Kapitel 7
Die Aufklärung der Unzahl von Einbrüchen, mit der man Tellman betraut hatte, ging an die Grenzen seiner Geduld. Während er Fragen stellte und sich die ihm vorgelegten Bilder von Schmuck ansah, waren seine Gedanken bei Pitt in Spitalfields und bei der Frage, was Adinett in der Cleveland Street getan haben mochte, dass sich Lyndon Remus so brennend dafür interessierte.
Sein Verstand sagte ihm, dass er die Einbrüche nicht aufklären würde, wenn er sich nicht auf seine Arbeit konzentrierte, und ihm das nur noch mehr Ärger eintragen würde. Doch seine Gedanken ließen sich davon nicht beeindrucken, sie kehrten immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Sobald es ihm möglich war, mit der Tagesarbeit aufzuhören, verließ er die Wache in der Bow Street, was in keiner Weise seiner üblichen Arbeitshaltung entsprach, und begann sich ein Bild von Remus zu machen. Er erkundete dessen Lebensgewohnheiten und stellte fest, wo er wohnte, wo er gewöhnlich aß, welche Gaststätten er aufsuchte und an welche Blätter er seine Berichte vorwiegend verkaufte. Das Muster, das sich dabei herausstellte, hatte sich im Laufe des letzten Jahres geändert – die Zahl der an Thorold Dismore verkauften Artikel hatte immer mehr zugenommen, bis er in den Monaten Mai und Juni schließlich fast nur noch für ihn gearbeitet hatte.
Erst gegen Mitternacht, als die Gaststätten bereits geschlossen waren, hatte Tellman den Eindruck, Remus jederzeit aufspüren zu können, wenn er ihn brauchte. Er würde seinem Vorgesetzten am nächsten Morgen eine Lüge auftischen, was er noch nie getan hatte, denn diesmal würde keine der üblichen Ausflüchte genügen, um zu erklären, was er tun würde. Falls man ihm auf die Schliche kam, würde er sich eine entsprechende Rechtfertigung ausdenken müssen.
Trotz seines durchaus bequemen Bettes schlief er schlecht und wachte früh wieder auf. Zum Teil ging das darauf zurück, dass ihm unaufhörlich Vorstellungen davon durch den Kopf gingen, welche persönlichen Laster oder Geheimnisse Adinett nach Mile End geführt haben mochten, derentwegen Martin Fetters ihn dann unter Druck gesetzt hatte. Doch nichts von all dem schien zu dem Eindruck zu passen, den ihm der kleine Tabakladen in jener ganz alltäglich wirkenden Straße gemacht hatte.
Er bereitete sich rasch eine Tasse Tee und kaufte ein belegtes Brot beim ersten Straßenhändler, an dem er vorüberkam, während er zur Straßenecke vor Remus’ Wohnung in der Nähe der Pentonville Road eilte, damit er ihm auf seinen Wegen durch die Stadt folgen konnte.
Er musste nahezu zwei Stunden warten, bis Remus schließlich frisch rasiert aus dem Haus trat. Der saubere weiße Kragen war so hoch und steif, dass er kaum bequem sein konnte, und sein zurückgekämmtes Haar war noch feucht, als er wenige Schritte von Tellman entfernt vorüberschritt, der mit gesenktem Kopf in einer Toreinfahrt stand und sich vom langen Warten ziemlich zermürbt und wütend fühlte. Offensichtlich konzentrierte sich Remus auf das Ziel, dem er entgegenstrebte, denn er schien nichts um sich herum wahrzunehmen.
Tellman folgte ihm in fünfzehn Schritt Abstand, bereit, diesen zu verkürzen, wenn die Straßen belebter wurden und er damit rechnen musste, ihn aus den Augen zu verlieren.
Nach einem knappen Kilometer musste er ein Stück rennen und hätte trotzdem fast den Pferde-Omnibus verpasst, den Remus bestiegen hatte. Schwer atmend ließ er sich auf einen Platz neben einem dicken Mann in einem gestreiften Mantel fallen, der ihn belustigt musterte. Innerlich verwünschte Tellman seine übergroße Vorsicht, denn Remus hatte sich nicht ein einziges Mal umgesehen.
Es war Tellman durchaus klar, dass die Angelegenheit, in der er Remus verfolgte, möglicherweise nicht das Geringste mit Pitt zu tun hatte. Unter Umständen sah Remus sie bereits als abgeschlossen an, weil er gefunden hatte, was er suchte – oder weil seine Suche ergebnislos geblieben war. Jeden Morgen hatte Tellman die Zeitungen auf Artikel durchforscht, die mit Adinett oder Martin Fetters zu tun hatten, aber nichts gefunden – und auch sonst keinen, der auf Remus als Verfasser hinwies. Alle Blätter walzten die entsetzlichen Vergiftungsfälle von Lambeth auf der ersten Seite breit aus. Allem Anschein nach waren bereits sieben junge Prostituierte diesem heimtückischen Anschlag zum Opfer gefallen. Entweder hatte diese jüngste Abscheulichkeit die Ereignisse in der Cleveland Street und um sie herum in den Hintergrund gedrängt, oder Remus war noch immer auf der Fährte. Diesmal schien sie ihn nach St. Pancras zu führen.
Als Remus ausstieg, folgte ihm Tellman vorsichtig und in gehörigem Abstand, doch auch jetzt sah sich Remus nicht um. Es war um die Mitte des Vormittags, die Straßen waren voller Menschen, und der Verkehr kam nur mühsam voran.
Remus überquerte die Straße, gab dem kleinen Jungen, der mit seinem Besen die Stelle von Pferdeäpfeln freihielt, ein Trinkgeld und beschleunigte den Schritt, kaum dass er die gegenüberliegende Seite erreicht hatte. Kurz darauf eilte er die Stufen des Krankenhauses von St. Pancras empor.
Schon wieder ein Krankenhaus! Dabei wusste Tellman nach wie vor nicht, was Remus im Guy’s Hospital am Südufer der Themse gewollt hatte.
Er folgte ihm im Laufschritt und war froh, dass er daran gedacht hatte, eine dunkle Tuchmütze aufzusetzen, die er sich tief ins Gesicht ziehen konnte. Wieder erkundigte sich Remus an der Pforte und machte sich dann mit raschen Schritten zur Verwaltung auf. Was mochte er suchen? Dasselbe wie im Guy’s Hospital? War er hergekommen, weil er es dort nicht gefunden hatte? Oder gab es etwas zu vergleichen?
Während Tellman Remus folgte, der mit schwingenden Armen durch den Korridor eilte, überlegte er, warum sich der Journalist nicht nach den hinter ihm hallenden Schritten umsah.
Zwei ältere Krankenschwestern mit erschöpften Gesichtern kamen ihnen entgegen. Die eine trug einen mit einem Deckel verschlossenen Eimer. Er schien schwer zu sein, denn er zog ihren Arm herunter. Die andere hielt ein Bündel schmutziger Laken im Arm und blieb immer wieder stehen, um die Enden aufzuheben, die sie beim Gehen behinderten.
Remus wandte sich nach rechts, eilte eine kleine Treppe empor und klopfte an. Die Tür wurde geöffnet, und er trat ein. Auf einem Schild sah Tellman, dass es sich um die Registratur des Krankenhauses handelte.
In einer Art abgeteiltem Warteraum stützte sich ein kahlköpfiger Mann auf eine Theke. Hinter ihm standen Regale voller Akten. Drei weitere Personen schienen auf Angaben zu hoffen, eine ältere Frau mit einem ramponierten Strohhut und zwei Männer. Sie trugen schlecht sitzende dunkle Anzüge und sahen einander ähnlich. Möglicherweise waren sie Brüder.
Remus stellte sich hinten an und trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen.
Tellman näherte sich der Tür, bemüht, so wenig wie möglich aufzufallen. Er hielt den Kopf gesenkt und sah zu Boden, sodass der Mützenschirm sein Gesicht verbarg.
Er konnte sehen, wie Remus hinter dem Rücken die Hände ungeduldig öffnete und schloss. Was beschäftigte ihn innerlich so sehr, dass er es nicht einmal merkte, wenn man ihm folgte? Tellman roch fast die Erregung des Mannes. Er ahnte nicht im Geringsten, worum es ihm ging, vermutete aber, dass es mit John Adinett zu tun hatte.
Die beiden Brüder hatten erfahren, was sie wissen wollten, und gingen gemeinsam hinaus. Jetzt kam die Frau an die Reihe.
Es dauerte einige Minuten, bis sie abgefertigt war und Remus endlich an die Theke treten konnte.
»Guten Morgen«, sagte er munter zu dem Angestellten. »Man hat mir gesagt, dass Sie mir Angaben über Patienten machen können. Soweit ich gehört habe, wissen Sie mehr über dies Krankenhaus als jeder andere.«
»So?« Der Mann ließ sich offenbar nicht ohne weiteres um den Finger wickeln. »Was wünschen Sie?« Er schob die Unterlippe vor. »Vermutlich geht es nicht um irgendwelche Angehörigen, sonst würden Sie das einfach sagen, und auch nicht darum, was es hier kostet, denn das könnten Sie ohne die geringste Schwierigkeit erfahren. Sie sehen mir nicht wie jemand aus, der für irgendwelche Sachen auf meine Hilfe angewiesen ist.«
Remus stutzte, reagierte aber rasch. »So ist es. Ich bin einem Mann auf der Spur, der möglicherweise Bigamist ist. Jedenfalls hat mir das eine Dame gesagt. Ich selbst bin mir der Sache nicht so sicher.«
Der Angestellte setzte zu einer Bemerkung an, überlegte es sich aber offensichtlich anders und fragte: »Und Sie nehmen an, dass er sich hier aufhält, Sir? Ich habe hier in der Registratur ausschließlich die Akten früherer Patienten; die der gegenwärtigen befinden sich auf der Station.«
»Nein«, gab Remus zur Antwort. »Aber ich nehme an, dass er hier gestorben sein könnte. Damit wäre die Sache ohnehin erledigt.«
»Name?«
»Crook. William Crook«, sagte Remus mit leicht zittriger Stimme. Er schien kurzatmig zu sein, und Tellman sah, dass ihm der steife Kragen hinten im Nacken tief ins Fleisch drückte. »Ist er gegen Ende vorigen Jahres hier gestorben?«, fuhr Remus fort.
»Und wenn es so wäre?«, gab der Mann zurück.
»Sagen Sie es mir bitte.« Remus beugte sich steif über die Theke, die Stimme erhoben. »Ich … ich muss es wissen.«
»Ja, ist er, der Arme«, antwortete der Mann in achtungsvollem Ton. »Das passiert in jedem Jahr Dutzenden. Sie hätten das ohne die geringste Mühe auch in einem öffentlichen Archiv erfahren können.«
»Das ist mir bekannt.« Remus ließ sich nicht abweisen. »An welchem Tag?«
Der Mann rührte sich nicht.
Remus legte eine halbe Krone auf die Theke. »Sehen Sie nach, und sagen Sie mir, welcher Religion er angehörte.«
»Welcher Religion?«
»Ja, ist das so schwer zu verstehen? Und was für Angehörige er hatte: wer ihn besucht hat und wer noch lebt.«
Der Mann sah auf die halbe Krone. Diese zweieinhalb Shilling waren eine Menge Geld und leicht verdient. Er wandte sich zu den Regalen um, nahm ein blau eingebundenes Hauptbuch heraus und schlug es auf. Remus ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte nach wie vor nichts von Tellmans Anwesenheit bemerkt und auch nicht, dass ein schmaler Mann mit blondem Haar kurz nach ihnen eingetreten war.
Tellman überlegte fieberhaft. Wer mochte dieser William Crook sein, und was hatte dessen Tod in einem Krankenhaus zu bedeuten? Oder seine Religionszugehörigkeit? Wenn er im vorigen Jahr gestorben war, was konnte er da mit Adinett oder Martin Fetters zu tun haben? Hatte ihn Adinett möglicherweise ermordet, und Fetters hatte davon gewusst? Dann wäre das Motiv klar.
Der Angestellte hob den Blick. »Er ist am vierten Dezember verschieden. Seine Witwe Sarah, die hier ihre Angaben gemacht hat, sagt, dass er römisch-katholisch war.«
Remus beugte sich noch weiter vor. Er sprach beherrscht, doch klang seine Stimme ein wenig schärfer als zuvor. »Römisch-katholisch. Sind Sie sicher? Steht das da?«
Aufgebracht sagte der Mann: »Hab ich Ihnen doch gerade gesagt.«
»Und wo hat er gewohnt, bevor er hierher kam?«
Der Angestellte sah auf das Blatt und zögerte.
Remus verstand und legte mit hartem Geräusch einen weiteren Shilling auf die Theke.
»In der St. Pancras Street Nummer 9«, sagte der Mann.
»In der St. Pancras Street!« Remus war offenkundig verblüfft und fragte ungläubig: »Sind Sie sicher? Nicht in der Cleveland Street?«
»In der St. Pancras Street«, wiederholte der Angestellte.
»Wie lange war er da?«, fragte Remus.
»Woher soll ich das wissen?«, fragte der Mann zurück.
»Und Nummer 9, sagten Sie?«
»Ja.«
»Danke.« Remus wandte sich um und ging hinaus, den Kopf nachdenklich gesenkt. Er merkte nicht einmal, dass Tellman hinter ihm den Raum verließ, ohne seinerseits an die Theke getreten zu sein.
Tellman folgte ihm in geringer Entfernung auf die Straße. Remus war erkennbar nach wie vor unaufmerksam, diesmal vermutlich aus Enttäuschung und Verwirrung. Ohne zu zögern, schritt er mit großen Schritten die St. Pancras Street entlang. Am Haus Nummer 9 klopfte er und trat einen Schritt zurück, um zu warten.
Tellman blieb auf der anderen Straßenseite stehen. Wäre er hinübergegangen und so nahe herangetreten, dass er hören konnte, was gesagt wurde, wäre seine Gegenwart Remus wohl trotz dessen Unaufmerksamkeit aufgefallen.
Eine ungewöhnlich hoch gewachsene Frau – Tellman schätzte sie auf über einen Meter achtzig – öffnete die Tür. Sie sah zum Fürchten aus.
Angesichts Remus’ äußerst zuvorkommenden und achtungsvollen Verhaltens wurde sie, wie es aussah, zugänglicher. Sie sprachen einige Minuten miteinander, dann machte Remus eine angedeutete Verbeugung, lüftete den Hut, wandte sich um und ging rasch fort. Dabei schien er so aufgeregt zu sein, dass er einige Male ins Stolpern geriet. Tellman hatte die größte Mühe, ihm schnell genug zu folgen.
Er sah, dass Remus zum Bahnhof St. Pancras ging und diesen durch den Haupteingang betrat.
Tellman tastete in seinen Taschen nach den Münzen und spürte drei halbe Kronen, zwei Shilling und einige Pennys. Wahrscheinlich würde Remus nur eine oder zwei Stationen weit fahren, sodass es wohl ziemlich leicht war, ihm zu folgen – aber lohnte sich das Risiko? Vermutlich handelte es sich bei der hoch gewachsenen Frau in der Tür des Hauses Nummer 9 um William Crooks Witwe Sarah. Was mochte sie Remus gesagt haben, dass er mit einem Mal so munter wirkte? Vielleicht, dass es sich um eben den William Crook handelte, der früher einmal in der Cleveland Street gewohnt hatte? Oder dass irgendeine andere enge Beziehung zwischen ihm und jener Straße bestand? Das Gespräch an der Haustür hatte eine ganze Weile gedauert. Offenbar hatte sie mehr gesagt, als er wissen wollte. Etwas über Adinett?
Remus trat an den Fahrkartenschalter.
Zumindest konnte Tellman feststellen, wohin er wollte. Die Anwesenheit weiterer Menschen in der Bahnhofshalle gab ihm die Möglichkeit, näher heranzugehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Er versteckte sich hinter einer jungen Frau mit einer Tuchtasche, die einen hellblauen weiten Rock trug.
»Einmal zweiter Northampton hin und zurück«, sagte Remus rasch und erregt. »Wann geht der nächste Zug?«
»Erst in einer Stunde, Sir«, teilte ihm der Mann am Schalter mit. »Das macht vier Shilling, acht Pence. Umsteigen in Bedford.«
Remus gab ihm das Geld und nahm seine Fahrkarte entgegen.
Tellman wandte sich rasch ab und verließ den Bahnhof. Dabei überlegte er: Northampton? Das war sehr weit! Welche mögliche Verbindung konnte da bestehen? Hinzufahren würde ihn Zeit und Geld kosten, und beides konnte er sich nicht leisten. Er neigte nicht zu impulsiven Handlungen. Hinzu kam, dass es ein äußerst großes Risiko bedeutete, Remus dorthin zu folgen.
Ohne sich bewusst für etwas entschieden zu haben, ging er die St. Pancras Street in Richtung auf das Krankenhaus zurück. Bis zur Abfahrt des Zuges blieb eine volle Stunde. Selbst wenn er sich eine Dreiviertelstunde im Krankenhaus aufhielt, blieb ihm notfalls immer noch genug Zeit, zum Bahnhof zurückzukehren, eine Fahrkarte zu kaufen und den Zug zu erreichen.
Wer war dieser William Crook? Warum war seine Religionszugehörigkeit von Bedeutung? Wonach hatte Remus Crooks Witwe gefragt, abgesehen von einer Verbindung mit der Cleveland Street? Tellman war wütend auf sich, weil er der Sache nachging, und auf alle anderen, weil Pitt in Schwierigkeiten war und niemand etwas dagegen unternahm. Überall herrschte Ungerechtigkeit, doch die Menschen kümmerten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten, ohne nach links und rechts zu sehen.
Er überlegte, wie er Gracie mitteilen würde, dass all das keinen rechten Sinn ergab und möglicherweise ohnehin nichts mit Adinett zu tun hatte. Jedes Mal, wenn er sich die richtigen Worte zu überlegen versuchte, klangen sie wie billige Ausflüchte. Er konnte ihr Gesicht so deutlich vor sich sehen, dass es ihn verblüffte. Er sah alles ganz genau, die Farbe ihrer Augen, den Lichtschimmer auf ihrer Haut, die Schatten ihrer Wimpern, die Art, wie sie immer ein oder zwei Strähnen ihres Haares an der rechten Schläfe ein wenig zu fest nach hinten zog. Die Form ihres Mundes war ihm ebenso vertraut wie sein eigener im Rasierspiegel.
Sie würde einen Fehlschlag nicht hinnehmen, sondern ihn dafür verachten. Er sah den Ausdruck in ihren Augen schon vor sich, und es schmerzte so sehr, dass er zu dem Ergebnis gelangte, er dürfe es nicht so weit kommen lassen.
Er kehrte um und ging in Richtung Westen auf das Haus mit der Nummer 9 zu. Wenn er anfing, über das nachzudenken, was er da tat, würde er seine Entschlusskraft verlieren, und so überlegte er erst gar nicht. Er ging zur Tür des Hauses und klopfte an, seinen Dienstausweis in der Hand.
Die Riesin öffnete.
»Ja?«
»Guten Morgen, Ma’am«, sagte er und merkte, dass ihm fast der Atem stockte. Er zeigte ihr seinen Ausweis.
Die Frau sah ihn mit unbeweglichem Gesicht aufmerksam an. »Schön, Wachtmeister Tellman, was wollen Sie?«
Sollte er es mit der Autorität seines Amtes oder mit einem gewinnenden Lächeln versuchen? Es war schwierig, einer Frau ihrer Größe und ihres Auftretens gegenüber Amtsautorität einzusetzen, und noch nie im Leben war ihm weniger zum Lächeln zumute gewesen. Er musste etwas sagen, er merkte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie ungeduldig wurde.
»Ich untersuche ein äußerst schweres Verbrechen, Ma’am«, sagte er mit größerer Festigkeit, als er empfand. »Vor etwa einer halben Stunde bin ich einem Mann hierher gefolgt, mittelgroß, leicht rötliches Haar, ein scharf geschnittenes Gesicht. Ich nehme an, dass er Ihnen bestimmte Fragen über den verstorbenen Mr. William Crook gestellt hat.« Er holte tief Luft. »Ich muss unbedingt wissen, was für Fragen das waren und was Sie ihm gesagt haben.«
»Ach ja? Und warum, Wachtmeister?« Sie hatte einen ausgeprägten schottischen Westküstenakzent, der ihm überraschend angenehm in den Ohren klang.
»Den Grund kann ich Ihnen aus Gründen der Amtsverschwiegenheit nicht nennen, Ma’am. Ich muss einfach wissen, was Sie ihm gesagt haben.«
»Er hat mich sehr eindringlich gefragt, ob wir früher einmal in der Cleveland Street gelebt haben. Am liebsten hätte ich es ihm nicht gesagt.« Sie seufzte. »Aber welchen Sinn hat das? Meine Tochter Annie hat da in einem Tabakladen gearbeitet.« Der entsetzliche Kummer, der dabei auf ihr Gesicht trat, erschütterte Tellman. Dann sah ihr Gesicht wieder so aus wie zuvor, und er hörte, wie er sie weiter fragte: »Was wollte er noch wissen, Mrs. Crook?«
»Ob ich mit einem J. K. Stephen verwandt bin«, sagte sie. Ihre Stimme klang matt, als habe sie keinen Willen mehr, gegen das Unausweichliche anzukämpfen. »Mein Mann war mit ihm verwandt, seine Mutter war seine Kusine.«
Tellman wusste nicht, was er denken sollte. Von einem J. K. Stephen hatte er noch nie gehört.
»Aha.« Er wusste lediglich, dass die Sache Remus ungeheuer wichtig war, sonst wäre er nicht umgehend zum Bahnhof gegangen, um eine Fahrkarte nach Northampton zu kaufen. »Danke, Mrs. Crook. Hat er sonst nichts weiter gefragt?«
»Nein.«
»Hat er Ihnen einen Grund genannt, warum er das wissen wollte?«
»Er hat behauptet, das wäre nötig, damit eine große Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft wird. Ich hab ihn nicht gefragt, worum es da ging. Es könnte etwas X-Beliebiges sein.«
»So ist es. Was die Ungerechtigkeit betrifft, hat er allerdings Recht … immer vorausgesetzt, dass es ihm wirklich um die geht.« Er neigte den Kopf. »Guten Tag, Ma’am.«
»Guten Tag.« Sie schloss die Tür.
Auf der langweiligen Fahrt nach Northampton ging Tellman im Kopf alle Möglichkeiten durch, die ihm als Grund für Remus’ Unternehmen einfielen. Sie wurden von Minute zu Minute fantastischer. Vielleicht war das Ganze sinnlos, eine gigantische Luftblase? Die Sache mit der Ungerechtigkeit war möglicherweise nichts anderes als ein Kniff, um Mrs. Crook zum Reden zu bringen. Vielleicht ging es Remus lediglich um einen Skandal? Schließlich war das im Fall des Mordes am Bedford Square genau so gewesen. Zeitungen waren auf Skandalgeschichten erpicht, weil sie damit ihre Auflage steigern konnten.
Aber Adinett hatte das Haus in der Cleveland Street bestimmt nicht deshalb aufgesucht, es voll Erregung verlassen und sich auf den Weg zu Dismore gemacht. Das Elend anderer Menschen als solches interessierte ihn nicht.
Nein, es gab einen anderen Grund, und Tellman musste ihn finden.
In Northampton stieg Remus aus und nahm eine Droschke. Tellman nahm die nächste und wies den Kutscher an, seinem Kollegen zu folgen. Während es in raschem Trab durch die im Sonnenlicht daliegenden Straßen des Provinzstädtchens ging, beugte sich Tellman gespannt vor. Die Wagen hielten schließlich vor einem finsteren Gebäude, das sich als Irrenanstalt herausstellte.
Tellman wartete draußen am Tor, wo man ihn nicht sehen konnte. Als Remus fast eine Stunde später wieder auftauchte, war sein Gesicht vor Erregung gerötet, seine Augen glänzten, und er schritt so kräftig aus, dass er es wohl kaum gemerkt hätte, wenn er mit Tellman zusammengestoßen wäre.
Sollte er Remus wieder folgen und sehen, wohin er jetzt ging, oder festzustellen versuchen, was er gerade in Erfahrung gebracht hatte? Unbedingt Letzteres. Abgesehen von allem anderen blieb ihm nicht mehr viel Zeit, um zum Bahnhof zurückzukehren und den letzten Zug nach London zu erreichen. Es würde ohnehin nicht einfach sein, Wetron zu erklären, warum er den ganzen Tag fort gewesen war.
Er ging ins Büro der Anstalt und zeigte seinen Dienstausweis. Die Lüge kam ihm leicht über die Lippen. »Ich untersuche einen Mordfall. Ich bin von London einem Mann hierher gefolgt, etwa meine Größe, um die dreißig, rötliches Haar, nussbraune Augen. Sie sollten mir alles sagen, wonach er Sie gefragt hat und welche Auskünfte Sie ihm gegeben haben.«
Der Mann zwinkerte überrascht und hob seine blassblauen Augen zu Tellman, wobei seine Hand mit dem Gänsekiel mitten in der Luft verharrte.
»Der hat sich nach keinem Mord erkundigt«, begehrte er auf. »Der arme Schlucker ist auf ganz natürliche Weise gestorben, wenn man es natürlich nennen kann, dass er sich zu Tode gehungert hat.«
»Zu Tode gehungert?« Tellman wusste zwar nicht, was er erwartet hatte, doch auf keinen Fall Selbstmord. »Von wem sprechen Sie?«
»Natürlich von Mr. Stephen. Nach dem hat er sich erkundigt.«
»Mr. J. K. Stephen?«
»Genau der.« Er zog die Nase hoch. »Armer Kerl. Total verrückt. Aber sonst wär er ja wohl auch nicht hier gewesen, oder?«
»Und er hat sich zu Tode gehungert?«
»Hat einfach nichts mehr gegessen«, stimmte der Mann mit betrübtem Gesicht zu. »Keinen einzigen Happen.«
»War er krank? Vielleicht konnte er nicht essen?«, bohrte Tellman nach.
»Doch, der konnte essen, aber er hat einfach damit aufgehört.« Wieder zog er die Nase hoch. »Am vierzehnten Januar. Das weiß ich noch genau, weil genau an dem Tag die Nachricht kam, dass der arme Herzog von Clarence tot war. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun. Er hatte den Herzog richtig gut gekannt und immer über ihn geredet. Malstunden hatte er ihm gegeben, hat er gesagt.«
»Tatsächlich?« Tellman wusste nicht, was er davon halten sollte. Je mehr er erfuhr, desto weniger Sinn machte das Ganze. Ihm kam es unwahrscheinlich vor, dass der Mann, der sich dort zu Tode gehungert hatte, tatsächlich den ältesten Sohn des Kronprinzen gekannt haben sollte. »Sind Sie Ihrer Sache sicher?«
»Natürlich! Was wollen Sie wissen?« Er kniff die Augen argwöhnisch zusammen; auch in seiner Stimme war Misstrauen zu hören. Wieder zog er die Nase hoch, dann suchte er nach einem Taschentuch.
Tellman beherrschte sich mit Mühe. Er durfte sich die Sache nicht verderben.
»Ich muss ganz sicher sein, dass ich den richtigen Mann habe«, log er und hoffte, dass es glaubwürdig klang.
Der Mann hatte sein Taschentuch gefunden und schnäuzte sich ausgiebig.
»Er war ’n Lehrer des Prinzen«, erklärte er. »Wahrscheinlich hat der arme Teufel es sich zu Herzen genommen, wie er gehört hat, dass der Prinz tot war. Er war sowieso nicht ganz richtig im Kopf.«
»Wann ist er gestorben?«
»Am dritten Februar«, sagte der Mann und steckte das Taschentuch ein. »’n schrecklicher Tod.« Auf seinen Zügen lag Mitleid. »Der arme Kerl schien dem Burschen, hinter dem Sie her sind, wichtig zu sein, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, warum! Irgend’n armer Verrückter will sterben – vor Kummer, soweit ich weiß –, und er stürmt hier raus wie’n Jagdhund, der hinter’nem Hasen her is. Er hat vor Aufregung gezittert, ganz ehrlich. Mehr weiß ich nicht.«
»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.« Mit einem Mal fiel Tellman der Zugfahrplan ein. »Danke«, wiederholte er, verließ den Raum und eilte im Laufschritt durch den Korridor nach draußen, wo er eine Droschke suchte, die ihn zum Bahnhof bringen konnte.
Er bekam den Zug im letzten Augenblick und lehnte sich zufrieden im Sitz zurück. Die erste Stunde verbrachte er damit, alles zu notieren, was er in Erfahrung gebracht hatte, und die zweite mit dem Versuch, sich eine glaubhafte Geschichte für den kommenden Tag auszudenken, die einerseits nicht allzu sehr von der Wahrheit abwich und Wetron andererseits davon überzeugte, dass er einer dienstlichen Aufgabe nachgegangen war. Es gelang ihm nicht.
Warum hatte der arme Stephen nicht mehr leben wollen, als er vom Tod des jungen Herzogs von Clarence erfahren hatte? Und wieso interessierte sich Remus dafür? Zwar war das eine tragische Geschichte, aber offenkundig hatte dieser Stephen bereits als geisteskrank gegolten, sonst hätte man ihn nicht dort im Irrenhaus eingesperrt.
Und was hatte all das mit William Crook zu tun, der im vorigen Dezember im Krankenhaus von St. Pancras eines ganz und gar natürlichen Todes gestorben war? In welcher Beziehung stand das alles zu dem Tabakladen in der Cleveland Street? Vor allem aber: Was hatte John Adinett damit zu tun?
In London sprang Tellman auf den Bahnsteig und sah sich nach Remus um. Fast hatte er die Hoffnung aufgegeben, ihn zu entdecken, als er sah, dass er langsam zwei Wagen vor ihm ausstieg. Vermutlich war er unterwegs eingeschlafen. Er machte sich auf den Weg zum Ausgang, anfangs auf etwas unsicheren Füßen.
Wieder folgte ihm Tellman, trotz der Gefahr, entdeckt zu werden. Zum Glück war es an den langen Sommerabenden um kurz vor neun noch hell genug, um jemanden auf einer ziemlich belebten Straße auch aus mehr als zwanzig Metern Entfernung im Auge zu behalten.
Remus suchte ein Gasthaus auf und bestellte etwas zu essen. Er schien es nicht eilig zu haben. Tellman wollte schon gehen, weil er annahm, dass auch Remus bald heimkehren würde, doch dann sah dieser auf die Uhr und bestellte noch ein Glas Bier.
Er wollte sich also mit jemandem treffen, entweder dort oder anderswo.
Tellman wartete. Eine Viertelstunde später erhob sich Remus, verließ das Lokal und winkte einer Droschke. Sie war fast schon außer Sichtweite, als auch Tellman eine fand. Er forderte den Kutscher auf, keinesfalls den Anschluss zu verlieren.
Es ging in Richtung Regent’s Park, weit weg von der Gegend, in der Remus lebte. Tellman hielt seine Taschenuhr hoch, um sie im Schein der nächsten Straßenlaterne, an der sie vorüberkamen, abzulesen. Es war fast halb zehn und wurde rasch dunkler.
Mit einem Mal blieb die Droschke stehen. Tellman sprang hinaus. »Was gibt es?«, fragte er und sah in die Dämmerung. Mehrere Droschken standen in der Straße neben dem Park.
»Die da!«, wies der Fahrer nach vorn. »Das ist die, hinter der Sie her sind. Das macht einen Shilling und drei Pence, Sir.«
Die Sache wurde allmählich teuer. Tellman verwünschte sich wegen seiner Begriffsstutzigkeit, zahlte rasch und eilte auf die Gestalt zu, die er undeutlich vor sich sehen konnte. Er erkannte den Mann an der eiligen Art auszuschreiten. Er war fast sicher, unmittelbar vor einer wichtigen Entdeckung zu stehen.
Sie befanden sich in der Albany Street, kurz vor dem Eingang zum Park. Tellman konnte den äußeren Rundweg deutlich sehen, hinter dem sich der Rasen in der Dämmerung bis zu den Bäumen des fast einen halben Kilometer entfernten Zoologischen Gartens erstreckte.
Remus ging auf den Eingang des Parks zu. Einmal sah er sich um, und Tellman verhielt den Schritt. Es war das erste Mal, dass Remus anzunehmen schien, man könne ihm folgen. Tellman blieb nichts anderes übrig, als ganz natürlich mit schwingenden Armen weiterzugehen. Er beschleunigte sogar den Schritt ein wenig.
Auch Remus setzte seinen Weg fort, sah sich jetzt suchend um. Erwartete er jemanden, oder fürchtete er, beobachtet zu werden?
Tellman suchte den Schatten der Bäume auf und blieb ein wenig zurück.
Einige Spaziergänger schlenderten noch zu zweit oder zu dritt durch den Park. Ganz in der Nähe sah er einen überdurchschnittlich großen Mann. Remus hielt kurz inne, spähte in die Dämmerung, schien mit dem Ergebnis seiner Beobachtung zufrieden zu sein und schritt erneut rasch aus.
Tellman folgte ihm in so kurzem Abstand, wie er es für vertretbar hielt.
Remus blieb vor dem Mann stehen.
Nur allzu gern hätte Tellman gehört, worüber die beiden redeten, doch dazu sprachen sie zu leise. Obwohl er mit in die Stirn gezogener Mütze bis auf wenige Meter an sie heranging, verstand er nichts, sondern sah lediglich den Gesichtsausdruck der Männer. Remus hörte dem anderen mit größter Aufmerksamkeit zu und sah sich nicht einmal um, als Tellman auf der anderen Seite des Weges an ihm vorüberging.
Das Gesicht des äußerst elegant gekleideten Mannes, mit dem Remus sprach, lag im Schatten seiner Hutkrempe. Überdies hatte er auch seinen Mantelkragen hochgestellt, sodass seine Züge nicht zu erkennen waren. Tellman sah lediglich, dass er auf Hochglanz polierte erstklassig geschnittene Schuhe trug und der Mantel aus teurem Stoff ihm wie angegossen saß. Wahrscheinlich hatte allein der mehr gekostet, als ein einfacher Polizeiwachtmeister in Monaten verdiente.
Tellman folgte dem äußeren Rundweg, bis er den Park am Ausgang zur Albany Street verlassen konnte. An der nächsten Haltestelle nahm er einen Pferde-Omnibus und kehrte nach Hause zurück. Ihm schwirrte der Kopf. Nichts von dem, was er im Laufe des Tages erfahren hatte, schien zusammenzupassen, doch war er inzwischen sicher, dass es eine Lösung gab. Er musste sie lediglich finden.
Am nächsten Morgen schlief er länger, als er beabsichtigt hatte, und erreichte die Wache in der Bow Street gerade noch rechtzeitig zum Dienstbeginn. Dort wartete bereits die Mitteilung auf ihn, dass er sich sofort bei Wetron melden solle. Mit einem unguten Gefühl suchte er ihn auf.
Es war Pitts Dienstzimmer, auch wenn man seine persönlichen Habseligkeiten weggeräumt hatte und Wetrons in Leder gebundene Bücher dastanden. An der Wand hing ein Kricketschläger, vermutlich ein Erinnerungsstück, und auf dem Schreibtisch stand eine Fotografie in einem Silberrahmen, die eine hübsche blonde Frau in einem Spitzenkleid zeigte.
»Ja, Sir?«, sagte Tellman ergeben.
Die farblosen Augenbrauen gehoben, lehnte sich Wetron in seinem Sessel zurück.
»Würden Sie mir berichten, wo Sie sich gestern aufgehalten haben, Wachtmeister? Offensichtlich war es Ihnen nicht möglich, Inspektor Cullen zu informieren …«
Tellman wusste bereits, was er sagen wollte, fand es aber nach wie vor schwierig. Er schluckte. »Ich hatte bisher keine Möglichkeit, ihm etwas zu sagen, Sir. Ich war einem Verdächtigen auf der Fährte und hätte ihn aus den Augen verloren, wenn ich die Verfolgung abgebrochen hätte.«
»Und wie heißt dieser Verdächtige, Wachtmeister?« Wetron sah ihn aufmerksam an. Er hatte sehr helle blaue Augen.
Tellman fischte einen Namen aus seiner Erinnerung. »Vaughan, Sir. Er ist als Hehler bekannt.«
»Ich weiß, wer Vaughan ist«, sagte Wetron scharf. »Hatte er die aus dem Hause Bratby entwendeten Juwelen?« In seiner Stimme lag unüberhörbar Zweifel.
»Nein, Sir.« Tellman hatte erwogen, ob er die Geschichte ein wenig ausschmücken sollte, doch wuchs dadurch die Gefahr, bei der Unwahrheit ertappt zu werden. Schade, dass Wetron diesen Vaughan kannte. Damit hatte er nicht gerechnet. Hoffentlich konnte niemand beweisen, dass sich Vaughan gestern woanders aufgehalten hatte – beispielsweise im Gewahrsam einer anderen Polizeiwache!
Wetrons Lippen bildeten eine schmale Linie. »Das überrascht mich. Wann haben Sie Oberinspektor Pitt zuletzt gesehen, Wachtmeister Tellman? Sie sollten lieber bei der Wahrheit bleiben.«
»Am letzten Tag, an dem er hier in der Bow Street Dienst getan hat, Sir«, gab er rasch Auskunft und ließ in seiner Stimme Gekränktheit mitschwingen. »Bevor Sie fragen, möchte ich gleich hinzufügen, dass ich ihm auch weder geschrieben noch auf irgendeine andere Weise mit ihm Kontakt aufgenommen habe.«
»Ich hoffe, das entspricht der Wahrheit, Wachtmeister.« Wetrons Stimme klang eisig. »Ihre Anweisungen waren ja wohl deutlich genug.«
»Ja«, stimmte Tellman mürrisch zu.
Wetron fuhr fort. »Vielleicht sind Sie so gütig, mir zu sagen, wie es kommt, dass der für das betreffende Revier zuständige Streifenbeamte Sie vorgestern Nachmittag am Haus Oberinspektor Pitts gesehen hat.«
Ein kalter Schauer überlief Tellman. »Gewiss, Sir«, sagte er ruhig und hoffte, dass keine verräterische Röte auf sein Gesicht trat. »Ich mache Pitts Hausmädchen den Hof, sie heißt Gracie Phipps. Ich habe sie besucht. Sicher hat der Kollege berichtet, dass ich das Haus durch die Küchentür betreten habe. Ich habe mit ihr eine Tasse Tee getrunken und bin dann gegangen. Mrs. Pitt habe ich nicht gesehen. Vermutlich war sie oben bei den Kindern.«
»Sie werden nicht überwacht, Tellman!«, blaffte ihn Wetron an, wobei sich seine Wangen röteten. »Es war reiner Zufall, dass man Sie gesehen hat.«
»Gewiss, Sir«, gab Tellman ausdruckslos zurück.
Wetron sah ihn an und sah dann auf die Papiere, die auf dem Schreibtisch vor ihm lagen. »Melden Sie sich jetzt bei Cullen. Es ist wichtig, etwas gegen Einbruchsdiebstähle zu unternehmen. Die Leute erwarten von uns, dass wir ihr Eigentum schützen. Dafür werden wir schließlich bezahlt.«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Meinen Sie das etwa sarkastisch, Tellman?«
Tellman riss die Augen weit auf. »Nein, Sir, nicht im Geringsten. Ich bin sicher, dass uns die Herren im Unterhaus dafür bezahlen.«
»Unverschämter Kerl!«, knurrte Wetron. »Seien Sie vorsichtig, Tellman. Sie sind nicht unersetzlich.«
Klugerweise schluckte Tellman diesmal seine Antwort herunter und machte sich auf den Weg zu Cullen, um ihm eine hoffentlich befriedigende Erklärung für seine Abwesenheit und dafür zu liefern, dass er nichts zu berichten hatte.
Es war ein langer, heißer und äußerst schwieriger Tag, den Tellman hauptsächlich damit zubrachte, von einer ergebnislosen Befragung zur nächsten zu ziehen. Erst kurz vor sieben Uhr am Abend hatte er die Möglichkeit, die Keppel Street aufzusuchen. Da ihm vom vielen Laufen die Füße schmerzten, nahm er den Pferde-Omnibus. Er brannte darauf, Gracie zu berichten, was er am Vortag in Erfahrung gebracht hatte.
Zum Glück hielt sich Charlotte wieder oben bei den Kindern auf. Es sah ganz so aus, als habe sie es sich angewöhnt, ihnen um diese Stunde vorzulesen.
Es roch herrlich nach frisch gewaschener Baumwolle, denn Gracie hatte gerade angefangen, Wäsche zu falten.
»Nun?«, fragte sie, kaum dass er eingetreten war.
»Ich bin Remus gefolgt.« Er setzte sich an den Tisch, löste die Schürsenkel seiner hohen Schuhe und hoffte, sie werde bald den Kessel aufsetzen, um Tee zu machen. Hunger hatte er auch, denn Cullen hatte ihm seit dem Mittag keine Gelegenheit gegeben, etwas zu essen.
»Wohin?« Sie sah ihn gespannt an und schien die Bettwäsche völlig vergessen zu haben.
»Zum Krankenhaus von St. Pancras. Da hat er sich nach dem Tod eines gewissen William Crook erkundigt«, antwortete er und lehnte sich behaglich zurück.
Mit verständnislosem Gesicht fragte sie: »Wer ist das?«
»Das weiß ich selbst nicht«, gab er zu. »Jedenfalls ist er da Ende vorigen Jahres eines natürlichen Todes gestorben. Remus schien es für wichtig zu halten, dass er Katholik war. Außerdem spielt es möglicherweise eine Rolle, dass er eine Tochter hatte, die bei dem Tabakhändler in der Cleveland Street gearbeitet hat, und dass seine Mutter eine Kusine von Mr. Stephen war, der sich im Irrenhaus von Northampton zu Tode gehungert hat.«
»Wovon reden Sie eigentlich?«, fragte sie entgeistert.
Er berichtete ihr von der Bahnfahrt nach Northampton und was er dort in Erfahrung gebracht hatte. Sie saß schweigend da und sah ihn unverwandt an. »Und der war also Lehrer bei dem armen Prinzen Eddy, der kürzlich gestorben is?«
»So heißt es«, bestätigte er.
Sie krauste die Stirn. »Was hat das denn mit der Cleveland Street zu tun? Was wollte Adinett da?«
»Ich weiß es nicht«, musste er erneut zugeben. »Aber Remus scheint sicher zu sein, dass sich dahinter etwas Bestimmtes verbirgt. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, dann wäre Ihnen das auch klar. Wie ein Bluthund auf der Fährte. Er hat praktisch vor Aufregung gezittert, und er hat gestrahlt wie ein Kind bei der Weihnachtsbescherung.«
»Irgendwas in der Cleveland Street muss das alles in Gang gesetzt haben«, sagte sie nachdenklich und verzog das Gesicht. »Und Fetters und Adinett haben davon gewusst.«
»So sieht es aus«, gab er ihr Recht. »Und ich bin entschlossen festzustellen, was das war.«
»Aber vorsichtig!«, mahnte sie ihn mit besorgtem Blick. Unwillkürlich streckte sie über den Tisch hinweg die Hand nach ihm aus.
»Keine Sorge«, antwortete er. »Remus hat nicht gemerkt, dass ich ihm gefolgt bin.« Er legte seine Hand auf ihre und merkte überrascht, wie klein sie war. Wie die eines Kindes. Sie entzog sie ihm nicht, und einen Augenblick lang konnte er an nichts anderes denken.
»Nich Remus, Dummkopf«, flüsterte sie aufgeregt. »Ihr neuer Chef, der auf Mr. Pitt seinem Stuhl sitzt. Der packt Sie, wenn Sie aus der Reihe tanzen, und wo landen Sie dann? Auf der Straße, mit nix!«
»Ich werde aufpassen«, versprach Tellman. Unwillkürlich schauderte er. Er konnte es sich nicht leisten, dass sich Cullen noch einmal über ihn beschwerte oder dass ihn jemand sah, wo er nichts zu suchen hatte. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte er sich bemüht, die Stellung zu erreichen, die er jetzt innehatte, und sofern er bei der Polizei entlassen würde, würde er nicht nur sein Einkommen einbüßen, sondern möglicherweise auch keine andere Stelle finden, weil ihm niemand Referenzen geben würde. Auf der anderen Seite gab es nichts anderes, was er gern getan hätte oder hätte tun können. Sein ganzes Leben wäre beeinträchtigt, alle Werte, für die er gelebt hatte, wären in ihr Gegenteil verkehrt.
Und wie konnte er ohne Anstellung und dann auch bald ohne Unterkunft je so werden, wie er sein wollte, ein Mann wie Pitt mit einem Heim und einer Frau … wie konnte er der Mann sein, als den sich Gracie ihn wünschte?
Er sprach weiter, um seine trüben Gedanken zu vertreiben. Jetzt hatte er sich auf die Sache eingelassen, ganz gleich, was sie ihn kosten würde. Er musste hinter die Wahrheit kommen, um Pitts willen, um Gracies willen, um seiner Selbstachtung willen.
»Nach der Rückkehr aus Northampton hat Remus in einer Gaststätte zu Abend gegessen, statt gleich nach Hause zu gehen. Weil er immer wieder auf die Uhr gesehen hat, habe ich angenommen, dass er noch irgendwohin wollte – und richtig, er ist dann mit einer Droschke zum Regent’s Park gefahren, wo er offenkundig mit einem Mann verabredet war.«
»Was für ein Mann war das?«, fragte sie leise. Sie hielt ihre Hand ganz still, so, als solle er nicht merken, dass sie nach wie vor unter der seinen lag.
»Ziemlich groß und sehr gut gekleidet«, gab er zur Antwort. Er spürte die kleine Hand unter seinen Fingern und hatte das Bedürfnis, sie fester zu halten. »Den Mantelkragen hatte er hochgeschlagen – mitten im Sommer – und die Melone tief in die Stirn gezogen. Ich konnte also sein Gesicht nicht richtig sehen. Obwohl ich nur ein paar Schritte entfernt stand, habe ich kein Wort von dem mitbekommen, was sie gesagt haben, denn sie haben praktisch geflüstert.«
Sie nickte, ohne ihm ins Wort zu fallen.
»Dann ist Remus aufgeregt ganz schnell wieder gegangen. Er muss da hinter einer großen Sache her sein. Falls die mit Adinett zu tun hat, könnten wir da sicher den Beweis für die Richtigkeit von Mr. Pitts Angaben finden.«
»Ich weiß was«, sagte sie eilfertig. »Ich bleib ihm auf den Fersen. Kein Greifer merkt was, falls aber doch, denkt er sich nix dabei.«
»Das können Sie nicht«, hielt er dagegen.
Sie zog ihre Hand fort. »Und ob ich kann. Zumindest kann ich’s mal probieren. Er kennt mich nich und würde auch nix dabei finden, wenn er mich sieht. Außerdem … Sie können es mir nich verbieten.«
»Ich könnte Mrs. Pitt sagen, dass sie Sie nicht aus dem Haus lässt«, erklärte er und lehnte sich erneut zurück.
»Das würden Sie nie tun!« Das Entsetzen auf Gracies Zügen wirkte geradezu komisch. »Soll Mr. Pitt etwa auf alle Zeiten in Spitalfields bleiben? Und was is mit all den Lügen, die man über ihn verbreitet hat?«
»Schön, aber passen Sie gut auf!«, mahnte er sie. »Halten Sie Abstand. Merken Sie sich einfach, wohin er geht, und kommen Sie nach Hause, sobald es dunkel wird! Gehen Sie in kein Gasthaus.« Er suchte in seinen Taschen, nahm all sein Kleingeld heraus und legte es auf den Tisch. »Sie brauchen Geld für Droschken oder Pferde-Omnibusse.«
Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, dass sie daran nicht gedacht hatte. Sie blickte ihn an und kämpfte erkennbar mit sich, ob sie annehmen sollte oder nicht.
»Nehmen Sie schon«, gebot er ihr. »Zu Fuß können Sie ihm nicht folgen. Sollte er wieder die Stadt verlassen, geben Sie die Verfolgung auf, verstanden?« Er sah sie streng an. Sein Magen zog sich zusammen. »Sie steigen mir auf keinen Fall in einen Zug! Niemand würde wissen, wo Sie sich aufhalten! Wenn Ihnen etwas zustieße, wüssten wir nicht einmal, wo wir suchen müssen.«
Sie schluckte. »Schön«, sagte sie mit kläglicher Stimme. »Ich halte mich daran.«
Er war nicht sicher, ob er ihr glauben durfte. Verblüfft merkte er, wie groß seine Angst war, dass ihr etwas geschehen könnte. Er setzte an, um ihr zu sagen, dass sie die Sache lieber ganz unterlassen sollte, dann aber ging ihm auf, wie albern das klingen würde. Er hatte kein Recht, über sie zu bestimmen: Sie wäre die Erste, die ihm das klarmachen würde. Außerdem würde sie in dem Fall merken, was er für sie empfand, und das durfte er auf keinen Fall zulassen. Er wusste nicht einmal, wie er selbst damit fertig werden sollte, ganz davon zu schweigen, wie er es ihr erklären könnte. Eine Freundschaft war das Äußerste, was er sich zutraute. Selbst in einem solchen Fall war es nötig, sich in einer Weise zu öffnen, die ihn schmerzen würde. Mit solchen Beziehungen war immer ein Verlust an Unabhängigkeit verbunden, und gerade seine Unabhängigkeit hatte ihm stets ein Gefühl von Sicherheit vermittelt.
Dennoch bewunderte er sie wegen ihrer Bereitschaft, Remus an seiner Stelle zu beschatten. Ein Gefühl der Wärme erfüllte ihn beim Gedanken daran. Auch die Gewissheit, jemandem trauen zu dürfen, vermittelte eine Art Sicherheit.
»Seien Sie vorsichtig«, sagte er noch einmal.
»Auf jeden Fall!« Sie bemühte sich, empört zu wirken, sah ihm aber noch eine ganze Weile in die Augen, bis sie schließlich aufstand, um für sich selbst und ihn etwas zu essen zu machen.
Am nächsten Morgen bat sie Charlotte um einen freien Tag und erklärte, sie habe etwas ziemlich Eiliges zu erledigen. Sie hatte sich auch eine plausible Erklärung zurechtgelegt, doch es schien Charlotte ganz recht zu sein, dass sie sich allein verschiedenen Arbeiten im Haushalt widmen konnte, die sie von ihren Ängsten ablenkten. Sofern sie Pläne hatte, selbst etwas in der Angelegenheit zu unternehmen, teilte sie Gracie davon nichts mit.
Gracie machte sich so bald wie möglich davon. Auf keinen Fall wollte sie in ein Gespräch verwickelt werden, in dem sie womöglich ihre Absichten verriet.
Es war kurz vor zehn. Sie wusste nicht recht, wo sie um diese Tageszeit Lyndon Remus finden konnte, und beschloss daher, einfach in der Cleveland Street zu beginnen.
Es war eine lange Fahrt mit dem Pferde-Omnibus. Sie war froh, dass Tellman ihr Geld gegeben hatte, denn das war unerlässlich, doch fühlte sie sich unbehaglich, es angenommen zu haben. Andererseits musste unbedingt etwas unternommen werden, um Mr. Pitt zu helfen, da waren persönliche Empfindungen zweitrangig. Sie und Tellman konnten ihre Beziehung später klären, und falls sich das als zu schwierig erwies, würde sie zusehen müssen, wie sie damit zurechtkam.
An der Endhaltestelle in der Mile End Road stieg sie aus. Es war fünf nach elf. Sie ging zu Fuß bis zur Cleveland Street. Es gab dort nichts Bemerkenswertes zu sehen. Die Straße machte einen recht achtbaren Eindruck. Auf jeden Fall war sie deutlich breiter und gepflegter als die, in der sie geboren und aufgewachsen war. Zwar hielt sie keinem Vergleich mit der Keppel Street stand, aber das war nicht anders zu erwarten, denn sie lag immerhin im East End.
Wo fing man am besten an? Sollte sie einfach in den Tabakladen gehen oder erst einmal bei Leuten Erkundigungen einholen? Das mittelbare Vorgehen schien ihr günstiger. Wenn sie gleich hineinging und nichts erreichte, konnte sie danach nicht mehr unauffällig herumfragen.
Sie sah sich um. Ihr Blick fiel auf die abgetretenen Gehwege, das holprige Straßenpflaster, die von Schmutzkrusten bedeckten Backsteinfassaden der Häuser. Hier und da waren in den oberen Stockwerken Scheiben zerbrochen oder Fenster mit Brettern zugenagelt. Träge stieg Rauch aus diesem und jenem Kamin auf. Eingänge zu Hinterhöfen und Nebengässchen gähnten dunkel.
Was für Geschäfte gab es dort noch? Einen Tonpfeifenmacher und die Werkstatt eines Silberschmiedes. Von Pfeifen verstand sie ebenso wenig wie von Silber, traute sich aber am ehesten zu, über sie ein Gespräch anzuknüpfen. Also ging sie auf die andere Straßenseite und betrat den Laden. Ihre Geschichte hatte sie fertig im Kopf.
»Guten Morgen, Miss. Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte der junge Mann hinter der Theke. Er mochte ein oder zwei Jahre älter sein als sie selbst.
»Morgen«, antwortete Gracie munter. »Ich hab gehört, Sie ha’m die besten Pfeifen östlich von der St. Paul’s Kathedrale. Natürlich is das Geschmackssache, aber ich will was Besonderes für meinen Papa. Was haben Sie denn da?«
Der junge Mann, dem das Haar verwegen in die Stirn fiel, lächelte breit. »So so. Na ja, wer Ihnen das erzählt hat, hatte Recht.«
»Is schon ’ne Weile her«, versetzte sie ihm sogleich einen Dämpfer. »Er lebt nich mehr, der arme William Crook. Sagt Ihnen der Name was?«
»Eigentlich nich.« Er zuckte die Achseln. »Aber hier kommen hunderte durch. An was für ’ne Pfeife hatten Se denn so gedacht?«
»Vielleicht hat seine Tochter sie für ihn gekauft?«, spann sie ihren Faden weiter. »Die hat hier im Tabakladen gearbeitet.« Sie wies zum anderen Ende der Straße. »Haben Sie die vielleicht gekannt?«
Sein Gesicht erstarrte. »Annie? Natürlich. War ’n anständiges Mädchen. Ha’m Se se in letzter Zeit geseh’n? Vielleicht sogar noch dies Jahr?« Er sah sie flehend an.
»Wieso – ist Se denn nich mehr hier?«, gab sie zurück.
»Seit fünf Jahren hat sie hier keiner mehr geseh’n«, sagte er betrübt. »Eines Tages gab’s ’nen entsetzlichen Streit. ’n Haufen Fremde, richtige Schlägertypen, ha’m von einem Augenblick auf ’n andern damit angefangen. Mit zwei Kutschen sind se gekommen, eine vor Nummer fuffzehn, wo früher der Maler gelebt hat, und die andere vor Nummer sechs. Ich weiß das so genau, weil ich selber draußen auf der Straße war. Zwei Männer sind zum Maler rein und ha’m ’n paar Minuten später ’nen jungen Kerl rausgebracht. Er hat geschrien wie am Spieß und um sich geschlagen, aber es hat ihm nix geholfen. Sie ha’m ’n in den Wagen gepackt und sind auf und davon, wie wenn der Teufel hinter ihnen her wär.«
»Und die anderen?«, fragte sie atemlos.
Er beugte sich über die Theke vor. »Wie gesagt, sind die in Nummer sechs rein, ha’m die arme Annie da rausgezerrt und weggebracht. Seitdem hab ich sie nich mehr geseh’n und, soweit ich weiß, auch sonst keiner.«
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. Wieso interessierten sich Remus und John Adinett für eine Sache, die so lange zurücklag?
»Wer war denn der Mann, den die da mitgenommen hatten?«, erkundigte sie sich.
Er zuckte die Achseln.
»Was weiß ich. Auf jeden Fall ’n feiner Pinkel. Hatte Geld wie Heu und war hochelegant. Ganz ruhig. Sah gut aus, war groß und hatte schöne Augen.«
»Ob er Annies Liebhaber war?«, riet sie drauflos.
»Wird wohl so gewesen sein. Oft genug is er hergekommen.« Sein Gesicht verdüsterte sich, und sein Ton wurde trotzig. »Trotzdem war sie ’n anständiges Mädchen. Katholisch. Sie brauchen also gar nix Böses denken, denn das würde sowieso nich stimmen.«
»Vielleicht eine tragische Liebe?«, sagte sie, als sie das Mitgefühl auf seinen Zügen erkannte. »Wenn er kein Katholik war, hatten die Familien vielleicht was dagegen.«
»Schon möglich.« Er nickte mit traurigen Augen und abwesendem Blick. »Jedenfalls ’ne Affenschande. Und was für ’ne Pfeife woll’n Se jetzt für Ihren Papa?«
Sie konnte sich keine Pfeife leisten. Sie musste Tellman möglichst viel von seinem Geld zurückgeben, und er hatte bestimmt keine Verwendung für eine Tonpfeife. Außerdem wollte sie auf keinen Fall, dass er rauchte.
»Am besten frag ich ihn noch mal«, sagte sie bedauernd. »So was kann man ja nich gut zurückbringen, wenn es nich das Richtige is. Danke für die Beratung.«
Bevor er den Mund auftun konnte, um sie zu überreden, hatte sie sich umgewandt und den Laden verlassen.
Sie kehrte zur Mile End Road zurück, einfach weil sie den Weg kannte, dort Leute unterwegs waren und sie nicht wusste, was in der anderen Richtung lag.
Wohin sollte sie jetzt gehen? Remus konnte sonstwo sein. Wie viel von dem, was sie da erfahren hatte, er wohl wusste? Wahrscheinlich alles. Es schien allgemein bekannt zu sein und war auch nicht schwer herauszubekommen. Aber vermutlich wusste Remus außerdem, was dahintersteckte! Er war voll Hochgefühl gewesen und hatte sich nach William Crooks Tod erkundigt. Aber auch daran war nichts weiter sonderbar.
Von der Cleveland Street aus hatte er zuerst das Guy’s Hospital aufgesucht, um sich dort zu erkundigen. Wonach? Etwa nach William Crook? Das festzustellen gab es nur eine Möglichkeit: Sie musste selbst hingehen. Sie würde sich eine gute Geschichte zurechtlegen müssen, um ihr Interesse an dieser Frage zu erklären.
Sie brauchte die ganze Rückfahrt nach Westen und dann südwärts über die London Bridge in Richtung Bermondsey. Erst kurz bevor sie das Krankenhaus erreichte, hatte sie ihre Geschichte fertig. Wenn man schon log, war es besser, dafür zu sorgen, dass alles zusammenpasste.
Sie kaufte bei einem Straßenhändler eine Pastete und eine Limonade und sah auf die Themse, während sie aß und trank. Es war ein heller, windiger Tag, den viele Leute zu genießen schienen. Man sah Ausflugsdampfer auf dem Wasser, Fahnen wehten, Menschen hielten ihre Hüte fest. Irgendwo in der Nähe ertönte die muntere Weise eines nicht besonders gleichmäßig gedrehten Leierkastens. Ein halbes Dutzend Jungen spielte laut rufend und kreischend Fangen. Ein Paar ging Arm in Arm vorüber, so dicht nebeneinander, dass die Röcke der jungen Frau die Hosenbeine ihres Begleiters streiften.
Als Gracie ihre Pastete aufgegessen hatte, straffte sie sich und machte sich in Richtung Borough High Street auf den Weg zum Krankenhaus.
Dort ging sie sofort zur Verwaltung, legte ihr Gesicht in Falten und gab sich die größte Mühe, kläglich dreinzublicken. Das hatte sie schon vor vielen Jahren geprobt, bevor sie die Stellung in Pitts Haus angetreten hatte. Damals war sie klein und schmächtig gewesen, meist auch schmutzig, und es hatte bestens gewirkt. Jetzt war das nicht mehr so einfach, denn inzwischen war sie jemand. Sie stand im Dienst des besten Kriminalbeamten von ganz London – und das bedeutete, auf der ganzen Welt –, auch wenn er zurzeit in Ungnade gefallen war.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte der alte Mann hinter der Theke und sah ihr über den Brillenrand ins schmale Gesicht. Er schien sie für ein kleines Mädchen zu halten.
»Bitte, Sir, ich möcht wissen, was mit mei’m Opa passiert is.« Sie vermutete, dass William Crook im entsprechenden Alter gewesen war.
»Wurde der hier als Patient eingeliefert?«, fragte der Mann freundlich.
»Ich glaub ja.« Sie schniefte. »Ich hab gehört, dass er tot is, bin aber nich sicher.«
»Wie hieß er denn?«
»William Crook. Das muss schon ’ne Weile her sein, ich hab’s aber grade erst erfahren.« Wieder schniefte sie.
»William Crook«, wiederholte er ratlos und schob die Brille hoch, damit er durch die Gläser sehen konnte. »So ohne weiteres kann ich mich nicht an ihn erinnern. Bist du sicher, dass man ihn hergebracht hat?«
Sie bemühte sich, verloren und verlassen dreinzublicken. »So hat man mir das gesagt. War hier denn kein Crook? Nie?«
»Das weiß ich natürlich nicht.« Er verzog angestrengt das Gesicht. »Wir hatten hier ewig lange ’ne Annie Crook. Sir William, das is der Leibarzt der Königin, hat se selbst hergebracht. Die arme Kleine war völlig verrückt. Er hat für sie getan, was er konnte, aber es hat nix genützt.«
»Annie war hier?« Gracie schluckte, bemüht, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen.
»Kennst du die denn?«
»Klar.« Sie rechnete rasch. »Meine Tante. Ich hab sie nur nie kennen gelernt. Die … die is vor Jahren verschwunden, so um ’87 oder’88 rum. Keiner hat mir gesagt, dass sie verrückt war. Na ja, kann man ja auch verstehen.«
»Tut mir Leid.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »So was kann jedem passieren. Das hab ich auch dem jungen Mann gesagt, der neulich nach ihr gefragt hat. Aber er war kein Verwandter.« Er lächelte ihr zu. »Sie hätte nirgends besser aufgehoben sein können als hier, bestimmt. Soll ich immer noch nach deinem Opa sehen?«
»Nein, danke. Vielleicht hab ich mich ja auch geirrt.«
»Tut mir Leid«, wiederholte er.
»Ja, mir auch.« Sie wandte sich um und verließ den Raum. Sie schloss die Tür leise hinter sich und eilte davon, bevor der Mann merken konnte, wie aufgeregt sie war.
Draußen auf der Straße eilte sie zur Haltestelle der Pferde-Omnibusse, so schnell ihre Füße sie trugen. Jetzt musste sie rasch nach Hause zurückkehren und versuchen, ihre Arbeit so gut wie möglich aufzuholen. Wenn sie Glück hatte, würde Tellman am Abend kommen, und sie konnte ihm sagen, was sie herausgefunden hatte. Er wäre bestimmt tief beeindruckt. Während sie im Sonnenschein in der Schlange wartete, ohne sich von der kräftigen Brise beeindrucken zu lassen, trällerte sie ein Liedchen vor sich hin.
»Wo waren Sie?«, fragte Tellman. Sein Gesicht war bleich und angespannt.
»In der Cleveland Street«, gab Gracie zurück und goss den Tee ein. »Remus beobachte ich dann morgen.«
»Auf keinen Fall! Sie bleiben hier, wo Sie in Sicherheit sind, und tun Ihre Arbeit!«, gab er schroff zurück und beugte sich über den Tisch. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Seine Wangen waren eingefallen. Sie hatte ihn noch nie so müde gesehen.
Eigentlich war sie nicht bereit, sich von ihm sagen zu lassen, was sie tun oder lassen sollte. Andererseits gefiel es ihr, dass er sich um sie Sorgen machte und nicht wollte, dass sie in Gefahr geriet. Es war ein angenehmes Gefühl. Sie hörte die Besorgnis aus seiner Stimme heraus und begriff, dass es ihm damit ernst war. Sie sah in seinen Augen, dass ihr Wohl ihm wirklich am Herzen lag. Ihn mochte das ärgern, und vielleicht bestritt er es sogar im nächsten Augenblick, doch das Bewusstsein bereitete ihr Wohlbehagen.
»Woll’n Se nich hören, was ich rausgekriegt hab?«, fragte sie. Sie konnte es nicht abwarten, ihm alles zu berichten.
»Was?«, knurrte er und nahm einen Schluck aus der Teetasse.
»Es gibt eine gewisse Annie Crook, die Tochter von William Crook, der in St. Pancras gestorben is.« Ihre Worte überstürzten sich. »Man hat das arme Ding vor ungefähr fünf Jahren aus dem Tabakladen in der Cleveland Street entführt und ins Guy’s Hospital gebracht, weil sie angeblich verrückt war. Niemand hat sie je wieder zu sehen gekriegt.« Gracie hatte den Kuchen geholt, aber in ihrer Aufregung ganz vergessen, ihm ein Stück abzuschneiden. »Jemand, der Sir William heißt und bei der Königin Arzt is, hat behauptet, sie wär verrückt und er könnt ihr nich helfen. Auch nach ihr hat vor kurzem jemand gefragt. Wahrscheinlich Remus. Das is aber noch nich alles! Man hat damals aus dem Haus von dem Maler in der Cleveland Street auch ’nen jungen Mann verschleppt, ’n gut gekleideten feinen Herrn. Er soll bei der Entführung wild um sich geschlagen haben.«
»Wissen Sie, um wen es sich da gehandelt hat?« Die Angaben hatten ihn förmlich elektrisiert, sodass er weder an seinen Zorn noch an den Kuchen dachte.
»Der Junge im Laden von dem Pfeifenmacher hat gemeint, das wär der Liebhaber von dieser Annie gewesen«, sagte sie. »Er weiß es aber nich genau. Er hat auch gesagt, dass sie ’n anständiges Mädchen war, katholisch, und ich soll keine Skandalgeschichten über sie erzählen, weil das nich stimmen würde.« Sie holte tief Luft. »Vielleicht stecken die Familien dahinter, weil sie katholisch war und er nich?«
»Was könnte das mit Adinett zu tun haben?«, sagte Tellman mit finsterer Miene und gespitzten Lippen.
»Ich weiß nich! Lassen Sie’s mich rauskriegen!«, bat sie. »Scheinbar gibt’s ja ’ne Menge Leute, die nich ganz richtig im Kopf sind. Zum Beispiel der Arme, der in Northampton gestorben is. Glauben Sie, dass das Verrücktsein bei der Geschichte ’ne Rolle spielt? Vielleicht hat Mr. Fetters auch darüber Bescheid gewusst.«
Er schwieg eine Weile. »Möglich«, sagte er schließlich. Aber es klang nicht überzeugend.
»Se ha’m wohl Angst, was?«, fragte sie leise. »Dass es vielleicht nix mit Mr. Pitt zu tun hat und wir ihm nich helfen können?« Sie wünschte, sie hätte etwas sagen können, um ihn zu trösten, aber dies war die Wahrheit, und da sie beide in die Sache verstrickt waren, brauchten sie einander nichts vorzumachen.
Sie sah ihm an, dass er es fast bestritten hätte, dann aber überlegte er es sich anders.
»Ja«, gab er zu. »Remus ist überzeugt, dass er hinter einer großen Sache her ist, aber ich kann nicht richtig glauben, dass das der Grund für den Mord Adinetts an Fetters war. Auf der anderen Seite sehe ich nicht, wie Fetters sonst in diese Geschichte hineinpassen könnte.«
»Wir kriegen das raus«, sagte sie entschlossen. »Er muss es ja aus irgend’nem Grund gemacht haben. Wär doch gelacht, wenn wir nich dahinterkommen würden.«
Er lächelte. »Gracie, Sie wissen nicht, wovon Sie reden«, sagte er leise, aber das Leuchten in seinen Augen strafte seine Worte Lügen.
»Und ob ich das weiß«, hielt sie dagegen, beugte sich vor und gab ihm einen sanften Kuss. Dann sah sie rasch beiseite und nahm das Messer, um ihm ein Stück Kuchen abzuschneiden. Auf diese Weise sah sie nicht, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg und seine Hand so sehr zitterte, dass er die Tasse lieber nicht vom Tisch nahm, um nichts zu verschütten.