Kapitel 3

Gut drei Wochen später kam Pitt früh aus der Bow Street nach Hause und widmete den Feierabend der Gartenarbeit. Der Mai war einer der herrlichsten Monate, er brachte eine Fülle von blassen Blüten, frisches Laub und herrlich blühende Tulpen hervor. Der schwere Geruch von Goldlack lag in der Luft und ließ sich fast wie Samt mit Händen greifen. Lupinen begannen zu blühen, hohe Stängel mit Rosa-, Blau- und Lilatönen, und mindestens ein halbes Dutzend Blüten des Türkenmohns öffneten sich, zart und bunt wie farbige Seide.

Obwohl es reichlich Unkraut zu jäten gab, verbrachte er mehr Zeit damit, die Pracht zu bewundern, als wirklich zu arbeiten. Er hoffte, dass Charlotte mit ihrer Hausarbeit fertig war und bald herauskommen würde, und als er hörte, wie die Terrassentür geöffnet wurde, wandte er sich voll Vorfreude um. Dann aber sah er, dass Ardal Juster mit finsterer Miene über den Rasen auf ihn zukam.

Sein erster Gedanke war, die Berufungsinstanz könne irgendeinen Verfahrensfehler entdeckt und das Urteil wegen Formmängeln aufgehoben haben. Er hielt es für ausgeschlossen, dass neues Beweismaterial aufgetaucht war, denn er hatte den Fall gründlichst untersucht und jeden befragt, von dem er annahm, dass er etwas dazu auszusagen hatte.

Juster blieb vor ihm stehen und sog tief den Geruch nach feuchter Erde und Blüten ein. Nach einem flüchtigen Blick nach links und rechts zu den Blumenbeeten hob er das Gesicht dem Sonnenlicht entgegen, das am anderen Ende der Rasenfläche durch das Kastanienlaub leuchtete.

Gerade, als Pitt etwas sagen wollte, um die Spannung aufzulösen, begann sein Besucher: »Adinett ist mit seiner Berufung nicht durchgekommen«, sagte er ruhig. »Morgen wird es in den Zeitungen stehen. Ein Mehrheitsvotum – vier zu eins. Voisey hat es verkündet. Er war einer der vier. Als Einziger hat Abercrombie dagegen gestimmt.«

Pitt begriff nicht, warum Juster so finster dreinblickte, als verkündete er eine Niederlage und nicht einen Sieg. Er konnte sich das höchstens damit erklären, dass auch Juster, ganz wie er, die Todesstrafe als etwas ansah, das den herabsetzte, der sie verhängte, ganz davon abgesehen, dass sie ihrem Opfer keine Möglichkeit ließ, seine Tat zu sühnen, keine Zeit, sich zu ändern. Das änderte nichts an seiner festen Überzeugung, dass Adinett ein abscheuliches Verbrechen begangen hatte, doch hatte ihn von Anfang an die Frage beschäftigt, was der Grund dafür gewesen sein mochte. Immerhin war es denkbar, dass sich die Angelegenheit anders darstellte, wenn man die ganze Wahrheit wüsste.

Aber auch, wenn das nicht der Fall war, ließ sich nicht leugnen, dass diese Art der Bestrafung jene, die sie verhängten, mehr erniedrigte als den, der sie erlitt.

Auf Justers von der Abendsonne beschienen Zügen lag tiefe Besorgnis. Seine Augen blickten matt und glanzlos.

»Man wird ihn hängen«, sagte Pitt.

»Selbstverständlich«, gab Juster zur Antwort. Das Gesicht nach wie vor finster verzogen, stieß er die Hände in die Taschen. »Deswegen bin ich auch nicht gekommen. Morgen können Sie es in der Zeitung lesen. Ganz davon abgesehen wissen Sie über die Sache ebenso viel wie ich. Ich bin gekommen, um Sie zu warnen.«

Pitt war verblüfft. Trotz des lauen Abends überlief ihn ein Schauer.

Juster biss sich auf die Lippe. »In der Beweisführung gibt es nicht die geringste Lücke, aber viele wollen nicht glauben, dass jemand wie John Adinett zu einer solchen Tat fähig war. Hätten wir denen ein Motiv liefern können, sähe die Sache unter Umständen anders aus.« Er sah Pitts Gesichtsausdruck. »Damit meine ich nicht den Mann auf der Straße – der ist zufrieden, wenn Gerechtigkeit geschieht … vielleicht freut er sich sogar, dass es einem Mann in Adinetts Position ebenso gehen kann, wie es ihm selbst gehen würde. Solchen Menschen braucht man nichts zu erklären.« Er blinzelte ein wenig in die Sonne. »Ich meine Männer aus Adinetts Gesellschaftsschicht, mächtige Männer.«

Pitt war immer noch unsicher. »Da die Berufungsinstanz das Urteil nicht revidiert hat, war sie doch offenbar sowohl von Adinetts Schuld als auch von einem einwandfreien Verlauf des Verfahrens überzeugt. Schon möglich, dass denen das gegen den Strich geht, aber was können sie noch tun?«

»Sie für Ihre Unerschrockenheit züchtigen«, sagte Juster und lächelte schief. »Und möglicherweise auch mich – falls sie zu der Ansicht gelangen, dass ich auf Anklageerhebung gedrängt habe, ohne wirklich dazu genötigt gewesen zu sein.«

Die laue Abendbrise ließ das Laub der Kastanie rauschen, und ein Dutzend Stare stieg mit schwirrendem Flügelschlag auf.

»Ich dachte, diese Leute hätten mir bereits im Zeugenstand jede Kränkung zugefügt, die ihnen in den Sinn kam«, sagte Pitt. Der Gedanke an die gegen seinen Vater vorgebrachten Beschuldigungen erfüllte ihn mit Zorn und Schmerz. Es hatte ihn überrascht, dass er nach wie vor so sehr darunter litt. Er hatte angenommen, diese Dinge in den Hintergrund gedrängt zu haben, merkte jetzt aber, dass die Wunde keineswegs verheilt war. Es erstaunte ihn, wie leicht es gefallen war, sie erneut aufzureißen.

Juster sah unglücklich drein. Seine Wangen waren rötlich überhaucht. »Tut mir Leid, Pitt. Ich dachte, Sie hinreichend auf die möglichen Unannehmlichkeiten vorbereitet zu haben, das aber scheint nicht der Fall zu sein. Wie es aussieht, ist die Sache noch längst nicht ausgestanden.«

Ein Unbehagen erfüllte Pitt, und es fiel ihm einen Augenblick lang schwer, Luft zu holen. »Was könnten die denn groß tun?«

»Ich weiß es nicht. Doch vergessen Sie nicht, Adinett hat einflussreiche Freunde … Zwar reicht ihre Macht nicht aus, ihn vor dem Galgen zu retten, aber sie werden ihre Niederlage keinesfalls tatenlos hinnehmen. Ich wollte, ich könnte Ihnen sagen, womit Sie rechnen müssen, aber ich weiß es selbst nicht.« Er ließ die Schultern leicht hängen. Seine Niedergeschlagenheit war in seinen Augen zu lesen.

»Das würde ohnehin nichts ändern«, sagte Pitt. »Wenn wir es so weit kommen lassen, dass wir einen Fall nicht mehr zur Anklage bringen, weil der Tatverdächtige einflussreiche Freunde hat, taugt das Gesetz nichts, und wir taugen auch nichts.«

Juster lächelte mit trübselig herabgezogenen Mundwinkeln. Natürlich hatte Pitt Recht – aber um welchen Preis? Ihm war klar, dass er seine Worte leicht sarkastisch gemeint und mit ihnen auch seine Besorgnis hatte übertönen wollen. Er hielt ihm die Hand hin. »Ich bin vor Gericht als Strafverteidiger zugelassen. Sollten Sie je der Ansicht sein, dass ich Ihnen helfen kann, melden Sie sich. Ich meine das ernst, Pitt.«

»Danke«, sagte Pitt aufrichtig. Immerhin war es möglich, dass er eines Tages auf diesen Rettungsanker angewiesen war.

Juster nickte. »Schöne Blumen. So muss ein Garten aussehen, alles voller Farbenpracht. Schnurgerade Reihen in Beeten sind mir zuwider. Von allem anderen abgesehen, erkennt man dann viel zu leicht, was falsch gemacht worden ist.«

Pitt zwang sich zu einem Lächeln. »Ganz meine Meinung.«

Sie standen beieinander, nahmen die Färbung des Abendhimmels in sich auf, das träge Summen der Bienen, Kinderlachen aus der Ferne und das Zwitschern der Vögel. Sie konnten den Duft des Goldlacks fast schmecken.

Schließlich verabschiedete sich Juster, und Pitt trat nachdenklich ins Haus.

 

Vor den Morgenzeitungen hatte sich Pitt gefürchtet. Eine Schlagzeile in riesengroßen Lettern schrie heraus, dass Adinetts Berufung abgewiesen worden war und man ihn in drei Wochen hinrichten werde. Obwohl Pitt das bereits bekannt war, wirkte es gedruckt weit eindringlicher auf ihn. Es blieb keine Möglichkeit mehr, vor den Tatsachen auszuweichen.

Gleich auf der ersten Seite brachte das Blatt einen langen Kommentar aus der Feder von Adinetts Verteidiger Reginald Gleave. Da er nahezu unmittelbar unter der Schlagzeile stand, musste jeder ihn sehen. Gleave machte kein Hehl daraus, dass er nach wie vor von der Schuldlosigkeit seines Mandanten überzeugt war, und geißelte die Entscheidung als eins der eklatantesten Fehlurteile der britischen Justiz im gegenwärtigen Jahrhundert. Er erklärte, eines Tages werde das Volk tiefste Scham darüber empfinden, dass die hohen Herren in seinem Namen ein so entsetzliches Unrecht begangen hatten.

Ohne den Berufungsrichtern einen Vorwurf zu machen, bedachte er den Richter der Erstinstanz mit einigen äußerst unfreundlichen Äußerungen. Die Geschworenen behandelte er mit Nachsicht, seien sie doch in juristischen Dingen Laien, die sich, ohne es zu merken, von den wahrhaft Schuldigen hatten an der Nase herumführen lassen. Als einen von ihnen nannte er Ardal Juster, während er Pitt als Hauptverantwortlichen schmähte:

 

»… ein gefährlicher Eiferer, der die Macht seines Amtes missbraucht hat, um seinen privaten Rachefeldzug gegen die besitzenden Klassen zu führen. Auslöser war die Verurteilung seines Vaters wegen Diebstahls zu einer Zeit, als Pitt noch zu jung war, um die Notwendigkeit und Richtigkeit eines solchen Verfahrens einzusehen.

In seiner Tätigkeit hat er den Herrschenden auf jede nur denkbare Weise Steine in den Weg gelegt, und zwar immer so, dass man ihn nicht seines Postens entheben konnte, denn damit wäre er der Macht verlustig gegangen, auf die er so versessen ist. Man gebe sich keinen Täuschungen über seine Motive hin: nicht nur muss er eine Frau unterhalten, die einen aufwändigen Lebensstil gewohnt ist, er ist auch von brennendem Ehrgeiz besessen und möchte am liebsten selbst den feinen Herrn spielen.

Wir dürfen aber von den Hütern des Gesetzes erwarten, dass sie unvoreingenommen sind, jeden gleich behandeln, niemanden fürchten und niemanden begünstigen. Das ist das Wesen des Rechtsstaates und letzten Endes der Kern aller Freiheit.«

Pitt überflog den Rest des Artikels, der in diesem Ton weiterging.

Den Marmeladenlöffel in der Hand, sah Charlotte über den Frühstückstisch zu ihm her. Was sollte er ihr sagen? Wenn sie den Artikel sah, würde sie zuerst wütend werden und anschließend womöglich Angst um ihn bekommen. Falls er ihn aber versteckte, war ihr klar, dass etwas nicht in Ordnung war, und das wäre noch schlimmer.

»Thomas?«, drang ihre Stimme in seine Gedanken.

»Gleave hat einen ziemlich heimtückischen Artikel über den Fall verfasst«, sagte er. »Er hat es wohl persönlich genommen, dass Adinett mit seiner Berufung nicht durchgekommen ist. Er war sein Verteidiger, das weißt du sicher noch. Möglicherweise ist der Mann tatsächlich von der Schuldlosigkeit seines Mandanten überzeugt.«

Sie hatte seinem Gesichtsausdruck mehr entnommen, als in seinen Worten lag, und sah ihn aufmerksam und besorgt an.

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ist noch Tee da?« Er legte die Zeitung zusammen und zögerte einen Augenblick. Wenn er sie mitnahm, brachte sie es glatt fertig, aus dem Haus zu gehen und selbst eine zu kaufen. Außerdem würde sie sich Sorgen machen, weil er versucht hatte, ihr diesen Schmähartikel vorzuenthalten. Er ließ das Blatt auf dem Tisch liegen.

Sie legte den Marmeladenlöffel hin und goss ihm Tee ein. Auch wenn sie nichts weiter sagte, war ihm klar, dass sie den Artikel lesen würde, kaum dass er aus dem Haus war.

 

Um die Mitte des Nachmittags bat der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis Pitt zu sich. Schon als er bei ihm eintrat, merkte Pitt, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er vermutete, dass es um einen sehr schwierigen und delikaten Fall ging, etwa so wie der Mord an Fetters, eine Angelegenheit, in die eine hochstehende Persönlichkeit verwickelt war. Mit derlei hatte er in letzter Zeit des Öfteren zu tun gehabt.

Cornwallis, ein drahtiger mittelgroßer Mann, stand erkennbar unruhig hinter seinem Schreibtisch. Er hatte den größten Teil seines Lebens in der Marine verbracht und machte nach wie vor den Eindruck, es passe besser zu seinem Wesen, Männer auf See zu befehligen und den Elementen die Stirn zu bieten, als sich der öffentlichen Meinung und der Tücke der Politiker zu stellen.

»Sir?«, sagte Pitt infragendem Ton.

Cornwallis machte einen zutiefst unglücklichen Eindruck. Er sah aus, als habe er lange überlegt, was er sagen könne, aber noch nicht die richtigen Worte gefunden.

»Ein neuer Fall?«, erkundigte sich Pitt.

»Ja … und nein.« Cornwallis sah ihn unverwandt an. »Wie zuwider mir das alles ist! Ich habe den ganzen Morgen dagegen angekämpft, mich aber nicht durchsetzen können. Keine Seeschlacht hat mir je so viel Unbehagen bereitet. Wenn ich wüsste, was ich tun kann, um das abzubiegen – ich täte es.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Aber ich fürchte, ich würde es nur schlimmer machen, wenn ich der Sache weiter nachginge.«

Pitt wusste nicht, wovon der andere sprach, und fühlte sich durch dessen erkennbares Unbehagen sonderbar betroffen.

»Ein Fall, sagen Sie? Um wen geht es dabei?«

»Ja, im Londoner Osten«, gab Cornwallis zurück. »Ich ahne nicht im Entferntesten, um wen es dabei geht. Wenn man glauben darf, was man mir gesagt hat, sitzt da die Hälfte aller Anarchisten in London.«

Pitt holte tief Luft und sammelte sich. Wie allen höheren Polizeibeamten und einem großen Teil der Öffentlichkeit war ihm das Treiben der Anarchisten auf dem europäischen Kontinent bekannt. Immerhin hatte es in verschiedenen Hauptstädten dort wie auch in London mehrere Bombenanschläge gegeben. Die französischen Behörden hatten eine Liste mit Bildern von fünfhundert Anarchisten in Umlauf gesetzt, die gesucht wurden. Einzelnen wurde bereits der Prozess gemacht.

»Wer ist tot?«, fragte er. »Und warum werden wir da mit hinzugezogen? Das East End gehört doch gar nicht zu unserem Bezirk.«

»Niemand ist tot«, gab Cornwallis zurück. »Der Sicherheitsdienst ist eingeschaltet.«

»Ach, geht es um die Iren?« Pitt wusste nicht, was er denken sollte. Wie jedem anderen war auch ihm die verwickelte irische Frage vertraut, er wusste alles über die Fenier, kannte die weit in die sagenhafte Vergangenheit hineinreichende Kette von Gewalttaten, Tragödien und blutigen Auseinandersetzungen, unter der Irland seit dreihundert Jahren litt. Er wusste, welches Maß an Unruhe in bestimmten Teilen Londons herrschte und dass man eine Spezialabteilung der Polizei eingesetzt hatte, die sich mit Bombendrohungen, Mordanschlägen oder auch kleineren Unruhen beschäftigte. Anfangs war sie als ›Sicherheitsdienst Irland‹ bezeichnet worden.

»Eigentlich nicht«, sagte Cornwallis. »Es sind ganz allgemein politische Schwierigkeiten, nur möchte niemand, dass man sie ›politisch‹ nennt, weil das in der Öffentlichkeit Unruhe hervorrufen würde.«

»Und was haben wir damit zu tun? «, wollte Pitt wissen. »Ich verstehe das nicht.«

»Setzen Sie sich erst mal.« Cornwallis wies auf den Sessel auf der anderen Seite seines Schreibtisches und nahm selbst auch Platz.

Pitt folgte der Aufforderung.

»Es geht nicht um uns«, sagte Cornwallis aufrichtig, »sondern um Sie.« Bei diesen Worten wandte er den Blick nicht ab, sondern sah seinen Untergebenen offen an. »Sie sind mit sofortiger Wirkung von der Leitung der Wache in der Bow Street entbunden und dem Sicherheitsdienst zugeteilt.«

Pitt war wie vor den Kopf geschlagen. Das war doch ganz und gar unmöglich. Wie konnte man ihn aus der Bow Street abberufen? Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Er wollte aufbegehren, fand aber keine Worte.

Cornwallis’ Lippen bildeten eine schmale Linie, als leide er unter einem körperlichen Schmerz. »Die Anweisung kommt von ganz oben«, sagte er ruhig. »Ich habe versucht, mich dagegenzustellen, habe nach den Gründen gefragt, aber es ist mir unmöglich, etwas dagegen zu unternehmen. Die Männer, um die es geht, kennen sich alle. Ich gehöre nicht zu ihnen, bin ein Außenseiter.« Er suchte Pitts Blick, als wolle er feststellen, ob dieser begriff, worum es ging.

»Ein Außenseiter … «, wiederholte Pitt mechanisch. Alte Erinnerungen stürmten gleich einer dunklen Welle auf ihn ein. Er hatte es schon früher mit verdeckter Korruption zu tun gehabt, mit Männern, deren geheime Bindungen stärker waren als alles, was Ehre oder Pflicht gebot, Männer, die einer das Verbrechen des anderen deckten, sich gegenseitig Vorteile zuschanzten und alle anderen bei diesen Machenschaften ausschlossen. Diese Gruppe war als der ›Innere Kreis‹ bekannt. Schon früher hatten seine langen Fangarme nach ihm gegriffen, aber seit einigen Jahren hatte er kaum noch an diese Gruppe gedacht. Jetzt teilte ihm Cornwallis mit, dass er sie sich zum Feind gemacht hatte.

Eigentlich durfte ihn das nicht überraschen. Er hatte diesen Leuten im Laufe der Zeit einige schwere Schläge versetzt. Wahrscheinlich hatten sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich zu rächen, und dazu gab ihnen Pitts Aussage vor Gericht eine hervorragende Möglichkeit.

»Gute Freunde von Adinett?«, fragte er.

Cornwallis nickte kaum wahrnehmbar. »Zwar weiß ich das nicht, würde aber jede Wette eingehen, dass Sie Recht haben.« Auch er vermied es, die Gruppe mit Namen zu nennen, aber beide wussten genau, womit sie es zu tun hatten. Cornwallis sog den Atem laut ein. »Sie sollen sich bei Mr. Victor Narraway an der Anschrift melden, die ich Ihnen nenne. Er leitet den Sicherheitsdienst im East End und wird Ihnen genaue Anweisungen geben.« Er verstummte.

Würde er ihm jetzt sagen, dass auch Narraway zu diesem Inneren Kreis gehörte? Falls ja, war Pitt mehr auf sich allein gestellt, als er angenommen hatte.

»Ich würde Ihnen gern mehr über den Mann sagen«, fuhr Cornwallis betrübt fort. »Aber für Außenstehende ist der gesamte Sicherheitsdienst so etwas wie ein Buch mit sieben Siegeln.« Abneigung lag auf seinen Zügen. Zwar mochte ihm die Notwendigkeit eines Geheimdienstes einleuchten, aber dessen Existenz war seinem Wesen ebenso zuwider wie den meisten Engländern.

»Ich war der Ansicht, der Ärger mit den Feniern habe nachgelassen«, sagte Pitt offen heraus. »Was könnte ich in Spitalfields tun, was die eigenen Leute des Sicherheitsdienstes nicht ohnehin viel besser in den Griff bekommen?«

Cornwallis beugte sich über seinen Schreibtisch hinweg zu ihm vor. »Das Ganze hat nicht das Geringste mit den Feniern oder den Anarchisten zu tun, und auch Spitalfields spielt dabei keine Rolle.« Er sprach leise und mit Nachdruck. »Die wollen Sie einfach aus der Bow Street raushaben. Die sind fest entschlossen, Sie zugrunde zu richten, sofern sie eine Möglichkeit dazu finden. Zumindest haben Sie da im East End eine Arbeit, für die Sie bezahlt werden. Man wird Ihrer Frau einen bestimmten Betrag zur Verfügung stellen, über den sie verfügen kann. Falls Sie klug und mit dem nötigen Geschick zu Werke gehen, schaffen Sie es vielleicht sogar, in Whitechapel unterzutauchen. Glauben Sie mir, das wäre für die nächste Zeit das Beste, was Sie tun könnten. Es … es wäre mir wirklich lieber, wenn die Dinge anders lägen.«

Pitt wollte aufstehen und merkte, dass ihn seine Beine nicht trugen. Ihm lag die Frage auf der Zunge, wie lange man ihn wohl ins East End verbannen würde, damit er dort Phantomen nachjagte, ohne jede Würde, ohne jede Befehlsgewalt, ohne die Art von Leben, an die er inzwischen gewöhnt war – und die er sich verdient hatte! Er war nicht sicher, ob er die Antwort würde ertragen können. Ein Blick auf Cornwallis’ Gesicht zeigte ihm, dass dieser ohnehin keine Antwort für ihn hätte.

»Und ich soll im … East End leben?«, fragte er. Er hörte seine eigene Stimme. Der Schock ließ sie ausgedörrt und brüchig klingen, als hätte er tagelang kein Wort von sich gegeben. Er hatte diese Art zu sprechen schon von anderen gehört, denen er Unerträgliches hatte mitteilen müssen.

Er schüttelte sich. Das hier war nicht unerträglich. Keiner seiner Lieben war verletzt oder tot. Zwar hatte er sein Heim eingebüßt, aber Charlotte, Daniel und Jemima wohnten nach wie vor darin. Nur er würde fehlen.

Die Art, wie man ihn behandelte, war von einer zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit! Er hatte nichts Unrechtes getan, sich nicht einmal ein Versehen zuschulden kommen lassen! Der Verurteilte war nachweislich schuldig. Er hatte den Geschworenen das Beweismaterial unvoreingenommen vorgelegt, sie hatten es gewürdigt und eine Entscheidung gefällt.

Warum nur mochte Adinett Fetters umgebracht haben? Nicht einmal Juster war ein Motiv eingefallen. Nach Ansicht aller waren die beiden denkbar eng befreundet gewesen, zwei Männer, die nicht nur eine Leidenschaft für Reisen in ferne Länder und für Gegenstände aneinander band, die sie wegen ihrer Beziehung zu Geschichte und Sagenwelt hoch schätzten, sie hatten auch viele Ideale und Träume für eine bessere Zukunft miteinander geteilt. Sie strebten eine weniger gewalttätige und offenere Gesellschaft an, die allen die Möglichkeit bot voranzukommen.

Juster hatte überlegt, ob es bei ihrem Streit um Geld oder eine Frau hätte gehen können. Er hatte in beide Richtungen gesucht und nicht den geringsten Hinweis gefunden. Niemand hatte bis zu jenem Tag auch nur den Hauch einer Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden bemerkt. Man hatte keine erhobenen Stimmen gehört. Als der Butler den Portwein in die Bibliothek gebracht hatte, schien zwischen den beiden Männern bestes Einvernehmen zu bestehen.

Aber Pitt war sicher, dass er sich nicht geirrt hatte, was die Tatsachen betraf.

»Pitt …« Cornwallis saß nach wie vor über den Tisch gebeugt und sah ihn mit ernster Miene an.

Pitt wandte ihm erneut seine Aufmerksamkeit zu. »Sir?«

»Ich werde tun, was ich kann.« Die Situation schien ihm peinlich zu sein, als wisse er, dass das nicht genügte. »Halten Sie durch! Seien Sie auf der Hut! Und … und trauen Sie um Gottes willen keinem Menschen.« Er hatte die Hände auf der polierten Eichenplatte verschränkt. »Gott ist mein Zeuge, wie gern ich etwas für Sie tun würde! Aber ich weiß ja nicht einmal, mit wem wir es da zu tun haben.«

Pitt erhob sich. »Da kann man nichts machen«, sagte er ausdruckslos. »Wo finde ich diesen Victor Narraway?«

Cornwallis gab ihm ein Blatt mit einer Adresse darauf: 14 Lake Street, Mile End New Town – am Rande der Gegend von Spitalfields. »Aber gehen Sie zuerst nach Hause, suchen Sie an Kleidung und persönlichen Gegenständen zusammen, was Sie brauchen. Seien Sie mit allem vorsichtig, was Sie Ihrer Frau sagen … Auf keinen Fall – « Er verstummte, hatte es sich offenbar anders überlegt. »Und vergessen Sie nicht, es gibt Anarchisten«, sagte er stattdessen. »Wirkliche, mit Dynamit.«

»Vielleicht haben die da ja etwas vor.«

»Möglich ist es. Nach dem Blutigen Sonntag auf dem Trafalgar Square kann mich nicht mehr viel überraschen. Allerdings liegt das mehr als vier Jahre zurück.« Pitt ging zur Tür. »Ich weiß, dass Sie getan haben, was Sie konnten.« Die Worte fielen ihm schwer. »Der Innere Kreis ist ein Krebsgeschwür, das im Verborgenen wuchert. So viel weiß ich … Ich hatte einfach nicht mehr daran gedacht.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er hinaus, achtete nicht auf die Menschen, an denen er vorüberkam, hörte nicht einmal die Stimmen derer, die ihn ansprachen.

 

Da er sich davor fürchtete, es Charlotte sagen zu müssen, tat er es lieber gleich.

»Was gibt es?«, fragte sie, als er in die Küche kam.

Sie stand an dem großen schwarzen Herd. Sonnenlicht erfüllte den Raum, es roch nach frischem Brot und der sauberen Wäsche, die auf einer Vorrichtung zum Lüften unmittelbar unter der Decke hing. Auf der Anrichte stand blau-weißes Porzellan und mitten auf dem gescheuerten Holztisch eine Schale mit Obst. Archie, der rötlich getigerte Kater, lag im leeren Wäschekorb und putzte sich, und sein Bruder Angus schlich hoffnungsfroh über die Fensterbank zu dem Milchkrug, der neben Charlotte stand.

Die Kinder waren in der Schule, und Gracie war vermutlich oben oder zu einer Besorgung unterwegs. Hier in seinem Heim fühlte sich Pitt wohl, hier fand sich alles, was in seinem Leben angenehm war. Wenn er aus der Welt des entsetzlichen Verbrechens hierher zurückkehrte, wo ihn Normalität und frohes Lachen empfingen, das Bewusstsein, geliebt zu werden, konnte er vergessen, was er tagsüber erlebt hatte.

Wie sollte er ohne das leben? Wie ohne Charlotte?

Einen Augenblick lang erfüllte ihn blinde Wut gegen die ungreifbaren Männer, die ihm das angetan hatten. Es war unfassbar, dass man ihm gleichsam aus dem Hinterhalt nehmen konnte, was er am meisten liebte, dass sie die Möglichkeit hatten, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, in sein Leben einzudringen und es zu zerstören, wie man dürres Gras niedertrampelt. Am liebsten hätte er es ihnen mit Gleichem vergolten, aber von Angesicht zu Angesicht, damit sie den Grund wussten und er in ihren Augen erkennen konnte, dass sie begriffen, warum ihnen das geschah.

»Thomas, was gibt es?« In Charlottes Stimme lag unüberhörbar Angst. Mit fragendem Blick hatte sie sich zu ihm umgedreht, das Tuch noch in der Hand, mit dem sie sich vor der Hitze des Backofens schützte. Halb unbewusst sah er, dass Angus den Krug erreicht hatte und begann, sich an der Milch gütlich zu tun.

»Man hat mich dem Sicherheitsdienst zugeteilt«, sagte er.

»Was bedeutet das?«, wollte sie wissen. »Ich weiß nicht, was der Sicherheitsdienst tut.«

»Man setzt ihn gegen Bombenwerfer und Anarchisten ein«, erklärte er. »Bis zum letzten Jahr waren das vor allem Fenier. Inzwischen geht es gegen jede Art von Unruhestifter oder politischem Attentäter.«

»Warum ist das so schrecklich?« Sie sah ihn an, bemüht zu verstehen, welche Empfindungen hinter seinen Worten steckten. Sie zweifelte nicht, dass er litt, wollte aber den Grund dafür wissen.

»Ich bin dann nicht mehr in der Bow Street und arbeite auch nicht mehr mit Cornwallis zusammen. Mein Vorgesetzter ist ein gewisser Narraway … und meine Dienststelle liegt in Spitalfields.«

Sie krauste die Stirn. »Spitalfields? Der Ostteil der Stadt. Heißt das, du musst dann jeden Morgen zur Wache von Spitalfields fahren?«

»Nein … ich soll dort als gewöhnlicher Bürger leben.«

Allmählich trat Verstehen in ihre Augen, dann der Ausdruck von Verlorenheit und Wut.

»Aber das ist … ungeheuerlich!«, sagte sie ungläubig. »Das können die doch nicht tun! Das ist schreiendes Unrecht! Wovor haben sie denn Angst? Glauben die, dass eine Hand voll Anarchisten eine Gefahr für ganz London bedeutet?«

»Es hat in Wahrheit nichts mit der Jagd auf Anarchisten zu tun«, erklärte er. »Ich soll bestraft werden, weil John Adinett zum Inneren Kreis gehört und ich im Verfahren gegen ihn ausgesagt habe, bei dem er zum Tode verurteilt worden ist.«

Ihr Mund wurde schmal. Alle Farbe war aus ihren Lippen gewichen. »Ich weiß. Hören die etwa auf Leute wie Gleave mit seinem Zeitungsartikel? Das ist doch lachhaft. Adinett war schuldig – dafür kannst du doch nichts!«

Er sagte nichts.

»Na schön«, sagte sie mit von Tränen erstickter Stimme und wandte sich ab. »Ich weiß, dass das nichts damit zu tun hat. Kann denn niemand helfen? Das Unrecht schreit zum Himmel!« Dann drehte sie sich wieder um. »Vielleicht Tante Vespasia – «

»Nein.« Der Schmerz in ihm war nahezu unerträglich. Er sah sie an, wie sie vor ihm stand, hochrot vor Zorn und Verzweiflung. Ihre Frisur begann sich aufzulösen, Tränen standen in ihren Augen. Wie sollte er es ertragen, allein in Spitalfields zu leben, ohne sie jeden Tag nach Feierabend zu sehen, ohne mit ihr zu reden oder zu scherzen, vor allem, ohne sie zu berühren, ohne ihre Wärme in seinen Armen zu spüren?

»Es ist ja nicht für ewig!« Das sagte er, um sie zu trösten, aber auch sich selbst. Er musste unbedingt den Blick auf die Zeit danach gerichtet halten, wann auch immer das sein würde. Er würde das keinen Tag länger als nötig ertragen. Bestimmt würde es eine Gelegenheit geben, etwas dagegen zu unternehmen, jedenfalls nach einer Weile.

Sie sog die Luft hörbar ein. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und suchte in ihrer Schürze nach einem Taschentuch.

Mit einem Mal war er unentschlossen. Ursprünglich war es seine Absicht gewesen, seine Sachen zusammenzupacken und sich sofort auf den Weg zu machen, um den Abschied nicht in die Länge zu ziehen. Das wäre das Einfachste, zumindest für die Kinder. Jetzt aber wollte er bleiben, solange es möglich war, und, da das Haus leer war, sich noch einmal in Liebe mit seiner Frau vereinigen, zum letzten Mal für eine lange Zeit.

Würde das den Abschied erleichtern … oder würde es ihn erschweren, wenn er gehen musste – bald?

Er verjagte diese Gedanken, schloss Charlotte in die Arme, küsste sie, drückte sie so fest an sich, dass sie leise aufschrie, worauf er gerade so viel nachgab, dass es sie nicht schmerzte. Dann gingen sie nach oben.

 

Als er fort war, setzte sich Charlotte vor den Spiegel im Schlafzimmer und bürstete sich die Haare. Sie hatte ohnehin die wenigen Nadeln herausnehmen müssen, die noch darin waren, um sich neu zu frisieren. Sie sah fürchterlich aus. In ihren geröteten Augen brannten nach wie vor die Tränen, nicht mehr nur solche des Entsetzens und der Einsamkeit, sondern auch solche der Wut.

Sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, dann ertönten Gracies Schritte in der Diele.

Rasch nahm sie die Haare hoch, schob flink die Nadeln hinein und ging nach unten.

Gracie stand mitten in der Küche. »Was is denn da passiert?«, fragte sie entsetzt. »Ihr Brot is ganz verbrannt. Sehn Se nur.« Dann begriff sie, dass etwas Schwerwiegendes geschehen sein musste. »Hat’s mit Mr. Pitt zu tun? Ihm is doch nix zugestoßen?« Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Nein! «, gab Charlotte rasch zur Antwort. »Es geht ihm gut, ich meine, er ist unverletzt.«

»Was is es dann?«, bohrte Gracie nach. Sie war starr, ihre Schultern waren angespannt, ihre kleinen Hände zu Fäusten geballt.

Charlotte setzte sich. Das Vorgefallene ließ sich nicht in wenigen Worten berichten. »Man hat ihn von der Leitung der Wache in der Bow Street entbunden und zum Sicherheitsdienst im East End abkommandiert.« Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, ihrem Dienstmädchen etwas vorzuenthalten. Gracie war vor über sieben Jahren als dreizehnjähriges unterernährtes, heimatloses Waisenkind ins Haus gekommen. Zwar hatte sie damals weder lesen noch schreiben können, war aber im Besitz einer scharfen Zunge und eisern entschlossen gewesen, aus ihrem Leben etwas zu machen. In ihren Augen gab es keinen großartigeren Menschen als Pitt, niemand verstand seine Arbeit besser als er. Sie fühlte sich allen Dienstmädchen in Bloomsbury überlegen, weil sie für diesen Mann arbeiten durfte. Diejenigen unter ihnen, die für einen bloßen Lord arbeiteten, taten ihr aufrichtig Leid, denn nicht nur kannte deren Leben keine Aufregung und keinen Sinn, ihre Arbeitgeber waren in ihren Augen auch nichts weiter als nutzlose Tagediebe.

»Worum geht es bei diesem Sicherheitsdienst?«, fragte sie misstrauisch. »Und wieso er?«

»Ursprünglich hatte es mit den irischen Bombenwerfern zu tun«, erklärte Charlotte das Wenige, was sie wusste. »Jetzt arbeitet diese Einheit mehr gegen Anarchisten und Nihilisten, glaube ich.«

»Was sind das für Leute?«

»Anarchisten wollen jegliche Regierung abschaffen und ein großes Durcheinander anrichten – «

»Dazu muss man keine Regierung abschaffen«, sagte Gracie herablassend. »Und was ist mit den anderen ›-isten‹?«

»Nihilisten? Die wollen alles zerstören.«

»Was für ’nen Sinn soll das haben? Dann haben die Torfköpfe doch selber nix mehr.«

»Ja, es ist sinnlos«, stimmte Charlotte zu. »Ich glaube, dass sich diese Leute mehr von ihrer Empörung als von ihrem Verstand leiten lassen.«

»Und denen soll Mr. Pitt also das Handwerk legen?« Gracie sah ein wenig hoffnungsvoller drein.

»Er wird es versuchen. Und um sie aufzuspüren, muss er in Spitalfields leben.«

Gracie war entsetzt. »Leben! In Spitalfields leben? Wissen die Leute denn nich, wie’s da zugeht? Da wohnt der Abschaum! Es starrt vor Dreck und stinkt zum Himmel! Kein Mensch ist da seines Lebens sicher.« Ihre Stimme wurde immer lauter. »Aber nich wegen Räubern oder Mördern oder weil man im Dunkeln überfallen werden kann – die Leute sterben da an fürchterlichen Krankheiten wie Pocken und so. Wer da ’n paar Bomben reinschmeißt, würde der Welt ’nen Gefallen tun. Sie müssen den Leuten unbedingt sagen, dass das nich geht. Für wen halten die Mr. Pitt eigentlich? Für ’nen x-beliebigen Greifer, der zu sonst nix taugt?«

»Diesen Leuten sind die Verhältnisse dort bekannt«, sagte Charlotte. Aufs Neue kam ihr das Elend ihrer Situation zu Bewusstsein. »Gerade deshalb hat man ihn dort hingeschickt, zur Strafe, weil er die Indizien im Fall Adinett entdeckt und vor Gericht darüber ausgesagt hat. Ich sagte ja schon: Man hat ihm die Leitung der Wache in der Bow Street entzogen.«

Gracie krümmte sich wie unter einem Hieb. Sie wirkte sehr klein und schmal. Sie zweifelte Charlottes Worte nicht an – dafür hatte sie im Leben zu viel Ungerechtigkeit miterlebt.

»Damit tun die ihm bitter Unrecht«, sagte sie ruhig. »Aber man wird ihm ja wohl in dem Dienst was zahlen, oder?«

»Gewiss. Allerdings weiß ich nicht, wie viel!« An diesen Punkt, der Gracie sofort eingefallen war, hatte Charlotte noch gar nicht gedacht. Gracie war zu lange arm gewesen, als dass sie das je vergessen würde. Nicht nur bittere Kälte hatte sie als Kind gelitten, sondern sie wusste auch, wie weh Hunger tat. Sie hatte von anderen fortgeworfene Reste aufgelesen und sich glücklich geschätzt, wenn sie eine Scheibe Brot ergattern konnte. In einer solchen Situation plant niemand für den nächsten Tag, ganz zu schweigen von der nächsten Woche.

»Sicher genügt es uns!«, sagte Charlotte betont munter. »Möglicherweise können wir uns keinen Luxus leisten, werden aber genug zu essen haben. Außerdem ist bald Sommer, da brauchen wir nicht mehr so viel Kohlen. Es gibt einfach eine Weile keine neuen Kleider, kein neues Spielzeug und keine Bücher.«

»Und kein Hammelfleisch«, fügte Gracie hinzu. »Heringe sind gut und obendrein billig. Ich weiß auch, wo man gute Suppenknochen und so kriegt. Wir kommen schon durch.« Sie holte tief Luft. »Trotzdem is das bitteres Unrecht, was die da mit ihm machen.«

 

Es den Kindern zu erklären war nicht leicht. Die zehneinhalbjährige Jemima war nicht mehr ganz so pummelig wie früher; in ihrer schlanken Gestalt war bereits die junge Frau zu erahnen, die sie bald werden würde.

Der zwei Jahre jüngere Daniel war kräftiger gebaut, aber mit seiner weichen Haut auf jeden Fall noch ein Kind, auch wenn sich die Gesichtszüge langsam deutlicher herausbildeten. Der Haarwirbel an seinem Hinterkopf war ebenso widerspenstig wie bei Pitt.

Charlotte hatte ihnen gesagt, dass ihr Vater eine ganze Weile nicht nach Hause kommen würde, und sich bemüht, ihnen klarzumachen, dass das nicht seine eigene Entscheidung war und sie alle ihm entsetzlich fehlen würden.

»Warum macht er es denn«, fragte Jemima sofort, »wenn er es doch gar nicht will?« Sie sträubte sich gegen diese Vorstellung, und alles in ihrem Gesicht zeigte ihren Widerwillen.

»Manchmal muss jeder etwas tun, was er nicht möchte«, gab Charlotte zur Antwort. Sie bemühte sich, ihre Stimme neutral klingen zu lassen, denn ihr war klar, dass die Kinder auf jeden Fall die Empfindung hinter den Worten hören würden. Sie musste alles in ihren Kräften Stehende tun, um ihren eigenen Kummer vor ihnen zu verbergen. »Es hat mit Pflicht und damit zu tun, was sich gehört.«

»Warum denn er?«, ließ Jemima nicht locker. »Das könnte doch auch jemand anders machen. Ich will nicht, dass er fortgeht.«

Charlotte liebkoste sie tröstend. »Ich auch nicht. Aber wenn wir uns das zu Herzen nehmen, ist es für euren Papa umso schwerer. Ich habe ihm gesagt, dass wir alle lieb zueinander sein werden und versuchen wollen, es auszuhalten, bis er wiederkommt. Er weiß, dass er uns fehlt.«

Jemima dachte eine Weile darüber nach, unsicher, ob sie die Dinge hinnehmen sollte oder nicht.

»Macht er da auch Jagd auf böse Menschen?«, ließ sich Daniel zum ersten Mal vernehmen.

»Ja«, bestätigte Charlotte rasch. »Man muss sie an ihrem Tun hindern, das kann niemand so gut wie er.«

» Warum?«

»Weil er sehr klug ist. Andere probieren das schon eine ganze Weile, haben aber nichts erreicht. Deswegen hat man euren Papa da hingeschickt.«

»Aha. Dann ist das sicher in Ordnung.« Nach längerem Nachdenken fragte er: »Ist es gefährlich?«

»Er muss nicht mit ihnen kämpfen«, sagte Charlotte mit größerer Gewissheit, als sie empfand. »Er soll nur dahinterkommen, wer sie sind.«

»Und muss er allein dafür sorgen, dass sie aufhören?«, fragte Daniel sachlich mit hochgezogenen Brauen.

»Nein«, beruhigte ihn Charlotte. »Er sagt anderen Polizisten Bescheid, und dann machen sie das zusammen.«

»Bestimmt?« Daniel entging nicht, dass sich seine Mutter Sorgen machte, auch wenn er nicht wusste, warum.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich. Glaubst du mir das nicht?«

Er nickte. »Doch. Aber ich will nicht ohne ihn sein.«

Es gelang ihr, das Lächeln beizubehalten. »Ich auch nicht.«

 

Pitt fuhr mit der Bahn in den Norden von Spitalfields. An der Adresse, die ihm Cornwallis gegeben hatte, fand er ein kleines Haus hinter einem Laden. Victor Narraway, ein dürrer Mann mit vollem dunklen Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, erwartete ihn bereits. Der Mann wirkte klug und zugleich äußerst gefährlich.

Er musterte Pitt aufmerksam.

»Setzen Sie sich«, forderte er ihn auf und wies auf den einfachen Holzstuhl dem seinen gegenüber. Außer den beiden Stühlen standen nur noch ein Tisch und eine Kommode dort, deren Schubladen sämtlich geschlossen waren. Pitt vermutete, dass es sich um eine frühere Spülküche handelte.

Er nahm Platz. Er hatte seinen abgetragensten Anzug an. Normalerweise trug er ihn, wenn er sich unauffällig in den ärmeren Stadtteilen bewegen wollte. Das war schon lange nicht mehr nötig gewesen, da er inzwischen andere mit dieser Aufgabe betraute. Er fühlte sich unbehaglich, unsauber und in jeder Hinsicht im Nachteil. Es war, als hätte man ihm die Jahre seiner Erfolge entrissen, als wären diese ein Traum oder eine Wunschvorstellung.

»Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie mir viel nützen können«, sagte Narraway finster.« Aber man soll ja einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen. Man hat Sie mir zugewiesen, und ich darf jetzt zusehen, wie ich damit zurecht komme. Bisher war ich der Ansicht, Ihre Spezialität sei die diskrete Behandlung von Skandalen in der feinen Gesellschaft. Spitalfields dürfte kaum das richtige Pflaster für Sie sein.«

»Ist es auch nicht«, gab Pitt mürrisch zurück. »Meines war Bow Street.«

»Und wo zum Teufel haben Sie so zu sprechen gelernt?« Narraway hob die Brauen. Zwar sprach er selbst ausgesprochen gepflegt, das Vorrecht derer, die in die Mittelschicht hineingeboren wurden und eine gute Ausbildung bekamen, aber nicht besser als Pitt.

»Ich habe gemeinsam mit dem Sohn des Hauses Unterricht bekommen«, gab Pitt zur Antwort. Noch jetzt stand das Bild deutlich vor seinen Augen, das Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel, der Privatlehrer mit Rohrstock und Brille, die endlosen Wiederholungen, bis er zufrieden war. Zuerst hatte er sich dagegen aufgelehnt, dann aber hatte es ihn gefesselt. Inzwischen war er dankbar.

»Ein Glück für Sie«, sagte Narraway mit feinem Lächeln. »Falls Sie uns hier von Nutzen sein wollen, müssen Sie das aber so schnell wie möglich ablegen. Zwar sehen Sie aus wie ein Hausierer oder Landstreicher, aber sobald Sie den Mund auftun, könnte man glauben, dass Sie geradewegs aus Oxford kommen.«

»Ich kann durchaus wie ein Hausierer sprechen, wenn ich das will«, gab Pitt zur Antwort. »Allerdings nicht wie einer von hier. Das zu probieren wäre ausgesprochen dumm – die kennen ihre eigenen Leute.«

Narraways Züge entspannten sich zum ersten Mal, und ein Anflug von Wohlwollen trat in seine Augen. Es war nichts als ein erster Schritt. Er nickte.

»Kaum jemand in London macht sich eine Vorstellung davon, wie ernst die Lage hier ist«, sagte er finster. »Die meisten vermuten zwar, dass es eine allgemeine Unruhe gibt, aber es ist weit mehr.« Aufmerksam sah er Pitt an. »Hier geht es nicht um verrückte Einzelgänger mit einer Stange Dynamit, obwohl wir auch mit denen zu tun haben.« Einen Augenblick lang trat ein spöttischer Ausdruck auf sein Gesicht. »Erst vor ein oder zwei Monaten hatten wir mit einem zu tun, der Dynamit durch die Toilette spülen wollte und damit das Abflussrohr verstopft hat. Seine Wirtin hat einen Rohrreiniger kommen lassen. Der arme Teufel hatte keine Ahnung, was er da gefunden hatte, und dachte, er könnte damit Risse in der Wand ausbessern oder dergleichen. Er hat es zum Trocknen auf den Dachboden gelegt und das halbe Haus damit in die Luft gejagt.«

Es war eine Farce, aber eine bittere mit tödlichem Ausgang. Selbst wenn man über diese groteske Situation lachte, blieb die Tragödie.

»Wenn wir nicht hinter einzelnen Nihilisten her sind«, fragte Pitt, »hinter wem dann?«

Narraway lächelte, entspannte sich ein wenig und schlug die Beine übereinander. »Die irische Frage macht uns schon lange zu schaffen, und ich nehme nicht an, dass das Problem in absehbarer Zeit verschwindet. Es ist aber zurzeit nicht unsere Hauptsorge. Zwar gibt es immer noch einige Fenier, aber die verhalten sich ziemlich ruhig, und wir haben im letzten Jahr nur wenige festgenommen. Seit längerem beobachten wir aber eine allgemeine Stimmung gegen die Katholiken.«

»Ist sie gefährlich?«

Narraway erkannte den Zweifel auf Pitts Zügen. »Nicht für sich genommen«, sagte er schroff. »Sie müssen noch eine Menge lernen. Am besten fangen Sie damit an, dass Sie den Mund halten und zuhören! Besorgen Sie sich irgendeine Arbeit, um Ihre Anwesenheit hier glaubwürdig zu machen. Ziehen Sie dann durch die Straßen. Halten Sie die Augen offen und den Mund zu. Achten Sie auf alles, was geredet wird. Hier herrscht eine Atmosphäre der Verbitterung, die vor zehn oder fünfzehn Jahren noch nicht da war. Erinnern Sie sich an den Blutigen Sonntag von ’87 und die Morde in Whitechapel im Herbst danach? In den vier Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich vieles verschlimmert.«

Selbstverständlich erinnerte sich Pitt wie jeder andere an den Herbst der Jahre 1887 und 1888, doch war ihm nicht klar gewesen, dass Gewalttaten nach wie vor in der Luft lagen. Er hatte angenommen, dabei habe es sich um isolierte Ausbrüche gehandelt, wie sie von Zeit zu Zeit auftreten. Ob Narraway übertrieb, womöglich, um sich wichtig zu machen? Zwischen den einzelnen Abteilungen der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständigen Kräfte gab es viel Rivalität. Jeder bemühte sich, sein eigenes Gebiet nicht nur abzugrenzen, sondern auch auf Kosten der anderen zu vergrößern.

Narraway las in seinen Zügen, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen.

»Bitte keine übereilten Schlüsse. Seien Sie ruhig skeptisch, aber tun Sie, was man Ihnen sagt. Ich weiß nicht, ob Donaldson mit dem, was er im Zeugenstand über Sie gesagt hat, Recht hatte. Jedenfalls gehorchen Sie mir, solange Sie hier beim Sicherheitsdienst sind – andernfalls schicke ich Sie zurück. Sie können dann zusehen, wie Sie den Rest Ihres Lebens zusammen mit Ihrer Familie in Spitalfields oder einem entsprechenden Ort fristen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Ja, Sir«, gab Pitt zur Antwort. Er sah entsetzt, auf was für einem gefährlichen Weg er sich befand. Er hatte keine Freunde und viel zu viele Feinde. Auf keinen Fall konnte er es sich leisten, Narraway eine Handhabe zu liefern, damit ihn dieser auf die Straße setzte.

»Na bitte.« Narraway schlug die Beine wieder übereinander. »Dann hören Sie mir gut zu. Von mir aus können Sie denken, was Sie wollen, aber sofern Sie das hier überleben oder mir gar von Nutzen sein wollen, wird getan, was ich sage.«

»Ja, Sir.«

»Und hören Sie mit diesem affigen Gehabe auf! «, knurrte ihn Narraway an. »Wenn ich einen sprechenden Papagei haben wollte, würde ich mir einen kaufen!« Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er dachte. »Hier im East End herrscht ein Ausmaß an Armut und Verzweiflung, das sich die Leute im übrigen London nicht vorstellen können. Männer, Frauen und Kinder verhungern oder sterben an Krankheiten, die Folgen des Hungers sind.« Vor unterdrückter Wut klang seine Stimme rau. »Die meisten Neugeborenen sterben schon bald, nur die allerwenigsten kommen durch. Unter solchen Voraussetzungen gilt das Leben eines Menschen nicht viel. Hier gelten andere Werte. Wo die Menschen nicht viel zu verlieren haben, kommt es leicht zu Konflikten. Eine Situation, in der hunderttausend Menschen nichts zu verlieren haben, ist wie ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann, und dann haben wir eine Revolution.«

Er sah Pitt unverwandt an. »In einer solchen Situation bedeuten die Katholiken, die Nihilisten und die Juden eine ebenso große Gefahr wie die Anarchisten mit ihrem Dynamit. Sie sind der Funke, der die Explosion auslösen kann, selbst wenn das nicht ihre Absicht sein sollte. Dazu genügt der kleinste Anlass.«

»Was ist denn mit den Juden?«, erkundigte sich Pitt neugierig.

»Das sieht anders aus, als wir gedacht hatten«, gab Narraway zurück. »Hier leben ziemlich viele liberale Juden, die nach den fehlgeschlagenen 48er Revolutionen vom europäischen Festland gekommen sind. Wir hatten angenommen, dass sie ihre Unzufriedenheit mit einschleppen, das hat sich aber bislang nicht bewahrheitet.« Er zuckte kaum wahrnehmbar die Achseln. »Das heißt aber nicht, dass es nicht noch dahin kommen kann. Hinzu kommt, dass es hier eine ausgeprägte antisemitische Stimmung gibt, die sich vorwiegend aus Angst und Unwissenheit speist. Wenn es den Leuten schlecht geht, suchen sie nach einem Sündenbock und verfallen als Erstes auf Menschen, die erkennbar anders sind als sie selbst, denn bei denen fällt das am leichtesten.«

»Ich verstehe.«

»Vermutlich nicht«, sagte Narraway herablassend. »Aber wenn Sie Augen und Ohren offen halten, werden Sie dahinterkommen. Ich habe für Sie in der Heneagle Street eine Unterkunft bei einem gewissen Isaak Karansky besorgt. Er ist ein polnischer Jude, der in der Gegend geachtet wird. Dort müssten Sie einigermaßen sicher sein und die Möglichkeit haben, sich umzusehen, umzuhören und etwas in Erfahrung zu bringen.«

Narraways Anweisungen waren nach wie vor ziemlich allgemein gehalten, und so hatte Pitt keine rechte Vorstellung, was von ihm erwartet wurde. Er war es gewöhnt, genau umrissene Fälle zu untersuchen, hatte bisher mit Dingen zu tun gehabt, die bereits geschehen waren, es war seine Aufgabe gewesen, die näheren Umstände zu ermitteln, festzustellen, wer die Tat begangen hatte, auf welche Weise der Täter vorgegangen war und möglichst auch die Gründe dafür. Der Versuch, etwas über unbekannte Dinge zu erfahren, die unter Umständen in der Zukunft stattfinden würden oder auch nicht, war etwas völlig anderes und für ihn gänzlich ungreifbar. Wo sollte er anfangen? Es gab nichts zu untersuchen, niemanden zu befragen und – wichtiger noch – er hatte keinerlei Befugnisse. Das war das Schlimmste von allem.

Erneut übermannte ihn der Eindruck, schon früher versagt zu haben und das auch künftig zu tun. Er würde der Aufgabe auf keinen Fall gewachsen sein, denn sie erforderte Fähigkeiten und Kenntnisse, die er nicht besaß. Er war fremd am Ort, ein krasser Außenseiter in Bezug auf alles, worauf es ankam. Man hatte ihn nicht dorthin geschickt, weil man annahm, er werde von Nutzen sein, sondern als Strafe dafür, dass er die Anklage gegen Adinett unterstützt und damit Erfolg gehabt hatte. Nur ein Gutes hatte die Sache: Es war eine Art Anstellung, mit der er ein gewisses Einkommen für Charlotte und die Kinder verdienen konnte. Allerdings überlagerten Angst und Wut seine Dankbarkeit.

Er musste es versuchen! Er brauchte mehr Informationen von Narraway, und sei es um den Preis, dass er seinen Stolz hintanstellte und ihn fragte. Wenn er diesen trübseligen winzigen Raum erst verlassen hatte, war es dafür zu spät. Er wäre, was seine Tätigkeit anging, mehr auf sich allein gestellt als je in all den Jahren zuvor.

»Sind Sie der Ansicht, dass es jemanden gibt, der die Dinge mit Absicht zu einem Ausbruch von Gewalt treibt, oder würde es einfach durch diesen oder jenen Zufall dazu kommen?«, fragte er.

»Wie immer ist Letzteres durchaus möglich«, teilte ihm Narraway mit. »Nur dürfte es diesmal anders sein, doch würde man vermutlich dafür sorgen, dass es trotzdem wie ein spontaner Ausbruch aussieht. Es gibt weiß Gott genug Armut und Ungerechtigkeit, um eine solche Sache am Kochen zu halten, wenn der Ausbruch erst einmal erfolgt ist. Das Ausmaß an religiöser Intoleranz und Rassenhass reicht für einen offenen Krieg auf der Straße ohne weiteres aus. Das zu verhindern ist unsere Aufgabe, Pitt. Auf diesem Hintergrund erscheint ein Mord mehr oder weniger ziemlich banal, nicht wahr, fast unbedeutend – natürlich nicht denen, die er trifft, und denen, die unter seinen Folgen leiden, was?« Seine Stimme klang wieder scharf. »Und sagen Sie mir bloß nicht, dass alle Tragik oder Ungerechtigkeit auf Einzelne zurückgeht – das weiß ich durchaus! Selbst eine noch so gute Gesellschaft ist unfähig, die Folgen von Neid, Habgier und Wut, lauter Äußerungen von Einzelpersonen, aufzuheben, und ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt keine, die dazu je imstande sein wird. Wir haben es hier mit der Art von Wahnsinn zu tun, bei dem niemand sicher ist und alles zerstört wird, was sinnvoll und wertvoll ist.«

Pitt sagte nichts. Seine finsteren Gedanken ängstigten ihn.

»Haben Sie je etwas über die französische Revolution gelesen?«, fragte Narraway. »Ich meine die große von 1789, nicht das Fiasko in jüngerer Zeit.«

»Ja.« Ein Schauer überlief Pitt, und er musste wieder an die Stunden im Unterrichtszimmer des großen Herrenhauses denken. Ihm trat vor Augen, was man ihm damals ausgemalt hatte: wie die Straßen von Paris mit dem Blut von Menschen getränkt waren, während die Guillotine tagein, tagaus ihr Werk verrichtete. »Das absolute Entsetzen«, sagte er.

»So ist es.« Narraway presste die Lippen aufeinander. »Paris ist uns sehr nahe, Pitt. Glauben Sie bloß nicht, hier könnte so etwas nicht passieren. Es gibt in unserem Land genug soziale Ungleichheit, das dürfen Sie mir glauben.«

Wider Willen musste Pitt Narraway im Stillen Recht geben. Zwar übertrieb er, doch selbst wenn sich seine Voraussagen nur zum Teil bewahrheiten sollten, wären die Folgen entsetzlich.

»Wozu brauchen Sie mich?«, fragte Pitt, bemüht, seine Stimme gleichmütig klingen zu lassen. »Was soll ich ermitteln?«

»Ich brauche Sie überhaupt nicht!«, stieß Narraway mit plötzlichem Unwillen hervor. »Man hat Sie mir von oben zugeteilt, und ich kenne nicht einmal den genauen Grund dafür. Aber wenn Sie schon mal hier sind, kann ich zumindest versuchen zu erreichen, dass Sie mir nützlich sind. Dieser Isaak Karansky stellt nicht nur eine für die Verhältnisse von Spitalfields recht anständige Unterkunft zur Verfügung, er ist unter seinesgleichen auch ziemlich angesehen. Hören Sie aufmerksam zu, was er sagt, beobachten Sie ihn, versuchen Sie, möglichst viel über ihn herauszubekommen. Wenn Ihnen etwas Nützliches auffällt, sagen Sie es mir. Ich bin jede Woche zu unterschiedlichen Zeiten hier. Sprechen Sie mit dem Flickschuster vorne im Laden. Er kann Mitteilungen an mich weiterleiten. Melden Sie sich nur, wenn es etwas Wichtiges gibt, und tun Sie es auf jeden Fall, wenn Sie den Eindruck haben, dass es wichtig sein könnte! Sie können gar nicht vorsichtig genug sein.«

»Ja, Sir.«

»Gut. Jetzt können Sie gehen.«

Pitt erhob sich und ging zur Tür.

»Pitt!«

Er wandte sich um. »Ja, Sir?«

Narraway sah ihn aufmerksam an. »Passen Sie auf. Sie haben da draußen keine Freunde. Vergessen Sie das keine Sekunde. Trauen Sie niemandem.«

»Nein, Sir. Danke.« Als Pitt hinausging, war ihm trotz der drückenden Atmosphäre in dem Raum kalt. Ihm stieg der süßliche Geruch faulenden Holzes und der Gestank einer offenen Abfallgrube in die Nase. Er fragte sich durch schmale graue Gässchen bis zur Heneagle Street durch. Isaak Karanskys Haus stand an der Ecke der verkehrsreichen Brick Lane, durch die man an der gewaltigen Front einer Zuckersiederei entlang zur Whitechapel Road gelangte. Er klopfte. Als sich nichts rührte, klopfte er erneut.

Ein Mann von Ende fünfzig öffnete ihm. Sein Gesicht wies unübersehbar semitische Züge auf, und sein schwarzes Haar wurde an vielen Stellen grau. Er betrachtete Pitt mit gütigen und klugen Augen, doch die Umstände hatten ihn gelehrt, vorsichtig zu sein.

»Ja?«

»Mr. Karansky?«, fragte Pitt.

»Ja …« Er sprach mit einem leichten Akzent, und in seiner tiefen Stimme lag unüberhörbar Misstrauen.

»Ich heiße Thomas Pitt. Ich bin neu hier und suche eine Unterkunft. Ein Bekannter hat mir gesagt, Sie hätten unter Umständen ein Zimmer für mich.«

»Wie heißt Ihr Bekannter, Mr. Pitt?«

»Narraway.«

»Gut, gut. Wir haben ein Zimmer. Kommen Sie bitte herein, und sehen Sie, ob es Ihnen recht ist. Es ist klein, aber sauber. Meine Frau hält es damit sehr genau.« Er trat beiseite, um Pitt einzulassen. Die Diele war klein, und die Treppe lag nur zwei oder drei Schritt von der Haustür entfernt. Im Haus war es finster, und Pitt überlegte, dass es im Winter dort feucht und bitterkalt sein würde. Doch alles roch sauber, nach irgendeiner Art Politur. Aus der Küche stieg ihm der Duft von Kräutern in die Nase, die er nicht kannte. Die Vorstellung war angenehm, sich in einem Haus aufzuhalten, dessen Bewohner ein Familienleben führten, wo die Frau kochte, putzte, wusch und sich um alles kümmerte.

»Nach oben.« Karansky wies mit der Hand hinauf.

Pitt erstieg vorsichtig die Stufen und hörte sie bei jedem Schritt knarren. Oben zeigte Karansky auf eine Tür, und Pitt öffnete sie. Der Raum dahinter war klein, und das einzige Fenster war von außen so voller Schmutz, dass man kaum hinaussehen konnte. Vielleicht ersparte man sich besser den Anblick und konnte auf diese Weise in der Vorstellung seine eigenen Träume erschaffen.

Die Laken auf dem eisernen Bettgestell wirkten sauber und frisch. Es schien mehrere Decken zu geben. Das halbe Dutzend Schubladen in der hölzernen Kommode, auf der eine Wasserkanne und eine Waschschüssel standen, hatte unterschiedliche Griffe. Ein kleines Stück Spiegelglas hing an der Wand. Einen Schrank gab es nicht, lediglich zwei Haken an der Tür. Am Boden neben dem Bett sah Pitt einen Vorleger.

»Sehr schön«, sagte er. Er fühlte sich um Jahre zurückversetzt, und es kam ihm vor, als wäre er wieder ein kleiner Junge auf dem Lande. Nachdem die Polizei den Vater fortgeführt hatte, war er mit der Mutter aus dem Häuschen des Wildhüters in die Gesinderäume des Herrenhauses gezogen. Damals hatten sie sich glücklich geschätzt. Die meisten anderen hätten sie auf die Straße gesetzt, doch Sir Matthew Desmond hatte sie aufgenommen.

 

Während er sich in dem Zimmer umsah und wieder an die Armut, die Kälte und die Angst denken musste, kam es ihm vor, als wären die Jahre dazwischen nichts als ein Traum gewesen, als könne er jeden Augenblick aufwachen und müsse sich dem Tag und der Wirklichkeit stellen. Der Geruch im Raum kam ihm seltsam vertraut vor. Dessen Kahlheit ließ ihn daran denken, wie kalt es dort sein würde – bloße Füße auf dem nackten Boden, Eisblumen auf den Fensterscheiben, kaltes Wasser in der Waschkanne.

Das Haus in der Keppel Street erschien ihm wie etwas, das er sich ausgedacht hatte. Ihm würden die kleinen Behaglichkeiten des Alltags fehlen, an die er sich gewöhnt hatte. Noch viel mehr aber, in geradezu unerträglicher Weise, würde ihm die Wärme fehlen, das Gelächter, die Zuneigung und die Geborgenheit.

»Es kostet zwei Shilling die Woche«, sagte Karansky leise hinter ihm. »Wenn Sie essen wollen, macht das weitere ein Shilling Sixpence. Sie dürfen sich gern mit uns an den Abendbrottisch setzen.«

Beim Gedanken an das, was Narraway über Karanskys Stellung in der Gemeinde gesagt hatte, zögerte Pitt nicht anzunehmen. »Danke, das wäre großartig.« Er nahm die Miete für die erste Woche aus der Hosentasche. Wie Narraway gesagt hatte, musste er sich so schnell wie möglich um eine Arbeit kümmern, um kein Misstrauen zu erwecken. »Wo findet man am besten Arbeit?«

Karansky zuckte viel sagend die Achseln. Auf seinen Zügen lag Bedauern. »›Am besten‹ gibt es nicht. Jeder sieht zu, wo er bleibt. Sie sehen ziemlich kräftig aus. Welche Arbeit sind Sie bereit zu tun?«

Bis zu diesem Augenblick hatte Pitt noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht. Erst als er das Geld für die Miete abzählte, ging ihm auf, dass er eine sichtbare Einkommensquelle haben musste, um nicht beargwöhnt zu werden. Schon viele Jahre hatte er nicht mehr körperlich gearbeitet. Zwar belastete seine Tätigkeit bisweilen die Füße, aber ansonsten benutzte er vorwiegend seinen Kopf, vor allem, seit er an die Spitze der Wache in der Bow Street getreten war.

»Ich bin nicht wählerisch«, sagte er. Wenigstens war der Hafen nicht so nahe, sodass er auf keinen Fall Kohlensäcke oder Kisten schleppen musste. »Was ist mit der Zuckerfabrik in der Brick Lane? Ich bin da gerade dran vorbeigekommen, außerdem kann man sie von hier aus riechen.«

Karansky hob eine schwarze Braue. »Die interessiert Sie wohl?«

»Nicht unbedingt. Ich habe nur gedacht, dass man da vielleicht Arbeit für mich hätte. Die brauchen da doch sicher viele Leute, oder nicht?«

»O ja, hunderte«, stimmte Karansky zu. »Jede zweite Familie hier in der Gegend verdient zumindest einen Teil ihres Unterhalts in der Fabrik. Sie gehört einem gewissen Sissons. Er hat drei davon, zwei auf dieser Seite der Whitechapel Road und die dritte auf der anderen.«

Etwas in der Art, wie er das sagte, fiel Pitt auf. Es war ein gewisses lauerndes Zögern.

»Ist das gute Arbeit?«, erkundigte er sich, bemüht, die Frage beiläufig klingen zu lassen.

»Jede Arbeit ist gut«, gab Karansky zur Antwort. »Der Mann zahlt recht ordentlich. Der Arbeitstag ist lang, und die Arbeit kann hart sein, aber man kann davon leben, wenn man sich vorsieht. Es ist sehr viel besser, als zu verhungern – solche Leute gibt es hier übergenug. Aber versteifen Sie sich nicht darauf, wenn Sie niemanden kennen, der Ihnen da die Türen öffnet.«

»Tu ich nicht. Wo könnte ich mich sonst noch umsehen?«

»Sie wollen es also gar nicht erst probieren?«

»Doch, gern. Aber Sie haben gesagt, ich soll mich nicht darauf verlassen.«

Man hörte ein Geräusch vor der Tür, und Karansky wandte sich um. An ihm vorüber sah Pitt eine hübsche Frau auf dem Treppenabsatz stehen. Sie war etwa im gleichen Alter wie Karansky, aber ihr dichtes Haar war noch dunkel. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Mattigkeit und Sorge, und der Blick ihrer Augen wirkte gehetzt, als wäre Angst ihre ständige Begleiterin. Trotzdem waren ihre Züge schön, und sie strahlte eine tiefe Würde aus.

»Ist Ihnen das Zimmer recht?«, fragte sie zögernd.

»Es ist in Ordnung, Lea«, versicherte ihr Karansky. »Mr. Pitt wird bei uns bleiben. Er will sich morgen nach einer Arbeit umsehen.«

»Saul braucht Hilfe«, sagte sie und sah an ihrem Mann vorbei zu Pitt hin. »Können Sie Dinge tragen? Die Arbeit ist nicht schwer.«

»Er hat sich nach der Zuckerfabrik erkundigt«, teilte ihr Karansky mit. »Vielleicht möchte er lieber dort arbeiten.«

Sie sah überrascht drein, bekümmert, als hätte ihr Mann etwas getan, was sie enttäuschte. »Wäre es bei Saul nicht besser?« Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie deutlich mehr meinte, als ihre Worte sagten, und dass sie voraussetzte, er werde sie verstehen.

Karansky zuckte die Achseln. »Sie können beides versuchen, wenn Sie möchten.«

»Sie haben gesagt, dass ich in der Zuckerfabrik keine Stelle bekomme, wenn ich da niemanden kenne«, erinnerte ihn Pitt.

Schweigend sah ihn Karansky eine Weile an, als versuche er dahinter zu kommen, ob man Pitt trauen könne, und als sei er sich seiner Sache nicht sicher.

Seine Frau brach das Schweigen.

»In der Zuckerfabrik ist es nicht gut, Mr. Pitt. Saul bezahlt zwar nicht so viel, aber die Arbeit ist besser, glauben Sie mir.«

Pitt versuchte abzuwägen, ob es besser wäre, sich für die Sicherheit und das zu entscheiden, was der gesunde Menschenverstand riet, oder eine Gelegenheit zu suchen, die ihm die Möglichkeit gab zu entdecken, was an den Zuckersiedereien so gefährlich war, von denen die Hälfte der Menschen in der näheren Umgebung mittelbar oder unmittelbar zu leben schien.

»Was macht Saul?«, fragte er.

»Er ist Seidenweber«, antwortete Karansky.

Karansky schien beinahe zu erwarten, dass er sich für die Zuckersiederei interessierte und sich trotz seiner Warnung um eine Anstellung dort bemühte. Ihm fiel ein, was Narraway zum Thema Vertrauen gesagt hatte.

»Ich denke, ich gehe morgen mal zu ihm, und wenn ich Glück habe, gibt er mir vielleicht Arbeit. Ganz gleich was, es ist besser als nichts, und wenn es nur für ein paar Tage ist.«

Mrs. Karansky lächelte. »Ich sag es ihm. Er ist ein guter Bekannter. Er wird etwas für Sie finden. Vielleicht nicht viel, aber es ist so sicher, wie etwas in diesem Leben nur sein kann. Jetzt haben Sie bestimmt Hunger. Wir essen in einer Stunde. Kommen Sie dann herunter.«

»Danke«, nahm Pitt die Einladung an und erinnerte sich an den Geruch aus der Küche. Die Vorstellung, erneut hinaus auf die säuerlich riechenden, grauen Straßen zu gehen, auf denen das Elend zu Hause war, stieß ihn ab. »Das tu ich gern.«