolle er entweder nicht sehen, wie Pitt auf seine Äußerung reagierte, oder nicht preisgeben, wie sehr es ihm zu schaffen machte.
Pitt hatte den Eindruck, irgendetwas sagen zu müssen. »Ich verstehe«, murmelte er. »Und haben Sie etwas darüber erfahren?« Schon als er die Frage stellte, war ihm klar, dass das nicht der Fall war. Kingsleys Furcht ließ sich geradezu mit Händen greifen. Jetzt war auch der Grund für seine Bekümmernis klar. Maude Lamonts Tod hatte ihm den Kontakt mit der einzigen Welt genommen, aus der er seiner Überzeugung nach eine Antwort bekommen konnte. Er dürfte ihn kaum mutwillig zerstört haben.
»Noch … nicht«, sagte Kingsley so tonlos, dass Pitt einen Augenblick lang nicht wusste, ob er die Worte wirklich gehört hatte. Tellmans Unbehagen war nicht zu übersehen. An gewöhnlichen Kummer war er gewöhnt, aber dieser hier beunruhigte und verstörte ihn. Er war seiner eigenen Reaktionen nicht sicher. Aufgrund seiner Lebenserfahrung hätte er eigentlich belustigt und unduldsam reagieren müssen, doch als Pitt flüchtig zu ihm hinübersah, erkannte er Mitgefühl auf dem Gesicht des Inspektors.
»Und was wollte die Frau?«, fragte Pitt.
Diese Frage riss Kingsley aus seiner Versunkenheit. Verwirrt hob er den Blick. »Ich weiß nicht recht. Sie wollte unbedingt mit ihrer Mutter in Verbindung treten, doch ist mir der Grund dafür nicht klar. Vermutlich war es eine sehr private Angelegenheit, denn ich konnte keine ihrer versteckten Fragen verstehen.«
»Aber die Antworten?«, fragte Pitt angespannt. Er hatte beinahe Angst vor dem, was Kingsleys sagen konnte. Warum setzte Rose Serracold zu einer außergewöhnlich heiklen Zeit so viel aufs Spiel, auf die Gefahr hin, sich womöglich lächerlich zu machen? War ihr nicht klar, worum es ging? Oder war ihr die Sache so wichtig, dass sie ihr alles andere unterordnete? Was konnte das sein?
»Es ging um ihre Mutter?«, vergewisserte sich Pitt.
»Ja.«
»Und hat Miss Lamont Verbindung mit ihr aufgenommen?«
»Allem Anschein nach ja.«
»Was hat sie sie gefragt?«
»Nichts Bestimmtes«, sagte Kingsley mit verwirrtem Ausdruck. »Ganz allgemeine Familienangelegenheiten. Es ging dabei um andere Verwandte, die … dahingegangen waren. Ihre Großmutter, ihren Vater. Sie wollte wissen, ob es ihnen gut gehe.«
»Wann war das?«, drängte Pitt. »Am Abend vor Miss Lamonts Tod? Davor? Wenn Sie sich genau an das erinnern könnten, was gesagt wurde, wäre das äußerst nützlich.«
Kingsley runzelte die Stirn. »Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sie Miss Lamont etwas angetan haben könnte«, sagte er mit Nachdruck. »Sie kam mir ein wenig exaltiert und sonderbar vor, aber ich habe keinen Zorn an ihr entdeckt, keine Heftigkeit oder Unfreundlichkeit, sondern eher …« Er hielt inne.
Tellman beugte sich vor.
»Ja?«, forderte ihn Pitt zum Weiterreden auf.
»Angst«, sagte Kingsley leise, als handele sich dabei um ein Gefühl, das er seit langem bestens kannte. »Aber es ist sinnlos, mich zu fragen, wovor sie Angst haben könnte, denn ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie erkundigte sich besorgt, ob ihr Vater glücklich und wieder gesund sei. Mir schien die Vorstellung merkwürdig, eine Krankheit könne über das Grab hinaus andauern. Aber vielleicht sind solche Erwägungen verständlich, wenn man einen Menschen geliebt hat. Liebe folgt nicht immer den Regeln des Verstandes.« Nach wie vor hielt er den Blick abgewandt, als teile er seine innersten Gefühle mit.
»Und mit wem wollte der andere Mann Verbindung aufnehmen?« , fragte Pitt.
»Ich kann mich an keine bestimmte Person erinnern«, sagte Kingsley mit zusammengezogenen Brauen, als gehe ihm jetzt erst auf, wie sehr ihn das wunderte.
»Aber er war Ihres Wissens mindestens dreimal da?«, vergewisserte sich Pitt.
»Ja. Es war ihm sehr ernst«, erklärte Kingsley und hob jetzt den Blick, da es keine eigenen Empfindungen mehr zu schützen gab. Der Mann hatte nichts in ihm angerührt, kein Mitgefühl. »Er stellte einige sehr eigentümliche Fragen und gab keine Ruhe, bis Miss Lamont sie beantwortet hatte«, sagte er. »Ich habe sie einmal gefragt, ob sie ihn für einen Skeptiker halte, einen Zweifelsüchtigen, aber sie schien seine Gründe zu kennen und von seinen Fragen nicht weiter beeindruckt zu sein. Ich … ich finde das …« Er hielt inne.
»Befremdlich?«, hakte Tellman nach.
»Eigentlich wollte ich ›beruhigend‹ sagen«, gab Kingsley zur Antwort.
Er erklärte das nicht weiter, aber Pitt verstand ihn. Maude Lamont musste sich ihrer Fähigkeiten sehr sicher gewesen sein, ganz gleich, wie diese beschaffen waren, wenn sie sich bei ihren Sitzungen durch die Anwesenheit eines Skeptikers nicht bedroht fühlte. Offenkundig aber war ihr der Hass nicht bewusst gewesen, der zu ihrem Tod geführt hatte.
»Und hat dieser Mann keinen Menschen benannt, mit dem er in Verbindung gebracht werden wollte?«, fragte er.
»Doch, mehrere«, sagte Kingsley, »aber ihm schien an keinem besonders gelegen zu sein. Ich hatte eher den Eindruck, als hätte er die Namen aufs Geratewohl gesagt.«
»Und ging es ihm um ein bestimmtes Thema?« Pitt war nicht bereit, so ohne weiteres aufzugeben.
»Nicht dass ich wüsste.«
Pitt sah ihn ernsthaft an. »Wir wissen nicht, um wen es sich handelt, General Kingsley. Er könnte der Mörder Maude Lamonts sein.« Er sah, wie Kingsley zusammenzuckte und der Ausdruck der Verlorenheit in seine Augen zurückkehrte. »Ist Ihnen an seiner Stimme oder seinem Verhalten etwas aufgefallen oder irgendetwas anderes? An seiner Kleidung, der Art, wie er sich gab? War er gebildet? Welche Überzeugungen oder Ansichten hat er vertreten? Was könnte Ihrer Meinung nach sein Hintergrund sein, seine Stellung in der Gesellschaft, welcher Einkommensgruppe könnte er angehören? Sofern er einen Beruf ausübt, welcher ist es? Hat er je Angehörige erwähnt, von einer Frau gesprochen oder gesagt, wo er wohnt? Ist er von weither gekommen? Können Sie irgendetwas darüber sagen?«
Wieder dachte Kingsley so lange nach, dass Pitt schon fürchtete, er werde keine Antwort bekommen. Dann sagte er langsam: »Seine Sprechweise lässt auf eine glänzende Erziehung schließen. Dem Wenigen nach, was er gesagt hat, beschäftigt er sich eher mit der Geisteswissenschaft als mit der Naturwissenschaft. Soweit ich sehen konnte und überhaupt darauf geachtet habe, kleidete er sich zurückhaltend, dunkel. Er wirkte unruhig, doch habe ich das auf den Anlass zurückgeführt. Ich kann mich nicht an bestimmte Ansichten erinnern, die er geäußert hätte, würde aber vom Gefühl her sagen, dass er insgesamt eine konservativere Haltung vertritt als ich.«
Pitt musste an den Zeitungsartikel denken. »Halten Sie sich nicht für konservativ, General Kingsley?«
»Nein, Sir.« Jetzt sah ihm Kingsley offen in die Augen. »Ich habe im Heer gedient. Da gibt es die verschiedensten Männer, und ich würde gern wissen, wo man gegenwärtig den einfachen Soldaten gerechter behandelt als bei uns. Ich denke, wer Seite an Seite mit anderen Entbehrungen ertragen und dem Tod ins Auge gesehen hat, erkennt deren Wert weit deutlicher, als das bei anderen Gelegenheiten möglich wäre.«
Sein Gesichtsausdruck war so offen, dass Pitt nicht anders konnte, als ihm zu glauben. Dennoch widersprachen seine Worte krass dem, was er an vier verschiedene Zeitungen geschrieben hatte. Pitt war überzeugter denn je, dass Kingsley in die Angelegenheit mit Voisey und dessen Kandidatur verwickelt war, wusste aber nicht, ob aus eigenem Willen oder nicht. Ebenso unklar war ihm, ob er unter entsprechendem Druck am Tod Maude Lamonts beteiligt gewesen sein könnte.
Er überlegte, ob er die gegen Serracold gerichteten Artikel ansprechen und ihm mitteilen sollte, dass die bei den Sitzungen anwesende Frau dessen Gattin war. Doch er sah nicht, was sich im Augenblick damit erreichen ließ. Außerdem konnte er sich das mit dieser Mitteilung verbundene Überraschungsmoment möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt zunutze machen.
So dankte er Kingsley und erhob sich, um zu gehen. Tellman tat es ihm gleich, unübersehbar mürrisch und unzufrieden.
»Was halten Sie davon?«, fragte Tellman, kaum dass sie vor dem Haus waren und im Sonnenschein auf die Straße zugingen. »Wie kommt so ein Mann dazu, eine solche … eine solche … Frau aufzusuchen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber es muss ein Täuschungsmanöver gewesen sein. Wie ist es möglich, dass ein gebildeter Mensch so etwas nicht in wenigen Augenblicken durchschaut. Wenn die Männer an der Spitze unseres Heeres an diese Art von … Märchen glauben …«
»Bildung schützt weder vor Einsamkeit noch vor Kummer«, gab Pitt zur Antwort. Trotz seiner realistischen Einstellung gegenüber so vielen Dingen war Tellman nach wie vor von einer gewissen Naivität. Das ärgerte Pitt, doch konnte er Tellman gerade deswegen gut leiden, denn er war durchaus lernwillig. »Jeder von uns findet seine eigenen Möglichkeiten, solchen Wunden Linderung zu verschaffen, jeder tut, was in seinen Kräften steht.«
»Wenn ich jemanden verlieren würde und mich auf diesem Wege trösten wollte«, sagte Tellman nachdenklich, den Blick auf den Gehsteig geheftet, »und dabei merken würde, dass mich jemand hereingelegt hat, ich weiß nicht, ob ich nicht den Kopf verlieren und so jemandem den Hals umdrehen würde. Wenn nun… jemand geglaubt hat, das weiße Zeug wäre ein Teil eines Geistes gewesen oder was auch immer, und ihr das in den Mund zurückgeschoben hat, gilt das dann als Mord oder als Unfall?«
»Sofern es sich so verhielte, wären drei Personen an Ort und Stelle gewesen, von denen mindestens zwei einen Arzt oder die Polizei gerufen hätten. Sollten aber alle drei an der Sache beteiligt sein, hätten wir es mit einer Verschwörung zu tun, ob absichtlich oder nicht.«
Knurrend trat Tellman einen kleinen Stein in die Gosse. »Vermutlich suchen wir als Nächstes Mistress Serracold auf?«
»Ja, vorausgesetzt, sie ist zu Hause. Andernfalls warten wir auf sie.«
»Ich nehme an, Sie wollen auch diese Befragung selbst durchführen?«
»Nein, ich will nicht, werde es aber tun. Ihr Mann kandidiert für das Unterhaus.«
»Haben die irischen Bombenleger es auf ihn abgesehen?« Auch wenn in Tellmans Stimme ein Anflug von Sarkasmus lag, war es doch eine ernst gemeinte Frage.
»Nicht, soweit ich weiß«, gab Pitt trocken zurück. »Ich möchte das auch eher bezweifeln, denn er tritt für die Unabhängigkeit Irlands ein.«
Wieder knurrte Tellman leise vor sich hin.
Pitt fragte ihn lieber nicht, worauf er sich damit bezog.
Sie mussten fast eine Stunde lang in einem tiefroten Empfangszimmer warten, bis Rose Serracold kam. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand eine Kristallschale mit rosa Rosen. Pitt musste lächeln, als er sah, wie Tellman zusammenzuckte. Es war ein ungewöhnlicher Raum, der auf den ersten Eindruck überwältigte. An den Wänden hingen üppige Gemälde, die mit einer schlichten weißen Kaminumrandung kontrastierten. Doch nach einer Weile fand Pitt den Raum immer angenehmer. Er blätterte in den herrlichen Alben, die auf einem niedrigen Tischchen lagen, damit sich Wartende die Zeit vertreiben konnten. Eines enthielt botanische Sammelstücke, und neben jedem beschrieb ein in sauberer, ziemlich überspannt wirkender Handschrift abgefasster Text kurz die Pflanze, erklärte die Bedeutung ihres Namens und wies darauf hin, wo sie üblicherweise vorkam sowie wann und von wem sie ins Land gebracht worden war. Pitt, der sich gern mit seinem eigenen Garten beschäftigte, sofern ihm Zeit dazu blieb, war fasziniert. Er dachte an die außergewöhnlich mutigen Männer, die in Indien, Nepal, China und Tibet auf hohe Berge gestiegen waren, um immer noch schönere Blüten zu entdecken, die sie liebevoll nach England zurückgebracht hatten.
Unruhig schritt Tellman auf und ab. Er blätterte flüchtig in dem anderen Album, das Aquarelle verschiedener englischer Seebäder enthielt. Zwar waren sie durchaus hübsch, interessierten ihn aber nicht sonderlich. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn sich darunter eine Ansicht des Dörfchens in Dartmoor befunden hätte, in dem sich Gracie und Charlotte mit den Kindern aufhielten. Andererseits wusste er nicht einmal den Namen jenes Ortes. Er ließ seine Gedanken umherschweifen, versuchte sich vorzustellen, was sie gerade tun mochten, während er in diesem fremdartigen Raum stand. Würde Gracie viel arbeiten müssen, oder hatte sie Zeit, ihr Leben zu genießen und im Sonnenschein über die Hügel zu wandern? Er sah sie vor sich, klein, sehr aufrecht, das Haar straff nach hinten gekämmt, ihr munteres Gesicht, die flinken Augen, die alles aufmerksam musterten. Bestimmt hatte sie noch nie einen solchen Ort gesehen, fern von den lauten und engen Straßen der Großstadt, in denen sie aufgewachsen war. Dort drängten sich die Menschen, roch es nach abgestandenem Essen, Abwässern, faulendem Holz und Rauch. Er stellte sich die Umgebung des Dörfchens als weite, offene, nahezu leere Landschaft vor.
Wenn er es recht bedachte, war auch er noch nie an einem solchen Ort gewesen, außer in seinen Träumen und während er sich Bilder wie diese ansah.
Ob sie dort überhaupt an ihn dachte? Wahrscheinlich nicht … oder zumindest nicht oft. Er war nach wie vor nicht sicher, was sie für ihn empfand. Während der Arbeit an dem Fall um die Affäre in Whitechapel hatte es ausgesehen, als wäre sie endlich ein wenig zugänglicher. Nach wie vor waren sie in einer großen Zahl wichtiger Fragen geteilter Meinung. Dabei ging es um Dinge wie Gerechtigkeit, Gesellschaft und die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Alles, was er gelernt hatte, all seine Lebenserfahrung sagte ihm, dass sie Unrecht hatte, aber er konnte in keinem einzelnen Punkt genau sagen, inwiefern. Jedenfalls hatte er keine Möglichkeit, es ihr zu erklären. Sie sah ihn einfach vernichtend und unduldsam an, als wäre er ein aufsässiges Kind, und fuhr mit dem fort, was sie gerade tat – ob sie nun gerade kochte oder bügelte. Sie war ungeheuer praktisch veranlagt und gab sich den Anschein, als hielten Frauen die Welt in Gang, während Männer lediglich Worte darüber verloren.
Sollte er ihr schreiben?
Das war eine schwierige Frage. Zwar hatte ihr Charlotte Lesen und Schreiben beigebracht, doch lag das noch nicht lange zurück. Würde er Gracie mit der Notwendigkeit, ihm zu antworten, möglicherweise in Verlegenheit bringen? Oder schlimmer, war es denkbar, dass sie Charlotte den Brief zeigte, wenn sie etwas nicht lesen konnte? Schon die bloße Vorstellung ließ ihn vor Betretenheit zusammenzucken. Nein! Auf keinen Fall würde er schreiben. Lieber das Risiko gar nicht eingehen. Ohnehin war es unter Umständen auch besser, vorsichtshalber ihre Adresse nirgendwo schriftlich festzuhalten.
Er hatte das Album noch aufgeschlagen vor sich, als Rose Serracold endlich hereinkam. Er und Pitt begrüßten sie förmlich. Zwar hätte Tellman nicht sagen können, womit er gerechnet hatte, auf keinen Fall aber mit der bemerkenswert schönen Frau, die da in der Tür stand. Sie trug ein lila und marineblau gestreiftes Kleid mit einer Wespentaille und riesigen Ärmeln. Ihr aschblondes Haar hatte sie in einem Zopf um den Kopf gelegt, statt es gelockt zu tragen, wie es die Mode verlangte. Mit aquamarinblauen Augen sah sie die beiden Männer überrascht an.
»Guten Morgen, Mistress Serracold«, brach Pitt das Schweigen. »Ich bedaure, unangemeldet bei Ihnen aufzutauchen, aber die tragischen Umstände von Miss Maude Lamonts Tod haben mir keine andere Wahl gelassen. Mir ist klar, dass Sie jetzt vor der Unterhauswahl viel zu tun haben, aber die Sache duldet keinen Aufschub.« Er sagte das in einem Ton, der erkennen ließ, dass eine Diskussion sinnlos war.
Sie stand sonderbar reglos da und wandte sich nicht einmal zu Tellman um, dessen Anwesenheit ihr bewusst sein musste, denn er befand sich kaum einen Schritt von ihr entfernt. Unbewegt sah sie Pitt an. Unmöglich hätte man sagen können, ob ihr Maude Lamonts Tod bereits bekannt war. Schließlich sagte sie sehr leise: »Ach ja. Und was könnte ich Ihrer Ansicht nach Hilfreiches sagen, Mister … Pitt?« Es kostete sie offensichtlich Mühe, sich an den Namen zu erinnern, den ihr der Butler gesagt hatte. Sie wollte nicht unhöflich sein, es zeigte lediglich an, dass Pitt nicht zu ihrer Welt gehörte.
»Sie sind einer der Menschen, die Miss Lamont als Letzte lebend gesehen haben, Mistress Serracold«, antwortete Pitt. »Da Sie außerdem die anderen gesehen haben, die bei der Séance anwesend waren, dürften Sie wissen, was geschehen ist.«
Sofern sie sich fragte, woher Pitt das wusste, gab sie es nicht zu erkennen.
Tellman war gespannt zu sehen, auf welche Weise Pitt nützliche Einzelheiten von dieser Frau erfahren wollte. Sie hatten sich nicht abgesprochen. Ihm war klar, dass Pitt selbst unsicher war. Die Frau fiel in sein neues Aufgabengebiet beim Sicherheitsdienst, da ihr Gatte für das Unterhaus kandidierte. Auch wenn ihn Pitt nicht in seine Aufgabe eingeweiht hatte, vermutete er, dass es dazu gehörte, die Frau vor Skandalen zu bewahren oder aber, sofern sich das als unmöglich erwies, die Angelegenheit auf jeden Fall diskret und wohl auch rasch zu erledigen. Er beneidete ihn nicht darum. Verglichen damit war die Aufklärung eines Mordfalls unkompliziert.
Die Frau hob die elegant geschwungenen Brauen kaum wahrnehmbar. »Ich weiß nicht, auf welche Weise sie ums Leben gekommen ist, Mister Pitt, ob jemand den Tod herbeigeführt hat oder etwas hätte unternehmen können, ihn zu verhindern.« Ihre Stimme klang völlig gleichgültig, doch war sie unübersehbar bleich und hielt sich so starr, dass zu vermuten stand, sie beherrsche ihre Empfindungen mit äußerster Mühe und wage nicht, sie offen zu zeigen.
Ein leichter Hauch von Parfüm stieg Tellman in die Nase. Sie gehörte zu der Art Frau, die ihn beunruhigte und unsicher machte. Er verstand nichts von ihrer Lebensweise, ihren Empfindungen oder ihren Ansichten und war sich ihrer Gegenwart in geradezu quälender Weise bewusst.
»Jemand hat ihren Tod herbeigeführt«, drang Pitts Stimme in seine Gedanken, »sie wurde nämlich ermordet.«
Mrs. Serracold forderte sie nicht zum Sitzen auf. Sie holte tief Luft und stieß sie in einem kaum hörbaren Seufzer aus. »Ist jemand eingebrochen?« Sie zögerte eine Sekunde. »Hat sie möglicherweise vergessen, den Seiteneingang zum Cosmo Place zu verschließen? Der letzte Besucher ist von dort hereingekommen und nicht durch die Haustür.«
»Es war kein Raubmord«, gab Pitt zur Antwort. »Es ist auch nichts beschädigt worden.« Er sah sie aufmerksam an und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. »Die Art und Weise, wie sie getötet wurde, lässt auf äußerst persönliche Motive schließen.«
Ihre seidenen Röcke raschelten, als sie an ihm vorüberging und sich in einen der dunkelrot bezogenen Sessel sinken ließ. Sie war so bleich, dass Tellman annahm, sie habe endlich die Tragweite von Pitts Worten begriffen. War sie darüber erschrocken? Oder hatte sie das bereits gewusst und fühlte sich durch das Bewusstsein in die Enge getrieben, dass andere es ebenfalls wussten, vor allem die Polizei?
Oder war ihr möglicherweise durch den Hinweis, dass es sich um etwas Persönliches handelte, klar geworden, wer die Tat begangen hatte?
»Ich glaube nicht, dass ich mehr darüber wissen möchte, Mister Pitt«, sagte sie rasch. Sie schien sich wieder vollständig in der Hand zu haben. »Ich kann Ihnen lediglich sagen, was ich mitbekommen habe. Meiner Erinnerung nach war es ein völlig normaler Abend. Es gab keine Auseinandersetzung, und mir ist auch keinerlei Feindseligkeit aufgefallen. Ich denke, dass ich so etwas bemerkt hätte. Ich kann nicht glauben, dass einer von uns der Täter gewesen sein soll. Ich war es mit Sicherheit nicht …« Ihre Stimme versagte einen Augenblick lang. »Ich … ich war ihrer Gabe zutiefst verpflichtet. Und ich … mochte sie.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, überlegte es sich dann aber offenbar anders und sah Pitt erwartungsvoll an.
Ohne länger auf eine Aufforderung zu warten, setzte er sich ihr gegenüber und überließ Tellman die Entscheidung, seinem Beispiel zu folgen oder stehen zu bleiben. »Können Sie mir beschreiben, wie dieser Abend verlaufen ist, Mistress Serracold?«
»Ich denke schon. Ich bin kurz vor zehn dort angekommen. Der Soldat war bereits da. Ich weiß weiter nichts von ihm, aber bei ihm ging es ständig um Schlachten. Alle seine Fragen hatten mit Afrika und Krieg zu tun, also nehme ich an, dass er Soldat ist oder war.« Auf ihr Gesicht trat der flüchtige Ausdruck von Mitleid. »Ich hatte den Eindruck, dass er jemanden verloren hat, der ihm nahe stand.«
»Und der dritte Anwesende?«, fragte Pitt.
»Ach, der.« Sie zuckte die Achseln. »Sie meinen den Grabräuber? Der ist als Letzter gekommen.«
Pitt sah sie verblüfft an. »Wie bitte?«
Sie verzog angewidert das Gesicht. »So nenne ich ihn bei mir, weil ich ihn für einen Skeptiker halte, der uns den Glauben an eine Auferstehung des Geistes nehmen möchte. Seine Fragen waren … in grausamer Weise forschend, als ob er in einer Wunde herumstocherte …« Sie sah Pitt aufmerksam an, wohl um festzustellen, ob er genau verstand, was sie meinte, ob er fähig sei, zumindest eine Vorstellung davon zu entwickeln, was sie beschrieb, oder ob sie sich mit ihren Worten unnötiger Peinlichkeit aussetzte.
Tellman durchfuhr mit einem Mal eine Erkenntnis. Als hätte eine gewisse Klarsichtigkeit die raschelnde Seide in den Hintergrund gedrängt, stellte er sie sich in einem gewöhnlichen Kleid vor, wie es seine Mutter oder Gracie trugen. Diese Frau war auf den Glauben an Maude Lamonts Fähigkeiten angewiesen. Sie suchte etwas, das sie mit Macht dort hingetrieben hatte, und jetzt, nach dem Tod des Mediums, war sie verloren. Hinter ihren leuchtenden blassblauen Augen lag Verzweiflung.
Indem sie wieder das Wort ergriff, zerstörte sie das Bild, das vor ihm erstanden war. Er hörte ihre Oberschicht-Sprechweise, die auf ihn so affektiert wirkte, und erneut befanden sie sich in zwei scharf voneinander getrennten Welten.
»Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich habe ja sein Gesicht kaum gesehen. Immerhin ist es denkbar, dass er Angst vor der Wahrheit hatte, nicht wahr?« Ihre Lippen verzogen sich zum Anflug eines Lächelns. Es sah aus, als hätte sie am liebsten gelacht und nur der Anlass des Gespräches hindere sie daran. »Er ist durch die Tür in der Gartenmauer gekommen und gegangen. Vielleicht handelt es sich um einen bedeutenden Mann, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat und wissen möchte, ob ihn der Tote verraten wird?« Ihre Stimme hob sich bei dieser Vermutung. »Darüber könnten Sie doch einmal nachdenken, Mister Pitt.« Sie sah ihn unbewegt an, ohne auf Tellman zu achten. Ihr Gesicht wirkte gelassen, fast herausfordernd.
»Auch mir war dieser Gedanke schon gekommen, Mistress Serracold«, sagte Pitt ebenfalls mit ausdrucksloser Miene. »Aber es scheint mir interessant, dass auch Sie darauf verfallen sind. Gehörte Maude Lamont zu den Menschen, die ein solches Wissen für ihre eigenen Zwecke ausschlachten?«
Ihre Lider zuckten, ihre Hals- und Kiefermuskeln spannten sich.
Pitt wartete.
»Ausschlachten?« Ihre Stimme klang ein wenig belegt. »Meinen Sie etwa durch eine … Erpressung?« Ihr Gesicht wirkte überrascht, vielleicht ein wenig zu sehr.
Pitt lächelte leicht, nach wie vor höflich, als denke er sehr viel mehr, als er sagen konnte. »Man hat sie ermordet. Sie muss sich also mindestens einen Menschen so sehr zum Feind gemacht haben, dass er vor nichts zurückschreckte.«
Das Blut wich ihr aus dem Gesicht. Es hätte Tellman nicht gewundert, wenn sie in Ohnmacht gefallen wäre. Jetzt war ihm endgültig klar, dass es um diese Frau ging. Ihre Anwesenheit bei der spiritistischen Sitzung war der Grund dafür, dass sich der Sicherheitsdienst mit dem Fall beschäftigte und ihn der Polizei und damit ihm aus den Händen genommen hatte. Hatte Pitt Gründe, die Frau für schuldig zu halten? Tellman sah zu ihm hin, doch trotz der vielen Jahre gemeinsamer Arbeit, in denen sie mit zahlreichen menschlichen Tragödien und Leidenschaften zu tun gehabt hatten, sah er sich außerstande, Pitts Empfindungen zu erahnen.
Mrs. Serracold veränderte ihre Stellung. In der Stille des Raumes war sogar das leise Knirschen des Fischbeins und des Stoffs ihrer Korsage hörbar.
»Ich gebe Ihnen Recht, dass das entsetzlich ist, Mister Pitt«, sagte sie ruhig. »Aber mir fällt nichts ein, was Ihnen weiterhelfen könnte. Ich weiß, dass sich einer der Männer große Sorgen um seinen Sohn machte und etwas über die Art erfahren wollte, wie dieser bei einer Schlacht irgendwo in Afrika ums Leben gekommen ist.« Sie schluckte und hob das Kinn ein wenig, als drücke etwas sie am Hals, obwohl ihr Kleid nicht so hoch reichte. »Über den anderen Mann kann ich lediglich sagen, dass er mir den Eindruck erweckt hat, er sei lediglich gekommen, um über Miss Lamont zu spotten oder sie zu widerlegen. Ich weiß nicht, warum sich solche Leute die Mühe machen!« Ihre dünnen Augenbrauen hoben sich. »Warum lässt jemand, dem der Glaube abgeht, die Dinge nicht einfach ruhen und gestattet jenen, denen sie am Herzen liegen, in Frieden nach Wissen zu suchen? Dagegen lässt sich doch sicher nichts einwenden. Man muss schon ein ziemlicher Rüpel sein, um andere bei der Ausübung ihrer Riten zu stören. Es ist ein unnötiges Eindringen in deren Privatsphäre, überflüssige Grausamkeit.«
»Können Sie näher beschreiben, was am Verhalten oder den Worten dieses Mannes Ihnen diesen Eindruck vermittelt hat?«, fragte Pitt und beugte sich ein wenig vor. »Bitte sagen Sie alles, woran Sie sich erinnern können.«
Eine Weile schwieg sie, als müsse sie sich erst darüber klar werden, was sie sagen wollte. »Es kommt mir so vor, als wäre er darauf aus gewesen, sie bei einem Täuschungsmanöver zu ertappen«, sagte sie schließlich. »Immer hat er den Kopf hin und her bewegt, um ein möglichst großes Gesichtsfeld zu haben, damit ihm ja nichts entging. Er ließ nicht zu, dass seine Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes gerichtet wurde.« Sie lächelte. »Aber er hat nie etwas entdeckt. Ich konnte spüren, dass er voller Emotionen war, weiß aber nicht, worum es dabei ging. Ich habe nur gelegentlich zu ihm hingesehen, weil mir natürlich viel wichtiger war, was Miss Lamont sagte und tat.«
»Was gab es denn zu beobachten?«, fragte Pitt mit völlig ernster Miene.
Sie schien nicht sicher, was sie antworten sollte, wusste vielleicht auch nicht, ob sie ihm trauen konnte. »Ihre Hände«, sagte sie langsam. »Wenn die Geister durch sie sprachen, sah sie völlig anders aus als sonst. Mitunter schien sie ihr Aussehen zu verändern, ihr Gesicht, die Haare. Auf ihren Zügen lag ein Lichtschein.« Mit herausforderndem Blick schien sie zu warten, ob er über sie spotten würde, bereit, ihm jederzeit in die Parade zu fahren. Ihre Haltung war völlig starr, und die Knöchel ihrer Hände, mit denen sie den Rand des Sessels umklammerte, traten weiß hervor. »Aus ihrem Mund kam ein glühender Atem, und ihre Stimme war völlig anders als sonst.«
Er spürte eine sonderbare Mischung von Empfindungen in sich aufsteigen: Furcht, eine Art Wunsch, ihr zu glauben, und das Bedürfnis zu lachen. Sie wirkte ausgesprochen menschlich und verletzlich, leicht durchschaubar und zugleich leicht zu verstehen.
»Was wollte er von ihr, soweit Sie sich erinnern können?«, fragte er.
»Sie sollte das Leben nach dem Tode beschreiben, sagen, was es dort zu sehen und zu tun gibt, wie es aussieht und sich anfühlt«, sagte sie. »Er fragte, ob bestimmte Menschen dort seien und wie es ihnen ergehe. Ob … ob sich seine Tante Georgina dort befinde. Allerdings kam es mir ganz so vor, als ob er sie mit dieser Frage hereinlegen wollte. Möglicherweise hatte er nicht einmal eine Tante dieses Namens.«
»Und was hat sie ihm darauf geantwortet?«
Sie lächelte. »Gar nichts.«
»Wie hat er darauf reagiert?«
»Das war ganz sonderbar.« Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube, es hat ihn gefreut. Er hatte diese Frage im Anschluss an all die anderen gestellt, in denen es darum ging, wie es dort sei, was man dort tue, und vor allem, ob es irgendwelche Strafen gebe.«
Pitt wusste nicht, was er denken sollte.
»Und wie hat sie darauf geantwortet?«
In ihren Augen blitzte Belustigung auf. »Sie hat ihm erklärt, was ihn betreffe, sei die Zeit für solche Fragen noch nicht gekommen. Ich hätte dasselbe gesagt, wenn ich der Geist gewesen wäre.«
»Sie konnten ihn wohl nicht leiden?«, fragte er. Was sie über den Mann sagte, wirkte kritisch, voreingenommen und bissig, doch zugleich fanden sich darin eine Lebendigkeit und ein Humor, die ihn ansprachen.
»Offen gestanden nein.« Sie blickte auf die üppige Seide ihres Rocks hinab. »Er hatte unübersehbar Angst. Aber das geht jedem so, der über Vorstellungskraft verfügt oder dem etwas am Herzen liegt.« Sie hob den Blick und sah ihn an. »Das darf niemandem als Grund oder Vorwand dienen, sich über die Bedürfnisse anderer Menschen lustig zu machen.« Ein Schatten legte sich auf ihre Züge, als bedaure sie es bereits, so offen mit ihm gesprochen zu haben. Sie erhob sich und wandte sich mit anmutiger Bewegung ab, wobei sie den Rücken Pitt halb und Tellman vollständig zukehrte. Beide sahen sich genötigt, ebenfalls aufzustehen.
»Leider vermag ich Ihnen nicht zu sagen, wie er heißt oder wo Sie ihn finden können«, sagte sie ruhig. »Ich bereue inzwischen sehr, dass ich je dort hingegangen bin. Ich habe es für harmlos gehalten, wenn auch ein wenig gewagt, darin eine Möglichkeit gesehen, etwas zu erkunden. Ich glaube leidenschaftlich an die Gedankenfreiheit, Mister Pitt. Ich verachte jegliche Zensur und ebenso sehr jeden, der anderen das Recht auf Bildung vorenthält … und das gilt für alle Menschen!« In ihrer Stimme lag weder Tändelei noch Vorsicht; sie klang jetzt gänzlich anders als vorher. »Wenn es nach mir ginge, würde ich dafür sorgen, dass die Gesetze den Menschen völlige Religionsfreiheit gewähren. Wir müssen uns zivilisiert verhalten, die Sicherheit anderer ebenso achten wie das Eigentum, aber niemand darf dem Geist und dem Denken Fesseln anlegen.« Sie drehte sich rasch um und sah Pitt wieder an. In ihr Gesicht war die Farbe zurückgekehrt, sie reckte das Kinn hoch, und ihre herrlichen Augen blitzten.
»Und vertrat jener Mann die Ansichten, die Sie geißeln, Mistress Serracold?«, fragte Pitt.
»Seien Sie nicht töricht«, sagte sie in scharfem Ton. »Wir verwenden die Hälfte unserer Energie darauf, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie denken sollen! Das gilt vor allem für die Kirche. Hören Sie denn nicht zu, was diese Leute sagen?«
Pitt lächelte. »Wollen Sie meinen Glauben untergraben?«, fragte er unschuldig.
Die Farbe auf ihrem Gesicht vertiefte sich.
»Entschuldigung«, sagte er. »Aber viele Leute missachten die Freiheit anderer leichtfertig. Aus welchem Grund haben Sie Miss Lamont aufgesucht? Mit wem wollten Sie Verbindung aufnehmen?«
»Warum kümmern Sie sich eigentlich darum, Mister Pitt?« Mit einer Handbewegung bedeutete sie ihm, erneut Platz zu nehmen.
»Weil sie entweder in Ihrer Anwesenheit oder kurz nach Ihrem Weggang ermordet wurde«, sagte er und setzte sich wieder. Tellman tat es ihm nach.
Sie erstarrte. »Ich habe keine Ahnung, wer das gewesen sein kann«, sagte sie kaum hörbar. »Ich weiß nur, dass ich es nicht war.«
»Man hat mir gesagt, dass Sie mit Ihrer Mutter Verbindung aufnehmen wollten. Stimmt das nicht?«
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie. »Von dem Soldaten?«
»Warum sollte er es nicht sagen? Schließlich haben Sie mir gesagt, dass er mit seinem Sohn in Verbindung treten wollte, um zu erfahren, wie er ums Leben gekommen ist.«
»Stimmt«, räumte sie ein.
»Was wollten Sie von Ihrer Mutter erfahren?«
»Nichts!«, sagte sie. »Ich wollte einfach mit ihr sprechen. Das ist doch wohl ein natürliches Bedürfnis, oder?«
Tellman glaubte ihr nicht, und an der Art, wie Pitts Hände reglos auf den Knien lagen, sah er, dass es diesem ebenso ging. Dennoch widersprach Pitt ihr nicht.
»Selbstverständlich«, stimmte er stattdessen zu. »Haben Sie noch andere spiritistische Medien aufgesucht?«
Sie wartete mit der Antwort so lange, dass ihr Zögern offensichtlich wurde. Mit einer Bewegung, die zeigte, dass sie sich geschlagen gab, sagte sie schließlich: »Nein, Mister Pitt. Ich habe niemandem getraut, bis ich Miss Lamont kennen lernte.«
»Und wie kam es dazu?«
»Man hat sie mir empfohlen«, sagte Mrs. Serracold, als überrasche die Frage sie.
Jetzt erwachte sein Interesse. Er hoffte, dass man es ihm nicht ansah. »Wer?«
»Spielt das Ihrer Ansicht nach eine Rolle?«, gab sie zurück.
»Sagen Sie es mir, Mistress Serracold, oder muss ich der Sache nachgehen?«
»Würden Sie das tun?«
»Ja.«
»Das wäre mir sehr peinlich und ist auch nicht nötig.« Zwei leuchtend rote Flecken auf ihren glatten Wangen zeigten ihren Ärger an. »Soweit ich mich erinnere, war das Eleanor Mountford. Ich weiß aber nicht, auf welchem Wege sie von ihr erfahren hatte. Sie war wirklich weithin berühmt – ich meine Miss Lamont.«
»Hatte sie viele Klienten in der besseren Gesellschaft?« Pitts Stimme klang ausdruckslos.
»Das wissen Sie doch bestimmt selbst.« Sie hob die Brauen leicht.
»Ich weiß, was in ihrem Terminkalender steht«, gab er zu. »Vielen Dank, dass Sie uns Ihre Zeit gewidmet haben, Mistress Serracold.« Er erhob sich erneut.
»Mister Pitt … Mister Pitt, mein Mann kandidiert für das Unterhaus. Ich …«
»Das ist mir bekannt«, sagte er leise. »Und ich weiß auch, welches Kapital die Tory-Presse aus Ihren Besuchen bei Miss Lamont schlagen könnte, wenn sie bekannt würden.«
Sie errötete, aber ihr Gesicht wirkte trotzig, und sie antwortete nicht sofort.
»Waren Mister Serracold Ihre Besuche bei Miss Lamont bekannt?«, fragte er.
Ihr Blick wurde unsicher. »Nein«, sagte sie sehr leise. »Ich bin immer dann gegangen, wenn er abends im Klub war. Er sucht ihn regelmäßig auf; es war also ganz leicht.«
»Das war sehr gefährlich«, erwiderte er. »Sind Sie allein gegangen?«
»Selbstverständlich! Es ist schließlich eine … persönliche Angelegenheit.« Es war ihr anzumerken, dass es sie Mühe kostete zu sprechen. »Mister Pitt … wenn Sie …«
»Ich werde so lange wie möglich Diskretion wahren«, versprach er. »Aber alles, woran Sie sich erinnern, könnte unter Umständen nützlich sein.«
»Ja … selbstverständlich. Wenn mir doch nur etwas einfiele. Abgesehen von der Frage nach Gerechtigkeit … Miss Lamont wird mir fehlen. Guten Tag, Mister Pitt … Inspektor.« Sie zögerte nur kurz, weil sie Tellmans Namen vergessen hatte. Es war nicht wichtig. Sie gab ihm keine Gelegenheit, ihn zu sagen, sondern rauschte aus dem Zimmer. Das Mädchen würde die beiden hinausbegleiten.
Weder Pitt noch Tellman sagten etwas, nachdem sie das Haus Serracold verlassen hatten. Pitt spürte, dass Tellman nicht so recht wusste, was er denken sollte, und so ging es auch ihm. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Mann, der sich um ein Amt bewarb, bei dem er unter Umständen in eine der mächtigsten Positionen des Landes gelangen konnte, mit einer so überspannten Frau verheiratet war. Sie war von nahezu kränkendem Hochmut, doch zugleich von einer Offenheit, die er bewunderte. Ihre Ansichten waren zwar naiv, gingen aber auf eine idealistische Grundhaltung und den Wunsch nach einer Toleranz zurück, die zu genießen ihm selbst verwehrt geblieben war.
Vor allem aber war sie verletzlich. Sie hatte sich so sehnlich etwas von Maude Lamont erhofft, dass sie immer wieder zu ihren Sitzungen gegangen war, obwohl sie wusste, welchen politischen Preis das ihren Mann kosten konnte, wenn es bekannt wurde. Er dachte an das Haar am Ärmel der Toten. Mrs. Serracolds lange, aschblonde Haare konnten alles oder nichts bedeuten.
»Versuchen Sie mehr über die Art festzustellen, wie Maude Lamont an ihre Klienten gelangte«, bat er Tellman, während sie kräftig ausschritten. »Wie viel hat sie für ihre Sitzungen berechnet? War es bei allen der gleiche Betrag? Und hätte sie mit diesen Einnahmen ihren Lebensstil finanzieren können?«
»Sie denken an Erpressung?«, fragte Tellman mit unverhülltem Abscheu. »Es ist doch lachhaft, auf solchen … solchen blühenden Unsinn hereinzufallen. Aber viele Leute haben das offenbar getan! Lohnt es sich, dafür zu zahlen, dass das nicht bekannt wird?«
»Das kommt darauf an, was sie herausbekommen hat«, gab Pitt zur Antwort, während er beim Überqueren der Straße darauf achtete, einem Haufen Pferdeäpfel auszuweichen. »Im Leben der meisten von uns gibt es etwas, was kein anderer erfahren soll. Das braucht gar kein Verbrechen zu sein, vielleicht ist es einfach eine Schwäche, von der wir nicht wollen, dass andere sie ausnutzen können, oder etwas anderes, was nicht bekannt werden soll. Niemand steht gern wie ein Dummkopf da.«
Tellman hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. »Wer zu einer Frau geht, die Eiweiß herauswürgt und behauptet, dass es sich um eine Botschaft aus der Geisterwelt handelt, und das auch noch glaubt, ist in meinen Augen ein Dummkopf«, sagte er. Die Heftigkeit seiner Äußerung entsprang einem Mitgefühl, das er sich selbst nicht eingestehen wollte. »Aber ich werde herausbringen, was ich kann. Vor allem will ich wissen, wie sie das gemacht hat!«
Kaum dass sie den Gehweg auf der gegenüberliegenden Seite erreicht hatten, raste eine vierrädrige Droschke haarscharf an ihnen vorbei.
»Ich nehme an, es handelt sich um eine Mischung aus irgendwelchen mechanischen Tricks, Taschenspielerei und einer natürlichen Gabe, anderen etwas vorzugaukeln«, sagte Pitt und hielt an der nächsten Ecke an, um einen Vierspänner passieren zu lassen. »Vermutlich wissen Sie aus dem Autopsiebericht, dass es sich um Eiweiß handelte?«, fragte er sarkastisch.
Tellman knurrte. »Und Käseleinen«, ergänzte er. »Sie ist daran erstickt, weil es in ihrer Kehle und ihrer Lunge saß – die Ärmste.«
»Gibt es sonst noch etwas, was Sie mir nicht gesagt haben?«
Tellman sah ihn giftig an. »Nein! Sie war gesund, etwa sieben- oder achtunddreißig Jahre alt und ist erstickt. Die Blutergüsse haben Sie ja selbst gesehen. Mehr gibt es nicht.« Wieder knurrte er. »Es ist meine Absicht, Dinge herauszubekommen, von denen niemand will, dass sie bekannt werden. War sie klug genug, durch Raten Schlüsse aus dem zu ziehen, was die Menschen von ihr wissen wollten? Zum Beispiel aus Fragen wie: Wo hat Onkel Ernie sein Testament versteckt? Oder: Hatte mein Vater tatsächlich ein Verhältnis mit der jungen Frau im Haus gegenüber? Was auch immer!«
»Ich vermute, wer bei Gesellschaften aufmerksam zuhört«, sagte Pitt, »die Menschen beobachtet, hier und da eine Frage stellt und ein bisschen nachhakt, erfährt sicher eine ganze Menge. Den Rest haben vermutlich die Leute selbst durch die Schlussfolgerungen aus dem geliefert, was sie ihnen gesagt hat. Ein Schuldiger verrät sich nicht nur, wenn er wirklich bedroht wird, sondern auch dann, wenn er sich das nur einbildet. Sie haben doch schon oft genug erlebt, wie sich Menschen selbst ans Messer lieferten, weil sie annahmen, wir wüssten etwas, während wir in Wirklichkeit mit leeren Händen dastanden.«
»Das stimmt«, sagte Tellman und schlängelte sich um einen Gemüsekarren herum. »Wäre es nicht möglich, dass sie jemanden zu sehr unter Druck gesetzt hat, der sich das nicht gefallen lassen wollte und ein Ende gemacht hat?«
»So könnte es gewesen sein.« Pitt warf ihm einen Seitenblick zu.
»Was hätte das aber mit dem Sicherheitsdienst zu tun?«, wollte Tellman mit unüberhörbarem Ärger in der Stimme wissen. »Liegt es wirklich nur an Serracolds Unterhauskandidatur? Seit wann beschäftigt sich der Sicherheitsdienst mit Parteipolitik?«
»Das hat damit nichts zu tun«, gab Pitt scharf zurück. Es kränkte ihn, dass Tellman das überhaupt für möglich hielt. »Ich gebe so viel darauf«, – er schnippte mit den Fingern – »wer ins Unterhaus kommt. Mir geht es nur darum, dass der Wahlkampf sauber geführt wird. Was ich bisher über Aubrey Serracolds Vorstellungen gehört habe, scheint mir großenteils völlig unausgegoren. Er hat nicht den geringsten Bezug zur Wirklichkeit. Aber wenn er verliert, soll jemand gewinnen, der eine andere Meinung vertritt als er, nicht aber jemand, der annimmt, seine Frau habe ein Verbrechen begangen, wenn das nicht der Fall ist.«
Tellman ging schweigend neben ihm. Er öffnete den Mund und holte mehrfach Luft, als wolle er etwas sagen, entschuldigte sich aber nicht. Als sie die Hauptstraße erreichten, verabschiedete er sich und ging mit durchgedrücktem Kreuz und hoch erhobenem Kopf in die Gegenrichtung davon, während Pitt eine Droschke nahm, um Narraway Bericht zu erstatten.
»Nun?«, fragte Narraway, lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah Pitt mit ausdruckslosem Gesicht an.
Pitt setzte sich, ohne die Aufforderung dazu abzuwarten. »Bisher sieht es so aus, als wäre der Täter einer ihrer drei Besucher an jenem Abend«, sagte er. »Generalmajor Roland Kingsley, Mistress Serracold oder ein Mann, den niemand kannte, außer möglicherweise Maude Lamont selbst.«
»Was meinen sie mit ›niemand‹? Wollen Sie sagen, dass keiner der beiden anderen ihn kannte?«
»Nein. Offenkundig kennt ihn auch das Dienstmädchen nicht. Sie sagt, dass sie ihn nie gesehen hat. Er hat das Haus jeweils durch eine Seitentür in der Gartenmauer und die Terrassentür betreten und verlassen.«
»Aus welchem Grund? Und hat man die Tür in der Mauer offen gelassen? In dem Fall hätte doch jeder Beliebige kommen und gehen können.«
»Diese Tür, die zum Cosmo Place führt, wurde verschlossen, aber nicht verriegelt«, erklärte Pitt. »Manche Besucher hatten Schlüssel, wir wissen aber nicht, wer. Es gibt keine Unterlagen darüber. Die Terrassentüren fallen von selbst ins Schloss, wenn man sie zuzieht, so dass sich nicht feststellen lässt, ob nach Miss Lamonts Tod jemand das Haus verlassen hat. Der Grund für die Geheimnistuerei liegt auf der Hand – der Mann wollte nicht, dass jemand von seiner Anwesenheit dort wusste.«
»Und was wollte er bei ihr?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Mistress Serracold hält ihn für einen Zweifler, jemanden, der versuchen wollte, das Medium als Betrügerin zu entlarven.«
»Warum? Aus wissenschaftlichem Interesse oder aus persönlichen Gründen? Stellen Sie das fest, Pitt.«
»Das ist meine Absicht«, gab er zurück. »Aber zuerst möchte ich wissen, um wen es sich handelt.«
Narraway runzelte die Stirn. »Sagten Sie vorhin ›Roland Kingsley‹? Ist das etwa der Mann, der den Leserbrief geschrieben hat, der Serracold verunglimpft?«
»Ja …«
»Und was weiter?« Narraways klare, dunkle Augen sahen Pitt forschend an. »Da ist doch noch mehr.«
»Er hat Angst«, sagte Pitt zögernd. »Irgendetwas im Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes quält ihn.«
»Bringen Sie mehr über ihn in Erfahrung.«
Eigentlich hatte Pitt sagen wollen, dass sich die von Kingsley geäußerten Ansichten nicht mit seiner scharfen Verurteilung Serracolds in seinem Brief an die Zeitungen zu decken schienen, aber er war seiner Sache noch nicht hinreichend sicher. Er konnte sich lediglich auf seinen Eindruck stützen. Außerdem traute er Narraway nicht über den Weg und kannte ihn nicht gut genug, um ihm eine so unbegründete Vermutung vorzulegen. Es war ihm nicht recht, für jemanden arbeiten zu müssen, von dem er so wenig wusste. Er hatte keine Vorstellung von Narraways persönlichen Ansichten, Leidenschaften oder Bedürfnissen; er wusste nichts über Dinge, die vor ihrer ersten Begegnung lagen, kannte keine seiner Schwächen. Was ihn betraf, war der Mann von Geheimnissen umgeben.
»Und was ist mit Serracolds Frau?«, fuhr Narraway fort. »Zwar sagen mir seine sozialistischen Vorstellungen in keiner Weise zu, aber alles ist besser, als wenn Voisey den Fuß auf die Leiter nach oben setzen kann. Ich brauche Antworten, Pitt.« Mit einem Mal beugte er sich vor. »Wir kämpfen hier gegen den Inneren Kreis. Sollten Sie vergessen haben, wozu die Leute fähig sind, erinnern Sie sich an Whitechapel und die Zuckerfabrik. Denken Sie daran, wie Fetters tot auf dem Boden seiner Bibliothek lag und wie dicht die Leute vor dem Sieg standen! Denken Sie an Ihre Angehörigen.«
Pitt überlief es kalt. »Das tue ich«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. Gerade weil er an Charlotte und die Kinder dachte, gab er sich so große Mühe, und er nahm es Narraway übel, dass er ihn daran erinnerte. »Sofern Rose Serracold das Medium umgebracht haben sollte, werde ich das nicht für mich behalten. Wenn wir so etwas täten, wären wir nicht besser als Voisey, und das ist auch ihm klar.«
Narraways Gesicht verfinsterte sich. »Sie haben keinen Anlass, mir Vorhaltungen zu machen, Pitt!«, fauchte er. »Sie sind kein Wachtmeister im Außendienst, der hinter einem Taschendieb her ist! Hier geht es um mehr als um ein seidenes Taschentuch oder eine goldene Uhr, es geht um die Regierung dieses Landes. Wenn Sie auf einfache Lösungen aus sind, sollten Sie sich wieder der Festnahme von Beutelschneidern zuwenden!«
»Was sagten Sie noch über den Unterschied zwischen uns und dem Inneren Kreis, Sir?« Pitt betonte das letzte Wort, und seine Stimme klang scharf und kalt wie Eis.
Narraway presste die Lippen zusammen. Auf sein Gesicht trat der Ausdruck von Wut, aber zugleich ein Anflug von Bewunderung. »Mein Auftrag lautet nicht, Rose Serracold zu decken, falls sie schuldig ist, Pitt. Seien Sie nicht so verdammt selbstgerecht! Ich muss aber sagen, dass es so klingt, als hielten Sie das für möglich. Was wollte sie überhaupt bei diesem widerlichen Weibsbild?«
»Das weiß ich noch nicht.« Pitt entspannte sich wieder. »Sie gibt zu, dass sie Verbindung mit ihrer Mutter aufnehmen wollte, und aus Kingsleys Aussage weiß ich, dass sie das auch dem Medium als Grund angegeben hat. Sie hat mir aber weder gesagt, warum sie mit ihrer Mutter sprechen möchte, noch wieso ihr das so wichtig ist, dass sie ihren Mann hintergeht und in Kauf nimmt, dass seine Karriere zugrunde gerichtet wird, falls irgendein den Tories nahe stehender Journalist sie bloßstellen möchte.«
»Und ist sie mit ihrer Mutter in Verbindung getreten?«, fragte Narraway.
Pitt sah ihn mit plötzlicher Verblüffung an. In Narraways Augen lag nicht der leiseste Anflug von Spott. Man hätte glauben können, er halte sowohl ein Ja wie auch ein Nein für möglich.
»Nicht so, dass sie damit zufrieden wäre«, gab Pitt zurück. »Sie sucht noch immer etwas, eine Antwort, die sie braucht … und zugleich fürchtet.«
»Sie war also von Maude Lamonts Fähigkeiten überzeugt«, schloss Narraway.
»Ja.«
Narraway atmete bedächtig ein und aus. »Hat sie beschrieben, was geschehen ist?«
»Wie sie sagt, hat sich das Aussehen des Mediums verändert, ihr Gesicht hat geleuchtet, und auch ihr Atem schien zu glänzen. Sie hat mit veränderter Stimme gesprochen.« Er schluckte. »Außerdem sah es aus, als ob sie in der Luft schwebte und ihre Hände länger würden.«
Die Anspannung wich aus Narraways Körper. »Das hat so gut wie nichts zu bedeuten. Viele beherrschen diese Technik – Phosphoröl, bewusste Stimmbeeinflussung … Vermutlich glauben wir, was wir glauben wollen … oder das, wovor wir Angst haben.« Er sah beiseite. »Manche fühlen sich verpflichtet, genau dahinter zu kommen, wie sehr es auch schmerzen mag. Andere lassen es für immer im Ungewissen … sie können es nicht ertragen, sich selbst die Hoffnung zu nehmen.« Er richtete sich auf. »Unterschätzen Sie Voisey nicht, Pitt. Ihm ist sein Ehrgeiz wichtiger als sein Hang zur Rache. Aber auch wenn Sie ihm nicht viel bedeuten, er wird Ihnen nie vergessen und verzeihen, dass Sie ihn in der Whitechapel-Geschichte geschlagen haben. Er wartet auf seine Gelegenheit, und die wird gekommen sein, wenn Sie sich nicht wehren können. Ihm eilt es nicht, aber eines Tages wird er zuschlagen. Ich decke Sie, so gut ich kann, aber ich bin nicht unfehlbar.«
»Ich bin ihm begegnet … vor drei Tagen im Unterhaus«, sagte Pitt, dem dabei unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief. »Mir ist klar, dass er die Sache nicht vergessen hat. Aber wenn ich Angst vor ihm habe, hat er bereits gewonnen. Meine Familie befindet sich außerhalb Londons, doch kann ich ihn nicht aufhalten. Ich gebe zu, dass ich mich versucht sehen könnte, einen Ausweg zu nutzen, wenn es einen gäbe … aber es gibt keinen.«
»Sie sind realistischer, als ich gedacht hätte«, sagte Narraway mit widerwilligem Respekt in der Stimme. »Es war mir überhaupt nicht recht, dass Cornwallis Sie mir überlassen wollte. Ich habe Sie lediglich übernommen, um ihm einen Gefallen zu tun, aber vielleicht waren meine Bedenken ungerechtfertigt.«
»Wieso schulden Sie Cornwallis einen Gefallen?«, entfuhr es Pitt, bevor er über seine Worte nachgedacht hatte.
»Das geht Sie nichts an!«, sagte Narraway schroff. »Stellen Sie fest, was zum Teufel die Frau getrieben hat … und beweisen Sie es!«
»Ja, Sir.«
Erst als Pitt wieder inmitten des Verkehrslärms im Sonnenschein des späten Nachmittags auf der Straße stand, fragte er sich, ob Narraway mit seinem letzten Satz Rose Serracold gemeint hatte – oder Maude Lamont.