Kapitel 12

Pitt fühlte sich einsamer als je zuvor. Zum ersten Mal hatte er sich bewusst außerhalb des Gesetzes gestellt. Gewiss, auch vorher hatte er schon gewusst, was Angst war, körperliche wie seelische, aber noch nie war er so zwischen verschiedenen moralischen Vorstellungen hin- und hergerissen worden, hatte noch nie so wenig gewusst, wohin er gehörte.

Er erwachte, weil er fror, und sah, dass er halb entblößt war und sich seine Laken zu einem wirren Bündel verknotet hatten. Das graue Morgenlicht fiel in den Raum. Unten konnte er Leas Schritte hören. Sie hatte Angst. Das hatte er an der Art gemerkt, wie sie ihren Blick abgewendet hatte, an der Anspannung ihrer Hände, die ungeschickter waren als sonst. Er konnte sich vorstellen, wie sie mit sorgenvollem Gesicht mechanisch in der Küche ihren morgendlichen Tätigkeiten nachging, auf Isaaks Schritte lauschte und womöglich fürchtete, dass Pitt kommen würde, vor dem sie sich verstellen müsste. Zwar war es schwer, in einer solchen Zeit der Krise Fremde im Haus zu haben, doch hatte es auch Vorteile. Sie musste das Entsetzen verbergen, das sie von innen zu verzehren drohte. Die Panik wurde hinausgezögert.

Wer auch immer Sissons getötet hatte, legte Wert darauf, das als Selbstmord hinzustellen. Pitt hatte das Beweismaterial manipuliert und sogar bewusst gelogen, damit es wie der Mord aussah, der es war. Er hatte sich entschieden, das, was er für die Wahrheit hielt, zu verbergen, um einen Aufstand zu verhindern, wenn nicht gar eine Revolution. War das etwa lächerlich?

Nein. Er spürte die Gewaltbereitschaft in der Luft, die Angst, die Wut, die schwelende Verzweiflung, die unter dem Einfluss weniger Worte zu lodernder Flamme emporschlagen konnten, wenn der richtige Mensch sie am richtigen Ort zur richtigen Zeit sagte. Wenn Dismore Lyndon Remus’ Bericht über den Herzog von Clarence und die Morde von Whitechapel veröffentlichte – und nach ihm alle anderen Zeitungsverleger –, würde der Volkszorn ganz London erfassen. Dann genügte ein halbes Dutzend Männer in entsprechender Position, die dazu bereit und willens waren, die Regierung samt dem Thron zu stürzen … Tod und Zerfall wären die Folge, und niemand könnte voraussagen, wo das enden würde.

Mit seiner Verfälschung der Wahrheit hatte Pitt den Mann hintergangen, in dessen Haus er wohnte und an dessen Tisch er sein Frühstück einnehmen würde, so wie er dort am Vortag zu Abend gegessen hatte.

Der mit dieser Erkenntnis verbundene Schmerz quälte ihn und zwang ihn aufzustehen. Er ging über den Teppich, den vermutlich Lea mit eigener Hand geknüpft hatte, zur Kommode, goss die Hälfte des Inhalts der Wasserkanne in die Schüssel, tauchte die Hände hinein und benetzte sein Gesicht.

An wen konnte er sich um Hilfe wenden? Von Cornwallis war er abgeschnitten, außerdem waren diesem mit Sicherheit die Hände gebunden. Vielleicht würde ihn jetzt sogar Tellman verachten, denn trotz allem war der Wachtmeister in tiefster Seele konservativ, befolgte streng seine eigenen Regeln, von denen er genau wusste, wie sie aussahen. Bestimmt hatten darin Lügen, die Fälschung von Beweismaterial und Irreführung der Behörden keinen Platz – ganz gleich, welchem Zweck das dienen mochte.

Hatte Pitt nicht selbst immer wieder gesagt, der Zweck heilige die Mittel keineswegs?

Er hatte Narraway zumindest einen Teil der Wahrheit anvertraut. Das machte ihm Angst, verursachte ihm tiefes Unbehagen. Und was war mit Charlotte, der gegenüber er so oft von Integrität gesprochen hatte?

Zitternd stand er eine Weile da, während er tief in Gedanken sein Rasiermesser schärfte. Sich mit kaltem Wasser zu rasieren würde schmerzen – aber die Hälfte der Menschheit rasierte sich kalt!

Was würde Charlotte in Bezug auf Sissons zu ihm sagen? Wichtiger noch, was würde sie denken? Wäre sie von ihm so enttäuscht, dass es einen Teil der Liebe, die er erst vor wenigen Tagen in ihren Augen erkannt hatte, abtöten würde? Man konnte einen Menschen wegen seiner Verletzlichkeit lieben, vielleicht fiel das sogar noch leichter, als wenn er nicht verletzlich war – aber moralische Schwäche und Täuschung waren nicht liebenswert. Was blieb, wenn das Vertrauen dahin war? Man empfand Mitleid … hielt Versprechen, weil sie gemacht worden waren … Und was war mit der Pflicht?

Was hätte sie getan, wenn sie Sissons und den Brief gefunden hätte?

Pitt sah sich in dem kleinen rechteckigen Spiegel an. Sein Gesicht sah aus wie immer, etwas müder, mit ein wenig tieferen Linien darin, aber die Augen waren wie immer und auch der Mund.

Hatte er diese Möglichkeiten stets in sich getragen? Oder lag es daran, dass sich die Welt geändert hatte?

Es würde zu nichts führen, dazustehen und immer wieder über die Dinge nachzugrübeln. Die Ereignisse würden nicht auf ihn warten, und seine unumstößliche Entscheidung hatte er bereits in jenem Augenblick in Sissons’ Kontor getroffen. Jetzt musste er retten, was zu retten war.

Während er sich mit dem Rasiermesser über die Wangen fuhr, hatte sich in ihm die Erkenntnis herausgeschält, dass ihm von den wenigen Menschen, denen er traute, nur einer möglicherweise helfen konnte: Tante Vespasia. Ihrer Loyalität war er sich ebenso sicher wie ihres Mutes und – fast ebenso wichtig – ihres Zorns. Sie würde gleich ihm eine alles überwältigende Empörung bei der Vorstellung empfinden, was geschehen würde, wenn ein Aufstand im Londoner Osten losbräche und sich ausbreitete – oder wenn es gelänge, ihn niederzuschlagen und man einen Angehörigen der jüdischen Gemeinde für ein Verbrechen hängte, das er nicht begangen hatte, weil in Vorurteilen befangene und korrupte Menschen das Gesetz anwendeten.

Auch das wäre eine Art Sturz der Regierung, nur dass er tiefer ging. Nach außen hin sähe es aus, als betreffe er nur wenige Menschen, doch würden dadurch nicht letzten Endes alle korrumpiert? Sofern das Gesetz nicht zwischen Schuldlosen und Schuldigen unterschied, sondern die Machthaber sich seiner nach Belieben bedienen konnten, war es schlimmer als nutzlos. Dann war es ein Übel, das sich als etwas Gutes ausgab, bis es schließlich niemanden mehr täuschen konnte und verachtenswert wurde. Sofern es dahin kam, war nicht nur die Wirklichkeit von Recht und Gesetz dahin, sondern auch die Vorstellung beider in den Köpfen der Menschen zerstört.

Seine Rasur war nicht besonders gelungen, doch das störte ihn weiter nicht. Er wusch sich im restlichen kalten Wasser und zog sich an. Er hatte nicht das Herz, Isaak und Lea zum Frühstück gegenüberzutreten, und unter Umständen auch gar nicht die Zeit dazu. Sofern das Feigheit war, zählte es an diesem Tag als lässliche Sünde.

Er sagte hastig ›Guten Morgen‹ und verließ das Haus ohne weitere Erklärung. Eiligen Schrittes ging er durch die Brick Lane über die Whitechapel High Street bis nach Aldgate zum Bahnhof der Untergrundbahn. Ungeachtet der unpassenden Uhrzeit musste er mit Tante Vespasia sprechen.

Die Morgenzeitungen waren voller Berichte über den Mord an Sissons. Es gab sogar eine Tuschzeichnung des angeblichen Mörders. Sie stützte sich auf die Beschreibungen, die Harper den widerstrebenden Arbeitern der Nachtschicht in der Zuckersiederei und einem Mann entlockt hatte, der in der Brick Lane unterwegs gewesen war und jemanden gesehen hatte. Mit ein wenig Fantasie konnte man in dem Gesicht auf der Zeichnung Saul, Isaak oder ein Dutzend anderer Männer sehen, die Pitt kannte. Schlimmer noch als das Bild selbst war die darunter gedruckte Behauptung, der Mord habe mit einem Darlehen zu Wucherzinsen und der Weigerung zu tun, es zurückzuzahlen.

Pitt war aufgebracht und fühlte sich elend, aber ihm war klar, dass es keinen Sinn hatte, etwas dagegen sagen zu wollen. Wer Angst vor der Armut hatte, war nicht bereit, auf die Stimme der Vernunft zu hören.

Er traf noch vor neun Uhr an Tante Vespasias Haus ein. Sie war noch nicht aufgestanden. Das Mädchen, das an die Tür kam, zeigte sich verblüfft, dass um diese Stunde überhaupt jemand kam – und dann auch noch Pitt in ungewöhnlich schäbigem Aufzug.

»Ich muss dringend mit Lady Vespasia sprechen, sobald sie bereit ist, mich zu empfangen«, sagte er ohne seine übliche Höflichkeit. Seiner Stimme war anzuhören, dass die Sache drängte.

»Ja, Sir«, sagte das Mädchen nach kurzem Zögern. »Treten Sie bitte näher. Ich werde der gnädigen Frau Mitteilung machen.«

Er dankte ihr. Nur gut, dass er schon des Öfteren dort gewesen war, sodass sie ihn kannte. Bisher hatte sich Tante Vespasia gegen keinen seiner Besuche ausgesprochen.

Während das Mädchen ging, blieb er im goldenen Frühstückszimmer stehen, aus dem der Blick in den Garten fiel.

Eine Viertelstunde später kam Vespasia in einem langen elfenbeinfarbenen Morgenmantel aus Seide herunter, das Haar in aller Eile notdürftig aufgesteckt. Auf ihren Zügen lag Besorgnis.

»Ist etwas geschehen, Thomas?«, fragte sie ohne Umschweife. Sie brauchte nicht hinzuzufügen, dass er abgezehrt aussah und ihr klar war, dass ihn kein normales Ereignis um diese Tageszeit und in seinem Zustand dort hingeführt hätte.

»Sogar eine ganze Menge«, gab er zur Antwort, schob ihr einen Stuhl zurecht und hielt ihn, während sie sich setzte. »Es ist schlimmer und gefährlicher als alles, was ich mir je habe träumen lassen.«

Sie wies auf die andere Seite des eleganten achteckigen Tisches. Ursprünglich war nur für eine Person gedeckt gewesen, aber das Mädchen, gewohnt, die Wünsche der Herrin des Hauses zu erahnen, hatte bereits ein zweites Gedeck aufgelegt.

»Dann spann mich nicht länger auf die Folter«, forderte ihn Vespasia auf und sah ihn kritisch an. »Ich vermute, dass du das auch beim Frühstück erzählen kannst?« Es war keine wirkliche Frage. »Doch ist es wohl zu empfehlen, dass du dich zurückhältst, solange die Dienstboten im Zimmer sind.«

»Danke«, nahm er an. Allmählich löste sich die Verzweiflung ein wenig, die ihn erfüllt hatte, als er gekommen war. Überrascht erkannte er, wie nahe ihm diese bemerkenswerte alte Dame stand, die sich durch Abkunft und Lebenszuschnitt so grundlegend von ihm unterschied. Er betrachtete ihr schön geschnittenes Gesicht mit der zarten Haut, den Augen unter schweren Lidern, den feinen Linien des Alters und begriff, welchen unwiderbringlichen Verlust es auch für ihn bedeuten würde, wenn sie eines Tages nicht mehr da war. Er brachte es nicht einmal in seinen geheimsten Gedanken über sich, dabei das Wort ›tot‹ zu verwenden.

»Thomas …«, mahnte sie.

»Hast du über den Tod des Zuckerfabrikanten Sissons gelesen?«, fragte er.

»Ja. Wie es aussieht, hat man ihn ermordet«, gab sie zur Antwort. »Die Zeitungen lassen durchblicken, dass jüdische Geldverleiher dahinter stecken. Es sollte mich wirklich wundern, wenn das stimmte. Vermutlich ist es etwas anderes, und du weißt auch schon, was.«

»Ja.« Es war nicht der richtige Zeitpunkt, mit dem, was er wusste, hinter dem Berg zu halten. »Ich habe ihn selbst gefunden. Zuerst dachte ich an Selbstmord, denn vor ihm lag ein Abschiedsbrief.« Er berichtete in knappen Worten, was darin gestanden hatte, und gab ihr dann wortlos den Schuldschein, damit sie ihn selbst las.

Sie warf einen Blick darauf, trat an ihren Sekretär und nahm eine handschriftliche Notiz heraus. Sorgfältig verglich sie beide und lächelte. »Ziemlich ähnlich«, sagte sie. »Aber nicht vollkommen gleich. Möchtest du ihn zurückhaben?«

»Vermutlich ist er bei dir besser aufgehoben«, erwiderte er und empfand zu seiner Überraschung bei diesen Worten eine gewisse Erleichterung.

Er berichtete ihr über Adinetts Brief und welche Schlussfolgerungen er daraus gezogen hatte.

Während er sprach, sah er sie aufmerksam an und merkte, dass sie betrübt und verärgert zu sein schien, aber in keiner Weise überrascht. Dass sie seinen Worten glaubte, war ihm ein gewisser Trost.

Noch schwerer fiel es ihm, ihr zu sagen, was er getan hatte, doch das auszulassen gab es keine Möglichkeit. Es wäre unentschuldbar gewesen, jetzt persönlichen Empfindlichkeiten nachzugeben.

»Ich habe beide Briefe zerrissen und die Pistole mitgenommen und alles in einen der Zuckerbottiche geworfen«, sagte er zögernd. »Damit es wie Mord aussah.«

Sie nickte kaum wahrnehmbar. »Ich verstehe.«

Er wartete, ob sie noch mehr sagte, vielleicht erklärte, wie sehr seine Handlungsweise sie überraschte, dass sie sich davon distanzierte, aber es kam nichts. Konnte sie so gut verbergen, was sie dachte? Möglich. Vielleicht hatte sie in Laufe der Jahrzehnte so viel Verrat und Hinterlist miterlebt, dass nichts mehr sie zu entsetzen vermochte. Vielleicht aber auch hatte sie von ihm nie etwas anderes erwartet? Wie gut kannte er sie eigentlich? Warum war er so sicher gewesen, dass sie ihn für ehrenhaft hielt und alles, was er tat oder unterließ, sie nicht nur am Rande berührte?

»Du verstehst nicht«, gab er zur Antwort, wobei Schmerz und Zorn in seiner Stimme mitschwangen. »Ich habe von Wally Edwards, dem anderen Nachtwächter, erfahren, dass Sissons eine Verletzung an der rechten Hand hatte. Er wäre also gar nicht im der Lage gewesen, die Pistole abzufeuern und sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Ich habe dafür gesorgt, dass ein als Selbsttötung getarnter Mord wieder als Mord erschien.« Er holte tief Luft. »Außerdem glaube ich, den Täter gesehen zu haben, ahne aber nicht, wer das war. Ich weiß lediglich, dass ich ihm noch nie zuvor begegnet bin.«

Sie wartete, dass er weitersprach.

»Er war in fortgeschrittenem Alter, hatte dunkles, ins Graue spielendes Haar, einen dunklen Teint, ein schmales Gesicht und einen Siegelring mit einem dunklen Stein an der Hand. Sollte es einer der Juden aus der Gegend gewesen sein, war es einer, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.«

Sie blieb so lange schweigend sitzen, dass er zu fürchten begann, sie habe seine Worte nicht gehört oder nicht verstanden. Er sah sie erwartungsvoll an. In ihren Augen lag unermessliche Trauer. Ihre Gedanken waren nach innen gerichtet, ohne dass er ahnte, worauf.

Er zögerte, da er nicht wusste, ob er sie unterbrechen sollte oder nicht. Fragen drängten sich in seinem Kopf. Wäre es besser gewesen, sie nicht mit dieser Geschichte zu belästigen? Erwartete er zu viel von ihr, hielt er sie für übermenschlich, und unterstellte er ihr eine seelische Kraft, die sie nicht besitzen konnte?

»Tante Vespasia …« Dann merkte er betreten, was er gesagt hatte. Sie war nicht seine Tante, sondern die angeheiratete Tante seiner Schwägerin. Er hatte sich zu viel herausgenommen. »Ich – «

»Ich habe dich gehört, Thomas«, sagte sie ruhig. In ihrer Stimme lag weder Zorn noch Gekränktheit, lediglich Verwirrung. »Ich habe überlegt, ob es sich dabei um ein geplantes Vorgehen handelte oder ob sich jemand eine günstige Gelegenheit zunutze gemacht hat. Da ich mir nicht gut denken kann, wie es zu einer solchen Gelegenheit gekommen sein könnte, muss es sich wohl um eine Tat handeln, die geplant wurde, um das Königshaus in Verlegenheit zu bringen oder, schlimmer noch, um Unruhen zu schüren, welche die Urheber dann für ihre Zwecke ausnutzen könnten …« Sie runzelte die Stirn. »Aber ein solches Verhalten ist ausgesprochen skrupellos. Ich …« Sie hob kaum merklich eine Schulter. Er sah, wie schmal sie unter der Seide des Morgenmantels war, und war verblüfft über die Stärke, die sich hinter ihrer Zerbrechlichkeit verbarg.

»Da ist noch mehr«, sagte er.

»Das denke ich mir«, gab sie zurück. »Für sich allein genommen ergibt das keinen Sinn. Damit würde nichts Dauerhaftes bewirkt.«

Mit einem Mal hatte Pitt den Eindruck, als wären sie wieder Verbündete. Er schämte sich, an ihrer Großmut gezweifelt zu haben. Dann suchte er nach den richtigen Worten und teilte ihr mit, was Tellman über die tragische Geschichte Annie Crooks und des Herzogs von Clarence berichtet hatte.

Ihr Gesicht wurde noch eine Schattierung blasser, und im Licht des hellen Morgens sah man auf ihren Zügen ihre Schönheit und ihr Alter, die Leidenschaft, mit der sie im Laufe ihres Lebens alles betrachtet hatte. Die Tiefe des Empfindens und Verstehens ließ sich an ihren Augen und Lippen ablesen.

»Und wo hält sich dieser Remus zurzeit auf?«, fragte sie, als er geendet hatte.

»Das weiß ich nicht«, musste Pitt zugeben. »Vermutlich sucht er nach dem letzten fehlenden Glied in der Beweiskette. Wenn er es schon hätte, würde Dismore inzwischen die ganze Geschichte gedruckt haben.«

Vespasia schüttelte leicht den Kopf. »Nach allem, was du gesagt hast, muss ich annehmen, dass die Sache zum selben Zeitpunkt bekannt werden sollte wie Sissons’ angeblicher Selbstmord. Das hast du verhindert. Möglicherweise haben wir auf diese Weise einen oder zwei Tage Aufschub erreicht.«

»Um was zu tun?«, fragte er. In seiner Stimme lag wieder ein Anflug von Verzweiflung. »Ich weiß nicht, wem ich trauen darf. Jeder kann zum Inneren Kreis gehören!« Er spürte, wie ihn die Finsternis erneut umgab, undurchdringlich und erstickend. Er wollte weiterreden, ihr das unfassliche Ausmaß des Ganzen ausmalen, sah aber keine andere Möglichkeit dazu, als dass er immer aufs Neue dieselben verzweifelten und unzulänglichen Worte wiederholte.

»Sofern der Innere Kreis hinter dieser Verschwörung steht«, sagte Vespasia fast ebenso sehr zu sich selbst wie zu ihm, »wollen die Leute die Regierung und den Thron stürzen, um selbst die Führung des Landes zu übernehmen, und das vermutlich als Republik.«

»Ja«, gab er ihr Recht. »Aber dies Wissen verhilft uns nicht dazu, sie aufzuspüren, und schon gar nicht, das zu verhindern.«

Mit leichtem Kopfschütteln erklärte sie: »Darauf will ich gar nicht hinaus, Thomas. Angenommen, der Innere Kreis will eine Republik ins Leben rufen, können das nie und nimmer die Leute sein, welche die tragische Eheschließung des Herzogs von Clarence geheim gehalten und dafür gesorgt haben, dass man fünf unglückliche Frauen getötet hat, um zu erreichen, dass die Sache auf keinen Fall ans Tageslicht kam.« Sie sah ihn mit ihren silbern glänzenden Augen unverwandt an.

»Dann gibt es also tatsächlich zwei Verschwörungen …«, flüsterte er. »Aber wer sind dann die anderen? Dahinter steckt doch nicht etwa … das Königshaus?«

»Um Gottes willen, nein«, gab sie zur Antwort. »Zwar kann ich das nicht beschwören, aber ich denke, es sind die Freimaurer. Sie besitzen die Macht, und ihnen liegt daran, Krone und Regierung zu erhalten.«

Er versuchte, das in sich aufzunehmen. »Aber würden sie …«

Sie lächelte kaum wahrnehmbar. »Menschen tun nahezu alles, wenn sie von einer Sache hinlänglich überzeugt sind und Eide geleistet haben, die sie nicht zu brechen wagen. Natürlich ist es ebenso gut möglich, dass diese Leute nicht das Geringste damit zu tun haben. Unter Umständen werden wir nie erfahren, wer dahinter steckt. Aber irgendjemand hat seinen Eid gebrochen oder war ungewöhnlich sorglos, und ein anderer war klüger, als sich voraussehen ließ, denn jetzt besitzt der Innere Kreis die Macht, alles zu zerschlagen – und es sieht ganz so aus, als ob er gewillt wäre, das auch zu tun.« Sie holte tief Luft. »Du bist ihnen in den Arm gefallen, Thomas, hast sie auf ihrem Weg aufgehalten, doch zweifle ich, dass sie sich geschlagen geben werden.«

»Und damit habe ich die Hälfte der Juden in Spitalfields in Gefahr gebracht und fast mit Sicherheit erreicht, dass man einen von ihnen für ein Verbrechen hängt, das er nicht begangen hat«, fügte er hinzu. Der Abscheu vor sich selbst, der in seiner Stimme lag, war ihm schon in dem Augenblick zuwider, als er ihn hörte.

Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.

»Gibt es eine Möglichkeit festzustellen, ob diese Geschichte mit Clarence der Wahrheit entspricht?«, fragte er. Er war nicht sicher, worauf er hinauswollte, doch war ihm bewusst, dass Nichtstun gleichbedeutend war mit Kapitulation.

»Ich glaube nicht, dass das noch erheblich ist«, sagte sie, während der Zorn aus ihren Augen schwand. »Möglich ist es, und ich zweifle, dass jemand sie widerlegen könnte. Mehr braucht der Innere Kreis aber auch nicht. Bei der allgemeinen Empörung, zu der es käme, wenn das bekannt würde, hätte niemand Gelegenheit, auch nur eine Sekunde lang Tatsachen abzuwägen oder zu beurteilen. Wer verhindern will, dass die Öffentlichkeit davon erfährt, muss dafür sorgen, bevor sich irgendjemand außerhalb des Inneren Kreises darüber geäußert hat.« Der Anflug eines Lächelns legte sich auf ihre Lippen. »Ganz wie du bin ich nicht sicher, wem ich trauen kann. Infragen der Moral vermutlich niemandem. Es gibt Zeiten, in denen man allein steht, und womöglich ist dies ein solcher Augenblick. Aber ich glaube die Interessen bestimmter Menschen gut genug abschätzen zu können, um zu wissen, wie sie handeln werden, wenn sie unter Druck geraten.«

»Sei vorsichtig!« Er hatte Angst um sie. Während ihm diese Worte entschlüpften, war ihm klar, dass er sie nicht hätte sagen dürfen. Es war anmaßend von ihm, doch das war ihm jetzt einerlei.

Sie machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. »Vielleicht solltest du besser zusehen, ob du etwas unternehmen kannst, um deinen jüdischen Freunden zu helfen. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, feststellen zu wollen, wer wirklich den armen Sissons umgebracht hat. Offensichtlich war Sissons von Anfang an der Betrogene und hat sich das unter Umständen bis zu einem gewissen Grade auch recht gern gefallen lassen. Mit seinem Tod dürfte er nicht gerechnet haben. Er hatte wohl keine Vorstellung davon, mit wie großer Tücke die Verschwörer vorgehen würden, mit denen er sich eingelassen hatte. Es gibt so viele Idealisten, in deren Augen der Zweck die Mittel heiligt, Männer, die mit hehren Zielen beginnen …« Sie ließ den Satz unvollendet, mit dem sie auf die Geister der Vergangenheit angespielt hatte.

»Was wirst du tun?«, fragte er sie besorgt. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er gekommen war.

»Ich weiß nur eins«, sagte sie und sah dabei nicht auf ihn, sondern in die Ferne, als sehe sie dort eine Vision. »Es gibt zwei widerwärtige Verschwörungen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie gegeneinander kämpfen, und Gott bitten, dass das Ergebnis für sie vernichtender ist als für uns.«

»Aber – «, begehrte er auf.

Mit leicht gehobenen Brauen wandte sie sich ihm zu. »Hast du einen besseren Einfall, Thomas?«

»Nein.«

»Dann geh nach Spitalfields zurück, und tu, was du kannst, um dafür zu sorgen, dass nicht Unschuldige den Preis für unsere Katastrophen zahlen müssen. Das ist der Mühe wert.«

Er erhob sich gehorsam und dankte ihr. Erst draußen, mitten im morgendlichen Straßenverkehr, merkte er, dass er nach wie vor nicht gefrühstückt hatte. Die Dienstboten waren zu rücksichtsvoll gewesen, als dass sie ihr Gespräch mit so banalen Dingen wie Speise und Trank unterbrochen hätten.

 

Nach Pitts Weggang läutete Vespasia dem Mädchen. Während sie frischen Tee trank und Toast aß, ging sie im Geiste alle Möglichkeiten durch. Eine bestimmte Vorstellung schälte sich heraus, der sie sich aber noch nicht stellen wollte.

Zuerst würde sie sich mit dem beschäftigen, was unmittelbar zu erledigen war. Eigentlich war es unerheblich, dass Sissons dem Kronprinzen in Wahrheit kein Geld geliehen hatte. Entscheidend war, dass der Innere Kreis diesen Anschein erweckt hatte. Ihrer festen Überzeugung nach hatten diese Männer die Situation so manipuliert, dass alles auf einen Betrug hinwies. Das Ergebnis würde sein, dass die Zuckersiedereien schließen mussten, denn das war der tiefere Sinn, der hinter dem Mord stand. Unter den einfachen Leuten in Spitalfields würde es nur dann zu Ausschreitungen kommen, wenn sie ihre Arbeitsplätze verloren.

Mithin musste sie etwas tun, um das auf jeden Fall einstweilen zu verhindern. Im Laufe der Zeit würde man eine andere Lösung finden … möglicherweise sogar eine große Geste des Kronprinzen? Das würde ihm Gelegenheit geben, zumindest teilweise etwas wieder gutzumachen.

Sie ging nach oben und kleidete sich mit großer Sorgfalt an. Sie wählte ein blaugraues Kostüm, dessen Kragen und Ärmel reich bestickt waren. Nachdem sie einen dazu passenden Sonnenschirm ausgesucht hatte, ließ sie ihre Kutsche vorfahren.

Sie traf um halb zwölf am Connaught Place ein. Zwar war das keine Uhrzeit, zu der man Besuche machte, doch handelte es sich um einen Notfall, und das hatte sie Lady Churchill auch am Telefon gesagt.

Randolph Churchill erwartete sie in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Er erhob sich bei ihrem Eintreten, sein glattes Gesicht streng, bereit, jeden Augenblick Missfallen zu zeigen. Im Augenblick aber veranlassten ihn seine guten Manieren und vielleicht auch die Neugier, ihr Gehör zu leihen.

»Guten Morgen, Lady Vespasia. Es ist stets ein Vergnügen, Sie zu sehen, doch muss ich gestehen, dass Ihre Mitteilung eine gewisse Beunruhigung ausgelöst hat. Bitte nehmen Sie …« Bevor er das Wort »Platz« sagen konnte, hatte sie sich bereits gesetzt. Sie dachte nicht daran, sich von irgendjemandem, und sei es Randolph Churchill, in eine ungünstige Ausgangsposition bringen zu lassen.

»… und sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann«, beendete er seinen Satz, bevor er sich wieder setzte.

»Es gibt keine Zeit mit Belanglosigkeiten zu vertun«, sagte sie knapp. »Vermutlich ist Ihnen bewusst, dass man vor zwei Tagen den Zuckerfabrikanten James Sissons in Spitalfields ermordet hat.« Sie wartete nicht auf seine Bestätigung. »Eigentlich sollte es wie ein Selbstmord aussehen, und so hatten interessierte Kreise auch einen Abschiedsbrief vorbereitet, in dem er seinen Ruin darauf zurückführte, dass er dem Kronprinzen Geld geliehen und dieser sich geweigert habe, es zurückzuzahlen. Das habe dazu geführt, dass seine drei Fabriken zugrunde gerichtet seien und mindestens eintausendfünfhundert Familien in Spitalfields vor dem Nichts stünden.« Sie hielt inne.

Churchills Gesicht war aschfahl.

»Ich sehe, dass Sie den Ernst der Lage verstehen«, sagte sie trocken. » Es könnte nicht nur äußerst unangenehm werden, wenn es zu diesen Schließungen kommt, sondern sogar zum Sturz der Regierung und des Throns führen, ohne dass irgendjemand die Möglichkeit hätte, etwas dagegen zu unternehmen.«

»Aber…«, protestierte er.

»Ich bin alt genug, um noch Menschen gekannt zu haben, die Zeugen der Französischen Revolution waren, Randolph«, sagte sie mit eiskalter Stimme. »Auch sie waren überzeugt, so etwas könne keinesfalls geschehen … und sie haben es nicht einmal dann geglaubt, als sie die Schinderkarren über die Straßen rollen hörten.«

Er ließ sich ein wenig zurücksinken, als hätte ihm die Angst die Kraft genommen aufzubegehren. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Atem ging flach. Die schönen glatten Hände auf den polierten Schreibtisch gelegt, blickte er sie aufmerksam an. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ihn verstört.

»Glücklicherweise haben wir Freunde«, fuhr sie fort, »von denen einer zufällig eben der ist, der Sissons’ Leiche entdeckt hat. Er war so vorausschauend, die Waffe und den Schuldschein beiseite zu schaffen und den Abschiedsbrief zu vernichten, damit Sissons’ Tod wie Mord aussah. Das aber ist nur eine vorläufige Lösung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Fabriken weiterarbeiten und die Männer bezahlt werden.« Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen hielt sie seinem Blick stand. »Ich nehme an, dass Sie Freunde haben, die ebenso denken wie Sie und bereit sind, ihren Beitrag dazu zu leisten. Das wäre eine durchaus aufgeklärte Handlungsweise, die überdies in Ihrem ureigenen Interesse läge – von ihrem Wert als moralische Geste ganz zu schweigen. Wenn die Öffentlichkeit davon erfährt, kann ich mir vorstellen, dass beträchtliche Dankbarkeit die Folge wäre. Beispielsweise hätte der Kronprinz die Möglichkeit, der Held des Tages zu sein und nicht wie sonst der Schurke im Stück. Finden Sie nicht auch, dass darin eine gewisse ironische Verlockung liegt?«

Churchill holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Er war erleichtert; das war seinem Gesicht anzusehen, obwohl er es zu verbergen versuchte. Wider Willen war er zutiefst beeindruckt, und auch das war zu spüren. Einen Augenblick lang erwog er auszuweichen, so zu tun, als müsse er sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, dann aber verwarf er diesen Gedanken als absurd. Ihr wie ihm war klar, dass er es tun würde, weil ihm keine andere Wahl blieb.

»Eine glänzende Lösung, Lady Vespasia«, sagte er so steif, wie es ihm möglich war, hatte jedoch seine Stimme dabei nicht ganz in der Gewalt. »Ich werde dafür sorgen, dass man sie sogleich verwirklicht … bevor größerer Schaden entsteht. Es ist – es ist ein wahres Glück, dass wir einen … Freund … hatten, der diese Wende ermöglicht hat.«

»Und der den Mut hatte zu handeln, obwohl es mit beträchtlicher Gefahr für ihn selbst verbunden war«, fügte Vespasia hinzu. »Es gibt Menschen, die ihm das Leben äußerst schwer machen werden, wenn sie je davon erfahren sollten.«

Churchill lächelte trübselig, wobei seine Lippen eine schmale Linie bildeten. »Wir denken, dass es nicht dahin kommen wird. Jetzt aber muss ich mich um diese Angelegenheit mit den Zuckerfabriken kümmern.«

»Selbstverständlich. Es gibt keine Zeit zu verlieren.« Ohne ihm zu danken, dass er sie empfangen hatte, stand Vespasia auf. Beiden war klar, dass das mehr in seinem als in ihrem Interesse lag, und sie war nicht bereit, so zu tun, als wenn es sich anders verhielte. Er war ihr nicht sonderlich sympathisch; außerdem verdächtigte sie ihn, in die Morde von Whitechapel verwickelt zu sein. Auch wenn es keine Beweise gab, war sie sich ihrer Sache beinahe sicher. In der gegenwärtigen Situation benutzte sie ihn und wollte keinesfalls den Eindruck erwecken, als verhalte es sich anders. Sie neigte den Kopf leicht, als er die Tür öffnete und sie ihr aufhielt, während sie hinausging.

»Guten Tag«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. »Ich wünsche Ihnen Erfolg.«

»Guten Tag, Lady Vespasia«, antwortete er. Er war dankbar, aber nicht etwa ihr, sondern den Umständen, dem gemeinsamen Interesse.

Jetzt blieb noch ein Punkt zu klären, doch noch war sie nicht bereit, sich dieser weit schmerzlicheren Aufgabe zu stellen.

 

Auf dem Rückweg nach Spitalfields überlegte Pitt hin und her, wie er verhindern konnte, dass irgendein Unbeteiligter für den Mord an Sissons herhalten musste. Er hatte auf den Straßen allerlei Gerüchte darüber gehört, wen die Polizei verdächtigte. Die jüngsten Zeichnungen ähnelten Isaak immer mehr. Es konnte höchstens noch eine Sache von Tagen, wenn nicht von Stunden sein, bis man seinen Namen nannte. Dafür würde Harper sorgen. Die Polizei musste jemanden festnehmen, um den zunehmenden Volkszorn zu besänftigen. Isaak Karansky eignete sich glänzend als Sündenbock. Sein Verbrechen bestand darin, dass er Jude war und sich von anderen unterschied. Er stand an der Spitze einer klar umrissenen Gruppe von Menschen, die sich um ihre Glaubensbrüder kümmerten. Sissons’ Tod war nichts als ein Vorwand. Zinswucher galt als gemeinsamer Feind. Auch wenn es sich um einen unbewiesenen Vorwurf handelte, saß die Vorstellung seit Jahrhunderten fest in den Köpfen der Menschen, wurde durch Hörensagen überliefert und galt als Wurzel eines Dutzends auf andere Weise nicht erklärbarer Übel.

In einem Punkt war Pitt im Vorteil: Er war als Erster am Tatort gewesen, und als Zeuge konnte er einen Grund finden, Harper noch einmal aufzusuchen und mit ihm zu sprechen.

Als er an der Aldgate Street aus dem Zug stieg, hatte er sich bereits entschieden und legte sich genau zurecht, was er sagen wollte.

Er schritt rasch aus. Wie Vespasia gesagt hatte, dürfte Sissons’ Mörder dem Inneren Kreis angehören. Höchstwahrscheinlich würde sich nie ermitteln lassen, um wen es sich dabei handelte, denn Harper würde alle ihm zu Gebote stehenden Mittel aufbieten, das zu verhindern.

 

Angst lag in der Luft. Die Menschen waren gereizt, unfähig, sich auf ihre alltäglichen Aufgaben zu konzentrieren. Es kam zu Streit über Nichtigkeiten: falsch herausgegebenes Geld, ein Mann, der einen anderen aus Versehen angerempelt hatte, eine herabgefallene Wagenladung, ein störrischer Gaul, ein ungeschickt abgestelltes Fuhrwerk.

Mit grimmiger Miene patrouillierten die Streifenpolizisten durch ihr Revier, ihre Schlagstöcke schwangen bei jedem Schritt. Männer und Frauen bedachten sie mit Schimpfworten. Von Zeit zu Zeit schleuderte ihnen ein etwas Wagemutigerer einen Stein oder ein Stück verfaultes Gemüse nach. Kinder jammerten, ohne zu wissen, wovor sie Angst hatten.

Ein Taschendieb wurde von der Menge gefasst und blutig geschlagen. Niemand trat dazwischen oder rief die Polizei.

Nach wie vor wusste Pitt nicht, ob er Narraway wirklich trauen konnte, doch gab es vielleicht eine Möglichkeit, etwas von ihm zu erfahren, ohne dabei selbst etwas preiszugeben. Der Mann konnte dem Inneren Kreis angehören oder Freimaurer sein. Was wusste Pitt, ob er nicht zu allem bereit war, um die bestehende Ordnung und die gegenwärtigen Machtverhältnisse zu bewahren und den Thron zu schützen. Ebenso war es möglich, dass er keins von beiden war, sondern lediglich das, was er zu sein behauptete: ein Angehöriger des Sicherheitsdienstes, der sich bemühte, den Anarchisten das Handwerk zu legen und einen Aufruhr in den Straßen Londons zu verhindern.

Pitt fand ihn im üblichen Hinterzimmer. Er wirkte müde und angespannt.

»Was wollen Sie?«, fragte Narraway kurz angebunden.

Obwohl Pitt ein Dutzend Mal hin und her überlegt hatte, was er sagen wollte, fehlten ihm die richtigen Worte. Aufmerksam musterte er Narraways Gesicht – die geraden Augenbrauen, die tief liegenden klugen Augen und die tief eingegrabenen Linien, die von der Nase zum Mund liefen. Es wäre sicherlich ein Fehler, diesen Mann zu unterschätzen.

»Karansky hat James Sissons nicht umgebracht«, sagte er übergangslos. »Harper hat sich die Beschreibung des Täters aus den Fingern gesogen und die Zeugen unter Druck gesetzt, um jemanden zu haben, dem er die Sache anhängen kann.«

»Sind Sie sich dessen sicher?«, fragte Narraway mit ausdrucksloser Stimme.

»Sie etwa nicht?«, wollte Pitt wissen. »Sie kennen Spitalfields und haben mich zu Karansky geschickt. Haben Sie ihm da etwa einen Mord zugetraut?«

»Wenn der Preis hoch genug ist, kann man den meisten Menschen einen Mord zutrauen, sogar einem Isaak Karansky. Falls Ihnen das nicht bekannt sein sollte, haben Sie den falschen Beruf.«

Pitt nahm den Vorwurf hin. Er hatte die Frage zu plump gestellt, er war überreizt.

»Waren Sie je der Ansicht, dass er einen Aufruhr plante oder die Bestrafung von Gläubigern, die keine Wucherzinsen zahlen?«, korrigierte er sich.

Narraway verzog den Mund. »Nein. Ich habe ihn nie für einen Geldverleiher gehalten. Er steht an der Spitze einer Gruppe von Juden, die sich um ihre Glaubensbrüder kümmern. Dabei geht es nicht um das Geschäft, sondern um Wohltätigkeit.«

Pitt war verblüfft, als er merkte, dass Narraway davon wusste. Seine Anspannung ließ ein wenig nach.

»Harper glaubt, dass er ihm die Sache in die Schuhe schieben kann. Es wird von Stunde zu Stunde gefährlicher für ihn«, sagte er mit Nachdruck. »Man wird ihn festnehmen, wenn sie auch nur ein einziges weiteres Indiz gegen ihn konstruieren können. Angesichts der gegenwärtigen antijüdischen Stimmung dürfte das nicht schwer sein.«

Narraway wirkte müde. In seiner Stimme schwang Enttäuschung. »Warum sagen Sie mir das, Pitt? Meinen Sie etwa, ich wüsste das nicht?«

Pitt sog scharf die Luft ein, bereit, seinem Gegenüber Untätigkeit, Pflichtverletzung oder gar Ehrlosigkeit vorzuwerfen. Dann aber sah er ihm etwas aufmerksamer in die Augen und erkannte die Desillusionierung des Mannes, die Mattigkeit, die auf eine Vielzahl von Niederlagen zurückging, und er stieß den Atem wieder aus, ohne zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. Sollte er ihm die Wahrheit anvertrauen? War Narraway ein Zyniker, ein Opportunist, der sich auf die Seite derer schlagen würde, denen er den Sieg zutraute? Oder war er einfach durch zu viele Verluste, kleine Ungerechtigkeiten und Verzweiflung erschöpft? Womöglich wusste er zu viel über ein Meer von Armut – in unmittelbarer Nachbarschaft immensen Reichtums. Es erforderte einen ganz besonderen Mut weiterzukämpfen, wenn man genau wusste, dass man nicht gewinnen kann.

»Stehen Sie nicht nutzlos hier herum, Pitt«, sagte Narraway ungeduldig. »Ich weiß, dass die Polizei einen Sündenbock sucht und Karansky sich hervorragend dafür eignet. Die Leute haben es noch nicht verwunden, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Morde von Whitechapel vor vier Jahren aufzuklären. Den Mordfall Sissons werden sie unter allen Umständen lösen – auf Biegen oder Brechen, wenn es sein muss. Sie brauchen einen Täter, mit dem sie ihr Ansehen in der Öffentlichkeit aufpolieren können, und dafür ist Karansky genau der Richtige. Ich würde ihn retten, wenn mir das möglich wäre. Er ist ein ordentlicher Mann. Das Beste, was man ihm raten kann, ist, aus London zu verschwinden. Er soll das nächste Schiff nehmen, das ausläuft, egal wohin, ob nach Rotterdam, Bremen oder sonstwo.«

Die Gedanken überstürzten sich in Pitts Kopf: War das mit der Ehre vereinbar? Durfte man der Anarchie und Ungerechtigkeit einfach nachgeben? Konnte man noch von Recht sprechen, wenn es so gehandhabt wurde, wie in diesem Fall zu befürchten stand? Seine Bedenken verblassten, bevor er sie formulierte. Bestimmt hatte Narraway all das bereits selbst erwogen. Für Pitt waren diese Fragen neu. Sie erschütterten seinen Glauben an die Grundsätze, die ihn sein Leben lang geleitet hatten, untergruben den Wert von allem, wofür er gearbeitet hatte, erschütterten all seine Annahmen über die Ordnung in der Gesellschaft, als deren Bestandteil er sich ansah. Wenn dem Rechtssystem eines Landes in einer kritischen Situation keine bessere Lösung einfiel, als die Empfehlung an einen grundlos Beschuldigten, er möge davonlaufen – warum sollte dann jemand die Gesetze achten oder ihnen trauen? Die Ideale, die dahinterstanden, waren hohl – klangen hochtrabend, waren aber inhaltslos, von der nutzlosen Schönheit einer schimmernden Seifenblase, die bei der leisesten Berührung platzte.

Er ließ die Schultern sinken und stieß die Hände in die Taschen.

»Die haben von Anfang an gewusst, wer der Mörder von Whitechapel ist und was dahinter steckt«, sagte er entschlossen, »haben die Sache aber vertuscht, um den Thron zu schützen.« Er wartete auf Narraways Reaktion.

Dieser saß reglos da. »Ach, tatsächlich?«, fragte er leise. »Und inwiefern hätte es Ihrer Ansicht nach dem Thron geschadet, wenn der Täter gefasst worden wäre?«

Es überlief Pitt kalt. Er hatte einen Fehler begangen. Im selben Augenblick war ihm klar, dass Narraway zu den Freimaurern gehörte – wie Abberline, der stellvertretende Polizeipräsident Warren und weiß Gott wer noch … auf jeden Fall Sir William Gull, der Leibchirurg der Königin. Einen Augenblick erfasste ihn Panik, das nahezu unwiderstehliche körperliche Bedürfnis, kehrtzumachen und hinauszulaufen, irgendwo in den grauen Gassen zu verschwinden. Zugleich war ihm klar, dass er sich auf keinen Fall würde verstecken können, ohne dass man ihn fand. Er wusste nicht einmal, wer außer ihm noch für Narraway arbeitete.

Hinzu kam, dass er eine Wut empfand, die viel stärker war als seine Panik, und so stieß er hervor: »Die Morde wurden begangen, um zu verhindern, dass die Eheschließung zwischen dem Herzog von Clarence und einer Katholikin namens Annie Crook sowie die Existenz eines gemeinsamen Kindes der beiden bekannt wurde.«

Narraways Augen öffnete sich kaum wahrnehmbar, so wenig, dass Pitt nicht sicher war, ob er das gesehen oder es sich eingebildet hatte. War es Überraschung? Weil Pitt Bescheid wusste, oder über die Tatsache als solche?

»Haben Sie das hier in Spitalfields ermittelt?«, fragte Narraway. Er leckte sich die Lippen, als wäre sein Mund ausgetrocknet.

»Nein, man hat es mir berichtet. Ein Journalist, der bis auf zwei alle Beweisstücke in seinem Besitz hat – oder hatte. Es ist denkbar, dass er inzwischen alle hat. Allerdings haben die Zeitungen es noch nicht veröffentlicht.«

»Ich verstehe. Und Sie haben es nicht für richtig gehalten, mich von Ihrem Wissen in Kenntnis zu setzen?« Narraways Gesicht war eine undurchdringliche Maske. Seine Augen glänzten unter den gesenkten Lidern. Er sprach sehr leise. In seiner Stimme lag eine gefährliche Höflichkeit.

Pitt entschloss sich, ihm alles zu sagen. »Die Sache sieht so aus: Die Freimaurer stehen dahinter, und der Innere Kreis spielt dem Journalisten die Einzelheiten Stück für Stück zu, damit er die Geschichte zu dem Zeitpunkt veröffentlichen kann, der ihnen geeignet erscheint. Die Hälfte der mit der Aufklärung des Falles betrauten höheren Polizeibeamten waren in das Verbrechen eingeweiht. Den Mord an Sissons hat der Innere Kreis veranlasst. Woher soll ich wissen, ob Sie nicht der einen oder der anderen Gruppe angehören? Es gibt für mich keine Möglichkeit, das festzustellen.«

Narraway holte tief Luft und sank dann in sich zusammen. »In dem Fall wären Sie aber damit, dass Sie es mir jetzt gesagt haben, ein gewaltiges Risiko eingegangen, oder etwa nicht? Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie eine Schusswaffe in der Tasche haben und mich umlegen, wenn ich die falsche Entscheidung treffe?«

»Nein.« Pitt setzte sich ihm gegenüber auf den einzigen anderen Stuhl im Raum. »Meiner Ansicht nach lohnt es sich, das Risiko einzugehen. Falls Sie Freimaurer sind, werden Sie dem Inneren Kreis in den Arm fallen oder es zumindest versuchen. Falls Sie selbst dem Inneren Kreis angehören, werden Sie die Machenschaften der Freimaurer enthüllen. Zwar würden Sie damit den Thron stürzen, doch müssten Sie dazu Sissons’ Tod als Selbstmord hinstellen, und das würde zumindest Karansky das Leben retten.«

Narraway straffte sich. Seine schmalen Hände ruhten entspannt auf dem Tisch, aber sein Zorn war unverkennbar, als er in scharfem und warnendem Ton sagte: »Vermutlich müsste ich Ihnen dankbar sein, dass Sie es mir endlich gesagt haben.« Der unüberhörbare Spott galt ihm selbst ebenso sehr wie Pitt. Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle er etwas hinzufügen, dann unterließ er es aber.

Pitt überlegte, ob Narraway die gleiche Art von Wut empfand wie er, die gleiche Bestürzung darüber, dass hier nicht nur das Rechtswesen versagt hatte, sondern es auch keine höhere Gerechtigkeit gab, keine höhere Instanz, an die man sich wenden konnte. Das System war bis ins Mark verrottet.

»Gehen Sie, und tun Sie für Karansky, was Sie können«, sagte Narraway ausdruckslos. »Für den Fall, dass Ihnen nicht klar sein sollte, wie das gemeint ist – das ist eine dienstliche Anweisung.«

Fast hätte Pitt gelächelt. Immerhin, ein schwacher Lichtschimmer in der Finsternis. Er nickte, erhob sich und ging. Er würde sich sofort zur Heneagle Street aufmachen. Er empfand es als bitter, dass er, der sein ganzes Erwachsenenleben hindurch der Gerechtigkeit gedient hatte, für einen Unschuldigen im Augenblick nichts anderes tun konnte, als ihn zu warnen und ihm zur Flucht zu verhelfen, weil ihm das Gesetz keine Sicherheit und keinen Schutz bot. Er würde sein Heim zurücklassen müssen, seine Freunde, die Gemeinschaft, der er gedient hatte, sein ganzes Leben, das er sich in einem Lande aufgebaut hatte, von dem er überzeugt gewesen war, dass es ihm Zuflucht und die Möglichkeit eines neuen Anfangs bieten würde.

Aber Pitt würde es tun, und wenn er selbst für die Leute packen und mit ihnen zum Anleger gehen, ihre Fahrkarten auf seinen eigenen Namen lösen und einen Frachterkapitän bestechen oder auf andere Weise dazu bringen musste, sie an Bord zu nehmen.

 

Draußen auf der Straße war es heiß und staubig. Säuerlich hing der Gestank von Abwässern in der Luft. Schornsteine stießen Rauch aus, der so dicht war, dass er die Sonne verdunkelte.

Pitt eilte in Richtung Süden. Er wollte Isaak unverzüglich aufsuchen und vor der drohenden Gefahr warnen. Er kam an einem Zeitungsverkäufer vorüber und warf einen Blick auf die Schlagzeilen. Es war immer noch dieselbe Zeichnung, darunter aber stand jetzt in großen schwarzen Buchstaben: ZUCKERFABRIKMÖRDER GESUCHT, wohl für den Fall, dass jemand dessen Angriff auf die Gemeinschaft übersehen hatte. Mit jeder neuen Ausgabe der Zeitungen schien sich das Bild ein wenig zu verändern und jedes Mal Isaak ein wenig mehr zu ähneln.

Pitt beschleunigte den Schritt, vorüber an Straßenhändlern, an Männern, die Karren schoben, an Bettlern, an einem Bänkelsänger, der bereits eine Schauerballade über den Mord an Sissons vortrug. Darin wurde formuliert, was ohnehin fast alle dachten: Der Täter müsse ein Geldverleiher sein, der einem säumigen Schuldner eine Lektion erteilt hatte. Die Ballade war raffiniert gebaut. Zwar kam das Wort ›Jude‹ darin nicht vor, dennoch wurde klar, wer gemeint war.

In der Heneagle Street angekommen, ging Pitt sofort in die Küche, ohne sein Zimmer aufzusuchen. Lea stand am Herd und rührte in einem Topf. Der Geruch nach Kräutern hing angenehm in der Luft. Isaak saß am Tisch; neben ihm am Boden standen zwei fleckige Tuchtaschen.

Bei Pitts Eintreten fuhr er herum. Seine Augen waren stumpf vor Erschöpfung, tiefe Linien hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Pitt brauchte nicht zu fragen, ob er die Anschläge gesehen und ihren Sinn verstanden hatte.

»Sie müssen fort!«, sagte er mit einer Stimme, die schroff klang, obwohl er es nicht so meinte. Er merkte, dass Furcht und Wut darin mitschwangen. Sie befanden sich in England. Die Karanskys hatten nichts getan. Wieso mussten sie da vor dem Gesetz fliehen?

»Wir gehen schon«, sagte Isaak und zog seine alte Jacke an. »Wir haben nur noch auf Sie gewartet.«

»Ihr Abendessen steht auf dem Herd«, teilte ihm Lea mit. »In der Speisekammer ist Brot. Saubere Hemden liegen auf Ihrer Kommode – «

Man hörte ein lautes Klopfen an der Tür.

»Gehen Sie«, sagte Pitt mit erstickter Stimme.

Isaak nahm Lea am Arm und schob sie zum großen Fenster im hinteren Teil des Raumes.

»Im Schrank ist Seife«, sagte sie zu Pitt. »Sie finden – «

Das Donnern an der Haustür wurde lauter.

»Sie erfahren über Saul von uns«, sagte Isaak, während er das Fenster öffnete und Pitt in den Flur ging. »Gott schütze Sie.« Er half Lea hinaus.

»Sie auch«, antwortete Pitt.

Inzwischen wurde so kräftig an die Tür gehämmert, dass sie jeden Augenblick aufspringen konnte.

Ohne weiter zu den Flüchtenden hinzusehen, trat Pitt durch den kurzen Flur zur Tür und schob den Riegel gerade in dem Augenblick zurück, als ein weiterer Schlag gegen das Holz geführt wurde, der die Tür womöglich aus den Angeln gerissen hätte.

Vor ihm stand Harper, neben ihm Wachtmeister Jenkins, der äußerst kummervoll dreinsah.

»Ach, Sie wieder!«, sagte Harper mit einem Lächeln. »Das ist ja eigenartig.« Er stürmte an Pitt vorüber in die Küche. Sie war leer. Er sah verwirrt drein und verzog die Nase über den Geruch der ihm unbekannten Kräuter. »Wo sind die Leute? Wo ist Isaak Karansky?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Pitt und tat überrascht. »Seine Frau hat vor kurzem das Haus verlassen, weil sie noch etwas holen wollte, was sie zum Abendessen brauchte.« Er wies auf den Topf, der auf dem Herd vor sich hin brodelte.

Aufmerksam sah sich Harper in der Küche um, enttäuscht, aber noch nicht misstrauisch. Er steckte die Nase in den Kochtopf und musterte alles, was es in der Küche gab. Karanskys beste Jacke hing an einem Haken hinter der Tür. Im Stillen dankte Pitt Gott für das Bewusstsein der Angst, das Isaak veranlasst hatte, sie zurückzulassen, obwohl sie für ihn sicher sehr wertvoll war. Er sah Harper mit einem Hass an, den er nicht verbergen konnte. Die Situation schmerzte ihn, als ob ihm jemand ein scharfes Messer im Leibe herumdrehte.

Harper zog sich einen der Stühle herbei und setzte sich. »Dann warten wir eben, bis die zurückkommen«, erklärte er.

Pitt trat an den Herd und rührte im Topf. Er verstand zwar nichts vom Kochen, nahm aber an, dass es nicht gut sei, das Essen anbrennen zu lassen. Mit seinem Tun verlieh er der Szene einen Anflug von Normalität, und er brauchte auch Harper nicht anzusehen.

Jenkins trat wortlos von einem Fuß auf den anderen.

Die Minuten vergingen.

Pitt zog den Topf an den Rand des Herdes.

»Was wollte sie denn holen?«, fragte Harper mit einem Mal.

»Ich weiß nicht«, sagte Pitt. »Irgendwelche Kräuter, glaube ich.«

»Und wo ist Karansky?«

»Ich weiß es nicht«, wiederholte er. »Ich bin gerade selbst erst zurückgekommen.« Wahrscheinlich wussten die beiden, dass das der Wahrheit entsprach.

»Es empfiehlt sich nicht, mich zu belügen!«, mahnte ihn Harper.

Weiterhin mit dem Rücken zu ihm fragte Pitt: »Warum sollte ich das tun?«

»Um die Leute zu decken. Vielleicht hat er Sie bezahlt?«

»Damit ich sage, dass seine Frau aus dem Haus gegangen ist, um Kräuter zu kaufen?«, fragte Pitt ungläubig. »Er konnte doch gar nicht wissen, dass Sie kommen. Oder doch?«

Harper stieß einen Laut tiefen Widerwillens aus.

Weitere zehn Minuten vergingen.

»Sie lügen!«, brach es aus Harper hervor. Er sprang auf und schlug auf den Tisch. »Sie haben die Leute gewarnt, und jetzt sind sie weg! Ich nehme Sie fest wegen Beihilfe zur Flucht von Tatverdächtigen! Sie werden ziemlich viel Glück brauchen, damit nicht auch noch Beihilfe zum Mord hinzukommt!«

Jenkins räusperte sich. »Das könn’ Sie nich tun, Sir. Sie ha’m keine Beweise.«

»Ich habe so viele Beweise, wie ich brauche!«, giftete Harper. »Mischen Sie sich da nicht ein. Tun Sie, was man Ihnen sagt, und nehmen Sie den Mann fest.«

Jenkins rührte sich nicht. »Wir ha’m ’nen Haftbefehl für Karansky, aber nich für Pitt.«

»Genügt Ihnen meine Anweisung nicht, Mann? Wenn Sie nicht selbst in der Haftzelle landen wollen, tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!«

Kopfschüttelnd und mit widerwillig verzogenem Mund teilte Jenkins Pitt mit, dass er vorläufig festgenommen sei, und legte ihm Handschellen an, nachdem ihm Harper einen auffordernden Blick zugeworfen hatte. Dann nahm er ganz vorsichtig den Topf vom Herd und legte den Deckel fest darauf, damit sich Lea bei ihrer Rückkehr nicht über eine verdorbene Mahlzeit zu ärgern brauchte.

Pitt dankte ihm.

Auf der Straße sah ein rundes Dutzend Männer und Frauen zu, wie er abgeführt wurde. Sie machten einen verängstigten und aufgebrachten Eindruck und begnügten sich damit, den beiden Polizeibeamten Blicke unverhüllten Hasses zuzuwerfen. Auf dem ganzen Weg bis zur gut einen Kilometer entfernten Polizeiwache, den die drei Männer zu Fuß zurücklegten, sagte keiner von ihnen ein Wort. Harper war sichtlich erbost darüber, dass ihm Isaak entwischt war, auch wenn er sich für den Augenblick damit abgefunden zu haben schien.

Sie kamen an mürrisch dreinblickenden Männern und Frauen vorüber und an Verkäufern, deren Zeitungen jetzt ganz offensichtlich Isaaks Bild zeigten. Gerüchte waren im Umlauf, dass man die Zuckersiedereien schließen würde.

Auf der Polizeiwache wurde Pitt in eine Haftzelle gebracht.

Gut zwei Stunden später kam Jenkins mit breitem Lächeln zurück. »Die Zuckerfabriken werden doch nicht geschlossen«, sagte er von der Zellentür aus. »Lord Randolph Churchill und ’n paar andere ha’m das Geld aufgebracht, sie in Gang zu halten. Is das nich großartig?«

Pitt war verblüfft und erleichtert. Gewiss war das Vespasias Werk!

»Und Sie geh’n jetzt besser nach Hause«, fügte Jenkins mit noch breiterem Lächeln hinzu. »Für den Fall, dass die Karanskys zurückkommen.«

Pitt stand auf. »Werden die denn nicht mehr gesucht?« Er konnte es kaum glauben.

»Doch! Aber wer weiß denn, wo die sind? Vielleicht schon auf hoher See.«

»Und Inspektor Harper will mich gehen lassen?« Noch hatte Pitt keinen Schritt in Richtung auf die Tür getan. Er konnte sich Harpers Wut und Rache nur allzu gut vorstellen. Es wäre den Angehörigen des Inneren Kreises mehr als recht, Pitt auf einige Jahre mit der Begründung ins Gefängnis zu bringen, er habe Sissons’ Mörder zur Flucht verholfen.

»Will er nich.« Jenkins platzte fast vor Freude. »Aber er muss, weil man ihm das von ganz oben gesagt hat. Sie müssen Freunde in den höchsten Kreisen haben. Die können Sie aber auch brauchen.«

»Danke«, sagte Pitt geistesabwesend, während er zutiefst verwirrt in die Freiheit hinausschritt und aus den Händen des wachhabenden Beamten seine wenigen Habseligkeiten in Empfang nahm. Steckte Vespasia etwa auch hinter seiner Freilassung? Wohl kaum … sonst hätte sie ihm diese Erfahrung von vornherein erspart. Narraway! Nein, auch er hatte weder die Macht, noch wusste er von seiner Festnahme.

Die Freimaurer … die andere Seite der Verschwörungen um Whitechapel. Mit einem Mal schmeckte ihm die Freiheit nicht nur süß, sondern zugleich bitter.

Er würde in die Heneagle Street zurückkehren und dort die von Lea zubereitete Mahlzeit essen. Anschließend würde er Saul aufsuchen, sobald das möglich war, ohne beobachtet zu werden, und zusehen, was er tun konnte, um Geld für Isaak und Lea aufzubringen, ihnen Hilfe zukommen zu lassen.

 

Charlotte war nach wie vor entschlossen, weitere Papiere zu finden. Wie Juno war sie fest davon überzeugt, dass Martin Fetters sie irgendwo verborgen hatte. Nachdem sie an allen Stellen nachgesehen hatten, die ihnen eingefallen waren, überlegten sie jetzt in der Bibliothek, was sie noch unternehmen konnten. Es war Charlotte schmerzlich bewusst, dass ein Mann, den Martin Fetters für seinen Freund gehalten und dem er getraut hatte, ihn nur wenige Schritte von der Stelle entfernt getötet hatte, an der sie sich gerade befand. Das Bild, das sie von diesem entsetzlichen Augenblick hatte, hing wie eine kalte Drohung in der Luft. Sie malte sich aus, wie es gewesen sein musste: wie er seinen bevorstehenden Tod in Adinetts Augen gesehen und gewusst hatte, was geschehen würde, dann der rasche Schmerz und die Bewusstlosigkeit. Sicherlich stand Mrs. Fetters all das noch viel deutlicher vor Augen als ihr.

Nacht für Nacht schlief Charlotte allein in ihrem Zimmer, sich der leeren Stelle im Bett neben ihr bewusst. Sie machte sich Sorgen um Pitt, hatte Angst um ihn. Wie viel schlimmer musste es Juno Fetters gehen, die nicht nur allein schlief, sondern wohl stets an das dachte, was wenige Räume weiter geschehen war. Bei ihr war das Schlimmste, was sie befürchten konnte, bereits eingetreten.

»Die Papiere müssen hier sein«, sagte sie jetzt verzweifelt. »Martin hatte keinen Grund, sie zu vernichten, und Adinett hatte nicht genug Zeit dafür. Bei seinem Weggang trug er nichts bei sich, ich habe ihn ja selbst gesehen. Natürlich könnte er etwas mitgenommen haben, als er zurückgekommen ist …« Sie sprach nicht weiter.

»Wann hatte er denn Gelegenheit, sich danach umzusehen?«, überlegte Charlotte laut. »Falls Ihr Mann sie herausgelegt hatte, müsste Adinett sie erst unauffällig beiseite geräumt und dann wieder hervorgeholt haben, als er zurückgekehrt ist. Sie sagten, dass er keine Tasche bei sich hatte, sondern lediglich einen Stock. Wie hat Ihr Mann lose Blätter normalerweise transportiert – oder nehmen Sie an, dass er alles in ein gebundenes Notizbuch eingetragen hat?«

Juno sah sich im Zimmer um. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es weit mehr Entwürfe gegeben haben muss, habe aber weder eine Vorstellung davon, wie aussieht, was wir suchen, noch, wie viel es sein könnte. Die Männer waren keine Träumer, sondern wollten ein bestimmtes Ziel erreichen. Von Zeit zu Zeit haben sie sich getroffen, um miteinander über ihre Vorstellungen zu reden. Wer etwas erreichen will, muss sich über das genaue Vorgehen im Klaren sein.«

»Dann hätte also Adinett als Monarchist den Wunsch gehabt, diese Pläne zu vernichten, um ihre Verwirklichung zu verhindern?«, fragte Charlotte nachdenklich. Sie ließ den Blick über die Bücherreihen wandern. »Ich wüsste nur gern, wo er nachgesehen hat.«

»Alles schien an seinem Platz zu sein«, gab Juno zurück. »Natürlich außer den drei Büchern, die am Boden lagen. Aber wir hatten ja von Anfang an vermutet, dass die mit Absicht dort hingelegt worden waren, damit es so aussah, als wäre Martin von der Leiter gefallen, als er sie aus dem Regal genommen hat.«

»Vermutlich hat die Polizei gründlich gesucht.« Wieder spürte Charlotte, wie ihr die Hoffnung entglitt. »Wenn sich auf den Borden etwas hinter den Büchern befunden hätte, wäre das sicher recht bald entdeckt worden.«

»Wir könnten doch alle Bücher herausnehmen«, schlug Juno vor. »Wir haben ohnehin nichts Besseres zu tun, ich meine, ich.«

»Ich auch nicht«, sagte Charlotte rasch und warf einen prüfenden Blick auf die Regale. »Was wir suchen, befindet sich wohl auf keinen Fall hinter den Büchern, die er regelmäßig herausgenommen hat«, sagte sie. »Das wäre wohl zu sehr aufgefallen, wenn man ihn zufällig beobachtet hätte. Nehmen die Hausmädchen die Bücher von Zeit zu Zeit heraus, um sie abzustauben?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Juno kopfschüttelnd. »Möglich, aber ich glaube nicht. Sicher haben Sie Recht. Die Papiere müssen hinter irgendwelchen Büchern versteckt sein, die normalerweise niemand herausnimmt. Immer vorausgesetzt, sie sind überhaupt da.«

Wieder spürte Charlotte Enttäuschung. »Falls er sie in ein Buch gelegt hätte, würde sich der Deckel so wölben, dass man es sogleich sehen könnte. Wir suchen ja wohl nicht nach einem oder zwei Blättern.«

»Wie wäre es …« Juno hob den Blick zu den obersten Regalbrettern, auf denen große Nachschlagewerke standen.

»Ja? Was?«, fragte Charlotte eifrig.

Mit einer müden Bewegung strich sich Juno die Haare aus der Stirn.

»Und wenn er sie nun tatsächlich in einem Buch versteckt hat, das er dafür eigens ausgehöhlt hat? Mir ist klar, dass das nach entsetzlichem Vandalismus klingt, aber in einem solchen Versteck wären die Papiere wirklich sicher aufgehoben. Wer außer ihm selbst würde da nachsehen?« Bei diesen Worten wies sie auf das oberste Brett am Fenster, auf dem eine Reihe von Lebenserinnerungen obskurer Politiker aus dem achtzehnten Jahrhundert und ein halbes Dutzend Bände mit Statistiken zu Ausfuhr und Seeverkehr standen.

Charlotte ging zur Bibliotheksleiter hinüber, schob sie an die angegebene Stelle und stieg hinauf, wobei sie mit der einen Hand ihren Rock raffte und sich mit der anderen an der Stange festhielt. »Vorsichtig!«, rief ihr Juno mit ängstlicher Stimme zu und trat unwillkürlich einen Schritt vor.

Charlotte hielt – recht unsicher stehend – mitten in der Bewegung inne. Sie lächelte Juno zu, deren bleiches Gesicht noch durch das stumpfe Schwarz ihres Kleides unterstrichen wurde.

»Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich und wich wieder ein Stück zurück. »Ich – «

»Ich weiß«, sagte Charlotte. Die Leiter war ziemlich standfest, dennoch kam ihr unwillkürlich der Gedanke daran, dass man anfänglich die Ursache von Fetters’ Tod in einem Sturz von deren oberster Stufe vermutet hatte. Wenn sie hier ihr Gleichgewicht verlor, würde sie an nahezu derselben Stelle enden, wo man ihn gefunden hatte, nur dass ihr Kopf in der entgegengesetzten Richtung läge.

Rasch verscheuchte sie den trüben Gedanken. Diese Geschichte war Welten von dem entfernt, womit sie es inzwischen zu tun hatte. Sie griff nach oben und nahm den ersten Band herunter, ein hoffnungslos veraltetes hochformatiges Buch über Seewege. Aus welchem Grund würde jemand derlei aufbewahren, es sei denn, er hatte vergessen, dass es da war? Sie reichte Juno das schwere Buch hinunter.

Diese blätterte es durch. »Genau das, was draufsteht«, sagte sie und bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Martin hat das bestimmt vor zwanzig Jahren gekauft.« Sie legte den Band auf den Boden und wartete auf den nächsten.

Charlotte holte einen nach dem anderen herunter. Jeder einzelne wurde gründlich untersucht und auf den Boden gelegt, wo die Stapel immer höher wuchsen. Sie fuhren damit fort, weil keiner von beiden eine bessere Möglichkeit einfiel, die Sache anzugehen.

Nach gut zwei Stunden erklärte sich Juno geschlagen. Sie und Charlotte waren reichlich mit Staub bedeckt, und ihre Arme schmerzten.

»Bei jedem dieser Bücher stimmt der Inhalt genau mit dem Titel überein«, sagte Juno mit so kläglicher Stimme, dass sie Charlotte Leid tat. Wäre es um nichts weiter als um den Wunsch gegangen, etwas zu erfahren, sie hätte ihr vielleicht geraten, einfach nicht weiterzusuchen. Irgendwann müssen Kummer und die Bemühung zu verstehen aufhören, muss man zulassen, dass der Heilungsprozess beginnt.

Aber Charlotte wollte der Welt beweisen, dass Pitt in Bezug auf John Adinett Recht gehabt hatte, und so nahm sie alle Kräfte zusammen, um weiterzumachen.

»Setzen Sie sich eine Weile«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir eine Tasse Tee trinken?« Sie stieg von der Leiter, und Juno streckte ihr hilfreich die Hand entgegen. Ihre Finger fühlten sich kühl und fest an, aber ihr Arm zitterte ein wenig, und auf ihren Zügen war die Anspannung zu erkennen. Sie mied Charlottes Blick.

»Vielleicht sollten wir Schluss machen«, sagte Charlotte entgegen ihrer eigentlichen Absicht. Das Mitleid quälte sie zu sehr, als dass sie auf die Stimme der Vernunft hätte hören können. »Vielleicht gibt es gar nichts zu finden. Möglicherweise waren es nur Träume.«

»Nein«, sagte Juno leise, den Blick nach wie vor abgewandt. »So war Martin nicht. Ich habe ihn gut gekannt.« Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Zumindest in manchen Dingen, denn bestimmte Wesensmerkmale kann man nicht verbergen. Martin hat immer alles getan, um seine Träume in die Wirklichkeit umzusetzen. Er war zwar ein Romantiker, aber sogar, wenn es um etwas so Banales ging wie seine Absicht, mir zum Geburtstag Rosen zu schenken, hat er nicht locker gelassen, bis er seinen Willen bekam.«

Inzwischen hatten sie die Tür erreicht, und Juno öffnete sie.

Rosen zum Geburtstag schienen Charlotte kein besonders bemerkenswertes Geschenk. Sie fragte sich, warum Juno das angesprochen hatte.

»Und er hat ihn bekommen?«

»Aber ja. Er hat allerdings vier Jahre dazu gebraucht.«

Charlotte war verblüfft. »Rosen sind doch problemlos. Ich hatte sogar noch zu Weihnachten welche im Garten.«

Juno lächelte fast unter Tränen. »Mein Geburtstag ist der 29. Februar. Wer um diese Jahreszeit Rosen auftreiben will, muss schon sehr findig sein. Er hat darauf bestanden, dass ich nur alle vier Jahre feierte, mir dafür aber jeweils eine Geburtstagsgesellschaft ausgerichtet, die vier volle Tage dauerte, und mich maßlos verwöhnt. Er war ausgesprochen großzügig.«

Mit einem Mal hatte Charlotte einen Kloß in der Kehle. »Und woher hatte er die Rosen?«, fragte sie mit belegter Stimme.

Juno schluckte und lächelte unter Tränen. »Er hat einen Gärtner in Spanien gefunden, der sie zur richtigen Zeit gezogen und mit dem Schiff hergeschickt hat. Sie haben zwar nur zwei Tage gehalten, aber ich habe das nie vergessen.«

»Das würde wohl keine Frau«, stimmte ihr Charlotte zu.

»Wir haben uns alle Bücher angesehen, die infrage kommen«, kehrte Juno zum Gegenstand ihrer Suche zurück und schloss die Tür zur Bibliothek hinter sich. »Es war wohl von vornherein ein törichter Gedanke. Ich hätte es besser wissen sollen. Martin liebte Bücher. Nie und nimmer hätte er mutwillig eines beschädigt, nicht einmal, um etwas darin zu verstecken, sondern mit Sicherheit eine andere Möglichkeit gefunden. Er hat Bücher sogar selbst repariert. Das konnte er sehr gut. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit einem beschädigten Buch in den Händen dastand und mir einen Vortrag darüber hielt, wie unzivilisiert es sei, Bücher schlecht zu behandeln, etwas hineinzuschreiben, Seiten einzureißen oder ein Buch so weit zu öffnen, dass der Rücken bricht.«

Auf dem Weg nach unten sahen sie ein Dienstmädchen im Vestibül, und Juno sagte: »Dora, servieren Sie bitte Tee im Gartenzimmer.«

Erst jetzt merkte Charlotte, wie trocken ihr Mund war, als hätten all das Papier und der Staub sie ausgedörrt. Eine Tasse Tee konnten sie jetzt wirklich gut gebrauchen.

»Manche hat er vollständig neu eingebunden«, fuhr Juno fort.

»Eingebunden?«, fragte Charlotte rasch.

»Ja, warum?«

Charlotte blieb auf der untersten Stufe stehen.

»Was haben Sie?«, erkundigte sich Juno.

»Wir haben uns nicht die Bücher angesehen, die er eingebunden hat …«

Juno begriff sofort. Ihre Augen öffneten sich weit. Sie rief dem Mädchen zu: »Dora! Warten Sie noch mit dem Tee. Ich sage Ihnen Bescheid!«, dann wandte sie sich Charlotte zu. »Kommen Sie! Wir gehen zurück und sehen sie uns an! Das wäre das ideale Versteck!«

Sie eilten die Treppe empor, so rasch sie konnten, die Röcke gerafft, um nicht zu stolpern, zurück in die Bibliothek.

Fast eine halbe Stunde mussten sie suchen, aber schließlich hatte Juno es gefunden: ein von Hand in unauffälliges Leder gebundenes schmales Buch, auf dessen Rücken Goldbuchstaben anzeigten, dass es darin um das Wirtschaftssystem Trojas ging.

Nebeneinander stehend, lasen sie eine Seite, die sie willkürlich aufgeschlagen hatten.

 

Natürlich hat man die Sache mit dem Darlehen sorgfältig eingefädelt. Die Einzelheiten werden in einem Brief stehen, den man bei seinem Tod findet. Sobald er bekannt gegeben ist, wird man dem Journalisten das letzte Beweisstück im Hinblick auf die Geschichte von Whitechapel zuspielen.

Beides zusammen wird dann alles Notwendige bewirken.

 

Juno sah Charlotte fragend an.

Charlottes Gedanken überschlugen sich. Sie verstand zwar nur zum Teil, worum es ging, aber der Hinweis auf Remus sprang ihr förmlich aus dem Buch entgegen.

»Er hat im Voraus vom Tod eines Menschen gewusst«, sagte Juno leise. »Das ist wohl ein Teil des Plans zum Sturz der Regierung?« In ihrer Stimme lag unüberhörbar die Bitte, Charlotte möge das mit einer frommen Lüge bestreiten.

»So sieht es aus«, sagte diese stattdessen und versuchte zu überlegen, auf wen sich der Hinweis beziehen konnte. »Sie haben Recht, es gehört zur Verschwörung für die Revolution. Ich weiß übrigens, wer dieser Journalist ist.«

Juno schwieg. Ihre Hände zitterten, während sie umblätterte. Auf den nächsten Seiten fanden sich Zahlen darüber, wie viele Menschen bei den verschiedenen Revolutionen des Jahres 1848 auf dem europäischen Kontinent verletzt worden und umgekommen waren. Anhand ihrer hatte man geschätzt, wie hoch die Zahl der Opfer in London und anderen größeren Städten Englands voraussichtlich sein würde, wenn es dort zur Revolution käme. Niemand konnte missverstehen, was das zu bedeuten hatte.

Juno war weiß wie ein Laken, ihre dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen.

Auf die nächsten Seiten warfen die beiden Frauen nur einen flüchtigen Blick. Sie enthielten Pläne und Möglichkeiten für die Umverteilung des Wohlstandes sowie von Haus- und Grundbesitz jener, die selbiges ererbt und nicht durch eigene Bemühungen erworben hatten. Das Dokument umfasste mindestens ein Dutzend Seiten.

Ganz zum Schluss fand sich der Entwurf einer Staatsverfassung. An der Spitze sollte ein Präsident stehen, der einem Senat verantwortlich war – ähnlich wie in Rom zur Zeit der Republik, vor dem Kaiserreich. Der noch nicht durchformulierte Entwurf bestand lediglich aus einer Reihe von Vorschlägen, doch konnte kein Zweifel daran bestehen, wer als Erster für das Amt des Präsidenten vorgesehen war. Er enthielt einen Hinweis auf mehrere bedeutende Idealisten der Vergangenheit, in erster Linie Mazzini, sowie auf Mario Corena, der zwar in Rom gescheitert war, aber Großartiges geleistet hatte. Die Führung in England wollte der Meister selbst übernehmen.

Charlotte brauchte nicht zu fragen, ob es sich um Martin Fetters’ Handschrift handelte; sie sah auf den ersten Blick, dass sie es nicht war. Es bestand nicht die geringste Ähnlichkeit. Fetters hatte kräftig und flüssig geschrieben, ein wenig unordentlich, als wäre seine Begeisterung seiner Hand davongeeilt. Diese Schrift hier war von pedantischer Exaktheit: die Buchstaben fast senkrecht, und kaum ein Größenunterschied zwischen Groß- und Kleinbuchstaben, keine Abstände zwischen den Sätzen.

Sie hob den Blick zu Juno und versuchte sich vorzustellen, was sie selbst empfinden würde, wenn sie so etwas in Pitts Zimmer gefunden hätte. Aus dem Dokument sprachen neben glühender Leidenschaft und Idealismus auch Willkür und die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit. Überdies ging es von völlig falschen Voraussetzungen aus. Nie und nimmer durfte ein Betrug wie der hier geplante, bei dem Wut und Lügen die Unruhe im Lande schüren sollten, Grundlage einer Reform sein. An keiner Stelle war die Rede davon, das Volk nach seinem Willen zu fragen oder allen Menschen offen zu sagen, ein wie hoher Einsatz nötig sein würde, um die geplante Reform durchzusetzen.

Sie erkannte auf Junos Zügen Entsetzen, Verwirrung und einen Kummer, der alle Schmerzen der vergangenen Tage überschattete.

»Ich habe mich geirrt«, flüsterte sie. »Ich habe ihn überhaupt nicht gekannt. Was da geplant wird, ist ungeheuerlich. Er – er hat seinen ganzen wahren Idealismus eingebüßt. Ich weiß, dass er überzeugt war, zum Besten des Volkes zu handeln. Er hat jede Form der Tyrannei verabscheut… aber er hat nie gefragt, ob die Leute eine Republik wollten oder bereit waren, dafür zu sterben! Er hat für sie entschieden! Das ist keine Freiheit, sondern eine andere Art der Tyrannei.«

Charlotte konnte nichts dagegen sagen, und ihr fiel auch kein tröstendes Wort ein. Juno hatte Recht: Das war der Gipfel der Anmaßung, ein unüberbietbares Despotentum, ganz gleich, was für idealistische Gedanken dahinter stehen mochten.

Juno sah in die Ferne; in ihren Augen standen Tränen. »Danke, dass Sie nichts Abgedroschenes gesagt haben«, brachte sie schließlich heraus.

Charlotte traf die einzige Entscheidung, der sie sicher war. »Ich denke, wir sollten jetzt den Tee trinken. Mir kommt es vor, als hätte ich Papier gegessen!«

Juno stimmte ihr mit einem halben Lächeln zu. Gemeinsam gingen sie nach unten, und binnen fünf Minuten kam Dora mit dem Teetablett. Eine Weile sagte keine der beiden Frauen etwas. Es schien nichts Sinnvolles zu geben, worüber man sprechen konnte. Schließlich stellte Juno ihre Tasse hin, stand auf und trat ans Fenster. Sie sah hinaus auf die kleine Rasenfläche, die im Sonnenschein lag.

»Ich habe mich in John Adinetts Gegenwart immer unbehaglich gefühlt und ihn gehasst, weil er Martin umgebracht hat«, sagte sie langsam. »Gott verzeih mir, ich war sogar froh, als sie ihn gehängt haben. Aber jetzt verstehe ich, warum er geglaubt hat, es tun zu müssen. Mir … mir ist das sehr unangenehm … aber ich denke, mir bleibt nichts übrig, als die Wahrheit zu sagen. Das macht Adinett zwar nicht wieder lebendig, wird aber die Schmach tilgen, die jetzt auf seinem Namen liegt.«

Charlotte war nicht sicher, was sie empfand. Auf jeden Fall war sie voll grenzenlosen Mitleids und voller Bewunderung. Was aber war mit Pitt? In gewisser Hinsicht war inzwischen zumindest verständlich, warum Adinett es für gerechtfertigt gehalten hatte, Fetters zu töten. Hätte man während des Prozesses seine Gründe gekannt, wäre er nie zum Strang verurteilt worden. Möglicherweise hätte man sogar Pitt Vorwürfe gemacht, weil er den Fall weiterverfolgt hatte.

Doch Adinett war zu keinerlei Erklärungen bereit gewesen. Woher also hätte man wissen sollen, was dahinter steckte? Nicht einmal Gleave hatte etwas gesagt. War es denkbar, dass auch er nichts gewusst hatte? Dann aber fiel ihr ein, mit welchem Gesichtsausdruck er Juno nach Martins Papieren gefragt hatte. Zwar hatte er nicht gedroht, doch sie und Juno hatten wie Kälte in ihren Knochen eine Drohung gespürt, die eindeutig in der Atmosphäre gelegen hatte.

Er wusste also Bescheid, hatte aber auf Fetters’ Seite gestanden! Der arme Adinett hatte niemanden gehabt, an den er sich wenden, niemanden, dem er trauen konnte. Kein Wunder, dass er keinerlei Versuch unternommen hatte, sich zu retten, und schweigend in den Tod gegangen war. Vom Augenblick seiner Festnahme an war ihm wohl klar gewesen, dass nicht die geringste Aussicht bestand, die Sache zu seinem Vorteil zu entscheiden. Er hatte gehandelt, um sein Land vor einer Revolution zu bewahren, im vollen Bewusstsein dessen, dass es ihn das Leben kosten würde. Das Mindeste, was er verdiente, war, dass man die Wahrheit ans Licht brachte, um sein Tun nachträglich zu rechtfertigen.

»Ja«, gab ihr Charlotte Recht. »Wenn ich darf, würde ich gern als Oberinspektor Pitts Frau mitkommen.«

Juno wandte sich ihr zu. »Aber natürlich. Ich hätte Sie ohnehin darum gebeten.«

»Wem wollen Sie es sagen?«

»Ich denke, Charles Voisey. Er ist Richter am Berufungsgericht, hat den Fall mitentschieden und ist mit allen Einzelheiten vertraut. Ich kenne ihn ein wenig, von den anderen aber keinen. Ich will sehen, ob ich heute Abend zu ihm kann. Ich möchte das so schnell wie möglich erledigen … es – es fällt mir sehr schwer zu warten.«

»Das verstehe ich«, sagte Charlotte rasch. »Ich komme dann.«

»Ich werde um halb acht mit der Kutsche da sein, es sei denn, er kann uns nicht empfangen. Ich sage Ihnen noch Bescheid«, versprach Juno.

Charlotte erhob sich. »Ich werde bereit sein.«

 

Sie trafen kurz nach acht in Charles Voiseys Haus am Cavendish Square ein und wurden in ein prächtiges Gesellschaftszimmer geführt. Es war streng konservativ gehalten, Rot und sanftes Gold herrschten vor, dunkle, warme Töne. Exquisite arabische Messingarbeiten setzten dem Raum Glanzlichter auf: Tabletts, Krüge und Vasen, auf deren gravierten Oberflächen sich das Licht fing.

Voisey empfing die Besucherinnen höflich. Falls er auf den Grund ihres Kommens neugierig war, zeigte er das nicht. Andererseits bemühte er sich auch nicht um eine Konversation im Plauderton. Als sie Platz genommen und die ihnen angebotenen Erfrischungen dankend abgelehnt hatten, wandte er sich fragend an Juno.

»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Fetters?«

Sie hatte sich bereits dem Schlimmsten gestellt, indem sie sich eingestanden hatte, dass Martin nicht der Mensch gewesen war, den sie während all der Jahre ihrer Ehe geliebt hatte. Das einem anderen mitzuteilen war schwer, aber vielleicht sogar eine Erleichterung, wenn man es mit dem richtigen Gegenüber zu tun hatte.

Sie saß aufrecht und sah ihn an, während sie begann: »Wie ich am Telefon schon angedeutet habe, habe ich in Papieren meines Mannes, die von der Polizei nicht gefunden wurden, weil sie so glänzend versteckt waren, eine Entdeckung gemacht.«

Voisey wurde kaum merklich abweisend. »Ach ja? Ich hatte angenommen, man habe sehr gründlich gesucht.« Er warf einen raschen Blick auf Charlotte. Es kam ihr vor, als freue er sich darüber, dass Pitt diese Papiere nicht gefunden hatte, und sie musste sich große Mühe geben, ihn nicht offen in Schutz zu nehmen.

Das übernahm Juno. »Sie waren in ein Buch eingebunden. Mein Mann hat seine Bücher selbst gebunden, müssen Sie wissen. Er konnte das ziemlich gut. Sofern man nicht jedes einzelne Werk in der Bibliothek in die Hand nahm und durchsah, gab es keine Möglichkeit, diese Papiere zu finden.«

»Und das haben Sie getan?« In seiner Stimme lag Überraschung.

Sie lächelte trübselig. »Ich habe nichts Besseres zu tun.«

»Ach so …« Er ließ diesen Ansatz zu einer Äußerung unbeendet in der Luft hängen.

»Ich wollte wissen, welches Motiv John Adinett für seine Tat gehabt haben könnte, denn ich hatte ihn stets für den Freund meines Mannes gehalten«, fuhr Juno mit bemüht unbeteiligter Stimme fort. »Jetzt kenne ich es und halte es für ein Gebot des Anstandes, das auch öffentlich zu machen. Meiner Ansicht nach sind Sie der richtige Adressat für diese Mitteilung.«

Voisey saß reglos da und atmete langsam aus. »Aha. Und was steht also in diesen Papieren, Mrs. Fetters? Vermutlich gibt es keinen Zweifel daran, dass es seine sind?«

»Es handelt sich um Briefe und Denkschriften im Zusammenhang mit einem Vorhaben, an das er ganz offensichtlich glaubte. Sie sind zwar nicht in seiner Handschrift abgefasst, aber er hat sie gebunden und in seiner Bibliothek versteckt«, gab sie zur Antwort. »Vermutlich hat John Adinett ihn getötet, als er erkannt hat, worum es dabei ging.«

»Das scheint mir … eine äußerst extreme Handlungsweise«, sagte Voisey nachdenklich. Ohne noch auf Charlotte zu achten, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit völlig auf Juno. »Wenn es dabei um etwas ging, was Adinett so scharf missbilligte, warum hat er dann nicht einfach die Öffentlichkeit davon in Kenntnis gesetzt? Vermutlich war es etwas Gesetzwidriges oder zumindest etwas, das andere hätten verhindern können.«

»Wenn diese Pläne an die Öffentlichkeit gelangt wären, hätte das Panik ausgelöst und möglicherweise Gesinnungsgenossen auf den Plan gerufen«, gab sie zurück. »Mit Sicherheit hätte es zu großer Freude unter den Feinden Englands geführt und ihnen unter Umständen Möglichkeiten aufgezeigt, wie man uns schaden könnte.«

Voisey sah sie mit zunehmender Spannung an. Als er jetzt sprach, klang seine Stimme härter; Besorgnis schwang darin mit. »Und warum hat Adinett das Ihrer Ansicht nach nicht diskret an die richtigen Stellen weitergeleitet?«

»Weil er nicht wissen konnte, wer noch in die Sache verwickelt war«, gab sie zur Antwort. »Es handelt sich nämlich um eine weit verzweigte Verschwörung.«

Seine Augenbrauen hoben sich leicht. Seine ineinander verschränkten Finger spannten sich. »Eine Verschwörung? Was hatte die zum Ziel, Mrs. Fetters?«

»Den Sturz der Regierung, Mr. Voisey«, sagte sie. Angesichts der Bedeutung der Aussage klang ihre Stimme erstaunlich gleichmütig. »Und zwar auf dem Wege der Gewalt – kurz, eine Revolution mit der Absicht, die Monarchie abzuschaffen und einen Präsidenten an ihre Stelle zu setzen.«

Er schwieg eine Weile, als könne er kaum glauben, was er da hörte, und sei davon wie vor den Kopf geschlagen.

»Sind Sie sich … Ihrer Sache ganz sicher, Mrs. Fetters? Kann es nicht sein, dass Sie da etwas missverstanden haben und es in Wahrheit um ein anderes Land geht, während Sie glaubten, es handele sich um England?«, fragte er schließlich.

»Sie dürfen mir glauben, dass mir nichts lieber wäre.« An der Aufrichtigkeit ihrer Empfindungen konnte er keinen Zweifel haben. Er sah zu Charlotte hin.

Sie hielt seinem Blick stand und erkannte darin neben einer tiefen Intelligenz die Kälte einer nahezu unbeherrschbaren Abneigung, die sie erstaunte. Sie merkte, dass sie Angst hatte, obwohl sie sich keinen Grund dafür denken konnte. Sie war dem Mann nie zuvor begegnet und hatte ihm nichts getan.

Mit scharfer Stimme fragte er: »Haben Sie diese Papiere auch gesehen, Mrs. Pitt?«

»Ja.«

»Und sind es auch Ihrer Ansicht nach Umsturzpläne?«

»Ja. Bedauerlicherweise.«

»Wie sonderbar, dass Ihr Gatte sie nicht entdeckt hat, finden Sie nicht auch?« Jetzt war die Verachtung unverkennbar, und sie begriff, dass das Gefühl, das er ihr gegenüber nicht verbergen konnte, in Wahrheit Pitt galt.

Spitz gab sie zurück: »Ich nehme nicht an, dass er nach Plänen zum Sturz der Monarchie und zur Einführung einer republikanischen Verfassung gesucht hat. Zwar wäre es insgesamt gesehen besser gewesen, wenn er das Motiv hätte finden können, aber erforderlich war es nicht«, fügte sie abweisend hinzu. »Außerdem war es Adinetts eigener Entschluss, sich lieber hängen zu lassen, als die Pläne bekannt zu geben – was auf seine Überzeugung hinweist, dass die Verschwörung ziemlich weite Kreise gezogen haben musste. Er kannte wohl niemanden, dem er zu trauen wagte, obwohl es um sein Leben ging.«

Das Blut war Voisey erkennbar in den Kopf gestiegen. In seinen Augen lag ein sonderbarer Glanz.

Charlotte überlegte, ob er sich Vorwürfe machte, weil er als Richter in der Berufungsverhandlung am Todesurteil gegen den Mann mitgewirkt hatte, von dem er jetzt zugeben musste, dass es sich bei ihm um ein Opfer und einen Helden handelte. Sie bedauerte, so schroff gesprochen zu haben, brachte es jedoch nicht über sich, das zu sagen.

»Und hat er sich da geirrt, Mrs. Pitt?«, fragte er mit leiser Stimme. Er wirkte angespannt. »Hätte ihm Ihr Gatte Glauben geschenkt und geholfen, wenn ihm Adinett seine Gründe für die Tötung Fetters’ mitgeteilt hätte?« Er sprach die andere Hälfte seiner Frage nicht aus.

»Falls Sie damit andeuten wollen, mein Mann sei Revolutionär oder könne der Verschwörung angehören …« Sie hielt inne, als sie sein boshaftes Lächeln sah. Sie wusste genau, was er dachte: Auch Juno hatte an die Schuldlosigkeit Martin Fetters’ geglaubt – und sich geirrt. »Ich bin überzeugt, dass er getan hätte, was er konnte, um die Verschwörung aufzudecken«, fuhr sie fort. »Aber ich verstehe, was Sie sagen wollen – auch er hätte nicht gewusst, wem er trauen sollte. Die Betreffenden hätten einfach das Beweismaterial aus dem Weg geräumt und ihn mit dazu. Doch da er nichts davon gewusst hat, stellt sich die Frage nicht.«

Voisey wandte sich erneut Juno zu. Der Ausdruck seines Gesichts änderte sich, zeigte wieder Mitgefühl. »Was haben Sie mit dem Buch getan, Mrs. Fetters?«

»Ich habe es mitgebracht«, sagte sie und hielt es ihm hin. »Ich denke, wir sollten dafür sorgen … nun, ich finde, dass es meine Pflicht ist … John Adinett zu rehabilitieren, damit man sich seiner nicht als eines Mannes erinnert, der grundlos seinen Freund getötet hat. Es … es wäre mir natürlich im Interesse meines Mannes lieber, wenn sich das vermeiden ließe, aber dazu sehe ich keine Möglichkeit.«

»Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«, fragte er freundlich. »Sobald Sie mir das Beweisstück ausgehändigt haben, darf ich es Ihnen nicht mehr zurückgeben und muss die Sache amtlich machen. Wollen Sie es nicht lieber vernichten, damit der Name Martin Fetters in guter Erinnerung bleibt als der eines Mannes, der auf seine Weise für die Freiheit aller Menschen gekämpft hat?«

Juno zögerte.

»Ist es wirklich im Interesse der Öffentlichkeit, wenn bekannt wird, dass es in unserem Lande Männer gibt«, fuhr Voisey fort, »deren Namen Sie nicht nennen können und deren Ziel es ist, die beiden Kammern unseres Parlaments mitsamt unserer Monarchie abzuschaffen und an deren Stelle einen Präsidenten und einen Senat zu setzen, von denen niemand weiß, welches Ausmaß an Freiheit oder Gerechtigkeit sie bieten? Für den Mann auf der Straße sind das sonderbare Gedanken, die er nicht versteht. Trotz aller Mängel und Ungerechtigkeiten fühlt er sich sicher mit dem Bestehenden, denn das kennt er. Immerhin ist es möglich, dass Adinett geschwiegen hat, weil ihm klar war, welche Unruhe die Kenntnis einer solchen Verschwörung hervorrufen kann, und nicht nur, weil er nicht wusste, wem er trauen konnte. Haben Sie sich das überlegt?«

»Nein«, sagte Juno leise. »Nein, der Gedanke ist mir nicht gekommen. Möglicherweise haben Sie Recht. Vielleicht … falls er Angst hatte zu sprechen, wäre es ihm jetzt vielleicht auch lieber, dass wir es für uns behalten. Er war ein Mann von vornehmer Gesinnung … ein bedeutender Mann. Ich verstehe, warum es Sie so sehr bekümmert, dass er tot ist. Es tut mir Leid, Mr. Voisey … und ich schäme mich.«

»Dazu haben Sie keinen Anlass«, sagte er mit einem flüchtigen traurigen Lächeln. »Es ist nicht Ihre Schuld. Ja, er war ein bedeutender Mann, und vielleicht wird man das im Laufe der Zeit auch noch erkennen. Jetzt aber scheint es mir nicht angezeigt, diese Sache öffentlich bekannt zu machen.«

Juno erhob sich, ging zum Kamin hinüber und ließ den schmalen Band ins Feuer fallen. »Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihren Rat, Mr. Voisey.« Sie sah Charlotte an.

Auch Charlotte stand auf. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, doch eines war ihr mit greller Deutlichkeit klar geworden: Charles Voisey war an maßgeblicher Stelle an der Verschwörung beteiligt! Er kannte den Inhalt der Papiere besser als die beiden Frauen. Juno hatte lediglich von einer Präsidentschaft gesprochen, aber weder einen Senat noch die Abschaffung von Ober- und Unterhaus erwähnt.

»Mrs. Pitt …« Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Er sah sie an, aufmerksam musterten seine klugen Augen ihr Gesicht. Hatte er etwa erraten, dass sie ihn durchschaut hatte?

Sie zwang sich zu sagen: »Vielleicht haben Sie Recht.« Mochte er denken, dass sie enttäuscht war, weil eine Aufdeckung der Verschwörung Pitts Namen reingewaschen hätte. So würde er sich das zurechtreimen, denn er hasste Pitt. Nur fort von diesem Mann, in die Sicherheit des eigenen Heims, so schnell wie möglich!

Aber bot das eigene Heim Sicherheit? Martin Fetters war in seiner Bibliothek ermordet worden! Sie würde Juno von ihrem Verdacht berichten und dafür sorgen müssen, dass sie aus London verschwand und irgendwo auf dem Lande untertauchte, wo sie niemand kannte. Dort würde sie so lange bleiben müssen, bis es eine Möglichkeit gab, sie zu schützen, oder bis es nicht mehr nötig war.

»Ich denke schon«, sagte er mit schiefem Lächeln. »Eine Rehabilitierung Adinetts würde mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken … immerhin hat er seinen guten Namen aus eigenem Entschluss für das Wohl des Landes geopfert.«

»Das leuchtet ein.« Sie wandte sich der Tür zu. Trotz ihres kaum zu unterdrückenden Bedürfnisses davonzulaufen, bemühte sie sich, langsam zu gehen. Vermutlich nahm er nicht nur an, dass sie es begriffen hatte, er wusste es! Auf keinen Fall durfte er ihre Angst spüren! Sie blieb sogar stehen, als er aufstand, um den Damen die Tür zu öffnen, obwohl er ihr damit näher kam, als ihr lieb war. Dann folgte sie Juno ins Vestibül.

Es kam ihr vor, als würden sie nie bis zur Haustür kommen.

Juno blieb noch einmal stehen, um sich von ihm zu verabschieden und ihm für seinen guten Rat zu danken.

Endlich waren sie an der frischen Abendluft, stiegen in die Kutsche und fuhren ab.

»Gott sei Dank!«, stieß Charlotte erleichtert aus.

»Wieso Gott sei Dank?«, fragte Juno mit müder und enttäuschter Stimme.

»Er hat alles gewusst!«, gab Charlotte zurück. »Sie haben nichts von einem Senat gesagt – er aber hat davon gesprochen!«

In der Dunkelheit griff Juno nach Charlottes Hand; ihre Finger gruben sich vor Entsetzen tief ins Fleisch.

»Sie müssen London verlassen«, sagte Charlotte entschlossen, »und zwar noch heute Abend. Er weiß, dass Sie die Schrift gelesen haben. Sagen Sie niemandem, wohin Sie gehen. Schicken Sie ein Lebenszeichen an Lady Vespasia Cumming-Gould – nicht an mich!«

»Ja … das werde ich tun. Großer Gott, in was für ein Spinnennetz sind wir da geraten?« Sie ließ Charlottes Hand nicht mehr los.