Kapitel 13
Vespasia stand im Frühstückszimmer und sah durch das Fenster auf die gelben Rosen, die auf der anderen Seite des Rasens in voller Blüte standen. Der Augenblick war gekommen, in dem sie sich der Frage stellen musste, die sie zutiefst schmerzte. Sie fürchtete sich vor der Antwort, hatte aber stets nach dem Grundsatz gelebt, dass Mut der Eckstein aller anderen Tugenden ist. Ohne ihn gab es keine Integrität; nicht einmal Liebe konnte ohne ihn überdauern, denn wer liebt, setzt sich Gefahren aus, und irgendwo oder irgendwann verursacht sie Schmerzen.
Sie hatte Mario ein halbes Jahrhundert lang geliebt. Diese Liebe hatte ihr das tiefste und vollkommenste Glück beschert, ihr zugleich aber auch den größten Schmerz zugefügt, den sie je erlebt hatte – doch nie Enttäuschung. Sie versuchte sich einzureden, dass es dazu auch jetzt nicht kommen würde.
Sie stand noch da, als das Mädchen eintrat, um ihr mitzuteilen, dass Mrs. Pitt gekommen sei und mit ihr sprechen wolle.
Diesmal wäre sie lieber nicht gestört worden. Zwar bot der Besuch einen Vorwand, die hässliche Sache aus ihren Gedanken zu verbannen, aber sie wollte keinen Vorwand. Es würde nichts ändern. Andererseits wollte sie Charlotte auch nicht abweisen.
»Bitten Sie sie herein«, sagte sie daher und wandte sich von den Rosen ab. Es musste etwas ganz Dringendes sein, wenn Charlotte schon so kurz nach dem Frühstück kam.
Sobald sie Charlottes Gesicht sah, war ihr klar, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte. Mit Ausnahme zweier leuchtend roter Flecken auf den Wangen war ihr Gesicht totenbleich. Sie sah aus, als ob sie fieberte. Mit raschen Schritten trat sie in den Raum, und kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als die Worte schon aus ihr hervorsprudelten, ohne dass sie Vespasia wie sonst höflich begrüßt hätte.
»Guten Morgen. Entschuldige bitte, dass ich so früh komme, aber gestern haben Juno Fetters und ich die Papiere entdeckt, die ihr Mann versteckt hatte. Er hatte eine Revolution in England geplant, bei der nicht nur der Thron gewaltsam gestürzt werden sollte, sondern auch die ganze Regierung … das Parlament, einfach alles. Stattdessen sollten ein Senat und ein Präsident eingesetzt werden. In den Plänen wurde nicht nur mit Gewalttätigkeit gerechnet, es stand auch die Zahl der voraussichtlichen Todesfälle darin, außerdem enthielten sie den Entwurf einer neuen Verfassung, die zahlreiche Reformen vorsah.«
»So, so«, sagte Vespasia leise. »Es überrascht mich in keiner Weise, dass es solche Dokumente gibt. Nur hatte ich nicht angenommen, dass sich Martin Fetters an so etwas beteiligen würde, wenn bekannt war, dass es zu Gewalttätigkeiten kommen sollte. Ich hatte ihn immer für einen Reformer und nicht für einen Umstürzler gehalten. Das A und O einer guten Regierung ist eine breite Basis der Zustimmung im Volk. Es tut mir wirklich Leid, das zu hören.« Damit war es ihr ernst. Es war bitter, zu erfahren, dass noch ein Mann, den sie bewundert hatte, seinen Grundsätzen untreu geworden war.
Charlotte stand dicht neben ihr, ihr Blick wirkte gequält.
»Mir auch«, sagte sie mit einem betrübten Lächeln. »Ich kannte ihn zwar nur aus seinen Schriften, aber er war mir sehr sympathisch. Für seine Frau war es einfach vernichtend, zu merken, dass der Mann, den sie geliebt hatte, in Wirklichkeit gar nicht existierte.« Sie sah suchend auf Vespasias Gesicht, ihre Augen waren ängstlich und verwirrt.
»Setz dich.« Vespasia wies auf einen der Sessel und nahm selbst Platz. »Ich vermute, dass du in dieser Sache etwas unternehmen willst.«
»Das habe ich bereits getan«, sagte Charlotte mit erstickter Stimme. »Juno Fetters hat gleich begriffen, dass darin das Motiv für John Adinett lag, ihren Mann zu töten, und auch, warum er niemandem etwas darüber sagen konnte, nicht einmal, um seine Haut zu retten. Wem hätte er denn trauen sollen?«
Vespasia wartete. Was sie da hörte, war ihr zutiefst unbehaglich.
»Also hat sie beschlossen, Adinetts Namen reinzuwaschen, indem sie die Sache bekannt machte«, schloss Charlotte.
»Wem?«, fragte Vespasia. Eine plötzliche Angst durchschnitt sie wie ein scharfes Messer.
Was sich auf Charlottes Gesicht spiegelte, ließ auf ähnliche Empfindungen schließen.
»Charles Voisey«, sagte sie. »Wir waren gestern Abend bei ihm. Sie hat ihm einen Großteil dessen berichtet, was in den Papieren stand, aber nicht alles.«
»Ich verstehe …«
»Nein!« Charlottes Gesicht war jetzt weiß wie ein Laken, ihre Augen hatten sich geweitet. »Vermutlich nicht. Unmittelbar, bevor wir gegangen sind, hat er Mrs. Fetters überredet, das Dokument zu vernichten, damit die Öffentlichkeit nicht dadurch beunruhigt würde, dass man die Verschwörung bekannt gab, ohne die Namen der an ihr Beteiligten nennen zu können. Das klang auch ganz sinnvoll«, fügte sie rasch hinzu, »doch hat er in der Hitze des Augenblicks Angaben aus dem Dokument erwähnt, über die wir gar nicht gesprochen hatten! Tante Vespasia, er gehört zum Inneren Kreis – möglicherweise ist er sogar der führende Kopf, denn ein anderer würde kaum so viel darüber wissen.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Nur an der Spitze weiß man alles. Die Leute sind in lauter kleinen Gruppen organisiert, und damit kein Verrat möglich ist, weiß jeder nur so viel, wie unbedingt nötig ist.«
»Ja …« Vespasias Gedanken jagten sich. Was Charlotte da sagte, ergab in ganz entsetzlicher Weise einen Sinn. Sie konnte sich Charles Voisey genau als den Mann vorstellen, der an die Spitze eines neuen revolutionären England treten sollte. Er war viele Jahre lang Berufungsrichter gewesen, alle Welt hatte gesehen, wie er dem Recht zur Geltung verhalf, falsche Entscheidungen unterer Instanzen revidierte, weder persönliche Ziele noch solche von Parteien verfolgte. Trotz seines großen Bekannten- und Kollegenkreises hatte er sich aus allem Parteienhader herausgehalten, sodass ihm die öffentliche Meinung nicht unterstellen konnte, seinen persönlichen Vorteil zu suchen.
Während Vespasia alles durch den Kopf ging, was sie über ihn wusste, begriff sie, dass es mit Charlottes Vermutung durchaus seine Richtigkeit haben konnte. So manches andere ergab jetzt einen Sinn: Fetzen von Unterhaltungen, die sie zufällig gehört hatte, Dinge, die Pitt ihr gesagt hatte, sogar ihre Zusammenkunft mit Randolph Churchill.
Dann fiel ihr etwas anderes ein, und der winzige Zweifel, an den sie sich hoffnungsvoll geklammert hatte, schwand dahin.
»Tante Vespasia …«, sagte Charlotte leise und beugte sich vor.
»Ja«, wiederholte Vespasia. »Das meiste, was du sagst, stimmt. Aber ich denke, dass du eins falsch gedeutet hast. Sofern du eine Möglichkeit hast, das Mrs. Fetters mitzuteilen, wird sie das sehr trösten. Allerdings müssen wir vor allem an ihre Sicherheit denken, und falls sie das Buch besitzt, fürchte ich, dass man sie nicht in Ruhe lassen wird.«
»Sie hat es nicht«, sagte Charlotte rasch. »Sie hat es verbrannt, in Voiseys Kamin. Aber was soll ich falsch verstanden haben?«
Vespasia seufzte mit gerunzelten Brauen. »Angenommen, Adinett hat an jenem bewussten Tag in Fetters’ Bibliothek Kenntnis von dem Dokument und von der Beteiligung seines Freundes an der Verschwörung zum Umsturz erlangt – warum hat er es dann nicht einfach mitgenommen?«, fragte sie.
»Er wusste nicht, wo es war, und er hatte keine Zeit, danach zu suchen«, gab Charlotte zur Antwort. »Es war äußerst gut versteckt. Martin Fetters hatte es so eingebunden, dass es genauso aussah wie …« Dann riss sie die Augen weit auf. »Ach so, natürlich. Wenn er es gesehen hatte, wusste er auch, wo es zu finden war! Warum hat er es nicht mitgenommen?«
»Wer hat es geschrieben?«
»Das weiß ich nicht. Es waren zwei oder drei verschiedene Handschriften. Willst du etwa darauf hinaus, dass das Buch gar nicht Fetters gehörte?«
»Ich vermute, dass Adinett einen Teil des Textes geschrieben hat«, sagte Vespasia, »Voisey möglicherweise einen weiteren, und unter Umständen war auch Reginald Gleave beteiligt. Ich denke, dass Fetters’ Handschrift keinesfalls darin zu finden ist.«
»Aber er hat es eingebunden!«, gab Charlotte zu bedenken. »Immerhin hat er eine Republik befürwortet und nie etwas anderes behauptet.«
»Das tun viele«, sagte Vespasia gelassen, bemüht, den Schmerz nicht zu zeigen, den sie empfand. »Aber die meisten wollen sie nicht mithilfe von Gewalt und Täuschung errichten. Sie werben ausschließlich mit Argumenten dafür, versuchen mit Leidenschaft oder Vernunftgründen zu überzeugen – oder mit beidem. Falls Martin Fetters zu dieser Art von Vertretern der Republik gehörte, mussten ihn seine Mitstreiter sofort zum Schweigen bringen, als er entdeckt hatte, dass sie weit radikaler vorzugehen gedachten als er.«
»Und das hat Adinett getan«, schloss Charlotte. In ihren Augen lag Angst. »Kein Wunder, dass Voisey aggressiv reagiert hat, weil Thomas so beharrlich Beweismaterial gegen Adinett gesammelt und mehr oder weniger dafür gesorgt hat, dass er in eine Situation geriet, in der Voisey selbst Adinetts Berufung verwerfen musste! Da sich bereits drei seiner Kollegen gegen eine Revision des Urteils ausgesprochen hatten, hätte er mit einem abweichenden Votum lediglich seine Karten aufgedeckt, ohne Adinett damit retten zu können.« Einen Augenblick lang legte sich ein bitteres Lächeln auf ihre Züge. »Das hat seine Haltung nur noch verschärft.« Dann wurde ihr Gesicht sanfter. »Ich bin aber wirklich froh, dass Martin Fetters nicht zu diesen Leuten gehört hat. Ich habe ihn gleich gut leiden können, als ich gelesen hatte, was er schrieb. Vor allem aber wird seine Frau erleichtert sein, wenn ich ihr das sage. Gibt es irgendeine Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass sie in Sicherheit ist, können wir ihr irgendwie helfen?«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Vespasia. So wichtig diese Frage war, anderes war vordringlich und beschäftigte sie noch mehr.
Charlotte sah sie aufmerksam und besorgt an.
Vespasia war nicht bereit, mit ihr über das zu sprechen, was ihr durch den Kopf ging; vielleicht würde sie das nie tun. Manche Dinge gehören ausschließlich zu einem selbst und lassen sich nicht in Worte fassen.
Sie stand auf. Sogleich erhob sich Charlotte; ihr war klar, dass Vespasia allein sein wollte.
»Thomas war gestern hier«, sagte diese. »Es geht ihm gut.« Sie sah die Erleichterung auf Charlottes Zügen. »Ich habe den Eindruck, dass man sich in Spitalfields gut um ihn kümmert. Seine Kleidung wirkte sauber und ordentlich«, fügte sie mit einem kurzen Lächeln hinzu. »Danke, dass du gekommen bist, meine Liebe. Ich werde gründlich über alles nachdenken, was du gesagt hast. Zumindest ist mittlerweile manches klarer. Sofern Charles Voisey an der Spitze des Inneren Kreises steht und John Adinett sein Stellvertreter war, verstehen wir jetzt wenigstens die Hintergründe des Mordes an Martin Fetters und wissen, dass Thomas Recht hatte. Ich werde sehen, was ich tun kann, um Mrs. Fetters zu helfen.«
Charlotte gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging.
Jetzt musste Vespasia handeln. Sie wusste genug, um zu rekonstruieren, was geschehen war. Die Geldschuld des Kronprinzen war fiktiv, das hatte sie an dem Schuldschein erkannt, den Pitt mitgebracht hatte. Er war eindeutig gefälscht – zwar glänzend, würde aber vor einem Gericht nicht bestehen können. Sein Zweck bestand darin, die Verängstigten, Hungernden und Mittellosen von Spitalfields davon zu überzeugen, dass die Ursache für den Verlust ihres Arbeitsplatzes die Verschwendungssucht des Thronfolgers gewesen sei. War der Aufstand einmal losgebrochen, kam es auf Wahrheit oder Lüge ohnehin nicht mehr an, zumal Lyndon Remus seine Geschichte über den Herzog von Clarence und die Morde in Whitechapel veröffentlichen würde. Ob der Wahrheit entsprach, was darin stand, oder nicht – sie würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass aus dem Aufruhr eine Revolution wurde. Der Innere Kreis würde all das so lange steuern, bis es für seine Mitglieder Zeit war, an die Öffentlichkeit zu treten und die Macht zu übernehmen.
Vespasia fiel der Opernbesuch mit Mario Corena ein, bei dem sie Sissons als Langweiler bezeichnet hatte. Er hatte ihr mitgeteilt, sie irre sich in dem Mann. Wäre ihr da bekannt gewesen, was sie jetzt wusste – sie hätte seinen Mut zur Selbstaufopferung bewundert. Es war, als hätte Corena gewusst, dass Sissons sterben würde.
Dann musste sie an Pitts Beschreibung des Mannes denken, den er beim Verlassen der Zuckersiederei beobachtet hatte – ein älterer Mann von durchschnittlicher Größe, silbrige Strähnen im schwarzen Haar, dunkler Teint, ein fein geschnittenes Gesicht, ein Siegelring mit einem dunklen Stein darin. Die Polizei war der Ansicht gewesen, ein Jude habe die Tat begangen. Sie irrte sich: Ein Römer war es gewesen, ein leidenschaftlicher Verfechter der Republik, der in Sissons womöglich einen willigen Parteigänger gesehen hatte.
Damals, im Sommer vor fünfzig Jahren, als sie ihn in Rom kennen gelernt hatte, wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, einen Menschen zu töten. Aber seither war für beide ein ganzes Leben vorübergezogen. Menschen ändern sich. Enttäuschung und der Verlust von Illusionen setzen ihnen zu, und nur die Allerstärksten haben die Kraft, dem Widerstand zu leisten. Eine zu lange aufgeschobene Hoffnung kann in Verbitterung umschlagen.
Vespasia kleidete sich an. Sie entschied sich für ein exquisites Kleid aus silbergrauer Moiréseide. Dazu trug sie einen ihrer Lieblingshüte mit breiter Krempe, denn diese Art Hut hatte ihr schon immer gut gestanden. Anschließend ließ sie ihre Kutsche vorfahren und nannte dem Kutscher die Adresse Mario Corenas.
Mario empfing sie sichtlich erfreut. Er war überrascht, da sie sich erst für den kommenden Tag verabredet hatten.
»Vespasia!« Sein Blick erfasste ihr Gesicht, den sanften Schwung ihres Kleides. Als er den Hut sah, musste er lächeln. Auch wenn er sich, wie immer, nicht zu ihrer Erscheinung äußerte, ließ sich an seinen Augen ablesen, wie sehr sie ihm gefiel. Er sah sie aufmerksamer an, und mit einem Mal schwand die Freude aus seinen Zügen. »Was gibt es?«, fragte er leise. »Sag bitte nicht, es sei nichts. Ich sehe, dass das Gegenteil der Fall ist.«
Es gab keinen Grund mehr, sich etwas vorzumachen. Zwar hätte sie sich in diesem schönen Raum, von dem aus der Blick auf den stillen Platz fiel, auf die im sommerlichen Laub prangenden Bäume, eine Grünfläche hier und da, gern der Zufriedenheit hingegeben, die sie in seiner Nähe stets empfand, doch über kurz oder lang würde das Ende kommen, und sie musste sich dem unausweichlichen Augenblick stellen.
Sie wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. Einen Moment schwankte sie. Er hatte sich nicht verändert. Es war, als wäre der Sommer in Rom gestern gewesen. Zwar hatten die Jahre den Körper geschwächt und ihre Spuren in beider Gesicht hinterlassen, aber in ihren Herzen lebten nach wie vor die Leidenschaft, die Hoffnung, der Kampfeswille, die Opferbereitschaft, die Fähigkeit, zu lieben und Schmerzen zu ertragen.
Sie schloss die Augen. »Mario, die Polizei beabsichtigt, Isaak Karansky oder einen anderen Juden wegen des Mordes an James Sissons festzunehmen. Ich werde das nicht zulassen. Sag bitte nicht, dass es dem Wohl des Volksganzen dient, einen zu opfern, damit es allen besser geht. Wer zulässt, dass ein Unschuldiger gehängt wird und seine Frau in Trauer um seinen Verlust allein zurückbleibt, macht die Gerechtigkeit zum Gespött. Was kann, wer auf diese Weise schuldig geworden ist, der neuen Ordnung bieten, die wir erschaffen wollen? Wenn wir unsere Waffen einsetzen, um verwerfliche Ziele zu erreichen, büßen wir die Kraft ein, Gutes zu bewirken. In dem Fall haben wir uns auf die Seite des Feindes geschlagen. Ich dachte, das sei dir bekannt.«
Er sah sie schweigend mit umschatteten Augen an.
Während sie auf seine Antwort wartete, steigerte sich der Schmerz in ihr ins Unerträgliche.
Er holte tief Luft. »Das ist es auch, meine Liebe. Vielleicht habe ich eine Zeit lang vergessen, wo genau der Feind steht.« Er senkte den Blick. »Sissons wollte sich um der Sache willen das Leben nehmen, das Ziel hieß mehr Freiheit. Von Anfang an war ihm bewusst, dass er das dem Kronprinzen geliehene Geld nicht wiedersehen würde. Er wollte ihn als den zügellosen Schmarotzer entlarven, der er ist. Ihm war klar, dass das viele Männer den Arbeitsplatz kosten würde, aber er war bereit, mit seinem Leben zu zahlen.« Erneut hob er den Blick zu ihr und sagte eindringlich und mit leuchtenden Augen: »Im letzten Augenblick hat ihn dann seine Entschlusskraft verlassen. Er war nicht der Held, als der er sich gesehen hatte. Und, nun … ich habe ihn tatsächlich getötet. Es geschah rasch und sauber, ohne Schmerzen und ohne Angst. Er hat nur einen flüchtigen Augenblick lang gewusst, was ich tun würde, dann war es vorbei. Ich habe den von ihm selbst verfassten Abschiedsbrief liegen lassen, in dem er erklärt hat, dass es sich um Selbstmord handelte, und auch den Schuldschein des Prinzen. Beides muss die Polizei unterschlagen haben. Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Wir hatten unseren eigenen Mann dort, der für eine Bestätigung des Selbstmordes und dafür sorgen sollte, dass kein Unschuldiger in Gefahr geriet.« Verwirrung lag auf seinen Zügen. Furcht und Schuldbewusstsein schienen ihn zu bedrücken.
Ohne ihn anzusehen, sagte Vespasia: »Das hat er auch versucht, aber er ist zu spät gekommen. Ein anderer hat Sissons gefunden und den Abschiedsbrief vernichtet, weil ihm klar war, welche Unruhen ausbrechen würden. Es hätte ohnehin kein Selbstmord sein können, denn Sissons konnte Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand nicht benutzen. Das wussten die Nachtwächter, die an Ort und Stelle waren.« Sie sah ihn erneut an. »Den Schuldschein habe ich gesehen – er ist nicht vom Prinzen geschrieben, sondern eine gekonnte Fälschung, die für den Zweck hergestellt wurde, für den du sie verwenden wolltest.«
Er setzte zum Sprechen an, sagte aber nichts. Ganz langsam trat Verstehen auf sein Gesicht, dann der Ausdruck von Bekümmernis und schließlich Zorn. Er brauchte ihr nicht zu erklären, dass man ihn hintergangen hatte, sie hatte es an seinen Augen und seinem Mund erkannt, und Schmerz erfüllte sie.
Es kostete sie große Mühe, nicht nachzugeben. Doch wenn sie jetzt einlenkte und sagte, es sei nicht so wichtig, er und sie könnten die Sache auf sich beruhen lassen, würde sie ihn verlieren – und, was noch schwerer wog, vor allem sich selbst.
Sie schloss und öffnete die schmerzenden Augen.
»Ich muss etwas wieder gutmachen«, flüsterte er. »Lebewohl, Vespasia. Ich gehe, aber ich werde dich in meinem Herzen tragen, wohin auch immer mich mein Weg führt.« Er hob ihre Hand an die Lippen. Dann wandte er sich um und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen – mochte sie hinausgehen, wenn sie so weit war, die Kraft aufbrachte, zu ihrem Lakaien, der Kutsche und in die Welt zurückzukehren.
Gracie ging die Geschichte des Prinzen Eddy und Annie Crooks nicht aus dem Kopf. Sie stellte sich Annie vor, eine ganz normale junge Frau, die in nicht viel besseren Verhältnissen lebte als viele, denen Gracie während ihrer Kindheit auf den Straßen begegnet war – vielleicht war sie nicht ganz so schmutzig wie diese, konnte sich ein wenig besser ausdrücken, hatte aber letztlich auch kein anderes Los zu erwarten als ein trostloses Leben, das aus Arbeit, Ehe und immer wieder Arbeit bestand.
Dann eines Tages war sie mit einem gut aussehenden schüchternen jungen Mann bekannt gemacht worden. Rasch dürfte sie dahinter gekommen sein, dass es sich bei ihm um einen feinen Herrn handelte, auch wenn ihr nicht sogleich klar war, dass er ein Prinz war. Doch er unterschied sich von allen anderen, war durch seine Taubheit und alles, was ihm diese über die Jahre zugefügt hatte, von ihnen getrennt. Sie hatten etwas entdeckt, vielleicht eine Art von Gemeinsamkeit, die keiner von beiden zuvor gekannt hatte, und sich ineinander verliebt.
Doch genau das wurde ihnen zum Verhängnis. In ihren wildesten Träumen hätten sie sich nicht das Grauen ausmalen können, das danach über sie hereingebrochen war.
Nach wie vor stand Gracie unter dem Eindruck dessen, was sie empfunden hatte, als ihr mit einem Mal aufging, dass sie am Mitre Square stand, und ihr beim Anblick von Remus’ Gesicht im Schein der Gaslaterne klar wurde, hinter wem er her war. Beim bloßen Gedanken daran zog sich ihr Magen selbst jetzt zusammen, da sie um vier Uhr nachmittags in der warmen Küche in der Keppel Street Tee trank und überlegte, welches Gemüse sie für das Abendessen zubereiten sollte.
Wieder einmal hatte Emily die beiden Kinder ausgeführt. Seit Pitts Abordnung nach Spitalfields hatte sie viel Zeit mit Daniel und Jemima verbracht, was sie in Gracies Wertschätzung gewaltig hatte steigen lassen. Eigentlich hatte sie die Schwester ihrer Herrin für ein wenig verwöhnt gehalten und sah angenehm überrascht, dass sie sich geirrt hatte.
Sie hielt nach wie vor nachdenklich den Blick auf die Reihen blau-weißer Teller auf der Anrichte gerichtet, als ein Klopfen an der Hintertür sie ruckartig in die Wirklichkeit zurückholte.
Es war Tellman. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er schien besorgt zu sein und wirkte müde. Sein reinlicher Hemdkragen saß so knapp wie eh und je, doch die Haare waren ihm in die Stirn gefallen, als wäre es ihm zu viel Mühe gewesen, sie wie sonst sorgfältig nach hinten zu bürsten. Außerdem hätte er schon mindestens vor einer Woche zum Friseur gehen müssen.
Ohne ihn zu fragen, ob er Tee wolle, ging sie zur Anrichte und goss ihm eine Tasse ein.
Tellman setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und trank. Da kein Kuchen im Hause war, konnte sie ihm keinen anbieten. Sie hielt es nicht für erforderlich, von sich aus das Schweigen zu brechen.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er schließlich und sah sie über den Rand seiner Tasse an.
»Ja?« Sie wusste, dass er sich Sorgen machte, konnte es ihm am Gesicht ablesen, an der Art, wie er dasaß, die Tasse hielt, hörte es am Klang seiner Stimme. Wenn sie ihn nicht unterbrach und nicht in ihn drang, würde er von sich aus sagen, worum es ging.
»Sicher haben Sie schon gehört, dass man den Fabrikbesitzer in Spitalfields umgebracht hat, einen gewissen Sissons?«
»Ja. Erst hieß es, vielleicht würden all seine Fabriken zugemacht, dann haben der Kronprinz, Lord Churchill und ’n paar von seinen Bekannten Geld aufgebracht, um sie in Gang zu halten, jedenfalls fürs Erste.«
»Ja. Man sagt, ein Jude soll ihn umgebracht haben, weil sich der Mann von mehreren Juden Geld geliehen hat und es nicht zurückzahlen konnte.«
Sie nickte. Davon hatte sie nichts gehört.
»Na ja, vermutlich sollte dieser Mord etwa zur selben Zeit stattfinden, als Remus die letzten Beweisstücke im Fall des Mörders von Whitechapel in die Hände bekam. Nur hat er bis jetzt nichts bekommen, weil die Sache mit der Zuckerfabrik nicht so gelaufen ist, wie die das wollten.« Er sah sie nach wie vor aufmerksam an. Vermutlich wollte er sehen, was sie von der Sache hielt.
Sie war verwirrt, begriff die Zusammenhänge nicht.
»Ich war wieder bei Mr. Pitt«, fuhr er fort. »Aber er war nicht da. Man versucht, den Mord an Sissons dem Mann anzuhängen, bei dem Mr. Pitt wohnt. Er heißt Isaak Karansky.«
»Und meinen Sie, dass er es war?«, fragte sie und stellte sich vor, was Pitt dabei empfinden würde. Um seinetwillen hoffte sie, dass es sich nicht so verhielt. Sie hatte schon früher gesehen, wie es ihn mitnahm, wenn sich zeigte, dass jemand aus seinem Bekanntenkreis einer entsetzlichen Tat schuldig war.
»Ich weiß nicht«, gestand er. Er sah verwirrt drein. In seinen dunklen Augen lag noch etwas anderes. Vielleicht hatte er Angst – nicht eine vorübergehende Furcht, wie man sie bisweilen empfindet, sondern eine so tiefe und dauerhafte Angst, dass er nicht gegen sie ankämpfen konnte.
Wieder wartete sie.
»Aber darum geht es auch gar nicht.« Er stellte die leere Tasse hin und sah Gracie an. »Es geht um Remus. Ich habe Angst um ihn. Was, wenn er Recht hat und das alles wirklich stimmt? Die Leute hatten keine Bedenken, fünf Frauen in Whitechapel abzuschlachten, ganz davon zu schweigen, was sie Annie Crook und dem Kind angetan haben.«
»Vergessen Sie den armen Prinz Eddy nich«, warf Gracie ein. »Meinen Sie etwa, der is auf natürliche Weise gestorben?«
Tellmans Augen weiteten sich. Sein Gesicht wurde noch bleicher.
»Sagen Sie so etwas nicht! Denken Sie es nicht einmal! Hören Sie!«
»Ja, ich hör. Aber Sie ha’m auch Angst, und sagen Sie mir bloß nich, dass das nich stimmt.« Sie meinte es nicht als Vorwurf. Er wäre in ihren Augen ein Dummkopf gewesen, wenn er keine Angst gehabt hätte. »Sie ha’m also um Remus Angst?«, fuhr sie fort.
»Es würde ihnen nicht das Geringste ausmachen, ihn umzubringen«, gab er zur Antwort.
»Immer angenommen, er hat Recht«, sagte sie. »Was is aber, wenn er Unrecht hat? Wenn es überhaupt nix mit Prinz Eddy zu tun hat und der Innere Kreis sich das alles aus den Fingern gesogen hat?«
»Ich habe trotzdem Angst um ihn«, beharrte er. »Es ist immerhin wahrscheinlich, dass sie ihn erst für ihre Zwecke benutzen und ihn dann beseitigen.«
»Und was könn’ wir tun?«, fragte sie schlicht.
»Sie tun überhaupt nichts!«, verwies er sie scharf. »Sie bleiben hier und sehen zu, dass die Tür verschlossen bleibt.« Er drehte sich auf seinem Stuhl um. »Sie hätten die Hintertür abschließen müssen!«
»Um halb fünf am Nachmittag?«, fragte sie ungläubig. »Hinter mir is doch keiner her! Wenn ich da abschließen wollte, würde doch jeder glauben, dass ich nich ganz richtig im Kopf bin.«
Er errötete leicht und sah beiseite.
Ihr Versuch, das Lächeln zu verbergen, das unwillkürlich auf ihre Züge trat, misslang. Seine Angst um sie veranlasste ihn zu übermäßiger Fürsorge. Jetzt war er verlegen, weil er seine Empfindungen gezeigt hatte.
Er sah sie lächeln. Ausnahmsweise deutete er es richtig, und seine Röte vertiefte sich. Zuerst hielt sie das für ein Anzeichen von Verärgerung, doch zeigte ihr ein Blick in seine Augen, dass er sich freute. Auch sie hatte ihm ihre Empfindungen gezeigt. Nun ja … Irgendwann ist jedes Versteckspiel zu Ende.
»Und was machen wir also?«, erkundigte sie sich noch einmal. »Wir müssen ihn warnen. Wenn er nich auf uns hören will, kann man ihm nich helfen. Aber versuchen müssen wir’s, oder mein’ Sie nich?«
»Auf mich hört er nicht«, sagte er matt. »Er glaubt, dass er auf der Spur der Zeitungssensation des Jahrhunderts ist. Da lässt er mit Sicherheit nicht locker, ganz gleich, wohin ihn das führt. Er ist ein Fanatiker, das habe ich in seinem Gesicht gesehen.«
Gracie erinnerte sich an Remus’ wilden Blick und auch an die Szene im Gasthaus, als er seinen Aal gegessen hatte. »Bestimmt hat er auch Angst. Lassen Sie mich mitkomm’. Wir reden ihm zu zweit zu.«
Tellman zögerte. In sein Gesicht waren tiefe Linien eingegraben. Niemand kümmerte sich um ihn. Er hatte keinen Menschen, dem er seine Befürchtungen oder das Schuldbewusstsein hätte mitteilen können, das ihn heimsuchen würde, wenn Remus etwas zustieß, ohne dass er einen Versuch unternommen hätte, ihn zu warnen.
Sie stand auf. Die Stuhlbeine scharrten über den Fußboden. »Ich hol noch Tee. Wie wär’s mit ’ner Portion aufgewärmtem Kohl und Kartoffeln? Es sind noch Unmengen davon da. Ich könnte auch frische Zwiebeln reinschneiden. Wär das was?«
Er entspannte sich. »Meinen Sie?«
»Natürlich nich!«, sagte sie schnippisch. »Ich steh hier rum, weil ich nich weiß, was ich will! Was glau’m Se eigentlich?«
»Passen Sie nur auf, dass Sie sich mit Ihrer Zunge nicht eines Tages schneiden!«, teilte er ihr mit.
»Entschuldigung«, sagte sie kleinlaut. Es war ihr ernst. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn so angegiftet hatte. Vielleicht, weil sie sich gern mehr um ihn gekümmert, mehr für ihn getan hätte, als ihm recht war, als er sich gefallen ließ.
Als ihr das aufging, errötete sie mit einem Mal, und so drehte sie sich rasch um und verschwand in der Speisekammer, um das Nötige zu holen. Während sie am Herd Zwiebeln schnitt und briet, Kartoffeln und Kohl zum Aufwärmen hinzugab und das Ganze rührte, bis es innen glühend heiß und außen knusprig braun war, hielt sie ihm den Rücken zugekehrt. Sie füllte einen vorgewärmten Teller und stellte ihn Tellman hin. Anschließend setzte sie den Wasserkessel erneut auf und machte frischen Tee.
Zum Schluss nahm sie wieder ihm gegenüber Platz.
»Wir suchen also diesen Remus auf und sagen ihm, was für ’ne gewaltige Sache das is? Für den Fall, dass er noch gar nich gemerkt hat, mit wem er’s zu tun hat, weil er nich nach links und rechts geguckt hat?«
»Ja«, sagte er mit vollem Mund, wobei er gleichzeitig zu lächeln versuchte. »Aber das mache ich. Nicht Sie.«
Sie hielt den Atem an.
»Sie nicht«, wiederholte er. »Versuchen Sie nicht, mich umzustimmen! Das ist mein letztes Wort.«
Sie seufzte tief auf und sagte nichts.
Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Essen zu, das verlockend nach Zwiebeln roch. Er schien nicht zu merken, wie überraschend schnell sie klein beigegeben hatte.
Als er sich gesättigt hatte, dankte er ihr mit ehrlich gemeinter Bewunderung und verließ das Haus nach etwa zehn Minuten durch die Hintertür.
Gracie überlegte, dass es ihr gelungen war, Remus bis Whitechapel auf der Fährte zu bleiben, ohne dass er etwas gemerkt hatte, ihrer Ansicht nach eine beachtliche Leistung. Natürlich würde es sehr viel schwieriger sein, Tellman unauffällig zu folgen, weil er sie kannte. Zu schwer würde es aber nicht werden, denn er dürfte kaum damit rechnen, außerdem kannte sie sein Ziel: Er wollte an Remus’ Wohnung auf dessen Rückkehr von seinen Erkundungen warten. Sie nahm Mantel und Hut vom Haken an der Tür und machte sich auf den Weg. Auch wenn sie nicht viel für Lyndon Remus übrig hatte, wusste sie doch inzwischen dies und jenes über ihn, seine Vorlieben und Abneigungen, und war Zeugin seiner Erregung wie auch des Entsetzens gewesen, das er empfunden hatte. Sie wollte nicht, dass ihm ernsthaft etwas zustieß, hätte aber nichts dagegen gehabt, wenn etwas geschähe, was ihn ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Allerdings war ihr klar, dass in diesem Zusammenhang von keiner Seite Mäßigung zu erwarten war.
Sie hatte nur einen Shilling und fünf Pence bei sich, die sich zufällig in der Manteltasche befanden. Für Charlotte hatte sie rasch mit Bleistift eine kurze Mitteilung auf einer Papiertüte hinterlassen, damit sie sich keine Sorgen machte. Zwar hatte sie noch ihre Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung, doch da Charlotte ihr Lesen und Schreiben beigebracht hatte, würde sie wohl auch verstehen, was da stand.
Zielbewusst strebte Tellman der Tottenham Court Road entgegen. Offensichtlich wollte er zur Haltestelle der Pferde-Omnibusse. Das erschwerte die Sache, denn wenn sie in denselben Omnibus stieg wie er, würde er sie zwangsläufig sehen, wenn sie aber auf den nächsten wartete, würde sie zu spät kommen, denn das konnte ohne weiteres eine Viertelstunde dauern.
Doch sie wusste, wo Remus wohnte. Wenn sie die Untergrundbahn nahm, hatte sie gute Aussichten, etwa gleichzeitig mit Tellman dort einzutreffen. Es war das Risiko wert.
Rasch wandte sie sich in die Gegenrichtung und begann zu laufen. Falls sie Glück hatte, würde ihr Vorhaben gelingen. Das Geld würde auf jeden Fall reichen.
Unruhig schritt sie auf dem Bahnsteig auf und ab und rutschte, als der Zug endlich gekommen war, nervös auf ihrem Sitz herum. Kaum hatte der Zug an ihrem Zielbahnhof angehalten, als sie hinausstürmte und die Treppe emporeilte.
Auf der Straße herrschte viel Verkehr, und sie brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Bei einer fliegenden Händlerin, die süßes Gebäck feilbot, erkundigte sie sich nach dem Weg und eilte im Laufschritt weiter.
Als sie die letzte Ecke umrundete, hätte sie Tellman fast umgerannt.
Er ließ eine Reihe Flüche vom Stapel, die sie ihm nicht zugetraut hätte.
»Wie entsetzlich!«, sagte sie verblüfft.
Er errötete bis über beide Ohren. Es war ihm so peinlich, dass er einen Augenblick lang außerstande war, seine übliche Würde zu wahren und ihr zu sagen, sie solle sich nach Hause scheren. Sie rückte ihren Hut gerade und sah ihn furchtlos an. »Er is also nich da?«
»Nein.« Er räusperte sich. »Noch nicht.«
»Dann warten wir wohl besser«, erklärte sie, wandte den Blick ab und zeigte damit an, dass es ihr an Zeit und Geduld nicht fehlte.
Tellman holte tief Luft, um sie zurechtzuweisen, doch sah er wohl die Sinnlosigkeit ein und hielt inne. Wenn sie nun einmal da war und er keine Möglichkeit hatte, sie fortzuschicken, konnte er sie ebenso gut als Verbündete behandeln.
Nachdem sie fünf Minuten lang schweigend nebeneinander an der Straßenecke gegenüber Remus’ Haus gestanden hatten, wobei sie von mehreren Vorüberkommenden neugierig gemustert worden waren, teilte ihm Gracie mit: »Wenn Se nich auffallen woll’n, sollten wir besser miteinander reden. Sonst sieht das aus, wie wenn wir finstere Pläne hätten. Wenn wir nix sagen, können die Leute nich mal denken, dass wir uns streiten. Kein Mensch schmollt ewig.«
»Ich schmolle nicht«, sagte er rasch.
»Dann reden Sie mit mir.«
»Ich kann nicht … einfach so reden.«
»Können Sie doch.«
»Worüber?«, fragte er.
»Irgendwas. Wohin würden Sie fahren, wenn Sie reisen könnten, wohin Sie wollen? Wenn Sie mit jemand aus der Geschichte reden könnten, wer wär das? Was würden Sie dem sagen?«
Er sah sie mit weit geöffneten Augen an.
»Na?«, fragte sie. »Und seh’n Sie nich mich an. Halten Sie Ausschau nach Remus. Dafür sind wir hier. Also, mit wem würden Sie reden?«
Wieder lag auf seinen Wangen eine leichte Röte. »Und Sie?«
»Florence Nightingale«, sagte sie sofort.
»Das war mir klar«, sagte er. »Aber die lebt noch.«
»Macht nix, gehört trotzdem zur Geschichte. Und Sie?«
»Admiral Nelson.«
»Warum?«
»Weil er nicht nur ein bedeutender Seeheld war, sondern auch ein bedeutender Führer. Seine Männer haben ihn geliebt«, gab er zur Antwort.
Sie lächelte. Sie freute sich, dass er das gesagt hatte. Man erfuhr viel über einen Menschen, wenn man wusste, wer seine Vorbilder waren und warum.
Unvermittelt griff er nach ihrem Arm. »Da ist er! Kommen Sie«, sagte er mit Nachdruck und riss sie mit sich. Den Fahrzeugen ausweichend, eilten sie über die Straße und erreichten den gegenüberliegenden Gehweg im selben Augenblick, in dem Remus das Haus betreten wollte.
»Remus!«, rief Tellman und blieb stehen, um nicht auf ihn zu prallen.
Remus wandte sich verblüfft um. Kaum hatte er Tellman erkannt, als sich sein Gesicht verdüsterte. »Keine Zeit, mit Ihnen zu reden«, sagte er und kehrte ihm den Rücken. Er trat durch die Tür und wollte sie hinter sich ins Schloss ziehen.
Tellman stellte den Fuß in die Tür. Er hatte Gracie nicht losgelassen, obwohl sie ihm durchaus bereitwillig folgte.
Zornesröte trat auf Remus’ Gesicht. »Haben Sie nicht gehört? Ich habe nichts mehr zu sagen und auch keine Zeit. Lassen Sie mich also zufrieden.«
Tellman spannte sich an, als mache er sich auf einen Schlag gefasst, und blieb stehen, wo er war. »Wenn Sie noch immer hinter dem Mörder von Whitechapel und der Geschichte von Annie Crook her sind, sollten Sie die Finger davon lassen. Das ist für einen allein zu gefährlich.«
»Zu gefährlich wäre es, jemandem etwas zu sagen, bevor ich die Beweise in der Hand habe!«, gab Remus zurück. »Das dürfte niemand besser wissen als Sie.« Er wandte sich Gracie zu. »Und Sie, wer Sie auch sein mögen.«
»Ich weiß, wem Sie trauen können«, sagte Tellman eindringlich. »Lassen Sie diese Menschen das wissen. Es ist die einzige Sicherheit, die Sie haben.«
Mit spöttisch blitzenden Augen gab Remus zurück: »Vermutlich meinen Sie damit die Polizei! Vielleicht sollte ich es gleich Ihnen sagen, was?« Er stieß ein verächtliches Lachen aus. »Jetzt nehmen Sie den Fuß aus der Tür. Ich weiß, wie gefährlich die Sache ist, und der Polizei trau ich zu allerletzt.«
Tellman suchte nach einem Argument, fand aber keines.
Auch Gracie fiel nichts ein. Sie hätte an Remus’ Stelle auch niemandem getraut.
»Seien Sie auf jeden Fall vorsichtig«, sagte sie impulsiv. »Sie wissen, was die Leute den Frauen angetan haben.«
Mit einem Lächeln gab Remus zurück: »Und ob ich das weiß. Ich bin auf der Hut.«
»Sind Se nich!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Ich bin Ihnen bis Whitechapel gefolgt, hab sogar mit Ihnen gesprochen, und Sie ha’m es nich mal gemerkt. Bis zum Mitre Square bin ich Ihnen nachgegangen, aber Sie waren so vertieft, dass Ihnen nix aufgefallen is.«
Remus erbleichte und sah sie verblüfft an. »Wer sind Sie? Warum sind Sie mir gefolgt – falls das stimmt.« Jetzt lag in seiner Stimme Angst. Vielleicht hatte ihm ihre Erwähnung des Mitre Square klargemacht, dass sie die Wahrheit sagte.
»Das spielt keine Rolle«, sagte sie knapp. »Wenn ich Ihnen folgen kann, können die das auch! Sei’n Se vorsichtig und tun Se, was er sagt.« Bei diesen Worten wies sie auf Tellman.
»Schön, ich werde mich daran halten. Jetzt gehen Sie aber«, sagte Remus und drückte gegen die Tür.
Im Bewusstsein, dass sie alles getan hatten, was sie konnten, traten Gracie und Tellman den Rückzug an.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieb Tellman stehen und sah Gracie fragend an.
»Der hat was vor«, sagte sie bestimmt. »Er hat Angst, gibt aber nich auf.«
»Das nehme ich auch an«, sagte Tellman leise. »Ich werde ihm folgen und zusehen, ob ich ihn schützen kann. Sie gehen nach Hause!«
»Ich komm mit.«
»Tun Sie nicht!«
»Ich komm mit oder lauf Ihnen nach.«
»Gracie – «
In diesem Augenblick öffnete sich Remus’ Haustür erneut, und er kam heraus. Erst sah er sich aufmerksam um, dann machte er sich auf den Weg, wohl in der Annahme, die beiden seien gegangen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zum Streiten; sie mussten ihm auf der Fährte bleiben.
Nahezu zwei Stunden lang folgten sie ihm: zuerst in den Stadtteil Belgravia, wo er sich etwa fünfundzwanzig Minuten lang aufhielt. Dann ging es südostwärts zur Themse und eine ganze Weile an deren Ufer entlang. Kurz vor dem Tower verloren sie ihn aus den Augen. Offenbar setzte er seinen Weg weiter ostwärts fort. Allmählich wurde es dunkel.
Tellman schimpfte enttäuscht, achtete aber diesmal sorgfältig auf seine Ausdrucksweise.
»Er hat uns mit voller Absicht hinters Licht geführt!«, sagte er wütend. »Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass wir hinter ihm her sind. Wir waren wohl zu nahe an ihm dran. So ein Ärger!«
»Schon möglich«, sagte sie. »Vielleicht is es ihm aber gar nich darum gegangen, uns loszuwerden, und er war nur vorsichtig, wie wir ihm das geraten haben.«
Mit finsterer Miene und schmalen Lippen auf dem Gehweg stehend, sah Tellman angestrengt dorthin, wo sie Remus zuletzt gesehen hatten.
»Auf jeden Fall haben wir ihn aus den Augen verloren. Ich möchte wetten, dass er wieder auf dem Weg nach Whitechapel ist!«
Es wurde immer dunkler. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war der Laternenanzünder eifrig bei der Arbeit.
»Hier finden wir ihn nie.« Tellman ließ den Blick über den dichten Verkehr schweifen. Auf dem Pflaster hörte man das Hufgetrappel und das Rumpeln der Wagenräder. Gelegentlich stieß einer der Fuhrleute einen lauten Ruf aus. Jeder schien darauf bedacht, möglichst rasch voranzukommen. Ganz davon abgesehen, dass ihnen zahlreiche Menschen und Pferde den Blick versperrten, konnte man im trüben Licht kaum fünfzig Schritt weit sehen.
Gracie empfand bittere Enttäuschung. Mehr noch als ihre schmerzenden Füße und ihr Hunger beherrschte sie die Befürchtung, Remus habe nicht wirklich verstanden, in welcher Gefahr er sich befand. Sie wünschte, sie könnte ihm das klarmachen.
»Kommen Sie, Gracie«, forderte Tellman sie freundlich auf. »Es hat keinen Sinn – er ist uns durch die Lappen gegangen. Wir wollen irgendwo etwas essen.«
Er wies zu einem Lokal auf der anderen Straßenseite.
Die Vorstellung, sich setzen zu können und die Füße auszuruhen, war für Gracie noch verlockender als der Gedanke an Essen. Da sie wirklich nichts weiter tun konnten, stimmte sie zu und folgte ihm langsam – nicht weil sie gezögert hätte, sondern weil sie völlig erschöpft war.
Es war ein wahrer Segen, sich ausruhen zu können. Sie genoss die Mahlzeit mit ihm im Bewusstsein, dass sie bisher immer in der Küche in der Keppel Street gemeinsam etwas gegessen hatten, was sie zubereitet hatte. Sie unterhielten sich über dies und jenes. Tellman berichtete über seine ersten Jahre bei der Polizei, über Erlebnisse, die zum Teil recht lustig waren, sodass sie laut lachen musste. Bisher war ihr noch gar nicht aufgefallen, dass er auf seine Weise durchaus ein Empfinden für das Absurde hatte.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie mit einem Mal, als er gerade den Bericht über ein Abenteuer beendet hatte, durch den sie viel über sein wahres Wesen erfahren hatte.
»Was?« Er war unsicher, wusste nicht, was sie meinte.
»Wie Sie heißen«, wiederholte sie. Jetzt war sie befangen. Sie wollte ihn sich nicht immer als »Tellman« vorstellen müssen, wollte wissen, wie ihn Menschen nannten, die ihm nahe standen.
Sein Gesicht rötete sich, und er sah auf seinen leeren Teller hinab.
»Entschuldigung«, sagte sie unglücklich. »Ich hätte das nicht fragen sollen.«
»Samuel«, antwortete er rasch, wobei er den Namen fast verschluckte.
Ein schöner Name. Er gefiel ihr sehr.
»Hmm. Zu gut für Sie. Das is ja ’n richtiger Name.«
Er hob rasch den Blick. »Gefällt er Ihnen? Meinen Sie, dass er …«
»Aber ja«, bestätigte sie. »Ich wollt’ ’n einfach wissen, nix weiter. Jetzt muss ich aber nach Hause.« Trotz dieser Worte blieb sie sitzen.
»Ja«, sagte er, ebenfalls ohne sich zu rühren.
»Wissen Sie was?«, sagte sie nachdenklich. »Dieser Remus glaubt, dass er jetz die Lösung hat. Er weiß die Wahrheit, das hab ich ihm an der Nasenspitze angesehn. Er wollte nich, dass wir das merken, aber er hat alles zusammen, und morgen steht’s in der Zeitung.«
Wortlos sah Tellman sie eine Weile über den Tisch hinweg mit ernstem Gesicht fest an.
»Ja«, gab er ihr dann Recht. »Nur weiß ich nicht, wie ich ihn daran hindern könnte. Es würde nichts nützen, wenn ich ihm sagte, welchen Schaden er damit anrichtet. Er sieht darin seine große Gelegenheit, berühmt zu werden, und die lässt er sich um keinen Preis entgehen.«
»Das wissen die Leute bestimmt auch«, sagte sie und spürte, wie die Angst erneut in ihr aufstieg, kalt und Übelkeit erregend. Auch wenn ihr nichts an Remus lag, wollte sie nicht, dass ihm etwas zustieß. »Ich würde wetten, dass er wieder in Whitechapel is. Das letzte Mal, bevor er die Bombe platzen lässt … bevor er seinen Artikel für die Zeitungen zu Ende schreibt. Sicher is er noch mal an die Stellen gegangen, wo es passiert is – Hanbury Street, Buck’s Row und so weiter.«
An der Art, wie sich seine Augen weiteten, erkannte sie, dass er ihre Annahme teilte. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Ich gehe dorthin. Sie können eine Droschke nehmen und nach Hause fahren. Ich geb Ihnen das Geld.«
Er begann in seinen Taschen zu suchen.
»Kommt ja gar nich infrage!« Auch sie erhob sich. »Ich lass Sie da nich alleine hin. Machen Sie sich gar nich erst die Mühe, mir das auszureden. Wir nehm’ den Streifenpolizist von der High Street mit. Sollte Remus nich da sein, steh’n wir eben dumm da. Sie könn’ dem Mann dann ja sagen, dass es meine Schuld war.« Mit diesen Worten ging sie zum Ausgang.
Er folgte ihr und drängte sich unter Entschuldigungen an eintretenden Gästen vorüber.
Draußen hielt er die nächste Droschke an und nannte dem Kutscher die High Street von Whitechapel als Fahrtziel.
Als im Licht der Gaslaterne ein Streifenpolizist auftauchte, ließ er den Kutscher anhalten, sprang herab und ging durch den Nebel auf den hoch gewachsenen Mann mit dem Helm auf dem Kopf zu. Auch Gracie stieg aus und erreichte die beiden gerade, als Tellman seinem Kollegen erklärte, dass ein Informant in Gefahr sei und unverzüglich Hilfe brauche.
»Genau«, sagte sie, heftig nickend.
»Gracie Phipps«, erklärte Tellman rasch. »Sie begleitet mich.«
»Und wo hält sich dieser Informant auf?«, fragte der Beamte und sah sich um.
»Am Mitre Square«, sagte Gracie, ohne zu zögern.
»He!«, meldete sich der Droschkenkutscher. »Was is mit mir?«
Tellman ging hinüber und entlohnte ihn, dann trat er wieder zu Gracie und dem Polizeibeamten. Wortlos gingen sie zur Aldgate Street, von der sie in die Duke Street gelangten. Ihre Schritte hallten in der Dunkelheit. Hier war es deutlich stiller als in der High Street, und die Laternen standen weiter auseinander. Das Straßenpflaster war glatt. Die Feuchtigkeit, die in der Luft lag, war beklemmend.
Gracie merkte, dass ihre Wangen feucht waren. Sie schluckte und konnte kaum atmen. Sie sah Remus’ Gesicht vor sich, wie er beim vorigen Mal mit vor Erregung leuchtenden Augen dort gestanden hatte.
Sie musste an die riesige schwarze Kutsche denken, die durch diese Straßen gefahren war und in der etwas unvorstellbar Grausames und Boshaftes lauerte.
Als eine Ratte vorüberhuschte und sich jemand an einer Hauswand bewegte, griff sie nach Tellmans Hand und umklammerte sie fest. Er zog sie nicht fort, sondern erwiderte ihren Druck.
Von der Duke Street bogen sie in das Gässchen vor der Kirche des Heiligen Botolph ein und tasteten sich, dem Lichtkegel der Blendlaterne des Polizeibeamten folgend, dem Mitre Square entgegen.
Die Leere dort wurde von einer Gaslaterne hoch an einer Mauer schwach erhellt. Niemand war zu sehen.
Gracie schwamm der Kopf vor Erleichterung. Es war ihr gleichgültig, dass der Beamte sie für eine Törin halten und zweifellos sehr ärgerlich sein würde. Es war ihr auch gleichgültig, dass auch Tellman – Samuel – zornig sein würde.
Dann hörte sie, wie er scharf den Atem einsog. An der jenseitigen Ecke des Platzes sah sie eine Gestalt, die mit ausgebreiteten Armen am Boden lag.
Schwer atmend eilte der Polizeibeamte hin, wobei er fast gestolpert wäre.
»Nein!«, sagte Tellman und hielt Gracie zurück. Doch im Schein der Blendlaterne sah sie, dass Lyndon Remus ebenso dort lag wie damals Kate Eddowes. Seine Kehle war durchgeschnitten, seine Eingeweide waren herausgerissen und ihm wie bei einem abscheulichen Ritual über die Schulter gelegt worden.
Dieser entsetzliche Anblick brannte sich für immer in Gracies Erinnerung. Sie wandte sich ab und barg ihren Kopf an Tellmans Brust. Sie spürte, wie sich seine Arme schützend um sie legten und er sie fest an sich drückte, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Remus hatte die Wahrheit gekannt und mit seinem Leben dafür bezahlt. Jetzt brannte die Frage in ihr: Wie sah die Wahrheit aus? Hatte ihn der Mann, der hinter den Morden von Whitechapel stand, getötet, weil Remus von der Verschwörung zur Vertuschung von Prinz Eddys Mesalliance wusste? Oder stand der Innere Kreis dahinter, weil diesen Männern bekannt war, dass Remus’ Annahme nicht stimmte und der Mann mit dem Lederschurz, den der Volksmund Jack the Ripper nannte, ein verrückter Einzelgänger war, wie das die Öffentlichkeit von Anfang an vermutet hatte?
Remus hatte das Geheimnis mit in seinen entsetzlichen Tod genommen, und niemand würde je die Geschichte berichten, auf die er gestoßen war – ganz gleich, wie sie aussehen mochte.
Gracie drängte sich enger an Tellman und spürte seine Wange und seine Lippen auf ihrem Haar.
In Isaaks und Leas Haus war es still. Es schien in ihrer Abwesenheit fast tot zu sein. Pitt hörte seine eigenen Schritte im Gang. Laut klirrte das Geschirr, während er in der Küche sein Abendessen zubereitete. Selbst das Geräusch des Löffels auf dem Boden der Schüssel wirkte störend. Zwar hielt Pitt das Feuer im Herd in Gang, um kochen zu können und zumindest heißes Wasser zu haben, doch die wahre Wärme in der Küche war, wie er jetzt merkte, von Leas Gegenwart ausgegangen.
Er aß allein, und da er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen, ging er früh zu Bett. Er lag noch wach im Dunkeln, als er das gebieterische Klopfen an der Tür hörte.
Sein erster Gedanke war, dass es weitere Schwierigkeiten in der jüdischen Gemeinschaft gegeben hatte und jemand bei Isaak Hilfe suchen wollte. Zwar würde Pitt in einem solchen Fall nichts tun können, aber er konnte zumindest öffnen.
Während er halb angekleidet die Treppe hinabging, fiel ihm auf, dass das Klopfen herrisch wirkte, als hätte der Einlass Begehrende einen Anspruch auf Gehorsam. Doch war es zugleich zurückhaltender und weniger ungeduldig als kürzlich bei Harper.
Unten angekommen, tat er die drei Schritte durch die Diele und schob den Riegel zurück.
Victor Narraway kam ohne Umschweife herein und schloss die Tür hinter sich. Im Schein der Gaslampe wirkte sein Gesicht abgespannt, die vom Nebel feuchte Luft ließ sein dichtes Haar wirr um den Kopf stehen.
Eine böse Vorahnung erfüllte Pitt. Vor seinem inneren Auge jagte eine scheußliche Vorstellung die andere, und er fragte: »Was gibt es?«
»Ich habe soeben von offizieller Stelle erfahren, dass Voisey Mario Corena erschossen hat«, sagte Narraway mit heiserer Stimme.
Pitt war benommen. Zuerst begriff er nicht recht. Er konnte mit dem Namen Corena nichts anfangen, und Voisey war ihm nicht persönlich bekannt. Ein Blick auf Narraways Gesicht zeigte ihm, dass die Sache von höchster Bedeutung war.
»Mario Corena gehörte zu den ganz großen Helden der 48er Revolutionen auf dem europäischen Festland«, sagte Narraway mit unüberhörbar tiefer Trauer. »Er war einer der Tapfersten und Großherzigsten.«
»Und was wollte er hier in London?« Pitt wusste immer noch nicht, was er denken sollte. »Welchen Grund hatte Voisey, ihn zu erschießen?« Erinnerungen an Dinge, die Charlotte und Vespasia gesagt hatten, stiegen in ihm auf. »Ist das nicht einer der Vorkämpfer für die Republik? Der Name Corena klingt, als ob er Italiener wäre – was geht das Voisey an?«
Narraways Gesicht verzog sich schmerzlich. »Corenas Bedeutung ging über die Grenzen seines Volkes hinaus, Pitt. Abgesehen von allem anderen, war er eine große Persönlichkeit. Er war Zeit seines Lebens bereit, alles, was er besaß, im Kampf dafür aufs Spiel zu setzen, dass allen Menschen ein anständiges Leben möglich ist, dass es überall Menschlichkeit und eine Justiz gibt, die diesen Namen verdient.«
»Und aus welchem Grund hat ihn Voisey getötet?«
»Er behauptet, es sei Notwehr gewesen. Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit! Wir kümmern uns um die Sache. Beeilen Sie sich!« Pitt folgte der Aufforderung, ohne Fragen zu stellen, und eine halbe Stunde später fuhren sie in einer Droschke vor Charles Voiseys elegantem Haus am Cavendish Square vor. Narraway stieg aus, bezahlte und eilte Pitt voraus zur Tür, die ein uniformierter Wachtmeister sogleich öffnete.
Pitt folgte Narraway auf dem Fuße. Zwei weitere Männer befanden sich im Vestibül. In einem erkannte Pitt den Polizeiarzt, den anderen, der Narraway ansprach, hatte er noch nie gesehen. Er wies auf eine der Türen.
Mit einem Blick bedeutete Narraway Pitt, dass er ihm folgen solle, und betrat dann den Raum, der in helles Licht getaucht war. Der große Schreibtisch und mehrere Bücherschränke, vor denen zwei reich geschnitzte Stühle mit Ledersitzen standen, zeigten an, dass es sich um ein Arbeitszimmer handelte. Am Boden lag ein schlanker Mann mit dunklem Teint und schwarzem Haar, das von weißen Strähnen durchzogen war. Vermutlich hatte er von der Tür aus in Richtung Schreibtisch gehen wollen. Am Ringfinger einer seiner schmalen Hände trug er einen Siegelring mit einem dunklen Stein. Sein Gesicht wirkte durch den friedlichen Ausdruck, den es trug, fast schön. Die Lippen waren in einer Weise verzogen, die man als Lächeln hätte deuten können. Der Tod war ohne Angst und Schrecken zu ihm gekommen, eher wie ein schon lange erwarteter Freund.
Reglos stand Narraway da, erkennbar bemüht, seiner inneren Bewegung Herr zu werden.
Pitt hatte den Mann schon einmal gesehen. Er kniete sich neben ihn und berührte ihn. Er war unverkennbar tot, auch wenn der Körper noch nicht kalt war. Ein Einschussloch in der Brust und ein Blutfleck auf dem Fußboden wiesen auf die Todesursache hin.
Pitt richtete sich auf und wandte sich Narraway zu.
Dieser schluckte und sah beiseite. »Wir gehen jetzt zu Voisey. Er soll uns sagen, wie er das hier … erklären kann!« Seine Stimme klang erstickt. Die Wut darin war unüberhörbar.
Im Hinausgehen schloss Narraway die Tür leise, als verließen sie eine Art Heiligtum. Er trat durch das Vestibül zu dem zweiten Mann, der wartend stehen geblieben war. Sie verständigten sich mit einem Blick, und der Mann öffnete Narraway und Pitt die Tür.
Der Raum, in den sie traten, war das Gesellschaftszimmer. Den Kopf in die Hände gestützt, saß Charles Voisey auf der Kante des großen Sofas. Er hob den Blick, als Narraway vor ihn trat. Alle Farbe hatte sein Gesicht verlassen, bis auf die bläulichen Spuren, wo seine Finger ins Fleisch der Wangen gedrückt hatten.
»Er ist auf mich losgegangen«, sagte er mit hoher und brüchiger Stimme. »Er war wie verrückt. Er hatte eine Schusswaffe in der Hand. Ich habe mich bemüht, ihm gut zuzureden, aber er hat nicht darauf geachtet. Es war, als ob er nichts von dem gehört hätte, was ich sagte. Er war … fanatisch!«
»Welchen Grund hätte er gehabt, Sie zu töten?«, fragte Narraway kalt.
Voisey schluckte.
»Er – er war gleich mir mit John Adinett befreundet und aus irgendeinem Grund überzeugt, ich hätte ihn … sozusagen … verraten … weil ich ihn nicht vor der Todesstrafe bewahrt habe. Er wollte nicht verstehen, dass ich dazu keine Möglichkeit hatte.« Er warf einen Blick auf Pitt und sah dann wieder auf Narraway. »Manche Dinge stehen nun einmal höher als eine Freundschaft, ganz gleich, wie man sich … zu jemandem stellt. Und Adinett war in mancher Hinsicht wirklich ein großartiger Mensch … weiß Gott.«
»Er war ein bedeutender Vorkämpfer republikanischer Ideen«, sagte Narraway mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. Pitt wusste nicht recht, was er von dieser Mischung aus Leidenschaftlichkeit und schneidendem Sarkasmus halten sollte.
»Ja …«, Voisey zögerte. »Das stimmt. Andererseits …« Wieder verstummte er. In seinem Blick lag Unsicherheit. Er sah Pitt an, und einen Augenblick erkannte dieser in den Augen des Mannes blanken Hass. Gleich darauf aber beherrschte er sich wieder und senkte den Blick. »Er war überzeugt, dass auf vielen Gebieten Reformen nötig sind, und hat sich mit allem Mut und aller Intelligenz für sie eingesetzt. Aber man kann dem Gesetz nicht einfach in den Arm fallen. Corena war wohl außerstande, das zu begreifen. Er war geradezu … unbeherrscht, wild. Mir blieb keine Wahl. Er hat sich wie ein Verrückter auf mich gestürzt und geschworen, er würde mich umbringen. Ich habe mit ihm gerungen, konnte ihm aber die Waffe nicht entwinden.« Der Anflug eines Lächelns trat auf seine Lippen, das wohl eher sein Erstaunen als seine Belustigung ausdrücken sollte. »Für einen so alten Mann war er unvorstellbar stark. Dann löste sich ein Schuss.« Er sagte nichts weiter; es wäre auch überflüssig gewesen.
Pitt sah auf Voiseys Hemdbrust Blut in einer Höhe, die zu Corenas Wunde passte. Es konnte stimmen.
»Ich verstehe«, sagte Narraway finster. »Sie behaupten also, in Notwehr gehandelt zu haben.«
Voiseys Brauen hoben sich. »Was denn sonst? Großer Gott – glauben Sie etwa, ich hätte den Mann absichtlich erschossen?« Seine Verblüffung und Ungläubigkeit waren so groß, dass ihm Pitt unwillkürlich glaubte.
Wortlos machte Narraway auf dem Absatz kehrt und ging mit langen Schritten hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Nach einem weiteren Blick auf Voisey folgte ihm Pitt.
Im Vestibül blieb Narraway stehen. Als ihn Pitt erreicht hatte, sagte er sehr leise: »Sie kennen ja wohl Lady Vespasia Cumming-Gould?« Es war keine wirkliche Frage, und er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. »Vielleicht haben Sie nicht gewusst, dass Corena die große Liebe ihres Lebens war. Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß: Es genügt, dass es mir bekannt ist. Ich denke, Sie sind der Richtige, es ihr zu sagen. Sie soll es nicht aus den Zeitungen erfahren oder von jemandem, der nicht weiß, was es für sie bedeutet.«
Es kam Pitt vor, als hätte ihm jemand einen so kräftigen Schlag versetzt, dass er keine Luft mehr bekam. Er hatte den Eindruck, nicht weiteratmen zu können. Alles krampfte sich in ihm zusammen, sodass er seinen Schmerz fast hinausgeschrien hätte.
Vespasia!
»Bitte gehen Sie zu ihr«, drang Narraway in ihn. »Sie darf es auf keinen Fall von einem Fremden erfahren.« In seinen Augen erkannte Pitt, dass er es als Bitte meinte.
Es gab nur eine mögliche Antwort darauf. Pitt nickte, weil er nicht wusste, ob er Worte herausgebracht hätte, und trat dann hinaus auf die stille Straße.
Er nahm die erste Droschke, die vorüberkam, und nannte dem Kutscher Vespasias Anschrift. Ohne etwas zu denken, fuhr er durch die Dunkelheit. Es hatte keinen Sinn, sich zurechtzulegen, wie er es sagen wollte. Es gab keine passenden Worte.
Die Droschke hielt an, und er stieg aus. Kaum hatte er geklingelt, wurde zu seiner Überraschung schon geöffnet.
»Guten Abend, Sir«, sagte der Butler. »Treten Sie näher, ich werde Sie der gnädigen Frau melden.«
»Danke.« Verwirrt folgte Pitt dem Butler wie in einem Albtraum ins gelbe Zimmer, wo er wartend stehen blieb. Er merkte nicht, wie lange es dauerte, bis sich die Tür öffnete und Vespasia eintrat. Statt zwei oder drei Minuten hätten es ebenso zehn sein können. Sie trug ein langes Seidenkleid in gebrochenem Weiß, und ihre Haare waren locker hochgesteckt. Sie wirkte alt, zerbrechlich und war von nahezu ätherischer Schönheit. Es war unmöglich, in ihr nicht die leidenschaftliche Frau zu sehen, die vor einem halben Jahrhundert in einem Sommer in Rom in unvergesslicher Weise geliebt hatte.
Pitt spürte, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Es kam ihm vor, als schnüre es ihm die Kehle zu.
»Es ist schon gut, Thomas«, sagte sie so leise, dass er es kaum hörte. »Ich weiß, dass er tot ist. Er hat mir geschrieben, was er tun wollte. Er hat James Sissons in der Überzeugung getötet, dass dieser zum Selbstmord entschlossen war, ihn aber im letzten Augenblick der Mut zum Heldentum verlassen hatte.« Sie hielt einen Moment inne, bemüht, ihre Fassung zu wahren. »Du kannst gern Gebrauch davon machen, damit niemand Isaak Karansky ein Verbrechen zur Last legt, das er nicht begangen hat. Möglicherweise kannst du ja erreichen, dass man Charles Voisey für seine Tat zur Rechenschaft zieht, obwohl ich nicht so recht weiß, wie du das anstellen willst.«
Es widerstrebte Pitt sehr, ihr die Wahrheit zu sagen, aber er hätte mit dieser Lüge nicht leben können.
»Voisey sagt, dass er ihn in Notwehr erschossen hat. Ich weiß nicht, wie wir ihm das Gegenteil beweisen sollen.«
Vespasia erwiderte mit einem angedeuteten Lächeln: »Ich bin allerdings davon überzeugt, dass es für Charles Voisey Notwehr war. Immerhin steht er an der Spitze des Inneren Kreises. Hätten diese Leute mit ihrer Verschwörung Erfolg gehabt und die Revolution ausgelöst, wäre er Englands erster Präsident geworden.«
Einen Herzschlag lang war Pitt verblüfft. Dann wurde ihm alles klar: Martin Fetters hatte das Komplott entdeckt, sich Adinett – vermutlich Voiseys Freund und Stellvertreter – in den Weg gestellt und war ermordet worden, weil er zwar Reformen wollte, aber nicht auf dem Wege einer Revolution. Trotz all seiner Macht und den zwischen ihnen bestehenden Bindungen hatte Voisey keine Möglichkeit gesehen, Adinett zu retten. Kein Wunder, dass er Pitt hasste und seinen ganzen Einfluss aufgeboten hatte, ihn zu vernichten.
Auch Mario Corena, ein Mann, den eine reine, schlichte innere Leidenschaft trieb, war getäuscht worden. Sie hatten ihn als Werkzeug benutzt, um Sissons zu töten. Nachdem ihm das zu spät aufgegangen war, hatte er sich an Voisey zu rächen versucht.
»Du verstehst es nicht, nicht wahr?«, fragte Vespasia leise. »Voisey wollte, dass man zu ihm als demjenigen aufschaute, der die Reformen herbeigeführt hatte. Er wollte das Volk in ein neues Zeitalter führen … Möglicherweise waren seine Ziele ja sogar am Anfang lobenswert, und gewiss standen ihm einige gute Männer zur Seite. Dann aber hat ihn seine Anmaßung veranlasst zu glauben, er habe das Recht zu entscheiden, was für alle anderen Menschen gut ist, und es durchzusetzen, ob sie es nun wollen oder nicht.«
»Ich weiß«, sagte Pitt.
Sie schüttelte den Kopf. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Das aber kann er jetzt nicht mehr tun. Er hat den bedeutendsten republikanischen Helden des Jahrhunderts getötet … einen Mann, der höher stand als die Eigenart oder das Nationalgefühl eines einzelnen Landes.«
»Aber es war Notwehr«, sagte er stockend.
Sie lächelte, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Er hat es getan, weil die Verschwörung an den Tag gekommen ist, die mithilfe der erfundenen Geldschuld des Kronprinzen und des Mordes an Sissons den Thron stürzen und Aufruhr im Volk bewirken sollte. Als Corena begriffen hat, dass Voisey von all dem wusste, hat er ihn angegriffen, und natürlich musste Voisey schießen. Er ist ein ausgesprochen tapferer Mann! Jetzt steht er als derjenige da, der fast im Alleingang eine entsetzliche Verschwörung aufgedeckt und die daran Beteiligten mit Namen genannt hat. Gewiss werden diese Männer in Ungnade fallen und vielleicht sogar festgenommen. Ihn aber wird die Königin möglicherweise in den Adelsstand erheben … glaubst du nicht auch? Ich muss mit Somerset Carlisle sprechen und zusehen, ob sich das arrangieren lässt.« Dann wandte sie sich ab und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Es war ihr unmöglich, den Kummer, den sie empfand, und die Sehnsucht, die sie verzehrte, noch länger zu beherrschen.
Pitt stand still, bis ihre Schritte verhallt waren. Dann wandte er sich um und ging zurück ins Vestibül. Dort war niemand außer dem Butler, der ihm die Tür öffnete, damit er auf die von Gaslaternen erhellte Straße hinaustreten konnte.
Fast auf den Tag einen Monat später stand Pitt neben Charlotte im Thronsaal des Buckingham Palace. Er fühlte sich ausgesprochen unbehaglich in seinem neuen Anzug, einem blütenweißen Hemd mit hohem und engem Kragen und korrekten Schuhen. Sogar seine Haare waren ordentlich geschnitten und lagen glatt. Charlotte trug ein neues Kleid. In seinen Augen hatte sie nie schöner ausgesehen.
Doch seine Aufmerksamkeit galt Vespasia, die in ihrem taubengrauen Kleid keine zwei Schritte entfernt stand. Ihr Haar schimmerte silbern, und die Perlenkette und Perlenohrringe schienen farblich genau darauf abgestimmt zu sein. Zwar reckte sie das Kinn empor, doch war ihr schmales Gesicht bleich. Obwohl Somerset Carlisle bereitstand und sie nicht aus den Augen ließ, lehnte sie es ab, sich auf seinen Arm zu stützen.
Nicht weit vor ihnen hatte Charles Voisey ein Knie auf den Boden gestützt, während ihm eine kleine, untersetzte alte Frau eher schwerfällig ein Schwert auf die Schulter legte und ihm gebot, sich zu erheben.
»Uns ist bewusst, welch bedeutenden Dienst Ihr uns, dem Thron sowie der Sicherheit und dem Wohlergehen Eures Landes erwiesen habt, Sir Charles«, sagte sie, jedes Wort deutlich betonend. »Vor aller Welt erkennen wir an, was Ihr, erfüllt von selbstlosem Mut und großer Treue, im Verborgenen geleistet habt.«
Der Kronprinz, der einige Schritte daneben stand, zeigte durch sein Strahlen, dass er den Worten seiner Mutter nicht nur zustimmte, sondern Voisey aus tiefstem Herzen dankbar war. »Der Thron hat keinen treueren Diener oder Freund«, sagte er anerkennend.
Die Umstehenden applaudierten begeistert.
Voisey versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus – so wie sein Mund auch künftig versiegelt sein würde, wenn es um die Frage ging, ob man in England eine Republik errichten sollte.
Es war für Königin Viktoria nichts Ungewohntes, dass Männer in ihrer Gegenwart keine Worte fanden. Sie ging darüber hinweg, wie sich das gehörte.
Während sich Voisey verneigte und zum Gehen wandte, warf er Pitt einen Blick voller Hass zu, wobei er am ganzen Leibe zitterte und Schweißperlen auf sein Gesicht traten.
Charlotte fasste Pitts Arm so fest, dass ihm ihre Finger durch den Stoff des Jacketts ins Fleisch drangen.
Voisey sah zu Vespasia hin. Sie hielt seinem Blick stand, den Kopf hoch erhoben, und lächelte mit der gleichen Gelassenheit, mit der Mario Corena gestorben war.
Dann drehte sie sich um und ging davon. Er sollte ihre Tränen nicht sehen.